Goethe 1809 - Die Wahlverwandtschaften

  • Upload
    ivlop

  • View
    77

  • Download
    1

Embed Size (px)

Citation preview

Johann Wolfgang Goethe

Die Wahl verwandtschaften

s&c by unknown layout by AnyBodyEduard und Charlotte, ein Paar, das spt zusammengefunden hat, empfngt zum ersten Mal Besucher auf dem Anwesen, auf das sie sich zurckgezogen hatten, um ganz freinander zu leben. Mit Otto, einem Jugendfreund von Eduard, und Charlottes Nichte Ottilie beginnt ein verstrender Liebesreigen und das Krftemessen der Wahlverwandschaften nimmt seinen Lauf: Wie chemische Elemente ziehen sich die Protagonisten an und stoen sich wieder ab. Eduard und Charlotte leben in zweiter Ehe zusammen auf ihrem Landgut und erfllen sich damit ihre Jugendliebe. Die Zweisamkeit wird gestrt, als Eduard seinen alten Freund Otto, einen in Not geratenen Hauptmann, als Berater und Gartenvermesser auf sein Gut einldt.ISBN: 3423124032 DTV, Mchn. Erscheinungsdatum: 1999 Hrsg. von Max Freiherr v. Waldberg und Bernhard Seuffert (Weimarer Ausgabe Bd. 20), Weimar 1892.

Erster Teil Erstes KapitelEduard - so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter - Eduard hatte in seiner Baumschule die schnste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stmme zu bringen. Sein Geschft war eben vollendet; er legte die Gertschaften in das Futteral zusammen und betrachtete seine Arbeit mit Vergngen, als der Grtner hinzutrat und sich an dem teilnehmenden Fleie des Herrn ergetzte. "Hast du meine Frau nicht gesehen?" fragte Eduard, indem er sich weiterzugehen anschickte. "Drben in den neuen Anlagen", versetzte der Grtner. "Die Mooshtte wird heute fertig, die sie an der Felswand, dem Schlosse gegenber, gebaut hat. Alles ist recht schn geworden und mu Euer Gnaden gefallen. Man hat einen vortrefflichen Anblick: unten das Dorf, ein wenig rechter Hand die Kirche, ber deren Turmspitze man fast hinwegsieht, gegenber das Schlo und die Grten." "Ganz recht," versetzte Eduard; "einige Schritte von hier konnte ich die Leute arbeiten sehen." "Dann", fuhr der Grtner fort, "ffnet sich rechts das Tal, und man sieht ber die reichen Baumwiesen in eine heitere Ferne. Der Stieg die Felsen hinauf ist gar hbsch angelegt. Die gndige Frau versteht es; man arbeitet unter ihr mit Vergngen." "Geh zu ihr", sagte Eduard, "und ersuche sie, auf mich zu warten. Sage ihr, ich wnsche die neue Schpfung zu sehen und mich daran zu erfreuen." Der Grtner entfernte sich eilig, und Eduard folgte bald.

Dieser stieg nun die Terrassen hinunter, musterte im Vorbeigehen Gewchshuser und Treibebeete, bis er ans Wasser, dann ber einen Steg an den Ort kam, wo sich der Pfad nach den neuen Anlagen in zwei Arme teilte. Den einen, der ber den Kirchhof ziemlich gerade nach der Felswand hinging, lie er liegen, um den andern einzuschlagen, der sich links etwas weiter durch anmutiges Gebsch sachte hinauf wand; da, wo beide zusammentrafen, setzte er sich fr einen Augenblick auf einer wohlangebrachten Bank nieder, betrat sodann den eigentlichen Stieg und sah sich durch allerlei Treppen und Abstze auf dem schmalen, bald mehr bald weniger steilen Wege endlich zur Mooshtte geleitet. An der Tre empfing Charlotte ihren Gemahl und lie ihn dergestalt niedersitzen, da er durch Tr und Fenster die verschiedenen Bilder, welche Landschaft gleichsam im Rahmen zeigten, auf einen Blick bersehen konnte. Er freute sich daran in Hoffnung, da der Frhling bald alles noch reichlicher beleben wrde. "Nur eines habe ich zu erinnern," setzte er hinzu, "die Htte scheint mir etwas zu eng." "Fr uns beide doch gerumig genug," versetzte Charlotte. "Nun freilich," sagte Eduard, "fr einen Dritten ist auch wohl noch Platz." "Warum nicht?" versetzte Charlotte, "und auch fr ein Viertes. Fr grere Gesellschaft wollen wir schon andere Stellen bereiten." "Da wir denn ungestrt hier allein sind", sagte Eduard, "und ganz ruhigen, heiteren Sinnes, so mu ich dir gestehen, da ich schon einige Zeit etwas auf dem Herzen habe, was ich dir vertrauen mu und mchte, und nicht dazu kommen kann." "Ich habe dir so etwas angemerkt," versetzte Charlotte. "Und ich will nur gestehen," fuhr Eduard fort, "wenn mich der Postbote morgen frh nicht drngte, wenn wir uns nicht heut

entschlieen mten, ich htte vielleicht noch lnger geschwiegen." "Was ist es denn?" fragte Charlotte freundlich entgegenkommend. "Es betrifft unsern Freund, den Hauptmann," antwortete Eduard. "Du kennst die traurige Lage, in die er, wie so mancher andere, ohne sein Verschulden gesetzt ist. Wie schmerzlich mu es einem Manne von seinen Kenntnissen, seinen Talenten und Fertigkeiten sein, sich auer Ttigkeit zu sehen und - ich will nicht lange zurckhalten mit dem, was ich fr ihn wnsche: ich mchte, da wir ihn auf einige Zeit zu uns nhmen." "Das ist wohl zu berlegen und von mehr als einer Seite zu betrachten," versetzte Charlotte. "Meine Ansichten bin ich bereit dir mitzuteilen," entgegnete ihr Eduard. "In seinem letzten Briefe herrscht ein stiller Ausdruck des tiefsten Mimutes; nicht da es ihm an irgendeinem Bedrfnis fehle, denn er wei sich durchaus zu beschrnken, und fr das Notwendige habe ich gesorgt; auch drckt es ihn nicht, etwas von mir anzunehmen, denn wir sind unsre Lebzeit ber einander wechselseitig uns so viel schuldig geworden, da wir nicht berechnen knnen, wie unser Kredit und Debet sich gegeneinander verhalte da er geschftlos ist, das ist eigentlich seine Qual. Das Vielfache, was er an sich ausgebildet hat, zu andrer Nutzen tglich und stndlich zu gebrauchen, ist ganz allein sein Vergngen, ja seine Leidenschaft. Und nun die Hnde in den Scho zu legen oder noch weiter zu stud ieren, sich weitere Geschicklichkeit zu verschaffen, da er das nicht brauchen kann, was er in vollem Mae besitzt - genug, liebes Kind, es ist eine peinliche Lage, deren Qual er doppelt und dreifach in seiner Einsamkeit empfindet." "Ich dachte doch," sagte Charlotte, "ihm wren von verschiedenen Orten Anerbietungen geschehen. Ich hatte selbst

um seinetwillen an manche ttige Freunde und Freundinnen geschrieben, und soviel ich wei, blieb dies auch nicht ohne Wirkung." "Ganz recht," versetzte Eduard; "aber selbst diese verschiedenen Gelegenheiten, diese Anerbietungen machen ihm neue Qual, neue Unruhe. Keines von den Verhltnissen ist ihm gem. Er soll nicht wirken; er soll sich aufopfern, seine Zeit, seine Gesinnungen, seine Art zu sein, und das ist ihm unmglich. Je mehr ich das alles betrachte, je mehr ich es fhle, desto lebhafter wird der Wunsch, ihn bei uns zu sehen." "Es ist recht schn und liebenswrdig von dir," versetzte Charlotte, "da du des Freundes Zustand mit soviel Teilnahme bedenkst; allein erlaube mir, dich aufzufordern, auch deiner, auch unser zu gedenken." "Das habe ich getan," entgegnete ihr Eduard. "Wir knnen von seiner Nhe uns nur Vorteil und Annehmlichkeit versprechen. Von dem Aufwande will ich nicht reden, der auf alle Flle gering fr mich wird, wenn er zu uns zieht, besonders wenn ich zugleich bedenke, da uns seine Gegenwart nicht die mindeste Unbequemlichkeit verursacht. Auf dem rechten Flgel des Schlosses kann er wohnen, und alles andere findet sich. Wieviel wird ihm dadurch geleistet, und wie manches Angenehme wird uns durch seinen Umgang, ja wie mancher Vorteil! Ich htte lngst eine Ausmessung des Gutes und der Gegend gewnscht; er wird sie besorgen und leiten. Deine Absicht ist, selbst die Gter knftig zu verwalten, sobald die Jahre der gegenwrtigen Pchter verflossen sind. Wie bedenklich ist ein solches Unternehmen! Zu wie manchen Vorkenntnissen kann er uns nicht verhelfen! Ich fhle nur zu sehr, da mir ein Mann dieser Art abgeht. Die Landleute haben die rechten Kenntnisse; ihre Mitteilungen aber sind konfus und nicht ehrlich. Die Studierten aus der Stadt und von den Akademien sind wohl klar und ordentlich, aber es fehlt an der unmittelbaren Einsicht in die

Sache. Vom Freunde kann ich mir beides versprechen; und dann entspringen noch hundert andere Verhltnisse daraus, die ich mir alle gern vorstellen mag, die auch auf dich Bezug haben und wovon ich viel Gutes voraussehe. Nun danke ich dir, da du mich freundlich angehrt hast; jetzt sprich aber auch recht frei und umstndlich und sage mir alles, was du zu sagen hast; ich will dich nicht unterbrechen." "Recht gut," versetzte Charlotte; "so will ich gleich mit einer allgemeinen Bemerkung anfangen. Die Mnner denken mehr auf das Einzelne, auf das Gegenwrtige, und das mit Recht, weil sie zu tun, zu wirken berufen sind, die Weiber hingegen mehr auf das, was im Leben zusammenhngt, und das mit gleichem Rechte, weil ihr Schicksal, das Schicksal ihrer Familien an diesen Zusammenhang geknpft ist und auch gerade dieses Zusammenhngende von ihnen gefordert wird. La uns deswegen einen Blick auf unser gegenwrtiges, auf unser vergangenes Leben werfen, und du wirst mir eingestehen, da die Berufung des Hauptmannes nicht so ganz mit unsern Vorstzen, unsern Planen, unsern Einrichtungen zusammentrifft. Mag ich doch so gern unserer frhsten Verhltnisse gedenken! Wir liebten einander als junge Leute recht herzlich; wir wurden getrennt; du von mir, weil dein Vater, aus nie zu sttigender Begierde des Besitzes, dich mit einer ziemlich lteren, reichen Frau verband; ich von dir, weil ich, ohne sonderliche Aussichten, einem wohlhabenden, nicht geliebten, aber geehrten Manne meine Hand reichen mute. Wir wurden wieder frei; du frher, indem dich dein Mtterchen im Besitz eines groen Vermge ns lie; ich spter, eben zu der Zeit, da du von Reisen zurckkamst. So fanden wir uns wieder. Wir freuten uns der Erinnerung, wir liebten die Erinnerung, wir konnten ungestrt zusammenleben. Du drangst auf eine Verbindung; ich willigte nicht gleich ein, denn da wir ungefhr von denselben Jahren sind, so bin ich als Frau wohl lter geworden, du nicht als Mann. Zuletzt wollte ich dir nicht versagen, was du fr dein

einziges Glck zu halten schienst. Du wolltest von allen Unruhen, die du bei Hof, im Militr, auf Reisen erlebt hattest, dich an meiner Seite erholen, zur Besinnung kommen, des Lebens genieen; aber auch nur mit mir allein. Meine einzige Tochter tat ich in Pension, wo sie sich freilich mannigfaltiger ausbildet, als bei einem lndlichen Aufenthalte geschehen knnte; und nicht sie allein, auch Ottilien, meine liebe Nichte, tat ich dorthin, die vielleicht zur huslichen Gehlfin unter meiner Anleitung am besten herangewachsen wre. Das alles geschah mit deiner Einstimmung, blo damit wir uns selbst leben, blo damit wir das frh so sehnlich gewnschte, endlich spt erlangte Glck ungestrt genieen mchten. So haben wir unsern lndlichen Aufenthalt angetreten. Ich bernahm das Innere, du das uere und was ins Ganze geht. Meine Einrichtung ist gemacht, dir in allem entgegenzukommen, nur fr dich allein zu leben; la uns wenigstens eine Zeitlang versuchen, inwiefern wir auf diese Weise miteinander ausreichen." "Da das Zusammenhngende, wie du sagst, eigentlich euer Element ist," versetzte Eduard, "so mu man euch freilich nicht in einer Folge reden hren oder sich entschlieen, euch recht zu geben; und du sollst auch recht haben bis auf den heutigen Tag. Die Anlage, die wir bis jetzt zu unserm Dasein gemacht haben, ist von guter Art; sollen wir aber nichts weiter darauf bauen, und soll sich nichts weiter daraus entwickeln? Was ich im Garten leiste, du im Park, soll das nur fr Einsiedler getan sein?" "Recht gut!" versetzte Charlotte, "recht wohl! Nur da wir nichts Hinderndes, Fremdes hereinbringen! Bedenke, da unsre Vorstze, auch was die Unterhaltung betrifft, sich gewissermaen nur auf unser beiderseitiges Zusammensein bezogen. Du wolltest zuerst die Tagebcher deiner Reise mir in ordentlicher Folge mitteilen, bei dieser Gelegenheit so manches dahin Gehrige von Papieren in Ordnung bringen und unter meiner Teilnahme, mit meiner Beihlfe aus diesen

unschtzbaren, aber verworrenen Heften und Blttern ein fr uns und andere erfreuliches Ganze zusammenstellen. Ich versprach, dir an der Abschrift zu helfen, und wir dachten es uns so bequem, so artig, so gemtlich und heimlich, die Welt, die wir zusammen nicht sehen sollten, in der Erinnerung zu durchreisen. Ja, der Anfang ist schon gemacht. Dann hast du die Abende deine Flte wieder vor genommen, begleitest mich am Klavier; und an Besuchen aus der Nachbarschaft und in die Nachbarschaft fehlt es uns nicht. Ich wenigstens habe mir aus allem diesem den ersten wahrhaft frhlichen Sommer zusammengebaut, den ich in meinem Leben zu genieen dachte." "Wenn mir nur nic ht", versetzte Eduard, indem er sich die Stirne rieb, "bei alle dem, was du mir so liebevoll und verstndig wiederholst, immer der Gedanke beiginge, durch die Gegenwart des Hauptmanns wrde nichts gestrt, ja vielmehr alles beschleunigt und neu belebt. Auc h er hat einen Teil meiner Wanderungen mitgemacht; auch er hat manches, und in verschiedenem Sinne, sich angemerkt: wir benutzten das zusammen, und alsdann wrde es erst ein hbsches Ganze werden." "So la mich denn dir aufrichtig gestehen," entgegnete Charlotte mit einiger Ungeduld, "da diesem Vorhaben mein Gefhl widerspricht, da eine Ahnung mir nichts Gutes weissagt." "Auf diese Weise wret ihr Frauen wohl unberwindlich," versetzte Eduard, "erst verstndig, da man nicht widersprechen kann, liebevoll, da man sich gern hingibt, gefhlvoll, da man euch nicht weh tun mag, ahnungsvoll, da man erschrickt." "Ich bin nicht aberglubisch", versetzte Charlotte, "und gebe nichts auf diese dunklen Anregungen, insofern sie nur solche wren; aber es sind meistenteils unbewute Erinnerungen glcklicher und unglcklicher Folgen, die wir an eigenen oder fremden Handlungen erlebt haben. Nichts ist bedeutender in jedem Zustande als die Dazwischenkunft eines Dritten. Ich habe

Freunde gesehen, Geschwister, Liebende, Gatten, deren Verhltnis durch den zuflligen oder gewhlten Hinzutritt einer neuen Person ganz und gar verndert, deren Lage vllig umgekehrt wurde." "Das kann wohl geschehen", versetzte Eduard, "bei Menschen, die nur dunkel vor sich hinleben, nicht bei solchen, die, schon durch Erfahrung aufgeklrt, sich mehr bewut sind." "Das Bewutsein, mein Liebster," entgegnete Charlotte, "ist keine hinlngliche Waffe, ja manchmal eine gefhrliche fr den, der sie fhrt; und aus diesem allen tritt wenigstens soviel hervor, da wir uns ja nicht bereilen sollen. Gnne mir noch einige Tage, entscheide nicht!" "Wie die Sache steht," erwiderte Eduard, "werden wir uns auch nach mehreren Tagen immer bereilen. Die Grnde fr und dagegen haben wir wechselsweise vorgebracht; es kommt auf den Entschlu an, und da wr es wirklich das Beste, wir gben ihn dem Los anheim." "Ich wei," versetzte Charlotte, "da du in zweifelhaften Fllen gerne wettest oder wrfelst; bei einer so ernsthaften Sache hingegen wrde ich dies fr einen Frevel halten." "Was soll ich aber dem Hauptmann schreiben?" rief Eduard aus; "denn ich mu mich gleich hinsetzen." "Einen ruhigen, vernnftigen, trstlichen Brief," sagte Charlotte. "Das heit soviel wie keinen," versetzte Eduard. "Und doch ist es in manchen Fllen", versetzte Charlotte, "notwendig und freundlich, lieber nichts zu schreiben, als nicht zu schreiben."

Zweites KapitelEduard fand sich allein auf seinem Zimmer, und wirklich hatte die Wiederholung seiner Lebensschicksale aus dem Munde Charlottens, die Vergegenwrtigung ihres beider seitigen Zustandes, ihrer Vorstze sein lebhaftes Gemt angenehm aufgeregt. Er hatte sich in ihrer Nhe, in ihrer Gesellschaft so glcklich gefhlt, da er sich einen freundlichen, teilnehmenden, aber ruhigen und auf nichts hindeutenden Brief an den Hauptmann ausdachte. Als er aber zum Schreibtisch ging und den Brief des Freundes aufnahm, um ihn nochmals durchzulesen, trat ihm sogleich wieder der traurige Zustand des trefflichen Mannes entgegen; alle Empfindungen, die ihn diese Tage gepeinigt hatten, wachten wieder auf, und es schien ihm unmglich, seinen Freund einer so ngstlichen Lage zu berlassen. Sich etwas zu versagen, war Eduard nicht gewohnt. Von Jugend auf das einzige, verzogene Kind reicher Eltern, die ihn zu einer seltsamen, aber hchst vorteilhaften Heirat mit einer viel lteren Frau zu bereden wuten, von dieser auch auf alle Weise verzrtelt, indem sie sein gutes Betragen gegen sie durch die grte Freigebigkeit zu erwidern suchte, nach ihrem baldigen Tode sein eigner Herr, auf Reisen unabhngig, jeder Abwechslung, jeder Vernderung mchtig, nichts bertriebenes wollend, aber viel und vielerlei wollend freimtig, wohlttig, brav, ja tapfer im Fall - was konnte in der Welt seinen Wnschen entgegenstehen! Bisher war alles nach seinem Sinne gegangen, auch zum Besitz Charlottens war er gelangt, den er sich durch eine hartnckige, ja romanenhafte Treue doch zuletzt erworben hatte; und nun fhlte er sich zum erstenmal widersprochen zum erstenmal gehindert, eben da er seinen Jugendfreund an sich heranziehen, da er sein ganzes Dasein gleichsam abschlieen

wollte. Er war verdrielich, ungeduldig, nahm einigemal die Feder und legte sie nieder, weil er nicht einig mit sich werden konnte, was er schreiben sollte. Gegen die Wnsche seiner Frau wollte er nicht, nach ihrem Verlangen konnte er nicht; unruhig wie er war, sollte er einen ruhigen Brief schreiben; es wre ihm ganz unmglich gewesen. Das Natrlichste war, da er Aufschub suchte. Mit wenig Worten bat er seinen Freund um Verzeihung, da er diese Tage nicht geschrieben, da er heut nicht umstndlich schreibe, und versprach fr nchstens ein bedeutenderes, ein beruhigendes Blatt. Charlotte benutzte des andern Tags auf einem Spaziergang nach derselben Stelle die Gelegenheit, das Gesprch wieder anzuknpfen, vielleicht in der berzeugung, da man einen Vorsatz nicht sicherer abstumpfen kann, als wenn man ihn fters durchspricht. Eduarden war diese Wiederholung erwnscht. Er uerte sich nach seiner Weise freundlich und angenehm; denn wenn er, empfnglich wie er war, leicht aufloderte, wenn sein lebhaftes Begehren zudringlich ward, wenn seine Hartnckigkeit ungeduldig machen konnte, so waren doch alle seine uerungen durch eine vollkommene Schonung des andern dergestalt gemildert, da man ihn immer noch liebenswrdig finden mute, wenn man ihn auch beschwerlich fand. Auf eine solche Weise brachte er Charlotten diesen Morgen erst in die heiterste Laune, dann durch anmutige Gesprchswendungen ganz aus der Fassung, so da sie zuletzt ausrief: "Du willst gewi, da ich das, was ich dem Ehemann versagte, dem Liebhaber zugestehen soll. Wenigstens, mein Lieber," fuhr sie fort, "sollst du gewahr werden, da deine Wnsche, die freundliche Lebhaftigkeit, womit du sie ausdrckst, mich nicht ungerhrt, mich nicht unbewegt lassen. Sie ntigen mich zu einem Gestndnis. Ich habe dir bisher auch etwas verborgen. Ich befinde mich in einer hnlichen Lage wie

du und habe mir schon eben die Gewalt angetan, die ich dir nun ber dich selbst zumute." "Das hr ich gern," sagte Eduard; "ich merke wohl, im Ehestand mu man sich manchmal streiten, denn dadurch erfhrt man was voneinander." "Nun sollst du also erfahren," sagte Charlotte, "da es mir mit Ottilien geht wie dir mit dem Hauptmann. Hchst ungern wei ich das liebe Kind in der Pension, wo sie sich in sehr drckenden Verhltnissen befindet. Wenn Luciane, meine Tochter, die fr die Welt geboren ist, sich dort fr die Welt bildet, wenn sie Sprachen, Geschichtliches und was sonst von Kenntnissen ihr mitgeteilt wird, so wie ihre Noten und Variationen vom Blatte wegspielt; wenn bei einer lebhaften Natur und bei einem glcklichen Gedchtnis sie, man mchte wohl sagen, alles vergit und im Augenblicke sich an alles erinnert; wenn sie durch Freiheit des Betragens, Anmut im Tanze, schickliche Bequemlichkeit des Gesprchs sich vor allen auszeichnet und durch ein angebornes herrschendes Wesen sich zur Knigin des kleinen Kreises macht, wenn die Vorsteherin dieser Anstalt sie als kleine Gottheit ansieht, die nun erst unter ihren Hnden recht gedeiht, die ihr Ehre machen, Zutrauen erwerben und einen Zuflu von andern jungen Personen verschaffen wird, wenn die ersten Seiten ihrer Briefe und Monatsberichte immer nur Hymnen sind ber die Vortrefflichk eit eines solchen Kindes, die ich denn recht gut in meine Prose zu bersetzen wei: so ist dagegen, was sie schlielich von Ottilien erwhnt, nur immer Entschuldigung auf Entschuldigung, da ein brigens so schn heranwachsendes Mdchen sich nicht entwickeln, keine Fhigkeiten und keine Fertigkeiten zeigen wolle. Das wenige, was sie sonst noch hinzufgt, ist gleichfalls fr mich kein Rtsel, weil ich in diesem lieben Kinde den ganzen Charakter ihrer Mutter, meiner wertesten Freundin, gewahr werde, die sich neben mir entwickelt hat und deren Tochter ich gewi, wenn ich Erzieherin

oder Aufseherin sein knnte, zu einem herrlichen Geschpf heraufbilden wollte. Da es aber einmal nicht in unsern Plan geht und man an seinen Lebensverhltnissen nicht soviel zupfen und zerren, nicht immer was Neues an sie heranziehen soll, so trag ich das lieber, ja ich berwinde die unangenehme Empfindung, wenn meine Tochter, welche recht gut wei, da die arme Ottilie ganz von uns abhngt, sich ihrer Vorteile bermtig gegen sie bedient und unsre Wohltat dadurch gewissermaen vernichtet. Doch wer ist so gebildet, da er nicht seine Vorzge gegen andre manchmal auf eine grausame Weise geltend machte! Wer steht so hoch, da er unter einem solchen Druck nicht manchmal leiden mte! Durch diese Prfungen wchst Ottiliens Wert; aber seitdem ich den peinlichen Zustand recht deutlich einsehe, habe ich mir Mhe gegeben, sie anderwrts unterzubringen. Stndlich soll mir eine Antwort kommen, und alsdann will ich nicht zaudern. So steht es mit mir, mein Bester. Du siehst, wir tragen beiderseits dieselben Sorgen in einem treuen, freundschaftlichen Herzen. La sie uns gemeinsam tragen, da sie sich nicht gegeneinander aufheben!" "Wir sind wunderliche Menschen," sagte Eduard lchelnd. "Wenn wir nur etwas, das uns Sorge macht, aus unserer Gegenwart verbannen knnen, da glauben wir schon, nun sei es abgetan. Im ganzen knnen wir vieles aufopfern, aber uns im einzelnen herzugeben, ist eine Forderung, der wir selten gewachsen sind. So war meine Mutter. Solange ich als Knabe oder Jngling bei ihr lebte, konnte sie der augenblicklichen Besorgnisse nicht los werden. Versptete ich mich bei einem Ausritt, so mute mir ein Unglck begegnet sein; durchnetzte mich ein Regenschauer, so war das Fieber mir gewi. Ich verreiste, ich entfernte mich von ihr, und nun schien ich ihr kaum anzugehren." "Betrachten wir es genauer," fuhr er fort, "so handeln wir beide tricht und unverantwortlich, zwei der edelsten Naturen,

die unser Herz so nahe angehen, im Kummer und im Druck zu lassen, nur um uns keiner Gefahr auszusetzen. Wenn dies nicht selbstschtig genannt werden soll, was will man so nennen! Nimm Ottilien, la mir den Hauptmann, und in Gottes Namen sei der Versuch gemacht!" "Es mchte noch zu wagen sein," sagte Charlotte bedenklich, "wenn die Gefahr fr uns allein wre. Glaubst du denn aber, da es rtlich sei, den Hauptmann mit Ottilien als Hausgenossen zu sehen, einen Mann ohngefhr in deinen Jahren, in den Jahren da ich dir dieses Schmeichelhafte nur gerade unter die Augen sage -, wo der Mann erst liebefhig und erst der Liebe wert wird, und ein Mdchen von Ottiliens Vorzgen?" "Ich wei doch auch nicht," versetzte Eduard, "wie du Ottilien so hoch stellen kannst! Nur dadurch erklre ich mir's, da sie deine Neigung zu ihrer Mutter geerbt hat. Hbsch ist sie, das ist wahr, und ich erinnere mich, da der Hauptmann mich auf sie aufmerksam machte, als wir vor einem Jahre zurckkamen und sie mit dir bei deiner Tante trafen. Hbsch ist sie, besonders hat sie schne Augen; aber ich wte doch nicht, da sie den mindesten Eindruck auf mich gemacht htte." "Das ist lblich an dir," sagte Charlotte, "denn ich war ja gegenwrtig; und ob sie gleich viel jnger ist als ich, so hatte doch die Gegenwart der ltern Freundin so viele Reize fr dich, da du ber die aufblhende, versprechende Schnheit hinaussahest. Es gehrt auch dies zu deiner Art zu sein, deshalb ich so gern das Leben mit dir teile." Charlotte, so aufrichtig sie zu sprechen schien, verhehlte doch etwas. Sie hatte nmlich damals dem von Reisen zurckkehrenden Eduard Ottilien absichtlich vorgefhrt, um dieser geliebten Pflegetochter eine so groe Partie zuzuwenden; denn an sich selbst in bezug auf Eduard dachte sie nicht mehr. Der Hauptmann war auch angestiftet, Eduarden aufmerksam zu machen; aber dieser, der seine frhe Liebe zu Charlotten hartnckig im Sinne behielt, sah weder rechts noch links und

war nur glcklich in dem Gefhl, da es mglich sei, eines so lebhaft gewnschten und durch eine Reihe von Ereignissen scheinbar auf immer versagten Gutes endlich doch teilhaft zu werden. Eben stand das Ehepaar im Begriff, die neuen Anlagen herunter nach dem Schlosse zu gehen, als ein Bedienter ihnen hastig entgegenstieg und mit lachendem Munde sich so schon von unten herauf vernehmen lie: "Kommen Euer Gnaden doch ja schnell herber! Herr Mittler ist in den Schlohof gesprengt. Er hat uns alle zusammengeschrieen, wir sollen sie aufsuchen, wir sollen Sie fragen, ob es not tue. 'Ob es not tut', rief er uns nach, 'hrt ihr? aber geschwind, geschwind!'" "Der drollige, Mann!" rief Eduard aus; "kommt er nicht gerade zur rechten Zeit, Charlotte? - Geschwind zurck!" befahl er dem Bedienten; "sage ihm, es tue not, sehr not! Er soll nur absteigen. Versorgt sein Pferd; fhrt ihn in den Saal, setzt ihm ein Frhstck vor! Wir kommen gleich. La uns den nchsten Weg nehmen!" sagte er zu seiner Frau und schlug den Pfad ber den Kirchhof ein, den er sonst zu vermeiden pflegte. Aber wie verwundert war er, als er fand, da Charlotte auch hier fr das Gefhl gesorgt habe. Mit mglichster Schonung der alten Denkmler hatte sie alles so zu vergleichen und zu ordnen gewut, da es ein angenehmer Raum erschien, auf dem das Auge und die Einbildungskraft gerne verweilten. Auch dem ltesten Stein hatte sie seine Ehre gegnnt. Den Jahren nach waren sie an der Mauer aufgerichtet, eingefgt oder sonst angebracht; der hohe Sockel der Kirche selbst war damit vermannigfaltigt und geziert. Eduard fhlte sich sonderbar berrascht, wie er durch die kleine Pforte hereintrat: er drckte Charlotten die Hand, und im Auge stand ihm eine Trne. Aber der nrrische Gast verscheuchte sie gleich. Denn dieser hatte keine Ruh im Schlo gehabt, war spornstreichs durchs

Dorf bis an das Kirchhoftor geritten, wo er still hielt und seinen Freunden entgegenrief: "Ihr habt mich doch nicht zum besten? Tuts wirklich not, so bleibe ich zu Mittage hier. Haltet mich nicht auf! Ich habe heute noch viel zu tun." "Da Ihr Euch so weit bemht habt," rief ihm Eduard entgegen, "so reitet noch vollends herein; wir kommen an einem ernsthaften Orte zusammen; und seht, wie schn Charlotte diese Trauer ausgeschmckt hat!" "Hier herein", rief der Reiter, "komm ich weder zu Pferde, noch zu Wagen, noch zu Fue. Diese da ruhen in Frieden, mit ihnen habe ich nichts zu schaffen. Gefallen mu ich mirs lassen, wenn man mich einmal, die Fe voran, hereinschleppt. Also ists Ernst?" "Ja," rief Charlotte, "recht Ernst! Es ist das erstemal, da wir neuen Gatten in Not und Verwirrung sind, woraus wir uns nicht zu helfen wissen." "Ihr seht nicht darnach aus," versetzte er, "doch will ichs glauben. Fhrt ihr mich an, so la ich euch knftig stecken. Folgt geschwinde nach! Meinem Pferde mag die Erholung zugut kommen." Bald fanden sich die dreie im Saale zusammen; das Essen ward aufgetragen, und Mittler erzhlte von seinen heutigen Taten und Vorhaben. Dieser seltsame Mann war frherhin Geistlicher gewesen und hatte sich bei einer rastlosen Ttigkeit in seinem Amte dadurch ausgezeichnet, da er alle Streitigkeiten, sowo hl die huslichen als die nachbarlichen, erst der einzelnen Bewohner, sodann ganzer Gemeinden und mehrerer Gutsbesitzer zu stillen und zu schlichten wute. Solange er im Dienste war, hatte sich kein Ehepaar scheiden lassen, und die Landeskollegien wurden mit keinen Hndeln und Prozessen von dorther behelliget. Wie ntig ihm die Rechtskunde sei, ward er zeitig gewahr. Er warf sein ganzes Studium darauf und fhlte sich bald den geschicktesten

Advokaten gewachsen. Sein Wirkungskreis dehnte sich wunderbar aus; und man war im Begriff, ihn nach der Residenz zu ziehen, um das von oben herein zu vollenden, was er von unten herauf begonnen hatte, als er einen ansehnlichen Lotteriegewinst tat, sich ein miges Gut kaufte, es verpachtete und zum Mittelpunkt seiner Wirksamkeit machte, mit dem festen Vorsatz oder vielmehr nach alter Gewohnheit und Neigung, in keinem Hause zu verweilen, wo nichts zu schlichten und nichts zu helfen wre. Diejenigen, die auf die Namensbedeutungen aberglubisch sind, behaupten, der Name Mittler habe ihn gentigt, diese seltsamste aller Bestimmungen zu ergreifen. Der Nachtisch war aufgetragen, als der Gast seine Wirte ernstlich vermahnte, nicht weiter mit ihren Entdeckungen zurckzuhalten, weil er gleich nach dem Kaffee fort msse. Die beiden Eheleute machten umstndlich ihre Bekenntnisse; aber kaum hatte er den Sinn der Sache vernommen, als er verdrielich vom Tische auffuhr, ans Fenster sprang und sein Pferd zu satteln befahl. "Entweder ihr kennt mich nicht," rief er aus, "ihr versteht mich nicht, oder ihr seid sehr boshaft. Ist denn hier ein Streit? Ist denn hier eine Hlfe ntig? Glaubt ihr, da ich in der Welt bin, um Rat zu geben? Das ist das dmmste Handwerk, das einer treiben kann. Rate sich jeder selbst und tue, was er nicht lassen kann. Gert es gut, so freue er sich seiner Weisheit und seines Glcks; lufts bel ab, dann bin ich bei der Hand. Wer ein bel los sein will, der wei immer, was er will; wer was Bessers will, als er hat, der ist ganz starblind - Ja ja! lacht nur - er spielt Blindekuh, er ertappts vielleicht; aber was? Tut, was ihr wollt: es ist ganz einerlei! Nehmt die Freunde zu euch, lat sie weg: alles einerlei! Das Vernnftigste habe ich milingen sehen, das Abgeschmackteste gelingen. Zerbrecht euch die Kpfe nicht, und wenns auf eine oder die andre Weise bel abluft, zerbrecht

sie euch auch nicht! Schickt nur nach mir, und euch soll geholfen werden. Bis dahin euer Diener!" Und so schwang er sich aufs Pferd, ohne den Kaffee abzuwarten. "Hier siehst du," sagte Charlotte, "wie wenig eigentlich ein Dritter fruchtet, wenn es zwischen zwei nah verbundenen Personen nicht ganz im Gleichgewicht steht. Gegenwrtig sind wir doch wohl noch verworrner und ungewisser, wenns mglich ist, als vorher." Beide Gatten wrden auch wohl noch eine Zeitlang geschwankt haben, wre nicht ein Brief des Hauptmanns im Wechsel gegen Eduards letzten angekommen. Er hatte sich entschlossen, eine der ihm angebotenen Stellen anzunehmen, ob sie ihm gleich keineswegs gem war. Er sollte mit vornehmen und reichen Leuten die Langeweile teilen, indem man auf ihn das Zutrauen setzte, da er sie vertreiben wrde. Eduard bersah das ganze Verhltnis recht deutlich und malte es noch recht scharf aus. "Wollen wir unsern Freund in einem solchen Zustande wissen?" rief er. "Du kannst nicht so grausam sein, Charlotte!" "Der wunderliche Mann, unser Mittler," versetzte Charlotte, "hat am Ende doch recht. Alle solche Unternehmungen sind Wagestcke. Was daraus werden kann, sieht kein Mensch voraus. Solche neue Verhltnisse knnen fruchtbar sein an Glck und an Unglck, ohne da wir uns dabei Verdienst oder Schuld sonderlich zurechnen drfen. Ich fhle mich nicht stark genug, dir lnger zu widerstehen. La uns den Versuch machen! Das einzige, was ich dich bitte: es sei nur auf kurze Zeit angesehen. Erlaube mir, da ich mich ttiger als bisher fr ihn verwende und meinen Einflu, meine Verbindungen eifrig benutze und aufrege, ihm eine Stelle zu verschaffen, die ihm nach seiner Weise einige Zufriedenheit gewhren kann."

Eduard versicherte seine Gattin auf die anmutigste Weise der lebhaftesten Dankbarkeit. Er eilte mit freiem, frohem Gemt, seinem Freunde Vorschlge schriftlich zu tun. Charlotte mute in einer Nachschrift ihren Beifall eigenhndig hinzufgen, ihre freundschaftlichen Bitten mit den seinen vereinigen. Sie schrieb mit gewandter Feder gefllig und verbindlich, aber doch mit einer Art von Hast, die ihr sonst nicht gewhnlich war; und was ihr nicht leicht begegnete, sie verunstaltete das Papier zuletzt mit einem Tintenfleck, der sie rgerlich machte und nur grer wurde, indem sie ihn wegwischen wollte. Eduard scherzte darber, und weil noch Platz war, fgte er eine zweite Nachschrift hinzu: der Freund solle aus diesen Zeichen die Ungeduld sehen, womit er erwartet werde, und nach der Eile, womit der Brief geschrieben, die Eilfertigkeit seiner Reise einrichten. Der Bote war fort, und Eduard glaubte seine Dankbarkeit nicht berzeugender ausdrcken zu knnen, als indem er aberund abermals darauf bestand, Charlotte solle zugleich Ottilien aus der Pension holen lassen. Sie bat um Aufschub und wute diesen Abend bei Eduard die Lust zu einer musikalischen Unterhaltung aufzuregen. Charlotte spielte sehr gut Klavier, Eduard nicht ebenso bequem die Flte; denn ob er sich gleich zuzeit en viel Mhe gegeben hatte, so war ihm doch nicht die Geduld, die Ausdauer verliehen, die zur Ausbildung eines solchen Talentes gehrt. Er fhrte deshalb seine Partie sehr ungleich aus, einige Stellen gut, nur vielleicht zu geschwind; bei andern wieder hielt er an, weil sie ihm nicht gelufig waren, und so wr' es fr jeden andern schwer gewesen, ein Duett mit ihm durchzubringen. Aber Charlotte wute sich darein zu finden; sie hielt an und lie sich wieder von ihm fortreien und versah also die doppelte Pflicht eines guten Kapellmeisters und einer klugen Hausfrau, die im ganzen immer das Ma zu erhalten wissen, wenn auch die einzelnen Passagen nicht immer im Takt bleiben sollten.

Drittes KapitelDer Hauptmann kam. Er hatte einen sehr verstndigen Brief vorausgeschickt, der Charlotten vllig beruhigte. Soviel Deutlichkeit ber sich selbst, soviel Klarheit ber seinen eigenen Zustand, ber den Zustand seiner Freunde gab eine heitere und frhliche Aussicht. Die Unterhaltungen der ersten Stunden waren, wie unter Freunden zu geschehen pflegt, die sich eine Zeitlang nicht gesehen haben, lebhaft, ja fast erschpfend. Gegen Abend veranlate Charlotte einen Spaziergang auf die neuen Anlagen. Der Hauptmann gefiel sich sehr in der Gegend und bemerkte jede Schnheit, welche durch die neuen Wege erst sichtbar und geniebar geworden. Er hatte ein gebtes Auge und dabei ein gengsames; und ob er gleich das Wnschenswerte sehr wohl kannte, machte er doch nicht, wie es fters zu geschehen pflegt, Personen, die ihn in dem Ihrigen herumfhrten, dadurch einen blen Humor, da er mehr verlangte, als die Umstnde zulieen, oder auch wohl gar an etwas Vollkommneres erinnerte, das er anderswo gesehen. Als sie die Mooshtte erreichten, fanden sie solche auf das lustigste ausgeschmckt, zwar nur mit knstlichen Blumen und Wintergrn, doch darunter so schne Bschel natrlichen Weizens und anderer Feld - und Baumfrchte angebracht, da sie dem Kunstsinn der Anordnenden zur Ehre gereichten. "Obschon mein Mann nicht liebt, da man seinen Geburts- oder Namenstag feire, so wird er mir doch heute nicht verargen, einem dreifachen Feste diese wenigen Krnze zu widmen." "Ein dreifaches?" rief Eduard. - "Ganz gewi!" versetzte Charlotte; "unseres Freundes Ankunft behandeln wir billig als ein Fest; und dann habt ihr beide wohl nicht daran gedacht, da heute euer Namenstag ist. Heit nicht einer Otto so gut als der andere?"

Beide Freunde reichten sich die Hnde ber den kleinen Tisch. "Du erinnerst mich", sagte Eduard, "an dieses jugendliche Freund schaftsstck. - Als Kinder hieen wir beide so; doch als wir in der Pension zusammenlebten und manche Irrung daraus entstand, so trat ich ihm freiwillig diesen hbschen, lakonischen Namen ab." "Wobei du denn doch nicht gar zu gromtig warst," sagte der Hauptmann. "Denn ich erinnere mich recht wohl, da dir der Name Eduard besser gefiel, wie er denn auch, von angenehmen Lippen ausgesprochen, einen besonders guten Klang hat." Nun saen sie also zu dreien um dasselbe Tischchen, wo Charlotte so eifrig gegen die Ankunft des Gastes gesprochen hatte. Eduard in seiner Zufriedenheit wollte die Gattin nicht an jene Stunden erinnern, doch enthielt er sich nicht zu sagen: "Fr ein Viertes wre auch noch recht gut Platz." Waldhrner lieen sich in diesem Augenblick vom Schlo herber vernehmen, bejahten gleichsam und bekrftigten die guten Gesinnungen und Wnsche der beisammen verweilenden Freunde. Stillschweigend hrten sie zu, indem jedes in sich selbst zurckkehrte und sein eigenes Glck in so schner Verbindung doppelt empfand. Eduard unterbrach die Pause zuerst, indem er aufstand und vor die Mooshtte hinaustrat. "La uns", sagte er zu Charlotten, "den Freund gleich vllig auf die Hhe fhren, damit er nicht glaube, dieses beschrnkte Tal nur sei unser Erbgut und Aufenthalt; der Blick wird oben freier und die Brust erweitert sich." "So mssen wir diesmal noch", versetzte Charlotte, "den alten, etwas beschwerlichen Fupfad erklimmen; doch, hoffe ich, sollen meine Stufen und Steige nchstens bequemer bis ganz hinauf leiten." Und so gelangte man denn ber Felsen, durch Busch so und Gestruch zur letzten Hhe, die zwar keine Flche, doch

fortlaufende, fruchtbare Rcken bildete. Dorf und Schlo hinterwrts waren nicht mehr zu sehen. In der Tiefe erblickte man ausgebreitete Teiche, drben bewachsene Hgel, an denen sie sich hinzogen, endlich steile Felsen, welche senkrecht den letzten Wasserspiegel entschieden begrenzten und ihre bedeutenden Formen auf der Oberflche desselben abbildeten. Dort in der Schlucht, wo ein starker Bach den Teichen zufiel, lag eine Mhle halb versteckt, die mit ihren Umgebungen als ein freundliches Ruhepltzchen erschien. Mannigfaltig wechselten im ganzen Halbkreise, den man bersah, Tiefen und Hhen, Bsche und Wlder, deren erstes Grn fr die Folge den fllereichsten Anblick versprach. Auch einzelne Baumgruppen hielten an mancher Stelle das Auge fest. Besonders zeichnete zu den Fen der schauenden Freunde sich eine Masse Pappeln und Platanen zunchst an dem Rande des mittleren Teiches vorteilhaft aus. Sie stand in ihrem besten Wachstum, frisch, gesund, empor und in die Breite strebend. Eduard lenkte besonders auf diese die Aufmerksamkeit seines Freundes. "Diese habe ich", rief er aus, "in meiner Jugend selbst gepflanzt. Es waren junge Stmmchen, die ich rettete, als mein Vater, bei der Anlage zu einem neuen Teil des groen Schlogartens, sie mitten im Sommer ausroden lie. Ohne Zweifel werden sie auch dieses Jahr sich durch neue Triebe wieder dankbar hervortun." Man kehrte zufrieden und heiter zurck. Dem Gaste ward auf dem rechten Flgel des Schlosses ein freundliches, gerumiges Quartier angewiesen, wo er sehr bald Bcher, Papiere und Instrumente aufgestellt und geordnet hatte, um in seiner gewohnten Ttigkeit fortzufahren. Aber Eduard lie ihm in den ersten Tagen keine Ruhe; er fhrte ihn berall herum, bald zu Pferde, bald zu Fue, und machte ihn mit der Gegend, mit dem Gute bekannt; wobei er ihm zugleich die Wnsche mitteilte, die er zu besserer Kenntnis und vorteilhafterer Benutzung desselben seit langer Zeit bei sich hegte.

"Das erste, was wir tun sollten," sagte der Hauptmann, "wre, da ich die Gegend mit der Magnetnadel aufnhme. Es ist das ein leichtes, heiteres Geschft, und wenn es auch nicht die grte Genauigkeit gewhrt, so bleibt es doch immer ntzlich und fr den Anfang erfreulich; auch kann man es ohne groe Beihlfe leisten und wei gewi, da man fertig wird. Denkst du einmal an eine genauere Ausmessung, so lt sich dazu wohl auch noch Rat finden." Der Hauptmann war in dieser Art des Aufnehmens sehr gebt. Er hatte die ntige Gertschaft mitgebracht und fing sogleich an. Er unterrichtete Eduarden, einige Jger und Bauern, die ihm bei dem Geschft behlflich sein sollten. Die Tage waren gnstig; die Abende und die frhsten Morgen brachte er mit Aufzeichnen und Schraffieren zu. Schnell war auch alles laviert und illuminiert, und Eduard sah seine Besitzungen auf das deutlichste aus dem Papier wie eine neue Schpfung hervorgewachsen. Er glaubte sie jetzt erst kennenzulernen, sie schienen ihm jetzt erst recht zu gehren. Es gab Gelegenheit, ber die Gegend, ber Anlagen zu sprechen, die man nach einer solchen bersicht viel besser zustande bringe, als wenn man nur einzeln, nach zuflligen Eindrcken, an der Natur herumversuche. "Das mssen wir meiner Frau deutlich machen," sagte Eduard. "Tue das nicht!" versetzte der Hauptmann, der die berzeugungen anderer nicht gern mit den seinigen durchkreuzte, den die Erfahrung gelehrt hatte, da die Ansichten der Menschen viel zu mannigfaltig sind, als da sie, selbst durch die vernnftigsten Vorstellungen, auf Einen Punkt versammelt werden knnten. "Tue es nicht!" rief er, "sie drfte leicht irre werden. Es ist ihr wie allen denen, die sich nur aus Liebhaberei mit solchen Dingen beschftigen, mehr daran gelegen, da sie etwas tue, als da etwas getan werde. Man tastet an der Natur, man hat Vorliebe fr dieses oder jenes Pltzchen; man wagt

nicht, dieses oder jenes Hindernis wegzurumen, man ist nicht khn genug, etwas aufzuopfern; man kann sich voraus nicht vorstellen, was entstehen soll, man probiert, es gert, es mirt, man verndert, verndert vielleicht, was man lassen sollte, lt, was man verndern sollte, und so bleibt es zuletzt immer ein Stckwerk, das gefllt und anregt, aber nicht befriedigt." "Gesteh mir aufrichtig," sagte Eduard, "du bist mit ihren Anlagen nicht zufrieden." "Wenn die Ausfhrung den Gedanken erschpfte, der sehr gut ist, so wre nichts zu erinnern. Sie hat sich mhsam durch das Gestein hinaufgeqult und qult nun jeden, wenn du willst, den sie hinauffhrt. Weder nebeneinander noch hintereinander schreitet man mit einer gewissen Freiheit. Der Takt des Schrittes wird jeden Augenblick unterbrochen; und was liee sich nicht noch alles einwenden!" "Wre es denn leicht anders zu machen gewesen?" fragte Eduard. "Gar leicht," versetzte der Hauptmann; "sie durfte nur die eine Felsenecke, die noch dazu unscheinbar ist, weil sie aus kleinen Teilen besteht, wegbrechen, so erlangte sie eine schn geschwungene Wendung zum Aufstieg und zugle ich berflssige Steine, um die Stellen heraufzumauern, wo der Weg schmal und verkrppelt geworden wre. Doch sei dies im engsten Vertrauen unter uns gesagt; sie wird sonst irre und verdrielich. Auch mu man, was gemacht ist, bestehen lassen. Will man weiter Geld und Mhe aufwenden, so wre von der Mooshtte hinaufwrts und ber die Anhhe noch mancherlei zu tun und viel Angenehmes zu leisten." Hatten auf diese Weise die beiden Freunde am Gegenwrtigen manche Beschftigung, so fehlte es nicht an lebhafter und vergnglicher Erinnerung vergangener Tage, woran Charlotte wohl teilzunehmen pflegte. Auch setzte man sich vor, wenn nur die nchsten Arbeiten erst getan wren, an die Reisejournale zu

gehen und auch auf diese Weise die Vergangenheit hervorzurufen. brigens hatte Eduard mit Charlotten allein weniger Stoff zur Unterhaltung, besonders seitdem er den Tadel ihrer Parkanlagen, der ihm so gerecht schien, auf dem Herzen fhlte. Lange verschwieg er, was ihm der Hauptmann vertraut hatte; aber als er seine Gattin zuletzt beschftigt sah, von der Mooshtte hinauf zur Anhhe wieder mit Stfchen und Pfdchen sich emporzuarbeiten, so hielt er nicht lnger zurck, sondern machte sie nach einigen Umschweifen mit seinen neuen Einsichten bekannt. Charlotte stand betroffen. Sie war geistreich genug, um schnell einzusehen, da jene recht hatten; aber das Getane widersprach, es war nun einmal so gemacht; sie hatte es recht, sie hatte es wnschenswert gefunden, selbst das Getadelte war ihr in jedem einzelnen Teile lieb; sie widerstrebte der berzeugung, sie verteidigte ihre kleine Schpfung, sie schalt auf die Mnner, die gleich ins Weite und Groe gingen, aus einem Scherz, aus einer Unterhaltung gleich ein Werk machen wollten, nicht an die Kosten denken, die ein erweiterter Plan durchaus nach sich zieht. Sie war bewegt, verletzt, verdrielich; sie konnte das Alte nicht fahren lassen, das Neue nicht ganz abweisen; aber entschlossen wie sie war, stellte sie sogleich die Arbeit ein und nahm sich Zeit, die Sache zu bedenken und bei sich reif werden zu lassen. Indem sie nun auch diese ttige Unterhaltung vermite, da indes die Mnner ihr Geschft immer geselliger betrieben und besonders die Kunstgrten und Glashuser mit Eifer besorgten, auch dazwischen die gewhnlichen ritterlichen bungen fortsetzten, als Jagen, Pferdekaufen, -tauschen, -bereiten und einfahren, so fhlte sich Charlotte tglich einsamer. Sie fhrte ihren Briefwechsel auch um des Hauptmanns willen lebhafter, und doch gab es manche einsame Stunde. Desto angenehmer

und unterhaltender waren ihr die Berichte, die sie aus der Pensionsanstalt erhielt. Einem weitlufigen Briefe der Vorsteherin, welcher sich wie gewhnlich ber der Tochter Fortschritte mit Behagen verbreitete, war eine kurze Nachschrift hinzugefgt nebst einer Beilage von der Hand eines mnnlichen Gehlfen am Institut, die wir beide mitteilen. Nachschrift der Vorsteherin "Von Ottilien, meine Gndige, htte ich eigentlich nur zu wiederholen, was in meinen vorigen Berichten enthalten ist. Ich wte sie nicht zu schelten, und doch kann ich nicht zufrieden mit ihr sein. Sie ist nach wie vor bescheiden und gefllig gegen andere; aber dieses Zurcktreten, diese Dienstbarkeit will mir nicht gefallen. Euer Gnaden haben ihr neulich Geld und verschiedene Zeuge geschickt. Das erste hat sie nicht angegriffen, die andern liegen auch noch da, unberhrt. Sie hlt freilich ihre Sachen sehr reinlich und gut und scheint nur in diesem Sinn die Kleider zu wechseln. Auch kann ich ihre groe Migkeit im Essen und Trinken nicht loben. An unserm Tisch ist kein berflu; doch sehe ich nichts lieber, als wenn die Kinder sich an schmackhaften und gesunden Speisen satt essen. Was mit Bedacht und berzeugung aufgetragen und vorgelegt ist, soll auch aufgegessen werden. Dazu kann ich Ottilien niemals bringen. Ja, sie macht sich irgendein Geschft, um eine Lcke auszufllen, wo die Dienerinnen etwas versumen, nur um eine Speise oder den Nachtisch zu bergehen. Bei diesem allen kommt jedoch in Betrachtung, da sie manchmal, wie ich erst spt erfahren habe, Kopfweh auf der linken Seite hat, das zwar vorbergeht, aber schmerzlich und bedeutend sein mag. Soviel von diesem brigens so schnen und lieben Kinde."

Beilage des Gehlfen "Unsere vortreffliche Vorsteherin lt mich gewhnlich die Briefe lesen, in welchen sie Beobachtungen ber ihre Zglinge den Eltern und Vorgesetzten mitteilt. Diejenigen, die an Euer Gnaden gerichtet sind, lese ich immer mit doppelter Aufmerksamkeit, mit doppeltem Vergngen; denn indem wir Ihnen zu einer Tochter Glck zu wnschen haben, die alle jene glnzenden Eigenschaften vereinigt, wodurch man in der Welt emporsteigt, so mu ich wenigstens Sie nicht minder glcklich preisen, da Ihnen in Ihrer Pflegetochter ein Kind beschert ist, das zum Wohl, zur Zufriedenheit and erer und gewi auch zu seinem eigenen Glck geboren ward. Ottilie ist fast unser einziger Zgling, ber den ich mit unserer so verehrten Vorsteherin nicht einig werden kann. Ich verarge dieser ttigen Frau keinesweges, da sie verlangt, man soll die Frchte ihrer Sorgfalt uerlich und deutlich sehen; aber es gibt auch verschlossene Frchte, die erst die rechten, kernhaften sind und die sich frher oder spter zu einem schnen Leben entwickeln. Dergleichen ist gewi Ihre Pflegetochter. Solange ich sie unterrichte, sehe ich sie immer gleichen Schrittes gehen, langsam, langsam vorwrts, nie zurck. Wenn es bei einem Kinde ntig ist, vom Anfange anzufangen, so ist es gewi bei ihr. Was nicht aus dem Vorhergehenden folgt, begreift sie nicht. Sie steht unfhig, ja stckisch vor einer leicht falichen Sache, die fr sie mit nichts zusammenhngt. Kann man aber die Mittelglieder finden und ihr deutlich machen, so ist ihr das Schwerste begreiflich. Bei diesem langsamen Vorschreiten bleibt sie gegen ihre Mitschlerinnen zurck, die mit ganz andern Fhigkeiten immer vorwrtseilen, alles, auch das Unzusammenhngende, leicht fassen, leicht behalten und bequem wieder anwenden. So lernt sie, so vermag sie bei einem beschleunigten Lehrvortrage gar nichts; wie es der Fall in einigen Stunden ist, welche von

trefflichen, aber raschen und ungeduldigen Lehrern gegeben werden. Man hat ber ihre Handschrift geklagt, ber ihre Unfhigkeit, die Regeln der Grammatik zu fassen. Ich habe diese Beschwerde nher untersucht: es ist wahr, sie schreibt langsam und steif, wenn man so will, doch nicht zaghaft und ungestalt. Was ich ihr von der franzsischen Sprache, die zwar mein Fach nicht ist, schrittweise mitteilte, begriff sie leicht. Freilich ist es wunderbar: sie wei vieles und recht gut; nur wenn man sie fragt, scheint sie nichts zu wissen. Soll ich mit einer allgemeinen Bemerkung schlieen, so mchte ich sagen: sie lernt nicht als eine, die erzogen werden soll, sondern als eine, die erziehen will; nicht als Schlerin, sondern als knftige Lehrerin. Vielleicht kommt es Euer Gnaden sonderbar vor, da ich selbst als Erzieher und Lehrer jemanden nicht mehr zu loben glaube, als wenn ich ihn fr meinesgleichen erklre. Euer Gnaden bessere Einsicht, tiefere Menschen- und Weltkenntnis wird aus meinen beschrnkten, wohlgemeinten Worten das Beste nehmen. Sie werden sich berzeugen, da auch an diesem Kinde viel Freude zu hoffen ist. Ich empfehle mich zu Gnaden und bitte um die Erlaubnis, wieder zu schreiben, sobald ich glaube, da mein Brief etwas Bedeutendes und Angenehmes enthalten werde." Charlotte freute sich ber dieses Blatt. Sein Inhalt traf ganz nahe mit den Vorstellungen zusammen, welche sie von Ottilien hegte; dabei konnte sie sich eines Lchelns nicht enthalten, indem der Anteil des Lehrers herzlicher zu sein schien, als ihn die Einsicht in die Tugenden eines Zglings hervorzubringen pflegt. Bei ihrer ruhigen, vorurteilsfreien Denkweise lie sie auch ein solches Verhltnis, wie so viele andre, vor sich liegen; die Teilnahme des verstndigen Mannes an Ottilien hielt sie wert; denn sie hatte in ihrem Leben genugsam einsehen gelernt, wie hoch jede wahre Neigung zu schtzen sei in einer Welt, wo Gleichgltigkeit und Abneigung eigentlich recht zu Hause sind.

Viertes KapitelDie topographische Karte, auf welcher das Gut mit seinen Umgebungen nach einem ziemlich groen Mastabe charakteristisch und falich durch Federstriche und Farben dargestellt war und welche der Hauptmann durch einige trigonometrische Messungen sicher zu grnden wute, war bald fertig; denn weniger Schlaf als dieser ttige Mann bedurfte kaum jemand, so wie sein Tag stets dem augenblicklichen Zwecke gewidmet und deswegen jederzeit am Abende etwas getan war. "La uns nun", sagte er zu seinem Freunde, "an das brige gehen, an die Gutsbeschreibung, wozu schon genugsame Vorarbeit da sein mu, aus der sich nachher Pachtanschlge und anderes schon entwickeln werden. Nur Eines la uns festsetzen und einrichten: trenne alles, was eigentlich Geschft ist, vom Leben! Das Geschft verlangt Ernst und Strenge, das Leben Willkr; das Geschft die reinste Folge, dem Leben tut eine Inkonsequenz oft not, ja sie ist liebenswrdig und erheiternd. Bist du bei dem einen sicher, so kannst du in dem andern desto freier sein, anstatt da bei einer Vermischung das Sichre durch das Freie weggerissen und aufgehoben wird." Eduard fhlte in diesen Vorschlgen einen leisen Vorwurf. Zwar von Natur nicht unordentlich, konnte er doch niemals dazu kommen, seine Papiere nach Fchern abzuteilen. Das, was er mit andern abzutun hatte, was blo von ihm selbst abhing, es war nicht geschieden, so wie er auch Geschfte und Beschftigung, Unterhaltung und Zerstreuung nicht genugsam voneinander absonderte. Jetzt wurde es ihm leicht, da ein Freund diese Bemhung bernahm, ein zweites Ich die Sonderung bewirkte, in die das eine Ich nicht immer sich spalten mag. Sie errichteten auf dem Flgel des Hauptmanns eine Repositur fr das Gegenwrtige, ein Archiv fr das Vergangene,

schafften alle Dokumente, Papiere, Nachrichten aus verschiedenen Behltnissen, Kammern, Schrnken und Kisten herbei, und auf das geschwindeste war der Wust in eine erfreuliche Ordnung gebracht, lag rubriziert in bezeichneten Fchern. Was man wnschte, ward vollstndiger gefunden, als man gehofft hatte. Hierbei ging ihnen ein alter Schreiber sehr an die Hand, der den Tag ber, ja einen Teil der Nacht nicht vom Pulte kam und mit dem Eduard bisher immer unzufrieden gewesen war. "Ich kenne ihn nicht mehr," sagte Eduard zu seinem Freund, "wie ttig und brauchbar der Mensch ist." - "Das macht," versetzte der Hauptmann, "wir tragen ihm nichts Neues auf, als bis er das Alte nach seiner Bequemlichkeit vollendet hat; und so leistet er, wie du siehst, sehr viel; sobald man ihn strt, vermag er gar nichts." Brachten die Freunde auf diese Weise ihre Tage zusammen zu, so versumten sie abends nicht, Charlotten regelmig zu besuchen. Fand sich keine Gesellschaft von benachbarten Orten und Gtern, welches fters geschah, so war das Gesprch wie das Lesen meist solchen Gegenstnden gewidmet, welche den Wohlstand, die Vorteile und das Behagen der brgerlichen Gesellschaft vermehren. Charlotte, ohnehin gewohnt, die Gegenwart zu nutzen, fhlte sich, indem sie ihren Mann zufrieden sah, auch persnlich gefrdert. Verschiedene husliche Anstalten, die sie lngst gewnscht, aber nicht recht einleiten knnen, wurden durch die Ttigkeit des Hauptmanns bewirkt. Die Hausapotheke, die bisher nur aus wenigen Mitteln bestanden, ward bereichert und Charlotte sowohl durch faliche Bcher als durch Unterredung in den Stand gesetzt, ihr ttiges und hlfreiches Wesen fter und wirksamer als bisher in bung zu bringen. Da man auch die gewhnlichen und dessen ungeachtet nur zu oft berraschenden Notflle durchdachte, so wurde alles, was zur Rettung der Ertrunkenen ntig sein mchte, um so mehr

angeschafft, als bei der Nhe so mancher Teiche, Gewsser und Wasserwerke fters ein und der andere Unfall dieser Art vorkam. Diese Rubrik besorgte der Hauptmann sehr ausfhrlich, und Eduarden entschlpfte die Bemerkung, da ein solcher Fall in dem Leben seines Freundes auf die seltsamste Weise Epoche gemacht. Doch als dieser schwieg und einer traurigen Erinnerung auszuweichen schien, hielt Eduard gleichfalls an, so wie auch Charlotte, die nicht weniger im allgemeinen davon unterrichtet war, ber jene uerungen hinausging. "Wir wollen alle diese vorsorglichen Anstalten loben," sagte eines Abends der Hauptmann; "nun geht uns aber das Notwendigste noch ab, ein tchtiger Mann, der das alles zu handhaben wei. Ich kann hiezu einen mir bekannten Feldchirurgus vorschlagen, der jetzt um leidliche Bedingung zu haben ist, ein vorzglicher Mann in seinem Fache, und der mir auch in Behandlung heftiger innerer bel fters mehr Genge getan hat als ein berhmter Arzt; und auge nblickliche Hlfe ist doch immer das, was auf dem Lande am meisten vermit wird." Auch dieser wurde sogleich verschrieben, und beide Gatten freuten sich, da sie so manche Summe, die ihnen zu willkrlichen Ausgaben brigblieb, auf die ntigsten zu verwenden Anla gefunden. So benutzte Charlotte die Kenntnisse, die Ttigkeit des Hauptmanns auch nach ihrem Sinne und fing an, mit seiner Gegenwart vllig zufrieden und ber alle Folgen beruhigt zu werden. Sie bereitete sich gewhnlich vor, manches zu fragen, und da sie gern leben mochte, so suchte sie alles Schdliche, alles Tdliche zu entfernen. Die Bleiglasur der Tpferwaren, der Grnspan kupferner Gefe hatte ihr schon manche Sorge gemacht. Sie lie sich hierber belehren, und natrlicherweise mute man auf die Grundbegriffe der Physik und Chemie zurckgehen. Zuflligen, aber immer willkommenen Anla zu solchen Unterhaltungen gab Eduards Neigung, der Gesellschaft

vorzulesen. Er hatte eine sehr wohlklingende, tiefe Stimme und war frher wegen lebhafter, gefhlter Rezitation dichterischer und rednerischer Arbeiten angenehm und berhmt gewesen. Nun waren es andre Gegenstnde, die ihn beschftigten, andre Schriften, woraus er vorlas, und eben seit einiger Zeit vorzglich Werke physischen, chemischen und technische n Inhalts. Eine seiner besondern Eigenheiten, die er jedoch vielleicht mit mehrern Menschen teilt, war die, da es ihm unertrglich fiel, wenn jemand ihm beim Lesen in das Buch sah. In frherer Zeit, beim Vorlesen von Gedichten, Schauspielen, Erzhlungen, war es die natrliche Folge der lebhaften Absicht, die der Vorlesende so gut als der Dichter, der Schauspieler, der Erzhlende hat, zu berraschen, Pausen zu machen, Erwartungen zu erregen; da es denn freilich dieser beabsichtigten Wirkung sehr zuwider ist, wenn ihm ein Dritter wissentlich mit den Augen vorspringt. Er pflegte sich auch deswegen in solchem Falle immer so zu setzen, da er niemand im Rcken hatte. Jetzt zu dreien war diese Vorsicht unntig; und da es diesmal nicht auf Erregung des Gefhls, auf berraschung der Einbildungskraft angesehen war, so dachte er selbst nicht daran, sich sonderlich in acht zu nehmen. Nur eines Abends fiel es ihm auf, als er sich nachlssig gesetzt hatte, da Charlotte ihm in das Buch sah. Seine alte Ungeduld erwachte, und er verwies es ihr, gewissermaen unfreundlich: "Wollte man sich doch solche Unarten, wie so manches andre, was der Gesellschaft lstig ist, ein fr allemal abgewhnen! Wenn ich jemand vorlese, ist es denn nicht, als wenn ich ihm mndlich etwas vor trge? Das Geschriebene, das Gedruckte tritt an die Stelle meines eigenen Sinnes, meines eigenen Herzens; und wrde ich mich wohl zu reden bemhen, wenn ein Fensterchen vor meiner Stirn, vor meiner Brust angebracht wre, so da der, dem ich meine Gedanken einzeln zuzhlen, meine Empfindungen einzeln zureichen will, immer schon lange vorher wissen knnte, wo es mit mir hinaus wollte?

Wenn mir jemand ins Buch sieht, so ist mir immer, als wenn ich in zwei Stcke gerissen wrde." Charlotte, deren Gewandtheit sich in greren und kleineren Zirkeln besonders dadurch bewies, da sie jede unangenehme, jede heftige, ja selbst nur lebhafte uerung zu beseitigen, ein sich verlngerndes Gesprch zu unterbrechen, ein stockendes anzuregen wute, war auch diesmal von ihrer guten Gabe nicht verlassen: "Du wirst mir meinen Fehler gewi verzeihen, wenn ich bekenne, was mir diesen Augenblick begegnet ist. Ich hrte von Verwandtschaften lesen, und da dacht ich eben gleich an meine Verwandten, an ein paar Vettern, die mir gerade in diesem Augenblick zu schaffen machen. Meine Aufmerksamkeit kehrt zu deiner Vorlesung zurck; ich hre, da von ganz leblosen Dingen die Rede ist, und blicke dir ins Buch, um mich wieder zurechtzufinden." "Es ist eine Gleichnisrede, die dich verfhrt und verwirrt hat," sagte Eduard. "Hier wird freilich nur von Erden und Mineralien gehandelt, aber der Mensch ist ein wahrer Narzi; er bespiegelt sich berall gern selbst, er legt sich als Folie der ganzen Welt unter." "Jawohl!" fuhr der Hauptmann fort; "so beha ndelt er alles, was er auer sich findet; seine Weisheit wie seine Torheit, seinen Willen wie seine Willkr leiht er den Tieren, den Pflanzen, den Elementen und den Gttern." "Mchtet ihr mich," versetzte Charlotte, "da ich euch nicht zu weit von dem augenblicklichen Interesse wegfhren will, nur krzlich belehren, wie es eigentlich hier mit den Verwandtschaften gemeint sei?" "Das will ich wohl gerne tun," erwiderte der Hauptmann, gegen den sich Charlotte gewendet hatte, "freilich nur so gut, als ich es vermag, wie ich es etwa vor zehn Jahren gelernt, wie ich es gelesen habe. Ob man in der wissenschaftlichen Welt noch so

darber denkt, ob es zu den neuern Lehren pat, wte ich nicht zu sagen." "Es ist schlimm genug," rief Eduard, "da man jetzt nichts mehr fr sein ganzes Leben lernen kann. Unsre Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber mssen jetzt alle fnf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen." "Wir Frauen", sagte Charlotte, "nehmen es nicht so genau; und wenn ich aufrichtig sein soll, so ist es mir eigentlich nur um den Wortverstand zu tun; denn es macht in der Gesellschaft nichts lcherlicher, als wenn man ein fremdes, ein Kunstwort falsch anwendet. Deshalb machte ich nur wissen, in welchem Sinne dieser Ausdruck eben bei diesen Gegenstnden gebraucht wird. Wie es wissenschaftlich damit zusammenhnge, wollen wir den Gelehrten berlassen, die brigens, wie ich habe bemerken knnen, sich wohl schwerlich jemals vereinigen werden." "Wo fangen wir aber nun an, um am schnellsten in die Sache zu kommen?" fragte Eduard nach einer Pause den Hauptmann, der, sich ein wenig bedenkend, bald darauf erwiderte: "Wenn es mir erlaubt ist, dem Scheine nach weit auszuholen, so sind wir bald am Platze." "Sein Sie meiner ganzen Aufmerksamkeit versichert," sagte Charlotte, indem sie ihre Arbeit beiseitelegte. Und so begann der Hauptmann: "An allen Naturwesen, die wir gewahr werden, bemerken wir zuerst, da sie einen Bezug auf sich selbst haben. Es klingt freilich wunderlich, wenn man etwas ausspricht, was sich ohnehin versteht; doch nur indem man sich ber das Bekannte vllig verstndigt hat, kann man miteinander zum Unbekannten fortschreiten." "Ich dchte," fiel ihm Eduard ein, "wir machten ihr und uns die Sache durch Beispiele bequem. Stelle dir nur das Wasser, das l, das Quecksilber vor, so wirst du eine Einigkeit, einen

Zusammenhang ihrer Teile finden. Diese Einung verlassen sie nicht, auer durch Gewalt oder sonstige Bestimmung. Ist diese beseitigt, so treten sie gleich wieder zusammen." "Ohne Frage," sagte Charlotte beistimmend. "Regentropfen vereinigen sich gern zu Strmen. Und schon als Kinder spielen wir erstaunt mit dem Quecksilber, indem wir es in Kgelchen trennen und es wieder zusammenlaufen lassen." "Und so darf ich wohl", fgte der Hauptmann hinzu, "eines bedeutenden Punktes im flchtigen Vorbeigehen erwhnen, da nmlich dieser vllig reine, durch Flssigkeit mgliche Bezug sich entschieden und immer durch die Kugelgestalt auszeichnet. Der fallende Wassertropfen ist rund; von den Quecksilberkgelchen haben Sie selbst gesprochen; ja ein fallendes geschmolzenes Blei, wenn es Zeit hat, vllig zu erstarren, kommt unten in Gestalt einer Kugel an." "Lassen Sie mich voreilen," sagte Charlotte, "ob ich treffe, wo Sie hinwollen. Wie jedes gegen sich selbst einen Bezug hat, so mu es auch gegen andere ein Verhltnis haben." "Und das wird nach Verschiedenheit der Wesen verschieden sein," fuhr Eduard eilig fort. "Bald werden sie sich als Freunde und alte Bekannte begegnen, die schnell zusammentreten, sich vereinigen, ohne aneinander etwas zu verndern, wie sich Wein mit Wasser vermischt. Dagegen werden andre fremd nebeneinander verharren und selbst durch mechanisches Mischen und Reiben sich keinesweges verbinden; wie l und Wasser, zusammengerttelt, sich den Augenblick wieder auseinander sondert." "Es fehlt nicht viel," sagte Charlotte, "so sieht man in diesen einfachen Formen die Menschen, die man gekannt hat; besonders aber erinnert man sich dabei der Sozietten, in denen man lebte. Die meiste hnlichkeit jedoch mit diesen seelenlosen Wesen haben die Massen, die in der Welt sich einander gegenberstellen, die Stnde, die Berufsbestimmungen, der Adel und der dritte Stand, der Soldat und der Zivilist."

"Und doch!" versetzte Eduard; "wie diese durch Sitten und Gesetze vereinbar sind, so gibt es auch in unserer chemischen Welt Mittelglieder, dasjenige zu verbinden, was sich einander abweist." "So verbinden wir", fiel der Hauptmann ein, "das durch Laugensalz mit dem Wasser." "Nur nicht zu geschwind mit Ihrem Vortrag!" sagte Charlotte, "damit ich zeigen kann, da ich Schritt halte. Sind wir nicht hier schon zu den Verwandtschaften gelangt?" "Ganz richtig," erwiderte der Hauptmann; "und wir werden sie gleich in ihrer vollen Kraft und Bestimmtheit kennenlernen. Diejenigen Naturen, die sich beim Zusammentreffen einander schnell ergreifen und wechselseitig bestimmen, nennen wir verwandt. An den Alkalien und Suren, die, obgleich einander entgegengesetzt und vielleicht eben deswegen, weil sie einander entgegengesetzt sind, sich am entschiedensten suchen und fassen, sich modifizieren und zusammen einen neuen Krper bilden, ist diese Verwandtschaft auffallend genug. Gedenken wir nur des Kalks, der zu allen Suren eine groe Neigung, eine entschiedene Vereinigungslust uert! Sobald unser chemisches Kabinett ankommt, wollen wir Sie verschiedene Versuche sehen lassen, die sehr unterhaltend sind und einen bessern Begriff geben als Worte, Namen und Kunstausdrcke." "Lassen Sie mich gestehen," sagte Charlotte, "wenn Sie diese Ihre wunderlichen Wesen verwandt nennen, so kommen sie mir nicht sowohl als Blutsverwandte, vielmehr als Geistes- und Seelenverwandte vor. Auf eben diese Weise knnen unter Menschen wahrhaft bedeutende Freundschaften entstehen; denn entgegengesetzte Eigenschaften machen eine innigere Vereinigung mglich. Und so will ich denn abwarten, was Sie mir von diesen geheimnisvollen Wirkungen vor die Augen bringen werden. - Ich will dich", sagte sie, zu Eduard gewendet,

"jetzt im Vorlesen nicht weiter stren und, um so viel besser unterrichtet, deinen Vortrag mit Aufmerksamkeit vernehmen." "Da du uns einmal aufgerufen hast," versetzte Eduard, "so kommst du so leicht nicht los; denn eigentlich sind die verwickelten Flle die interessantesten. Erst bei diesen lernt man die Grade der Verwandtschaften, die nhern, strkern, entferntern, geringern Beziehungen kennen; die Verwandtschaften werden erst interessant, wenn sie Scheidungen bewirken." "Kommt das traurige Wort," rief Charlo tte, "das man leider in der Welt jetzt so oft hrt, auch in der Naturlehre vor?" "Allerdingst" erwiderte Eduard. "Es war sogar ein bezeichnender Ehrentitel der Chemiker, da man sie Scheideknstler nannte." "Das tut man also nicht mehr", versetzte Charlotte, "und tut sehr wohl daran. Das Vereinigen ist eine grere Kunst, ein greres Verdienst. Ein Einungsknstler wre in jedem Fache der ganzen Welt willkommen. - Nun so lat mich denn, weil ihr doch einmal im Zug seid, ein paar solche Flle wissen!" "So schlieen wir uns denn gleich", sagte der Hauptmann, "an dasjenige wieder an, was wir oben schon benannt und besprochen haben. Zum Beispiel was wir Kalkstein nennen, ist eine mehr oder weniger reine Kalkerde, innig mit einer zarten Sure verbunden, die uns in Luftform bekannt geworden ist. Bringt man ein Stck solchen Steines in verdnnte Schwefelsure, so ergreift diese den Kalk und erscheint mit ihm als Gips; jene zarte, luftige Sure hingegen entflieht. Hier ist eine Trennung, eine neue Zusammensetzung entstanden, und man glaubt sich nun mehr berechtigt, sogar das Wort Wahlverwandtschaft anzuwenden, weil es wirklich aussieht, als wenn ein Verhltnis dem andern vorgezogen, eins vor dem andern erwhlt wrde."

"Verzeihen Sie mir," sagte Charlotte, "wie ich dem Naturforscher verzeihe, aber ich wrde hier niemals eine Wahl, eher eine Naturnotwendigkeit erblicken, und diese kaum; denn es ist am Ende vielleicht gar nur die Sache der Gelegenheit. Gelegenheit macht Verhltnisse, wie sie Diebe macht; und wenn von Ihren Naturkrpern die Rede ist, so scheint mir die Wahl blo in den Hnden des Chemikers zu liegen, der diese Wesen zusammenbringt. Sind sie aber einmal beisammen, dann gnade ihnen Gott! In dem gegenwrtigen Falle dauert mich nur die arme Luftsure, die sich wieder im Unendlichen herumtreiben mu." "Es kommt nur auf sie an," versetzte der Hauptmann, "sich mit dem Wasser zu verbinden und als Mineralquelle Gesunden und Kranken zur Erquickung zu dienen." "Der Gips hat gut reden," sagte Charlotte; "der ist nun fertig, ist ein Krper, ist versorgt, anstatt da jenes aus getriebene Wesen noch manche Not haben kann, bis es wieder unterkommt." "Ich mte sehr irren," sagte Eduard lchelnd, "oder es steckt eine kleine Tcke hinter deinen Reden. Gesteh nur deine Schalkhe it! Am Ende bin ich in deinen Augen der Kalk, der vom Hauptmann, als einer Schwefelsure, ergriffen, deiner anmutigen Gesellschaft entzogen und in einen refraktren Gips verwandelt wird." "Wenn das Gewissen", versetzte Charlotte, "dich solche Betrachtungen machen heit, so kann ich ohne Sorge sein. Diese Gleichnisreden sind artig und unterhaltend, und wer spielt nicht gern mit hnlichkeiten! Aber der Mensch ist doch um so manche Stufe ber jene Elemente erhht, und wenn er hier mit den schnen Worten Wahl und Wahlverwandtschaft etwas freigebig gewesen, so tut er wohl, wieder in sich selbst zurckzukehren und den Wert solcher Ausdrcke bei diesem Anla recht zu bedenken. Mir sind leider Flle genug bekannt, wo eine innige, unauflslich scheinende Verbindung zweier Wesen durch gelegentliche Zugesellung eines dritten

aufgehoben und eins der erst so schn verbundenen ins lose Weite hinausgetrieben ward." "Da sind die Chemiker viel galanter," sagte Eduard; "sie gesellen ein viertes dazu, damit keines leer ausgehe." "Jawohl!" versetzte der Hauptmann; "diese Flle sind allerdings die bedeutendsten und merkwrdigsten, wo man das Anziehen, das Verwandtsein, dieses Verlassen, dieses Vereinigen gleichsam bers Kreuz wirklich darstellen kann, wo vier bisher je zwei zu zwei verbundene Wesen, in Berhrung gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlassen und sich aufs neue verbinden. In diesem Fahrenlassen und Ergreifen, in diesem Fliehen und Suchen glaubt man wirklich eine hhere Bestimmung zu sehen; man traut solchen Wesen eine Art von Wollen und Whlen zu und hlt das Kunstwort 'Wahlverwandtschaften' fr vollkommen gerechtfertigt." "Beschreiben Sie mir einen solchen Fall!" sagte Charlotte. "Man sollte dergleichen", versetzte der Hauptmann, "nicht mit Worten abtun. Wie schon gesagt: sobald ich Ihnen die Versuche selbst zeigen kann, wird alles anschaulicher und angenehmer werden. Jetzt mte ich Sie mit schrecklichen Kunstworten hinhalten, die Ihnen doch keine Vorstellung gben. Man mu diese tot scheinenden und doch zur Ttigkeit innerlich immer bereiten Wesen wirkend vor seinen Augen sehen, mit Teilnahme schauen, wie sie einander suchen, sich anziehen, ergreifen, zerstren, verschlingen, aufzehren und sodann aus der innigsten Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt hervortreten: dann traut man ihnen erst ein ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und Verstand zu, weil wir unsere Sinne kaum gengend fhlen, sie recht zu beobachten, und unsre Vernunft kaum hinlnglich, sie zu fassen." "Ich leugne nicht," sagte Eduard, "da die seltsamen Kunstwrter demjenigen, der nicht durch sinnliches Anschauen, durch Begriffe mit ihnen vershnt ist, beschwerlich, ja

lcherlich werden mssen. Doch knnten wir leicht mit Buchstaben einstweilen das Verhltnis ausdrcken, wovon hier die Rede war." "Wenn Sie glauben, da es nicht pedantisch aussieht," versetzte der Hauptmann, "so kann ich wohl in der Zeichensprache mich krzlich zusammenfassen. Denken Sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen denken Sie sich ein C, das sich ebenso zu einem D verhlt, bringen Sie nun die beiden Paare in Berhrung: A wird sich zu D, C zu B werfen, ohne da man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem andern zuerst wieder verbunden habe." "Nun denn!" fiel Eduard ein; "bis wir alles dieses mit Augen sehen, wollen wir diese Formel als Gleichnisrede betrachten, woraus wir uns eine Lehre zum unmittelbaren Gebrauch ziehen. Du stellst das A vor, Charlotte, und ich dein B; denn eigentlich hnge ich doch nur von dir ab und folge dir wie dem A das B. Das C ist ganz deutlich der Kapitn, der mich fr diesmal dir einigermaen entzieht. Nun ist es billig, da, wenn du nicht ins Unbestimmte entweichen sollst, dir fr ein D gesorgt werde, und das ist ganz ohne Frage das liebenswrdige Dmchen Ottilie, gegen deren Annherung du dich nicht lnger verteidigen darfst." "Gut!" versetzte Charlotte. "Wenn auch das Beispiel, wie mir scheint, nicht ganz auf unsern Fall pat, so halte ich es doch fr ein Glck, da wir heute einmal vllig zusammentreffen und da diese Natur- und Wahlverwandtschaften unter uns eine vertrauliche Mitteilung beschleunigen. Ich will es also nur gestehen, da ich seit diesem Nachmittage entschlossen bin, Ottilien zu berufen; denn meine bisherige treue Beschlieerin und Haushlterin wird abziehen, weil sie heiratet. Dies wre von meiner Seite und um meinetwillen; was mich um Ottiliens willen bestimmt das wirst du uns vorlesen. Ich will dir nicht ins

Blatt sehen, aber freilich ist mir der Inhalt schon bekannt. Doch lies nur, lies!" Mit diesen Worten zog sie einen Brief hervor und reichte ihn Eduarden.

Fnftes Kapitel

Brief der Vorsteherin "Euer Gnaden werden verzeihen, wenn ich mich heute ganz kurz fasse; denn ich habe nach vollendeter ffentlicher Prfung dessen, was wir im vergangenen Jahr an unsern Zglingen geleistet haben, an die smtlichen Eltern und Vorgesetzten den Verlauf zu melden; auch darf ich wohl kurz sein, weil ich mit wenigem viel sagen kann. Ihre Frulein Tochter hat sich in jedem Sinne als die Erste bewiesen. Die beiliegenden Zeugnisse, ihr eigner Brief, der die Beschreibung der Preise enthlt, die ihr geworden sind, und zugleich das Vergngen ausdrckt, das sie ber ein so glckliches Gelingen empfindet, wird Ihnen zur Beruhigung, ja zur Freude gereichen. Die meinige wird dadurch einigermaen gemindert, da ich voraussehe, wir werden nicht lange mehr Ursache haben, ein so weit vorgeschrittenes Frauenzimmer bei uns zurckzuhalten. Ich empfehle m zu ich Gnaden und nehme mir die Freiheit, nchstens meine Gedanken ber das, was ich am vorteilhaftesten fr sie halte, zu erffnen. Von Ottilien schreibt mein freundlicher Gehlfe."

Brief des Gehlfen "Von Ottilien lt mich unsre ehrwrdige Vorsteherin schreiben, teils weil es ihr, nach ihrer Art zu denken, peinlich wre, dasjenige, was zu melden ist, zu melden, teils auch, weil sie selbst einer Entschuldigung bedarf, die sie lieber mir in den Mund legen mag.

Da ich nur allzuwohl wei, wie wenig die gute Ottilie das zu uern imstande ist, was in ihr liegt und was sie vermag, so war mir vor der ffentlichen Prfung einigermaen bange, um so mehr, als berhaupt dabei keine Vorbereitung mglich ist, und auch, wenn es nach der gewhnlichen Weise sein knnte, Ottilie auf den Schein nicht vorzubereiten wre. Der Ausgang hat meine Sorge nur zu sehr gerechtfertigt; sie hat keinen Preis erhalten und ist auch unter denen, die kein Zeugnis empfangen haben. Was soll ich viel sagen? Im Schreiben hatten andere kaum so wohlgeformte Buchstaben, doch viel freiere Zge; im Rechnen waren alle schneller, und an schwierige Aufgaben, welche sie besser lst, kam es bei der Untersuchung nicht. Im Franzsischen berparlierten und berexponierten sie manche; in der Geschichte waren ihr Namen und Jahrzahlen nicht gleich bei der Hand; bei der Geographie vermite man Aufmerksamkeit auf die politische Einteilung. Zum musikalischen Vor trag ihrer wenigen bescheidenen Melodien fand sich weder Zeit noch Ruhe. Im Zeichnen htte sie gewi den Preis davongetragen; ihre Umrisse waren rein und die Ausfhrung bei vieler Sorgfalt geistreich. Leider hatte sie etwas zu Groes unternommen und war nicht fertig geworden. Als die Schlerinnen abgetreten waren, die Prfenden zusammen Rat hielten und uns Lehrern wenigstens einiges Wort dabei gnnten, merkte ich wohl bald, da von Ottilien gar nicht und, wenn es geschah, wo nicht mit Mibilligung, doch mit Gleichgltigkeit gesprochen wurde. Ich hoffte, durch eine offne Darstellung ihrer Art zu sein einige Gunst zu erregen, und wagte mich daran mit doppeltem Eifer, einmal, weil ich nach meiner berzeugung sprechen konnte, und sodann, weil ich mich in jngeren Jahren in eben demselben traurigen Fall befunden hatte. Man hrte mich mit Aufmerksamkeit an; doch als ich geendigt hatte, sagte mir der vorsitzende Prfende zwar freundlich, aber lakonisch: 'Fhigkeiten werden vorausgesetzt, sie sollen zu Fertigkeiten werden. Dies ist der Zweck aller

Erziehung, dies ist die laute, deutliche Absicht der Eltern und Vorgesetzten, die stille, nur halb bewute der Kinder selbst. Dies ist auch der Gegenstand der Prfung, wobei zugleich Lehrer und Schler beurteilt werden. Aus dem, was wir von Ihnen vernehmen, schpfen wir gute Hoffnung von dem Kinde, und Sie sind allerdings lobenswrdig, indem Sie auf die Fhigkeiten der Schlerinnen genau achtgeben. Verwandeln Sie solche bers Jahr in Fertigkeiten, so wird es Ihnen und Ihrer begnstigten Schlerin nicht an Beifall mangeln.' In das, was hierauf folgte, hatte ich mich schon ergeben, aber ein noch bleres nicht befrchtet, das sich bald darauf zutrug. Unsere gute Vorsteherin, die wie ein guter Hirte auch nicht eins von ihren Schfchen verloren oder, wie es hier der Fall war, ungeschmckt sehen mchte, konnte, nachdem die Herren sich entfernt hatten, ihren Unwillen nicht bergen und sagte zu Ottilien, die ganz ruhig, indem die andern sich ber ihre Preise freuten, am Fenster stand: 'Aber sagen Sie mir, um's Himmels willen! wie kann man so dumm aussehen, wenn man es nicht ist?' Ottilie versetzte ganz gelassen: 'Verzeihen Sie, liebe Mutter, ich habe gerade heute wieder mein Kopfweh, und ziemlich stark.' - 'Das kann niemand wissen!' versetzte die sonst so teilnehmende Frau und kehrte sich verdrielich um. Nun es ist wahr: niemand kann es wissen; denn Ottilie verndert das Gesicht nicht, und ich habe auch nicht gesehen, da sie einmal die Hand nach dem Schlafe zu bewegt htte. Das war noch nicht alles. Ihre Frulein Tochter, gndige Frau, sonst lebhaft und freimtig, war im Gefhl ihres heutigen Triumphs ausgelassen und bermtig. Sie sprang mit ihren Preisen und Zeugnissen in den Zimmern herum und so schttelte sie auch Ottilien vor dem Gesicht: 'Du bist heute schlecht gefahren!' rief sie aus. Ganz gelassen antwortete Ottilie: 'Es ist noch nicht der letzte Prfungstag.' -'Und doch wirst du immer die Letzte bleiben!' rief das Frulein und sprang hinweg.

Ottilie schien gelassen fr jeden andern, nur nicht fr mich. Eine innere, unangenehme, lebhafte Bewegung, der sie widersteht, zeigt sich durch eine ungleiche Farbe des Gesichts. Die linke Wange wird auf einen Augenblick rot, indem die rechte bleich wird. Ich sah dies Zeichen, und meine Teilnehmung konnte sich nicht zurckhalten. Ich fhrte unsre Vorsteherin beiseite, sprach ernsthaft mit ihr ber die Sache. Die treffliche Frau erkannte ihren Fehler. Wir berieten, wir besprachen uns lange, und ohne deshalb weitlufiger zu sein, will ich Euer Gnaden unsern Beschlu und unsre Bitte vortragen: Ottilien auf einige Zeit zu sich zu nehmen. Die Grnde werden Sie sich selbst am besten entfalten. Bestimmen Sie sich hiezu, so sage ich mehr ber die Behandlung des guten Kindes. Verlt uns dann Ihre Frulein Tochter, wie zu vermuten steht, so sehen wir Ottilien mit Freuden zurckkehren. Noch eins, das ich vielleicht in der Folge vergessen knnte: ich habe nie gesehen, da Ottilie etwas verlangt oder gar um etwas dringend gebeten htte. Dagegen kommen Flle, wiewohl selten, da sie etwas abzulehnen sucht, was man von ihr fordert. Sie tut das mit einer Gebrde, die fr den, der den Sinn davon gefat hat, unwiderstehlich ist. Sie drckt die flachen Hnde, die sie in die Hhe hebt, zusammen und fhrt sie gegen die Brust, indem sie sich nur wenig vorwrts neigt und den dringend Fordernden mit einem solchen Blick ansieht, da er gern von allem absteht, was er verlangen oder wnschen mchte. Sehen Sie jemals diese Gebrde, gndige Frau, wie es bei Ihrer Behandlung nicht wahrscheinlich ist, so gedenken Sie meiner und schonen Ottilien." Eduard hatte diese Briefe vorgelesen, nicht ohne Lcheln und Kopfschtteln. Auch konnte es an Bemerkungen ber die Personen und ber die Lage der Sache nicht fehlen. "Genug!" rief Eduard endlich aus; "es ist entschieden, sie kommt! Fr dich wre gesorgt, meine Liebe, und wir drfen nun auch mit unserm Vorschlag hervorrcken. Es wird hchst ntig,

da ich zu dem Hauptmann auf den rechten Flgel hinberziehe. Sowohl abends als morgens ist erst die rechte Zeit, zusammen zu arbeiten. Du erhltst dagegen fr dich und Ottilien auf deiner Seite den schnsten Raum." Charlotte lie sichs gefallen, und Eduard schilderte ihre knftige Lebensart. Unter andern rief er aus: "Es ist doch recht zuvorkommend von der Nichte, ein wenig Kopfweh auf der linken Seite zu haben; ich habe es manchmal auf der rechten. Trifft es zusammen und wir sitzen gegeneinander, ich auf den rechten Ellbogen, sie auf den linken gesttzt und die Kpfe nach verschiedenen Seiten in die Hand gelegt, so mu das ein Paar artige Gegenbilder geben." Der Hauptmann wollte das gefhrlich finden. Eduard hingegen rief aus: "Nehmen Sie sich nur, lieber Freund, vor dem D in acht! Was sollte B denn anfangen, wenn ihm C entrissen wrde?" "Nun, ich dchte doch," versetzte Charlotte, "das verstnde sich von selbst." "Freilich," rief Eduard; "es kehrte zu seinem A zurck, zu seinem A und O!" rief er, indem er aufsprang und Charlotten fest an seine Brust drckte.

Sechstes KapitelEin Wagen, der Ottilien brachte, war angefahren. Charlotte ging ihr entgegen; das liebe Kind eilte, sich ihr zu nhern, warf sich ihr zu Fen und umfate ihre Kniee. "Wozu die Demtigung!" sagte Charlotte, die einigermaen verlegen war und sie aufheben wollte. "Es ist so demtig nicht gemeint," versetzte Ottilie, die in ihrer vorigen Stellung blieb. "Ich mag mich nur so gern jener Zeit erinnern, da ich noch nicht hher reichte als bis an Ihre Kniee und Ihrer Liebe schon so gewi war." Sie stand auf, und Charlotte umarmte sie herzlich. Sie ward den Mnnern vorgestellt und gleich mit besonderer Achtung als Gast behandelt. Schnheit ist berall ein gar willkommener Gast. Sie schien aufmerksam auf das Gesprch, ohne da sie daran teilgenommen htte. Den andern Morgen sagte Eduard zu Charlotten: "Es ist ein angenehmes, unterhaltendes Mdchen." "Unterhaltend?" versetzte Charlotte mit Lcheln; "sie hat ja den Mund noch nicht aufgetan." "So?" erwiderte Eduard, indem er sich zu besinnen schien, "das wre doch wunderbar!" Charlotte gab dem neuen Ankmmling nur wenig Winke, wie es mit dem Hausgeschfte zu halten sei. Ottilie hatte schnell die ganze Ordnung eingesehen, ja, was noch mehr ist, empfunden. Was sie fr alle, fr einen jeden insbesondre zu besorgen hatte, begriff sie leicht. Alles geschah pnktlich. Sie wute anzuordnen, ohne da sie zu befehlen schien, und wo jemand sumte, verrichtete sie das Geschft gleich selbst. Sobald sie gewahr wurde, wieviel Zeit ihr brigblieb, bat sie Charlotten, ihre Stunden einteilen zu drfen, die nun genau beobachtet wurden. Sie arbeitete das Vorgesetzte auf eine Art,

von der Charlotte durch den Gehlfen unterrichtet war. Man lie sie gewhren. Nur zuweilen suchte Charlotte sie anzuregen. So schob sie ihr manchmal abgeschriebene Federn unter, um sie auf einen freieren Zug der Handschrift zu leiten; aber auch diese waren bald wieder scharf geschnitten. Die Frauenzimmer hatten untereinander festgesetzt, franzsisch zu reden, wenn sie allein wren, und Charlotte beharrte um so mehr dabei, als Ottilie gesprchiger in der fremden Sprache war, indem man ihr die bung derselben zur Pflicht gemacht hatte. Hier sagte sie oft mehr, als sie zu wollen schien. Besonders ergetzte sich Charlotte an einer zuflligen, zwar genauen, aber doch liebevollen Schilderung der ganzen Pensionsanstalt. Ottilie ward ihr eine liebe Gesellschafterin, und sie hoffte, dereinst an ihr eine zuverlssige Freundin zu finden. Charlotte nahm indes die lteren Papiere wieder vor, die sich auf Ottilien bezogen, um sich in Erinnerung zu bringen, was die Vorsteherin, was der Gehlfe ber das gute Kind geurteilt, um es mit ihrer Persnlichkeit selbst zu vergleichen. Denn Charlotte war der Meinung, man knne nicht geschwind genug mit dem Charakter der Menschen bekannt werden, mit denen man zu leben hat, um zu wissen, was sich von ihnen erwarten, was sich an ihnen bilden lt, oder was man ihnen ein fr allemal zugestehen und verzeihen mu. Sie fand zwar bei dieser Untersuchung nichts Neues, aber manches Bekannte ward ihr bedeutender und auffallender. So konnte ihr zum Beispiel Ottiliens Migkeit im Essen und Trinken wirklich Sorge machen. Das Nchste, was die Frauen beschftigte, war der Anzug. Charlotte verlangte von Ottilien, sie solle in Kleidern reicher und mehr ausgesucht erscheinen. Sogleich schnitt das gute, ttige Kind die ihr frher geschenkten Stoffe selbst zu und wute sie sich mit geringer Beihlfe anderer schnell und hchst zierlich anzupassen. Die neuen, modischen Gewnder erhhten ihre Gestalt; denn indem das Angenehme einer Person sich auch

ber ihre Hlle verbreitet, so glaubt man sie immer wieder von neuem und anmutiger zu s ehen, wenn sie ihre Eigenschaften einer neuen Umgebung mitteilt. Dadurch ward sie den Mnnern, wie von Anfang so immer mehr, da wir es nur mit dem rechten Namen nennen, ein wahrer Augentrost. Denn wenn der Smaragd durch seine herrliche Farbe dem Gesicht wohltut, ja sogar einige Heilkraft an diesem edlen Sinn ausbt, so wirkt die menschliche Schnheit noch mit weit grerer Gewalt auf den uern und innern Sinn. Wer sie erblickt, den kann nichts bles anwehen; er fhlt sich mit sich selbst und mit der Welt in bereinstimmung. Auf manche Weise hatte daher die Gesellschaft durch Ottiliens Ankunft gewonnen. Die beiden Freunde hielten regelmiger die Stunden, ja die Minuten der Zusammenknfte. Sie lieen weder zum Essen, noch zum Tee, noch zum Spaziergang lnge r als billig auf sich warten. Sie eilten, besonders abends, nicht so bald von Tische weg. Charlotte bemerkte das wohl und lie beide nicht unbeobachtet. Sie suchte zu erforschen, ob einer vor dem andern hiezu den Anla gbe; aber sie konnte keinen Unterschied bemerken. Beide zeigten sich berhaupt geselliger. Bei ihren Unterhaltungen schienen sie zu bedenken, was Ottiliens Teilnahme zu erregen geeignet sein mchte, was ihren Einsichten, ihren brigen Kenntnissen gem wre. Beim Lesen und Erzhlen hielten sie inne, bis sie wiederkam. Sie wurden milder, und im ganzen mitteilender. In Erwiderung dagegen wuchs die Dienstbeflissenheit Ottiliens mit jedem Tage. Je mehr sie das Haus, die Menschen, die Verhltnisse kennenlernte, desto lebhafter griff sie ein, desto schneller verstand sie jeden Blick, jede Bewegung, ein halbes Wort, einen Laut. Ihre ruhige Aufmerksamkeit blieb sich immer gleich, so wie ihre gelassene Regsamkeit. Und so war ihr Sitzen, Aufstehen, Gehen, Kommen, Holen, Bringen, Wiederniedersitzen ohne einen Schein von Unruhe, ein ewiger

Wechsel, eine ewige angenehme Bewegung. Dazu kam, da man sie nicht gehen hrte; so leise trat sie auf. Diese anstndige Dienstfertigkeit Ottiliens machte Charlotten viele Freude. Ein einziges, was ihr nicht ganz angemessen vorkam, verbarg sie Ottilien nicht. "Es gehrt", sagte sie eines Tages zu ihr, "unter die lobenswrdigen Aufmerksamkeiten, da wir uns schnell bcken, wenn jemand etwas aus der Hand fallen lt, und es eilig aufzuheben suchen. Wir bekennen uns dadurch ihm gleichsam dienstpflichtig; nur ist in der grern Welt dabei zu bedenken, wem man eine solche Ergebenheit bezeigt. Gegen Frauen will ich dir darber keine Gesetze vorschreiben. Du bist jung. Gegen Hhere und ltere ist es Schuldigkeit, gegen deinesgleichen Artigkeit, gegen Jngere und Niedere zeigt man sich dadurch menschlich und gut; nur will es einem Frauenzimmer nicht wohl geziemen, sich Mnnern auf diese Weise ergeben und dienstbar zu bezeigen." "Ich will es mir abzugewhnen suchen," versetzte Ottilie. "Indessen werden Sie mir diese Unschicklichkeit vergeben, wenn ich Ihnen sage, wie ich dazu gekommen bin. Man hat uns die Geschichte gelehrt; ich habe nicht soviel daraus behalten, als ich wohl gesollt htte; denn ich wute nicht, wozu ichs brauchen wrde. Nur einzelne Begebenheiten sind mir sehr eindrcklich gewesen, so folgende: Als Karl der Erste von England vor seinen sogenannten Richtern stand, fiel der goldne Knopf des Stckchens, das er trug, herunter. Gewohnt, da bei solchen Gelegenheiten sich alles fr ihn bemhte, schien er sich umzusehen und zu erwarten, da ihm jemand auch diesmal den kleinen Dienst erzeigen sollte. Es regte sich niemand; er bckte sich selbst, um den Knopf aufzuheben. Mir kam das so schmerzlich vor, ich wei nicht, ob mit Recht, da ich von jenem Augenblick an niemanden kann etwas aus den Hnden fallen sehn, ohne mich darnach zu bcken. Da es aber freilich nicht immer schicklich sein mag und ich", fuhr sie lchelnd fort, "nicht jederzeit meine

Geschichte erzhlen kann, so will ich mich knftig mehr zurckhalten." Indessen hatten die guten Anstalten, zu denen sich die beiden Freunde berufen fhlten, ununterbrochenen Fortgang. Ja tglich fanden sie neuen Anla, etwas zu bedenken und zu unternehmen. Als sie eines Tages zusammen durch das Dorf gingen bemerkten sie mifllig, wie weit es an Ordnung und Reinlichkeit hinter jenen Drfern zurckstehe, wo die Bewohner durch die Kostbarkeit des Raums auf beides hingewiesen werden. "Du erinnerst dich," sagte der Hauptmann, "wie wir auf unserer Reise durch die Schweiz den Wunsch uerten, eine lndliche sogenannte Parkanlage recht eigentlich zu verschnern, indem wir ein so gelegenes Dorf nicht zur Schweizer Bauart, sondern zur Schweizer Ordnung und Sauberkeit, welche die Benutzung so sehr befrdern, einrichteten." "Hier zum Beispiel", versetzte Eduard, "ginge das wohl an. Der Schloberg verluft sich in einen vorspringenden Winkel herunter; das Dorf ist ziemlich regelmig im Halbzirkel gegenber gebaut; dazwischen fliet der Bach, gegen dessen Anschwellen sich der eine mit Steinen, der andere mit Pfhlen, wieder einer mit Balken und der Nachbar sodann mit Planken verwahren will, keiner aber den andern frdert, vielmehr sich und den brigen Schaden und Nachteil bringt. So geht der Weg auch in ungeschickter Bewegung bald herauf, bald herab, bald durchs Wasser, bald so ber Steine. Wollten die Leute mit Hand anlegen, so wrde kein groer Zuschu ntig sein, um hier eine Mauer im Halbkreis aufzufhren, den Weg dahinter bis an die Huser zu erh hen, den schnsten Raum herzustellen, der Reinlichkeit Platz zu geben und durch eine ins Groe gehende Anstalt alle kleine, unzulngliche Sorge auf einmal zu verbannen."

"La es uns versuchen!" sagte der Hauptmann, indem er die Lage mit den Augen berlief und schnell beurteilte. "Ich mag mit Brgern und Bauern nichts zu tun haben, wenn ich ihnen nicht geradezu befehlen kann," versetzte Eduard. "Du hast so unrecht nicht," erwiderte der Hauptmann; "denn auch mir machten dergleichen Geschfte im Leben schon viel Verdru. Wie schwer ist es, da der Mensch recht abwge, was man aufopfe