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Götterdämmerung

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Thorin Band 7

Götterdämmerung von Al Wallon & Marten Munsonius

Die letzte Schlacht hat begonnen -

und sie verändert das Schicksal der Welt

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Die letzte Schlacht hat begonnen - und sie verändert das Schicksal der Welt.

Licht kämpft gegen Finsternis - aber wer wird siegen?

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Prolog Der RUF erklang und er suchte sich seinen Weg durch die multiplen Sphären jenseits allen Seins. Zuerst war er nur ganz unregelmäßig und sehr schwach zu vernehmen, so dass die Skirr ihn nicht beachteten. Dann aber wurde der RUF immer stärker und ließ die Skirr in ihren grausamen Riten innehalten.

Sie lauschten in die multiplen Sphären hinein und erkannten, wel-chen Ursprung der RUF hatte. Er kam von jenseits der Feuerbarrieren, aus einem Teil der Sphären, in dem das Chaos erst begonnen hatte, diese zu erobern. Dort herrschten noch die Kräfte des Lichts - im Ge-gensatz zu diesem Ort, wo die Dunkelheit alles Leben erstickt und ver-nichtet hatte. Denn hier herrschten die unvorstellbar grausamen Skirr und wer es wagte, sie zu stören, der wusste, was dies bedeutete...

In den Sphären zeichnete sich ein Bild ab, das erst allmählich deutlichere Konturen annahm. Aber dann erkannten die uralten We-senheiten, deren Wiege in einer Zeit stand, die unvorstellbar weit zu-rück lag, was dort jenseits der Feuerbarriere im Entstehen begriffen war und große Genugtuung erfüllte sie. Die dunklen Kräfte waren da-bei, sich diese Welt Untertan zu machen - Kräfte, die mit denen der Skirr gemeinsame Wurzeln hatten. Aber das lag schon so lange zurück, dass die Mächte jenseits der Feuerbarriere davon schon gar nichts mehr wussten. Trotzdem hatten sie die Skirr noch nicht vergessen - und das nach so langer Zeit!

Der RUF wurde dringender, fordernder zugleich und die Skirr beg-riffen, dass sie nun eingreifen mussten in die Geschicke dieser kleinen unscheinbaren Welt.

Es war nur eine von vielen Welten im Einflussbereich des Lichts, die sich gegen die dunklen Kräfte wehrte. Aber es war auch ein ver-zweifelter Kampf, der dennoch zu nichts führen würde. Denn die Kräf-

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te der Dunkelheit hatten bisher immer gesiegt. Es nützte nichts, sich dagegen zu stellen, denn am Ende siegte doch immer der Stärkere - und das war die Finsternis.

Die Skirr folgten nun dem RUF. Sie verließen die nur ihnen zu-gänglichen Sphären, in die sie sich schon seit so langer Zeit zurückge-zogen hatten, um ihre Riten auszuüben und setzten ihre gewaltigen Kräfte frei. Es waren Kräfte, die die große Feuerbarriere zwischen den Dimensionen mühelos durchdringen konnten. Sie tauchten ein in die lodernde Hölle, suchten sich den Weg in die andere Dimension, spür-ten die grauenhafte wabernde Hitze des unermesslichen Feuers rings-herum. Ein Feuer, das selbst die Götter von Licht und Finsternis ver-nichtet hätte, wenn dieses es gewagt hätten, die Feuerbarriere auf der Suche nach Mächten jenseits dieser Sphären durchdringen zu wollen. Auch für Götter gab es irgendwo Grenzen - aber nicht für die Skirr...

Wer die Skirr einst erschaffen und ihre Aufgabe bestimmt hatte, das wusste niemand mehr - noch nicht einmal die Skirr selbst. Aber sie waren mächtig genug, um jederzeit ihre vernichtenden Kräfte auszu-schicken, wenn man sie rief. Und diese Stunde war jetzt nach Äonen gekommen. Die Stunde, in der die letzte Stunde einer Welt schlug, von der die Mächte des Lichts glaubten, dass sie den Angriffen der dunklen Kräfte standhalten konnte. Aber das war ein Irrtum, denn die Wahrheit zeigte sich, als die Skirr die Feuerbarriere hinter sich gelassen hatten und ihre Hände nach einer bisher unbedeutenden Welt ausstreckten. Nach der Welt der Menschen...

Die Irrfahrt des Roten Drachen von Al Wallon Dichte Wolken hatten sich am fernen Horizont zusammengeballt und Wind kam auf, der die Wellen des Westlichen Meeres unruhig werden ließ. Die Sonne hatte sich schon seit Stunden nicht mehr gezeigt, der Wind war jedoch immer stärker geworden und zerrte am großen Segel des Roten Drachen. Die Männer unter Deck versuchten mit ihren Ru-

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dern gegen die heftigen Wellen anzukämpfen, aber sie spürten, dass es immer schwieriger wurde, den Kurs zu halten.

Genau genommen wussten sie gar nicht mehr, wie weit sie sich von den Eisländern des Nordens schon entfernt hatten. Ihre Heimat hatten sie schon vor mehreren Monaten verlassen, um auf Are Soon, dem nördlichen Kontinent jenseits der Hungerberge, ihr Glück zu ma-chen. Kain' Sha, die stolze Stadt mit ihren gleißenden Kuppeltürmen und den reichen Basaren des Nordens lockte sie an - wie viele andere erlebnishungrige Krieger und Söldner vor ihnen. Die Kunde, dass muti-ge Männer, die ihre Schwerter und Beile zu handhaben wussten, dort ihr Glück machen konnten, war bis zu den fernen Dörfern der Eislän-der vorgedrungen - und deshalb waren sie aufgebrochen, denn in den eisigen, schneebedeckten Ebenen des einsamen Nordens gab es nur den ständigen Kampf ums Überleben. Ruhm und Ehre konnte man dort nicht erlangen, denn das Leben war karg und hart.

So waren sie schließlich aufgebrochen mit ihrem stolzen Schiff, dem Roten Drachen. Ein Schiff, wie es nur die Nordmänner zu bauen verstanden und das schon zahlreiche gefährliche Fahrten inmitten des tückischen Eismeeres überstanden hatte. Freunde und Familie hatten sie hinter sich gelassen und ihnen versprochen, dass sie bald wieder-kehren würden.

Bald, dachte Ägir Gunnarsson und seufzte, als er daran denken musste, wie viel Zeit verstrichen war. Aus den Wochen waren Monate geworden - lange und harte Monate voller Kämpfe und Gefahren. Der nördliche Kontinent Are Soon hatte nicht nur Ruhm und große Beute versprochen, er hatte einigen seiner Gefährten auch den Tod ge-bracht.

Der Anführer der Nordkrieger und gleichzeitige Eigentümer des Roten Drachen ließ seine Blicke hinaus auf die unruhig tanzenden Wel-len des Westlichen Meeres schweifen. Sie waren mittlerweile weit draußen auf See, hatten die schimmernden Kuppeln von Kain' Sha schon längst hinter sich gelassen. Der Nebel war schuld daran, dass sie vom Kurs abgekommen waren und jetzt, wo sich die weißlichen Schleier endlich gelichtet hatten, kündeten die dichten Wolken von

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einem heraufziehenden Unwetter - und ein Sturm bedeutete hier draußen auf dieser wilden See nichts Gutes!

Ägir Gunnarsson hörte schwere Schritte hinter sich und sah sich unwillkürlich um. Dann blickte er in das furchige Gesicht des hünenhaf-ten Bjarni Todolfsson, der zu ihm heraufkam, während der stetige Wind am seinem Umhang riss. Bjarnis Miene war eine Mischung aus Sorge und Unsicherheit, das sah Ägir sofort. Er kannte den Gefährten gut genug, um solche Empfindungen in seinen Zügen sofort erkennen zu können.

»Es wird ein Sturm kommen«, sagte Bjarni zu ihm und blickte e-benfalls hinüber zum Horizont, wo die Wolken sich in den letzten Minu-ten sogar noch verdichtet hatten. Jetzt wirkten sie wie schwarze Gi-ganten, die nur darauf warteten, ihre Finger nach den Nordkriegern und ihrem Schiff auszustrecken. »Wir sollten das Segel einziehen - sonst reißt es uns der Wind noch weg. Bei allen Göttern, Ägir - wenn Land in der Nähe wäre, würde ich mich jetzt wohler fühlen...«

»Nicht nur du«, erwiderte Ägir Gunnarsson, »aber das sollten wir unsere Gefährten lieber nicht wissen lassen. Wie ist die Stimmung un-ter Deck, Bjarni?«

»Schlecht«, klärte ihn der bärtige Hüne auf. »Keiner spricht seine Gedanken offen aus - in den Gesichtern kann man jedoch lesen wie einem Buch, Ägir. Der Nebel hat ihnen irgendwie Angst eingejagt - als wenn er nicht natürlichen Ursprungs gewesen wäre. Er war dicht wie ein Netz, das uns gefangen hielt, verstehst du?«

»Jetzt fang du nicht auch noch an!«, fiel ihm der kräftige Ägir Gunnarsson ins Wort. »Die Hüter waren bisher immer auf unserer Sei-te, auch wenn es mal ein Opfer gekostet hat. Wir werden auch diesen Sturm überstehen, Bjarni. Der Rote Drache hat bisher jedes Unwetter überstanden.«

»Trotzdem wäre es besser, wenn wir in einer geschützten Bucht vor Anker gehen und das Ende des Sturms abwarten könnten«, hielt Bjarni entgegen. »Hier draußen auf offener See kann es gefährlich werden.«

»Rechnest du etwa damit, dass wir ausgerechnet jetzt eine Insel finden?« Ägir lachte leise, er die Worte seines Gefährten hörte. »Die

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letzte Insel, wo wir vor Anker gegangen sind, hast du sie schon ver-gessen?«

»Nein!«, kam es eine Spur zu heftig über die Lippen Bjarnis. »Ägir - wir hätten es nicht tun dürfen. Wenn wir die Insel nicht betreten hät-ten, dann wäre vielleicht...«

»Es reicht!«, fiel ihm Ägir ins Wort. »Bjarni, weiß genau, was du jetzt sagen willst. Du glaubst, dass diese Hexe uns den Nebel und den Sturm geschickt hat, weil wir etwas rau mit ihr umgesprungen sind? Das ist doch lächerlich! Gut, es war schon ein wenig merkwürdig, dass die Frau nur mit einigen Sklaven, Dienerinnen und Tieren in dem ein-samen Haus auf der Insel lebte. Aber das hat sie sich doch selbst so ausgesucht. Und ob sie eine Hexe war? Bjarni, das kann niemand von uns mit Gewissheit sagen. Eine schöne und geheimnisvolle Frau, die sich mit vielen alten Schriften beschäftigt, muss nicht unbedingt magi-sche Kräfte besitzen, oder?«

»Du willst mich nur beruhigen, Ägir«, entgegnete Bjarni, während der Wind erneut an Stärke zunahm und bereits jetzt schon an dem großen Segel heftig zu rütteln begann. Ägir Gunnarsson sah das und rief einigen seiner Männer einen knappen Befehl zu. Die machten sich daraufhin an die Arbeit und refften das rot-weiße Segel des Nordschif-fes. Noch während sie das taten, brachte der Wind auch schon die ersten Regentropfen mit sich, blies sie Ägir und Bjarni ins Gesicht.

»Dieser Nebel«, fuhr Bjarni jetzt fort. »Er kam so plötzlich - wie aus heiterem Himmel. Nur wenige Stunden, nachdem die Insel dieser Manya am Horizont verschwunden war. Und er brachte uns vom Kurs ab. Wenn du dich nicht mehr daran erinnern willst, Ägir - ich für mei-nen Teil vergesse nicht den Fluch, den sie uns von den Klippen zuge-rufen hat, als wir wieder an Bord des Roten Drachen gingen. Und als ich die Flammen sah, die aus dem Dach ihres brennenden Hauses stiegen, da spürte ich auf einmal eine grenzenlose Furcht in mir - und ich bin ehrlich genug, das zuzugeben, Ägir.«

»Verdammt, die Männer hatten seit vielen Wochen keine Frauen mehr gesehen«, versuchte sich Ägir zu verteidigen. »Und die Art und Weise, wie die Dienerinnen meine Krieger ansahen - das war doch eine klare Sache. Ganz zu schweigen von der schönen Manya. Bjarni,

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ich schwöre dir, dass ich glaubte zu träumen, als ich sie das erste mal sah. Und dir erging es doch nicht anders. Keiner der Männer konnte seine Gefühle in diesem Augenblick zurückhalten. Verdammt, wir sind doch auch nur Krieger!«

Unwillkürlich schweiften seine Gedanken ab, erinnerten sich wie-der an den Moment, wo die Insel plötzlich am Horizont aufgetaucht und er mit seinen Männern dann an Land gegangen war. Direkt an der Küstenklippe hatte Ägir sie dann zum ersten mal gesehen - die ge-heimnisvolle Manya, die Herrscherin über diese Insel.

Schön war sie - mit einem perfekten Körper, den sie ihm und sei-nen Kriegern fast unverhüllt gezeigt hatte. Als handele es sich um eine ganz natürliche Sache. Manya war die Verführung selbst gewesen - und Ägir Gunnarsson hatte diesen Reizen nicht widerstehen können. Aber damit hatte er genau das Gegenteil von dem bewirkt, was er be-absichtigt hatte und somit das Chaos ausgelöst.

Sie waren über die Mädchen und Frauen hergefallen wie Tiere, hatten sie missbraucht und gedemütigt - selbst Manya, die Herrsche-rin, die die Besucher als Freunde und Gäste willkommen geheißen hat-te. Und die Nordkrieger hatten ihr dafür auf ihre Weise gedankt - wie es eben Männer taten, die nach Liebe und Freuden des Körpers hun-gerten.

Unwillkürlich schloss Ägir Gunnarsson die Augen, als er wieder die schrecklichen Bilder vor sich sah, die sich unauslöschlich in sein Ge-dächtnis eingegraben hatten. Bis zum Ende seines Lebens würde er nicht mehr den Ausdruck in den Augen Manyas vergessen, die ihn an-gesehen hatte wie ein Tier, das in eine Falle geraten ist. Als er über sie herfiel und sie benutzte wie die übrigen seiner Krieger, da war das einstige Lächeln in ihren ebenmäßigen Zügen gefroren und die warme Glanz in ihren Augen erloschen - für immer. Aber das hatte Ägir Gun-narsson nicht bemerkt, als er seine rasche Befriedigung gesucht und erhalten hatte...

Mittlerweile wurden die Regentropfen immer größer und heftiger. Schaumkronen begannen auf den Wellen zu tanzen und immer wieder schlugen Brecher gegen den hölzernen Bug des Roten Drachen, der auf der stürmischen See zu tanzen begann. Die Ruderer unter Deck

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versuchten den Kurs zu halten, aber die Wellen waren einfach zu stark. Der Wind wuchs an, trieb das Nordschiff vor sich her und mach-te es mit geradezu unheimlicher Präzision zu einem Spielball der im-mer größer werdenden Wellen. Salzwasser wurde über Deck geschleu-dert, wischte Eimer und Kisten einfach von Bord, denn man hatte ver-gessen, diese kurz vor Ausbruch des Unwetters zu vertäuen.

Durch das Pfeifen des Windes erklang plötzlich das berstende Ge-räusch eines brechenden Ruders. Ägir Gunnarsson stieß einen lauten Fluch aus, als er zum Heck eilte und mit Entsetzen erkannte, dass die Kraft der immer wiederkehrenden Wellen zwei der Ruder einfach zer-brochen hatte. Als hätte eine unsichtbare Faust sie einfach wie zwei winzige Hölzer zerknickt.

Fernes Donnergrollen erfüllte auf einmal die stürmische Luft und nur wenige Sekunden später zuckten mehrere grelle Blitze am wolken-verhangenen Himmel auf, die die stürmische See für winzige Momente in gleißende Helligkeit tauchten.

»Bei Odan, dem Weltenzerstörer«, murmelte Bjarni Todolfsson er-schrocken. »Wir werden alle sterben...«

»Nicht, wenn wir uns dagegen wehren, du einfältiger Kerl!«, brüll-te ihn Ägir zornig an, weil er Bjarni nicht wieder erkannte. Der hünen-hafte Nordmann hatte sich in einen winselnden Feigling verwandelt, der den Tod zu fürchten begann. »Los, wir müssen ans große Steuer-ruder - wir beide. Komm schon!«

Er versetzte Bjarni einen Stoß, dass dieser ins Taumeln geriet. Ägir Gunnarsson hörte von fern die ängstlichen Rufe der Ruderer unter Deck und sah die erschrockenen Gesichter der Männer, die eben das Segel eingeholt hatten. Der Anführer der Krieger aus dem Eisland er-reichte jetzt das große Steuerruder, an dem einer seiner Männer stand. Normalerweise ein erfahrener Seemann, aber auch er war von dem plötzlich hereingebrochenen Unwetter so verängstigt, dass er nicht mehr wusste, was er zu tun hatte. Oder hatte diese Angst andere Ursprünge? Gründe, die Ägir Gunnarsson eigentlich selbst schon längst erkannt hatte - aber da war noch eine winzige Spur Vernunft in ihm, die sich einfach weigerte, das zu akzeptieren, was ihm seine finstere Ahnung einzureden versuchte.

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»Halt das Ruder, Bjarni!«, schrie Ägir seinem Gefährten zu, wäh-rend er seine Hände um das nasse Holz schloss.

Der hünenhafte Nordmann kam seinem Gefährten zu Hilfe, packte ebenfalls das große Steuerruder und versuchte es gegen die Wellen zu stemmen. Die beiden stöhnten vor Anstrengung, aber es gelang ihnen einfach nicht. Der Druck der Wellen und das Tosen des Windes war einfach zu stark. Der Rote Drache wurde zum Spielball der Elemente und Bjarni Todolfsson schrie erschrocken auf, als er sah, wie sich ein gewaltiger Wellenbrecher von der anderen Seite dem Schiff näherte und dann das Deck überspülte. Zwei der Männer wurden von den Flu-ten erfasst und einfach mitgerissen. Ihre Todesschreie wurden von dem Heulen des Sturmes und dem Donnerhall einfach verschluckt. Das Ganze hatte nur wenige Sekunden gedauert, aber zwei Krieger waren von den Fluten einfach verschlungen worden.

»Bjarni!«, rief Ägir seinem Gefährten zu. »Das Ruder - sieh doch!« Während er das sagte, hatten sich seine Augen vor Schreck geweitet, als das große Steuerruder von einem Atemzug zum anderen zu bers-ten begann und dann entzweibrach. Ägir Gunnarsson hatte sich so gegen das Ruder gestemmt, dass er nun das Gleichgewicht verlor und zu taumeln begann. Bjarni erging es nicht anders. Die beiden Nord-männer stürzten.

Das Unwetter wurde immer schlimmer. Der Sturm verwandelte sich in einen gewaltigen Orkan, der den Roten Drachen einfach mitriss, ihn immer wieder eintauchen ließ in ein neues Wellental - und jedes mal spülten weitere Brecher übers Deck.

Ägir Gunnarsson und Bjarni Todolfsson waren jetzt allein an Deck. Keiner der anderen Krieger war mehr zu sehen - auch die anderen Ruderschläge hatten aufgehört, denn die meisten Ruder waren von den Wellen zerbrochen worden. Ägir klammerte sich an einem dicken Tau fest und Bjarni fand Halt unweit des mächtigen Drachenhalses am Bug des Nordschiffes. Mit schreckgeweiteten Augen blickten sie auf die ringsherum tobende See und beteten zu ihren Göttern.

In diesem Moment erfüllte ein gewaltiger Donnerschlag die Luft und Bruchteile von Sekunden später zuckten zwei grelle Blitze am Himmel auf. Mitten ins Segel schlug der gleißende Tod und setzte das

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Leinen trotz der Nässe sofort in Flammen. Eine unbeschreibliche Hitze breitete sich sofort aus, sog das Wasser in Sekundenschnelle auf und leckte mit heißer Zunge nach dem Holz des Mastes und dem Rest des Segels. Rauch und Flammen schlugen meterhoch empor, während die Reste des Segels von den gierigen Flammen einfach verschlungen wurden.

»Ägir!«, schrie Bjarni voller Verzweiflung, als er den Mast brennen sah und auf einmal erkannte, wie weitere Blitze den dunklen Wolken-himmel erhellten. Und im Schein der Blitze zeichnete sich auf einmal inmitten der schwarzen Wolken etwas ab, was Bjarni Todolfsson an einen schrecklichen Alptraum erinnerte. Er sah die zornblitzenden Au-gen einer unwirklichen, riesenhaften Gestalt mit wallendem Bart, die in ihrer Hand einen gewaltigen Hammer schwang und damit zu einem vernichtenden Hieb ausholte.

»Thunor!«, brüllte Bjarni, als er begriff, was er auf einmal sah. »Das ist der mächtige Donnergott Thunor!«

Auch Ägir sah die wie zu einem feinen Gespinst geformte Gestalt, die sich ganz deutlich in den Wolken abzeichnete - und er erkannte auch den Hammer, der Blitze von sich schleuderte. Blitze, die auf das Schiff zielten und es erneut trafen. Was einen weiteren Brandherd aus-löste, dessen Flammen sofort um sich griffen.

»Das... das kann doch nicht...«, kam es über Bjarnis Lippen, der einfach nicht glauben wollte, was er mit eigenen Augen sah.

Er war so erschrocken über den Blitze um sich schleudernden Gott, dass er gar nicht sah, wie ein Teil der Männer unter Deck eben-falls nach oben gestürmt kam und Zeuge wurde, was gerade geschah. Thunor, der Gott ihres Volkes, schleuderte Blitze nach ihnen und war im Begriff, sie alle zu vernichten!

»Der Mast!«, schrie Ägir Gunnarsson mit einer Stimme, die trotz-dem noch das Heulen des Windes übertönte. »Los, kappt den Mast, sonst ist es zu spät!«

Einige der Krieger nahmen allen verbleibenden Mut zusammen und führten Ägirs Befehle aus. Mit Äxten stürmten sie auf den lichter-loh brennenden Mast zu und schlugen wie Besessene auf ihn ein. Im-

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mer wieder lösten sich brennende Fetzen aus der Segelleinwand und fielen nach unten, verletzten einige der mutigen Männer.

Dann aber neigte sich der gewaltige Mast zur Seite und brach schließlich auseinander. Das brennende Segel stürzte mitsamt dem dicken Mast in die tosende See und wurde von den Fluten verschlun-gen. Ebenso wie die lodernden Flammen, die bald verloschen.

Während die beherzten Männer rasch versuchten, die übrigen aufgetretenen Brandherde zu löschen, bevor sie sich weiter ausbreite-ten, erkannten Ägir und Bjarni mit ängstlichen Augen, wie sich auf einmal eine zweite Erscheinung hoch über ihnen abzuzeichnen begann und immer deutlichere Formen annahm. Eine Erscheinung, die ihnen allen einen tödlichen Schrecken einjagte, denn sie spürten das Grauen, die von dieser Wesenheit ausging.

Ägir schüttelte ungläubig den Kopf, als er sah, wie Thunors Hand mit dem Hammer auf einmal kraftlos sank, als die andere Wesenheit auf ihn eindrang und sich mit dem Donnergott einen gnadenlosen Kampf lieferte. Erneut erfüllten Donnerschläge die tobende See und wieder leuchteten Blitze am trüben Himmel auf - doch diesmal hatten sie nicht das Schiff zum Ziel.

Das ganze makabre Schauspiel am Himmel hatte nur wenige Au-genblicke gedauert. Dann verschwanden die beiden Erscheinungen wieder so plötzlich wie sie gekommen waren und zurück blieb nur noch ein wolkenverhangener Himmel, der seine Schleusen erst jetzt so richtig zu öffnen begann und einen wahren Wolkenbruch entlud.

Ägir und Bjarni versuchten zu retten, was noch zu retten war, an-gesichts dieses immer stärker werdenden Sturms. Das Steuerruder war zerbrochen - genauso wie die meisten anderen Ruder des Roten Dra-chen. Sie hatten keine Möglichkeit mehr, ihr Schiff zu steuern, sondern mussten es jetzt ganz einfach dem Wind und den Wellen überlassen. Immer wieder schlugen gewaltige Brecher gegen den hölzernen Bug und ließen das Schiff heftig erzittern - dennoch hielt der Rote Drache diese heftigen Schläge aus. Aber es war nur noch eine Frage der Zeit!

Wieder spülte die Gischt übers Deck und riss drei weitere Männer mit sich, die sich zu spät mit Tauen hatten festbinden wollen. Einer von ihnen wurde gleich über Bord gerissen und verschwand in der

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tobenden See - die anderen beiden schafften es noch, sich für bange Sekunden am Holz festzuklammern. Das gelang ihnen aber nur für wenige Sekunden. Ihre Gefährten schafften es nicht mehr, ihnen zu Hilfe zu kommen, denn eine zweite Welle hatte sich bereits angekün-digt und riss die laut um Hilfe schreienden Männer mit sich in die tödli-che Tiefe.

Ägir Gunnarsson schloss die Augen. Eine nur schwer zu beschrei-bende Hilflosigkeit hatte ihn angesichts des tobenden Sturmes erfasst. Weil er wusste, dass das Schiff und der Rest seiner Männer nun dem Untergang geweiht waren!

Ein Zittern erfasste den ganzen vorderen Rumpf des Schiffes, als eine meterhohe Welle dagegen schlug. Bjarni Todolfsson, der ausge-rechnet an dieser Stelle Schutz gesucht hatte, wurde unter den Was-sermassen begraben und ein Stück mitgerissen. Doch der bärtige Hü-ne kämpfte um sein Leben und es gelang ihm, wirklich im letzten Mo-ment noch einen sicheren Halt zu finden. Das rettete ihm vor dem Sog in die tödliche Tiefe des aufgewühlten Meeres.

Ägir sah Bjarnis Kampf und atmete auf, als er sah, wie sein Ge-fährte sich trotz der zuerst ausweglosen Lage hatte retten können. Aber war das nicht nur ein Aufschub vor dem Tod, der bereits seine knöchernen Finger nach ihnen allen ausgestreckt hatte? Der Rote Dra-che war steuerlos und wurde von hohen Wellen immer wieder erschüt-tert - wie lange dauerte dieses Martyrium noch? War da nicht ein ra-scher Tod das Beste? Denn hier draußen auf dem tobenden Meer wür-den sie sich ohnehin nicht mehr lange halten können. Denn die Hilfe-rufe, die Ägir Gunnarsson im stummen Gebet zu seinen Göttern ge-schickt hatte, waren nicht erhört worden. Selbst der mächtige Donner-gott Thunor hatte sich von den Kriegern des Nordens abgewandt - stattdessen hatte er ihnen sogar Blitze der Vernichtung entgegenge-schleudert. Oder hatten diese Blitze gar nicht dem Roten Drachen ge-golten, sondern der unheimlichen Wesenheit, die sich mit dem Don-nergott einen gnadenlosen Kampf geliefert hatte? Ägir wusste das nicht, denn die beiden Erscheinungen waren längst verschwunden. Er ahnte aber instinktiv, dass der Kampf der beiden Giganten, den er und die meisten seiner Männer mitverfolgt hatten, etwas bedeuten musste.

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Etwas, was auch für die Nordmänner wichtig war - aber das konnten sie nur vermuten.

Wellen trieben das Schiff nach vorn, stießen es hin und her. Er-neut zuckten Blitze auf und der Wind trieb Regentropfen wie dichte Schleier vor sich her. Ägir Gunnarsson musste die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkneifen, um in diesem tobenden Unwetter über-haupt noch etwas sehen zu können.

Genau in diesem Augenblick erhellte das grelle Leuchten eines zu-ckenden Blitzes für Sekunden den wolkenverhangenen Himmel. Zuerst wollte Ägir gar nicht glauben, was er dann in diesem unwirklichen Licht sah. Aber es waren tatsächlich die Umrisse einer Insel, die er ganz weit am Horizont erkannte. Als die Wellen wieder hoch empor-schlugen, war dieses Bild schon wieder verschwunden, aber nur um wenige Augenblicke später erneut am Horizont aufzutauchen.

»Land!«, hörte Ägir Gunnarsson einen der Männer brüllen und wenig später fielen die anderen in die Freudenrufe der Nordmänner ein. Tatsächlich, da vorn war Land - eine Insel inmitten des tobenden Meeres. Und diese Insel bedeutete die Rettung, wenn es ihnen gelang, das vom Sturm gebeutelte Schiff in diese Richtung zu bringen.

»Geht unter Deck und seht nach den Rudern, Männer!«, erklang Ägirs Stimme. »Wir müssen die Insel erreichen!«

Die Männer eilten los, versuchten, zu retten, was noch zu retten war. Die meisten Ruder waren zerborsten vom ersten Ansturm der hohen Wellen, aber das war alles, was sie besaßen.

Sie stemmten sich gegen die tosende See, schafften es tatsäch-lich, den Roten Drachen in die gewünschte Richtung zu lenken. Ägir ertappte sich bei dem Gedanken, dass seine Hilferufe von den Göttern doch tatsächlich erhört worden waren. Diese Insel dort vorn am Hori-zont - das war die Rettung aus einer lebensbedrohlichen Situation. Jetzt konnten sie wieder hoffen, wenn sie es schafften, die Insel zu erreichen.

Ägirs Blicke hefteten sich förmlich auf die Insel im Sturm, deren Konturen sich allmählich deutlicher in den Regenschleiern abzuzeich-nen begannen. Aber gleichzeitig erfasste ihn auf einmal eine seltsame Ahnung, die immer stärker wurde, je näher der Rote Drache auf die

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Insel zuschlingerte. Ägir sah die roten Klippen am westlichen Teil der Insel und erkannte auch die Hügel, die sich unmittelbar daran an-schlossen.

Irgend etwas kam ihm auf einmal seltsam vertraut vor und er begriff einfach nicht, was das war. Aber dann kam Bjarni Todolfsson zu ihm geeilt und seine schreckensbleiche Miene spiegelte die Furcht wider, die von dem Hünen Besitz ergriffen hatte.

»Die Insel, Ägir!«, rief Bjarni und packte den Anführer der Nord-männer nun so heftig am Arm, dass dieser den Schmerz spürte. »Es ist die Insel, Ägir - wir sind verloren!«

Ägir Gunnarsson schüttelte Bjarnis Hand ab und spähte hinaus in den Sturm. Bald wurde zur Gewissheit, was der Hüne bereits erkannt hatte. Es war die Insel, die sie so hastig und voller Schuld verlassen hatten, weil sie dort Unheil und Verderben angerichtet hatten. Vor ihren Augen erstreckte sich Manyas Insel - der Ort, an dem das Un-glück begonnen hatte und seitdem ihr ständiger Begleiter gewesen war...

»Ägir, wir müssen umkehren!«, schrie Bjarni mit weit aufgerisse-nen Augen. »Dort auf der Insel wartet nur der Tod auf uns!«

»Und hier draußen erst recht!«, erwiderte der Anführer der Nord-männer genauso heftig. Er wollte noch mehr sagen, brach dann aber mitten im Satz ab, als er plötzlich am Gewitterhimmel oben auf den Klippen etwas sah, was er zuerst für eine Ausgeburt seiner überreizten Angstgedanken hielt. Dann aber erleuchtete ein ständiges Blitzen den schwarzen Himmel und Ägir erkannte, dass er sich nicht getäuscht hatte. Oben auf den Klippen stand eine einsame Gestalt und sie hatte beide Hände gen Himmel erhoben - als wolle sie die rings herum to-benden Elemente kontrollieren!

Auch wenn es eigentlich gar nicht sein konnte - trotzdem hörten Ägir und Bjarni sowie auch die Krieger unter Deck die klagende Stim-me einer Frau durch das Tosen der Wellen und des Sturms. Es war eine Stimme, die Ägir Gunnarsson sofort wieder erkannte. Jetzt wusste er nämlich, wer die Gestalt oben auf den Klippen war - es war Manya selbst, die geheimnisvolle Herrscherin dieser so weit vom Festland entfernten Insel!

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Gleichzeitig wurde der Rote Drache von unsichtbaren Kräften nach vorn gezogen, genau in Richtung der Klippen, wo sich auf einmal ein gigantischer Strudel gebildet hatte, dessen Sog das Schiff der Nord-männer nicht mehr losließ.

»Bei allen Göttern!«, schrie Ägir, als er das Unheil begriff, was ih-nen allen drohte. »Der Strudel, Bjarni!«

Auch der Hüne hatte begriffen, was nun geschehen würde. Die Rote Drache eilte auf den Strudel zu, wurde immer mehr vom Sog erfasst. Niemand konnte das Unheil jetzt noch aufhalten - die Insel war nicht die Rettung gewesen, sondern das Schicksal, das sie ereilt hatte. Manyas Fluch hatte sich auf tragische Weise erfüllt und nahm nun seinen Lauf.

»Neeeiin!«, brüllte Bjarni Todolfsson, als er die weiße Gischt spür-te, die über das Schiff spritzte und es langsam nach unten zog. Ägir Gunnarsson wurde von einer unsichtbaren Faust gepackt und über Bord geworfen. Wasser zog ihn nach unten in die tödliche Tiefe und bevor sich die tosenden Wellen über seinem Haupt schlossen, sah er ausgerechnet jetzt die Silhouette von Manya oben auf dem Felsen, die in diesem Moment ihren klagenden Gesang beendet hatte...

*

Während die verzweifelten Nordmänner in den aufgepeitschten Fluten des Westlichen Meeres in greifbarer Nähe der Insel der geheimnisvol-len Zauberin namens Manya den Tod fanden, hatten sich die Heere des Lichts und der Finsternis lägst formiert. Orcon Drac führte seine dunklen Kreaturen aus den Refugien jenseits der Sümpfe von Cardhor in die Welt der Menschen. Die Bergherzogtümer von Arnish waren ihr erstes Ziel und dort, wo das Heer der Finsternis auf bewohnte Siedlun-gen der Menschen stieß, blieben nur noch Schutt und Asche zurück. Der Weg der Eindringlinge war übersät mit zahllosen Leichen ermorde-ter und verstümmelter Menschen - und mit jeder Stunde wurden es mehr. Das konnte auch der Kämpfer des Lichts nicht mehr verhindern, obwohl er die Spur des Ritters der Finsternis und dessen Geschöpfe schon seit Tagen verfolgt hatte. Auch er wurde Zeuge der beispiello-

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sen Vernichtung, die diesen Teil der menschlichen Welt heimsuchte. Es war Thorins Wille, den dunklen Ritter aufzuhalten und seinen Erobe-rungsfeldzug zu stoppen, denn er wusste, dass die Stunde der Ent-scheidung bevorstand.

Während Thorin seinen Weg durch die toten Berge fortsetzte, hat-ten Odan, Thunor und Einar, die Götter des Lichts, ihr Reich bereits längst verlassen und waren bereit, die letzte Schlacht zu schlagen. Eine Schlacht, von der auch die Götter nicht wussten, wie sie enden würde. Die alten Schriften von Ushar ließen viele Möglichkeiten offen und Thorin, dem Nordlandwolf, kam dabei eine besondere Rolle zu. Eine Rolle, um deren Bedeutung der Krieger aus den Eisländern des Nordens wusste. Aber selbst er ahnte nicht, dass an anderen Orten der menschlichen Welt der Kampf bereits begonnen hatte und mit uner-bittlicher Härte von beiden Seiten geführt wurde.

Das erkannten auch die grausamen Skirr, als sie die andere Seite der Feuerbarriere erreichten. Sie hörten die Todesschreie unzähliger Geschöpfe, vernahmen ihre unsägliche Qual und weideten sich daran. Die Stunde, wo der RUF ergangen war und bis jenseits der Feuerbar-riere zu hören gewesen war, hätte nicht besser gewählt sein können.

Die Skirr sahen, dass die Götter ihre Heere in die Schlacht führten - und sie nahmen Kontakt mit den Herrschern der Finsternis auf. Azach und R'Lyeh erschraken, als sie die Anwesenheit einer dritten Macht spürten und begriffen, dass diese Macht noch viel stärker und entsetz-licher war als sie diese in Erinnerung hatten.

Die Skirr fühlten die Gedanken der dunklen Götter und handelten ohne Zeit zu verlieren. In einer Zeitspanne, die so kurz war, dass ein menschlicher Verstand diese Denkensweise niemals begriffen hätte, beobachteten sie die Geschehnisse und die zahlreichen Schlachten und Kämpfe, die nun an unzähligen Stellen der Welt aufflackerten - und sie sahen, was sie tun mussten.

Die Mächte des Lichts hatten einen Fehler begangen und dieser Fehler würde ihnen nun zum Verhängnis werden. Die Skirr handelten sofort. Während einige der fremden Wesenheiten sich in den Götter-krieg einmischten, spaltete sich ein anderer Teil von der Hauptmacht ab - denn diese hatten ein ganz bestimmtes Ziel vor Augen. Einen Ort,

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der allein und verlassen war - belegt mit einem Schutzbann, von dem die Götter des Lichts überzeugt waren, dass er eine unüberwindliche Barriere darstellen würde. Aber nicht für die Skirr - denn für sie gab es weder Barrieren im Raum noch in der Zeit...

Der Wolkenhort von Marten Munsonius Der Wolkenhort beherbergte in diesen Tagen keine menschlichen We-sen - und erst recht keine Götter. Nur die Elfen wachten noch über Odans Besitz. Die gewaltige Schlacht zwischen Licht und Finsterais, die die Welt der Menschen in Brand setzte, hatte bereits begonnen und niemand wusste, welchen Verlauf diese Schlacht nehmen würde. O-dan, Einar und Thunor - ihre Stimmen schwiegen. Sie waren in alle Winde zerstreut oder möglicherweise sogar im Kampf gefallen.

Das Elfenvolk lebte schon seit unergründlichen Zeiten in Odans Wolkenhort, das einem Labyrinth aus Gängen und Sälen glich, in des-sen Zentrum sich ein kleiner, von den Vorfahren der jetzigen Elfenge-neration angelegter Irrgarten befand. Aus der Welt der Menschen wa-ren die Elfen schon seit Urzeiten verschwunden - hier in Odans Reich hatten sie ihre Zuflucht gefunden.

Oh - es gab eine Menge zu tun in Odans Wolkenhort. Odans Reich beherbergte eine Menge kleinerer und größerer Schätze sowie unge-ahnte Dinge von anderen Welten, die ganz sicher in kleinen ge-schmückten Vitrinen untergebracht waren. Manches war besonders seltsam, um das sogar die Elfen einen großen Bogen machten. Denn sie spürten die fremde Ausstrahlung, die diese Relikte umgab.

Aber der Herrscher über das Wolkenreich liebte auch die Dinge einfacher Natur. Auf einer Wiese, in einem der Innenhöfe des Götter-hortes, grasten Pferdeherden. Die Elfen hatten alle Hände voll zu tun, die vielen Tiere zu pflegen und mit Futter zu versorgen. Sie umschwirr-ten sie, in ihren winzigen Händen Bürsten haltend, mit denen sie dann das Fell der Tiere striegelten.

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Sechs von ihnen waren mindestens nötig, um unter Aufbietung al-ler Kräfte eines der Pferde zu den Wassern zu führen, die an einem entfernten Platz des Wolkenhorts einer kleinen und unscheinbaren Quelle entsprangen. Odan liebte auch das Gackern der Hühner, das Schnattern der Enten und das Muhen der Kühe. Jedes Geschöpf hatte im Wolkenhort seinen Platz und die Elfen sorgten dafür, dass alles sei-nen gewohnten Gang ging, bis - ja bis eines Tages ein Fremder in ihr kleines Paradies eindrang!

Die Elfen waren zu dieser Zeit sowieso schon nervös und besorgt, weil sich der Herr des Wolkenhorts nicht mehr gemeldet hatte. In den Wirren der gewaltigen Schlacht war die Verbindung zu seinen Ge-schöpfen abgebrochen und selbst die Elfen konnten zu dieser Stunde nicht wissen, welches Schicksal die drei Götter des Lichts ereilt hatte. Ihre Aufregung wuchs deshalb noch, als sie von Skapire - einer jungen und noch recht unerfahrenen Elfe - informiert wurden, was jetzt ge-schehen war.

»Stellt euch vor - ein Pferd mit einem großen Reiter darauf ist aus den Nebelwänden gekommen...«

Skapires Worte kündeten von Unheil und jede der hier versammel-ten Elfen spürte das. Besorgt schwirrten sie näher heran.

»Erzähle mehr«, forderte nun eine der älteren Elfen, deren Miene eine Mischung aus Sorge und Furcht war - was sie jetzt nicht verber-gen konnte.

Skapire dachte einen Moment nach, überlegte sich sorgsam die nun folgenden Worte. Ihr feines filigranes Haar umwehte sie in der leichten Brise des aufkommenden Windes, als sie nun wieder das Wort ergriff.

»Wisst ihr, ich saß auf einem Kieselstein und lauschte dem Flüs-tern des Baches, als plötzlich ein großer Schatten über mich fiel. Ihr könnt euch wohl denken, wie sehr ich mich fürchtete...«

Sie hielt einen Augenblick inne, um in die Runde zu schauen - und erkannte in den Gesichtern der anderen Elfen etwas von der Angst, die sie selbst vor nicht allzu langer Zeit erfasst hatte.

»Als ich mich dann umzudrehen wagte, sah ich das Pferd und ei-nen geheimnisvollen Reiter«, fuhr Skapire schließlich fort. »Er saß selt-

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sam gebückt im Sattel. Das Gesicht konnte ich nicht erkennen, weil er einen dunklen Umhang mit einer großen Kapuze trug, die ganz tief in sein Gesicht gezogen war.«

»Dann hat er etwas zu verbergen«, ergriff eine der älteren Elfen das Wort, wurde aber dann von einer anderen unterbrochen.

»Sei doch still und lass Skapire zu Ende erzählen - ich spüre, dass es wichtig ist, was sie gesehen hat. Dieser fremde Eindringling bedeu-tet Gefahr für Odans Wolkenhort!«

Skapires Wangen hatten sich ein wenig gerötet, denn normaler-weise war sie solche Aufmerksamkeit gar nicht gewöhnt.

»Ich bin mir nicht sicher«, erzählte sie jetzt weiter. »Aber ich glaube, dass ich das Ende eines Schwertes unter dem Umhang gese-hen habe. Das Gesicht des Fremden lag im Schatten seiner Kapuze. Einmal hob er den Kopf und ich glaubte, zwei rot glühende Augen ge-sehen zu haben, die die Burgzinnen des Wolkenhorts begierig muster-ten.«

Ein Raunen ging durch den Kreis der Elfen. »Wir sollten Phyllis informieren«, schlug die ältere Elfe vor und

breitete schon ihre fast durchsichtigen Flügel aus, um sich in die Lüfte zu erheben.

»Halt - nun wartet doch!«, rief Skapire mit erhobenen Händen, fast beschwörend. »Da ist noch etwas, was ihr wissen solltet.« Natür-lich waren jetzt wieder alle Augen auf sie gerichtet und erneut genoss sie es, im Mittelpunkt zu stehen. »Ich folgte dem Reiter, ohne dass er mich bemerkte - und dann konnte ich erbeut das Schwert unter sei-nem Umhang sehen. An der Klinge klebte Blut...«

Entsetzen ergriff die Elfen, als sie Skapires Worte vernahmen. Aufgeregtes Gemurmel war zu hören. Das war wirklich eine Nachricht, von der die Königin der Elfen erfahren musste!

*

Das Areal des Wolkenhorts war weitläufig. Viel größer als man vermu-tete. Allerdings hatte das in dieser Situation auch einen entscheiden-den Nachteil - die Elfen fanden den fremden Eindringling nicht wieder.

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Die Königen Phyllis schickte ihr Volk über die Ländereien, hinüber zur Quelle und auch in den Kristallpalast Odans. Andere wurden an die Grenzen des Wolkenhorts gesandt, um das weitere Eindringen uner-wünschter Fremder zu verhindern, bis Odan, der Weltenzerstörer, aus der Schlacht zurückkehrte. Dank kleiner magischer Fähigkeiten und der fast undurchdringlichen Hecke, die den Rand der Elfenwelt bildete, hoffte man jeder Gefahr von außen Herr zu werden. Trotzdem war es dem Fremden gelungen, soweit in den Wolkenhort vorzudringen. Wie hatte er das nur schaffen können?

»Noch immer nichts von dem Reiter«, mussten die Elfen schließ-lich ihrer Königin berichten, als die Sonne längst untergegangen war und ihr spärliches Licht sich mit dem Azurblau der begonnenen Nacht vermischte. »Wir haben sämtliche Stallungen durchsucht und sogar den Palast unseres Herrn vom Gewölbe bis zu den Kuppeln des golde-nen Daches. Aber wir haben nichts gefunden...«

Betreten schwiegen die Elfen nun angesichts dieser bedrückenden Tatsache. Phyllis dachte nach, grübelte, was man nun am besten noch tun konnte. Plötzlich kam ihr ein rettender Gedanke.

»Der Turm unseres Herrn«, kam es ihr über die Lippen. »Habt ihr auch in Odans Turm nachgesehen?«

Natürlich war es wieder die junge unerfahrene Skapire, die jetzt das Wort ergriff. »Aber den Turm kann doch niemand betreten, Köni-gin!«, rief sie so laut, dass es alle anderen hören konnten. »Unser Herr hat doch einen Zauberbann um die Dachkammer gelegt. Außerdem hat er uns ja verboten, den Turm zu betreten.«

»Trotzdem«, entschied Phyllis. »Fünf von euch fliegen sofort los. Ich will Gewissheit haben.«

Mit einer unmissverständlichen Handbewegung schickte sie fünf Elfen auf den Weg, um bei Odans Turm nach dem Rechten zu sehen.

Aber auch die Königin des Elfenvolkes wollte jetzt nicht untätig bleiben. Sie flog selbst bis an den Rand des Wolkenhortes, um dort nochmals nach Spuren des Eindringlings zu suchen. Die Elfen verge-wisserten sich, dass die Grenzen des Wolkenhorts nicht von weiteren Fremden gefährdet wurden. Als Phyllis und ihr Volk schließlich am Rand eines Baches, der von Wasserlilien umgeben wurde, erneut die

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Lage besprachen, wusste niemand, wo sich der Fremde befand. Nach wie vor herrschte Ruhe und Frieden im Wolkenhort. Aber es war ein trügerischer Friede, denn der Fremde hielt sich immer noch verborgen.

»Herrin«, meldete sich jetzt eine skeptische Elfe zu Wort. »Bist du denn überhaupt sicher, ob sich Skapire nicht nur wichtig machen will?« Anklagende Worte galten nun der jungen Elfe, die behauptet hatte, den Fremden selbst gesehen zu haben. »So ein großes Pferd mitsamt seinem Reiter müssten doch zu finden sein - vielleicht existieren sie ja gar nicht und wir regen uns auf über etwas, was nur Skapires Phanta-sie entsprungen ist...«

Phyllis wollte darauf gerade etwas erwidern. Doch ehe sie dazu kam, kam eine weitere Elfe zum Rand des Baches geflogen, ging im letzten Moment auf eines der Lilienblätter nieder. So hastig, dass das Blatt zu wackeln begann und die Elfe mit dem Gleichgewicht ringen musste, um wieder Halt zu finden.

»Herrin!«, rief die Elfe nun ganz aufgeregt. »Es ist etwas passiert! Kommt alle mit zum Turm Odans. Merkwürdiges geht dort vor. Aus den Turmfenstern leuchtet ein fahles Rot, obwohl die Sonne schon längst untergegangen ist. Und man kann das Wiehern eines Pferdes hören!«

Jetzt waren die Elfen ganz erschrocken und Phyllis hatte große Mühe, ihr aufgebrachtes Volk zu beruhigen. Sofort schickte sie wieder einige Elfen aus, um die anderen, die noch die Grenzen des Wolken-hortes bewachten, zur Scheune in der Nähe des Turms zu beordern.

Dann bat sie im Angesicht ihrer Untertanen in einem lauten Selbstgespräch den Weltenzerstörer um seinen Beistand, denn die Elfen waren alles andere als ein kriegerisches Volk. Als sie vor undenk-lichen Zeiten noch unter den Menschen gelebt hatten, da hatten sie sogar die Armen und Schwachen unterstützt und waren dafür von die-sen mit kleinen Geschenken belohnt worden. Doch nun drohte dem Wolkenhort Gefahr und damit auch dem Volk der Elfen! Phyllis war nicht bereit, sich kampflos aus der letzten Zuflucht ihres Volkes so ein-fach vertreiben zu lassen.

Der Fremde, der es trotz aller Hindernisse dennoch geschafft hat-te, in den Wolkenhort und erst recht in Odans Turm einzudringen,

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musste von hier wieder entfernt werden - und zwar mit allen Mitteln! Phyllis und ihr Volk begriffen nur zu gut, was für sie alle auf dem Spiel stand. Deshalb machte sich eine kleine Schar des geflügelten Volkes auf den Weg zu Odans Turm, bewaffnet mit winzigen Speeren und Zaubersprüchen, die sie dem Eindringling entgegenschleudern wollten, wenn er nicht sofort wieder von hier verschwand!

Hoch in die Lüfte erhoben, wirkten die Elfen wie kleine Leuchtkä-fer, denn viele von ihnen trugen silberne Laternen bei sich, die ein winziges, schimmerndes Licht verströmten. Ihre Flügel verbreiteten leise sirrende Geräusche. »On Wirtan-Dir lo sah, On Wirtan-dir ke sah«, sangen die Elfen und machten sich damit selbst Mut. Zwar wuss-te keine von ihnen den Sinn dieser Worte zu übersetzen, denn längst war diese Sprache vergessen. Dennoch machte dieser Gesang den Elfen Mut und eine gewisse Kampfstimmung breitete sich unter ihnen aus - und das hatte das kleine Volk schon lange nicht mehr gespürt.

Die Mutigsten mit Phyllis an der Spitze gelangten so schließlich an ihr Ziel, sammelten sich unweit des Turms an der Rückseite einer Scheune, die den direkten Blick auf Odans Turm verwehrte. Aufgeregt schwirrten sie um ihre Königin, die sich auf einen moosigen Stein ge-setzt hatte und in Gedanken versunken zu sein schien. Tatsächlich war sie wirklich sehr verwirrt, denn in Odans Wolkenhort hatte es schon seit undenklichen Zeiten nichts Böses gegeben. Sie war sich nicht si-cher, was den Fremden betraf, doch das blutige Schwert und das Ein-dringen in den für Elfen (also erst recht für den Fremden!) verbotenen Turm, versprachen nichts Gutes. Phyllis wünschte sich jetzt nichts sehnlicher als die Rückkehr Odans. Doch die Welt der Menschen tief unter ihr schien selbst für Götter wie Odan und seine Brüder gefährlich geworden zu sein. Niemals hatte Odan den Wolkenhort, seine Tiere und das Elfenvolk so lange allein gelassen. Jetzt waren sie notgedrun-gen auf sich selbst gestellt. Deshalb nahm Phyllis all ihren Mut zusam-men und wollte sich gemeinsam mit ihrem Volk dem Eindringling zum Kampf stellen, der alle Grenzen des Wolkenhorts durchbrochen hatte und nun in der verbotenen Zone Odans sein Unwesen zu treiben schien.

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»Während wir uns hier sammeln«, sprach sie nun zu ihrem Volk, »fliegst du noch einmal in den Palast unseres Herrn, Leterka. Nimm noch sechs weitere Elfen mit!«, trug sie dann der Elfe auf. »Wir brau-chen einige der alten Waffen aus dem Palast, denn unsere eigenen Kräfte werden nicht ausreichen, um den Eindringling zu vertreiben. Leterka, du bist eine der Erfahrenen aus unserem Volk. Vielleicht erin-nerst du dich an die uralten Erzählungen, wie man einige der alten Waffen nutzen kann.«

Leterka nickte ergeben. Rasch suchte sie sich einige Mitstreiterin-nen aus. Als sie dann aufbrachen und in der Dunkelheit untertauchten, hinterließen sie eine winzige Spur eines leuchtenden, kometenähnli-chen Goldschweifs. Phyllis wollte in der Zwischenzeit nicht untätig blei-ben. Also beschloss sie, eine kleine Vorhut von vier Elfen in Richtung des großen Turms zu entsenden, aus dessen Räumen an der Spitze das bisher fahle Rot sich in ein kräftiges Flackern verwandelt hatte. Da braute sich etwas Gefährliches zusammen und die Königin der Elfen befürchtete zurecht, dass dies etwas sehr Schlimmes für ihr Volk und den gesamten Wolkenhort zur Folge hatte.

Deshalb mussten sie den Fremden so schnell wie möglich stellen und überrumpeln, bevor es ihm gelang, in Odans geheime Gemächer einzudringen und dort noch mehr Unheil anzurichten. Notfalls würden die Elfen den Fremden töten - ein Gedanke, der Phyllis betrübte, denn seit Ewigkeiten war es nie nötig gewesen, ein anderes Lebewesen zu töten. Aber jetzt war die Gefahr zu groß und wenn die Situation weiter eskalierte, dann blieb dem Elfenvolk keine andere Möglichkeit!

*

Die Vorhut der Elfen war längst beim Turm und Phyllis fragte sich, ob das Eindringen des Fremden in den Wolkenhort womöglich der Anbe-ginn einer neuen Zeit war - einer anderen, unruhigeren und stürmi-schen Ära. Vielleicht sogar das Ende des Paradieses hier im Wolken-hort! Sie schlug angesichts dieser schrecklichen Gedanken beide Hän-de vors Gesicht, denn eine mächtige Verzweiflung hatte die Königin der Elfen erfasst, die sie wie eine Welle in einem schrecklich aufge-

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wühlten Ozean schüttelte und sie mit jeder verstreichenden Sekunde mehr beunruhigte.

Natürlich blieb dies auch den anderen Elfen nicht verborgen. Sie sahen, wie ihre Königin traurig in das samtige Schwarz des nächtlichen Himmels blickte. Der uralte Glanz der Sterne dort oben wirkte auf Phyl-lis auf einmal ganz kalt und feindlich - als wenn am Himmel etwas Bö-ses lauerte, das nur noch auf den richtigen Moment wartete, um uner-kannt zuschlagen zu können...

Auf einmal bildete sich Nebel. Zuerst waren es nur weißliche Schleier, die sich allmählich immer mehr auszubreiten begannen und dann zu dichten Schwaden wurden. Das Wetter änderte sich von ei-nem Atemzug zum anderen und ein eisiger Wind kam aus dem Turm, in dessen Fenstern es jetzt feuerrot glühte.

Phyllis glaubte, plötzlich einen erstickten Schrei gehört zu haben, einen Schrei, der aus der Richtung von Odans Turm kam. Im selben Moment stolperte eine der Elfen aus dem Nebel, die sie schon hinüber zum Turm geschickt hatte. Schrecken und Entsetzen spiegelten sich in den Zügen der grazilen Gestalt wider - und dann brach sie zusammen, während ein Blutschwall über ihre Lippen kam.

»Herrin«, flüsterte sie mit erstickender Stimme, während die Schatten des Todes ihre Augen überzogen. »Unsere Vorhut... sie wur-de entdeckt. Alle sind... tot. Eine... schreckliche... Gefahr droht...«

Mehr brachte die Späherin nicht mehr heraus. Sie war tot und Phyllis brannte sich dieses Bild der sterbenden Elfe für immer ins Ge-dächtnis. Sie sah schaudernd auf die verstümmelten Flügel und den rechten, halb ausgerissenen Arm, während die Elfe leblos und kalt im feuchten Gras lag. Das ganze Elfenvolk war erschüttert über den Tod ihrer Gefährtin.

Ehe Phyllis Zeit hatte, über all das nachzudenken, tauchte Leterka aus der Dunkelheit auf. Sie und ihre Begleiterinnen hatten eine Lanze mitgebracht, deren Spitze in den Höhlen der ältesten Götter geschmie-det worden war. Eine Lanze, die jedem Zauberspruch widerstehen und alles bekannte Material mühelos durchdringen konnte. Leterka hatte sich tatsächlich an diese Waffe erinnert und sie nun mitgebracht, um

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damit weiteres Unheil von ihrem Volk und dem Wolkenhort abwenden zu können.

Weitere Worte waren nicht mehr nötig. Das Volk der Elfen erhob sich jetzt in die Lüfte. Phyllis war entschlossen, den Eindringling zu vernichten, denn er hatte ein Leben auf dem Gewissen - das Leben einer Elfe!

Der eiskalte Wind war zwischenzeitlich abgeflaut. Je näher die El-fen jetzt dem Turm kamen, um so lauter erklang das verängstigte Wiehern des Pferdes aus dem Inneren der Gemächer.

Die schwere Eingangstür war nur angelehnt. Das Pferd stand an-gebunden in einer Ecke und tänzelte nervös. Der Fremde dagegen war nirgendwo zu erblicken und deshalb verteilten sich die Elfen jetzt in dem unteren Geschoß des Turms. Für einen Beobachter wirkte die Szene gespenstisch - eine große Lanze wurde scheinbar von ›kleinen Lichtern‹ getragen. Sie schwebte nun die Stufen hinauf zur Turmspit-ze.

Das Volk der Elfen folgte geschlossen ihrer Königin. Man hoffte immer noch, den Eindringling überraschen zu können. Aber das Pferd wieherte immer wieder ängstlich und verschreckt auf und das schallte an den steinigen feuchten Turmwänden nach oben.

Endlich hatten die Elfen das Podest nach der obersten Stufe er-reicht. Sie blickten auf eine schwere hölzerne Tür, die den Weg in O-dans Turmzimmer versperrte.

Viele Elfen packten gleichzeitig zu - an dem Riegel und an der Tür-füllung, damit sie mit einem heftigen Schwung geöffnet werden konn-te. Die Lanze war zudem einsatzbereit.

Phyllis gab nun das Zeichen, während sie im Stillen zu Odan bete-te, dass er sie und ihr Volk beschützte.

Die schwere Tür öffnete sich und die Elfen sahen sich plötzlich ei-ner schwarzen, riesenhaften Gestalt gegenüber, die fast den ganzen Türrahmen ausfüllte. Der Unheimliche wirbelte mit den Armen und keiner wusste, ob es sich um einen Angriff handelte. Aber die Elfen und Phyllis wollten diesen Augenblick nicht ungenutzt verstreichen lassen und handelten sofort, als die große Gestalt ihnen auf einmal - unerklärlich eigentlich - den Rücken zuwandte.

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Die Elfen rammten mit vereinten Kräften die Lanze in den Panzer-harnisch der Gestalt. Die scharfe Spitze durchtrennte die sorgfältig geschmiedeten Ketten mit Leichtigkeit, glitt dann durch das Schulter-blatt des Gegners, getrieben von dem Mut der Verzweiflung des ge-samten Elfenvolkes. Der Eindringling geriet ins Wanken, stürzte und starb!

Aber das war ein verhängnisvoller Irrtum, wie sich noch in dersel-ben Sekunde herausstellen sollte. Den Elfen blieb nämlich keine Zeit mehr, über ihren vermeintlichen Sieg zu jubeln.

Phyllis erkannte den großen Fehler als erste. Doch das spinnen-gleiche Wesen mit dem menschenähnlichen Kopf schoss über die zu-sammenbrechende Gestalt hinweg auf die Elfen zu, die jetzt der einzi-gen Waffe beraubt waren, die dem wirklichen Feind Odans hätte Ein-halt gebieten können. Die Lanze steckte im geharnischten Körper der Kapuzengestalt!

Niemals zuvor waren die Elfen einer so bösartigen Kreatur begeg-net wie diesem Wesen. Die pelzigen Beine hatten noch niemals zuvor den Boden dieser Welt betreten und der giftige Atem hüllte sie jetzt alle ein. Es war schon eine traurige Ironie des Schicksals, dass Phyllis zu spüren glaubte, mit welch wahnsinnigem Vergnügen sich das spin-nenähnliche Wesen jetzt auf die Elfen stürzte, um ein Blutbad unter ihnen anzurichten.

Doch wenden wir uns gnädig ab - denn es ist zu schrecklich, was hier und jetzt geschah. Das Unheil nahm seinen Lauf - in der Gestalt einer widernatürlichen Kreatur, von denen es noch mehr gab. Nicht nur hier im Wolkenhort, der von den Schatten des Todes heimgesucht wurde. Selbst die Sterne zogen sich hinter die Wolken zurück, als sich das einst so friedliche Reich Odans in einen beispiellosen Ort des Grauens verwandelte...

*

Stille breitete sich in den weiten Hallen von Odans Kristallpalast aus, nachdem das unsagbare Grauen ein Ende gefunden hatte. Eine Stille, die nicht minder furchtbar war wie der entsetzliche Schlachtenlärm,

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der sowohl im Norden der menschlichen Welt und schließlich auch in der Wasserwelt des Südens wie eine Fackel hoch emporloderte.

Tausende ließen ihr Leben, als die dunklen Mächte immer weiter vordrangen und der Fährmann des Todes sah von seinem stygischen Reich aus, dass er sehr viele Seelen würde überholen müssen. Es gab Arbeit für ihn, mehr Arbeit als er gehofft hatte.

Weiter östlich des Dunklen Kontinents erstreckte sich das Insel-reich des Südens. Hunderte von kleinen malerischen Inseln umgaben ein größeres Eiland, das Herz dieses Reiches. Die Inselbewohner hat-ten bis jetzt ein friedliches und einfaches Leben gehabt und sie wuss-ten kaum etwas vom Kampf der zwei Mächte. Dies änderte sich aber jäh, als die Auswirkungen der gewaltigen Götterschlacht auch im Insel-reich zu spüren waren. Das Verhängnis nahm seinen Lauf...

Der Atem des Todes von Al Wallon Er wusste nicht, welches Geräusch ihn aus dem unruhigen Schlaf auf-geschreckt hatte, aber von einem Augenblick zum anderen war Gerrok hellwach. Trotzdem waren seine Sinne nach wie vor in einer undurch-dringlichen Schwärze gefangen, denn die Augen des alten Mannes waren schon seit vielen Jahren blind. Verstand und Gehör dagegen hatten an Schärfe und Genauigkeit zugenommen.

Als wenn eine unergründliche Laune des allmächtigen Schicksals dafür gesorgt hätte, dass er wegen seiner Blindheit nur nicht den Mut zum Leben verlor. So hatte sich Gerrok mit seinem Los abgefunden und machte das Beste daraus. Auch wenn er schon lange nicht mehr mit den anderen Männern hinaus aufs Meer fahren und die Netze aus-werfen konnte, so gab es trotzdem Arbeit genug - selbst für einen Blinden wie ihn!

Er hatte immer geschickte Hände gehabt und jetzt, wo er sein Au-genlicht verloren hatte, da hatte er irgendwann gespürt, dass diese Fähigkeit nicht verloren gegangen war - im Gegenteil. Gerrok besaß

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nun einen ausgeprägten Tastsinn und konnte die großen Fischernetze so geschickt reparieren als sehe er sie vor sich.

Gerrok dachte jetzt aber nicht an die Vergangenheit, sondern viel mehr an das, weshalb er aufgewacht war. Er wusste, er hatte etwas gehört. Irgendein Geräusch - oder?

Der blinde Mann blieb ganz ruhig, wagte kaum zu atmen und lauschte hinein in das Dunkel, das ihn immer umgab. Aber es blieb alles still und ruhig - zu ruhig. Und dann begriff Gerrok auf einmal, dass hier irgend etwas falsch war.

»Der Wind«, murmelte Gerrok. »Ich höre den Meeres wind nicht mehr...«

Von einem unguten Gefühl getrieben, erhob sich der alte Mann jetzt von seinem Lager und ging hinüber zur Tür seiner Hütte, die er auch selbst jetzt noch allein bewohnte. Aber jede einzelne Handbreit Boden in dieser Hütte kannte er und fand sich darin zurecht. Und noch konnte er alles selbst verrichten, so dass er niemanden brauchte, der ihm half. Gerrok war alt und stolz und im Dorf respektierte man das, ließ ihn allein und zeigte ihm nicht, dass man ihn wegen seiner Blind-heit bemitleidete. Denn Gerrok war einmal einer der besten Fischer des ganzen Dorfes gewesen...

Gerroks geschickte Hände ertasteten den Riegel der Tür und öff-neten sie dann. Er trat langsam hinaus ins Freie und hätte jetzt eigent-lich den stetigen Meereswind spüren müssen, denn die Hütten des kleinen Fischerdorfes standen in unmittelbarer Nähe der Küste. Von Gerroks Hütte aus waren es nur wenige Schritte bis zu der Stelle, wo sich die Fischerboote befanden.

Gerrok zuckte auf einmal sichtlich zusammen, als ihm erneut et-was bewusst wurde, was er erst jetzt registrierte. Er hörte keine ande-ren Stimmen und das gefiel ihm nicht. Spielende Kinder, herumtollen-de Hunde und das Geräusch von Frauen, die draußen vor den Hütten ihre Arbeiten verrichteten - all dies fehlte jetzt und ließ ihn immer un-ruhiger werden.

»Sell!«, rief Gerrok nun mit einer Stimme, die seine Empfindungen widerspiegelte. Es war der Name seines Sohnes, den er rief und des-

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sen geräumige Hütte sich nur wenige Schritte weiter drüben befand. »Sell, komm herüber zu mir!«

Aber niemand antwortete und Gerrok hörte nichts außer seinem eigenen Atem, der ihm auf einmal seltsam laut erschien.

»Das kann doch nicht sein...«, murmelte der blinde Mann und tappte zum ersten mal auf recht unsicheren Beinen hinüber zur Hütte seines Sohnes. Eigenartigerweise musste er ausgerechnet jetzt daran denken, dass Sell ihm immer wieder gesagt hatte, dass er auch bei seiner Familie leben könne und dass man hier für ihn sorgen würde. Aber Gerrok war zu stolz gewesen und hatte immer wieder gesagt, dass er noch sehr gut für sich selbst sorgen könne. Und deshalb war er jetzt nicht bei seinem Sohn und dessen Familie.

Jetzt hatte er Sells Hütte erreicht, wusste sofort, wo die Tür war. Sie stand offen und Gerrok ging sofort hinein.

»Sell!«, rief er erneut. »Wo seid ihr denn alle? Warum antwortet ihr mir nicht?«

Wieder blieb alles still und diesmal empfand Gerrok diese Stille ir-gendwie als feindlich und bedrohlich - auch wenn er immer noch nicht sagen konnte, warum das so war. Aber die Tatsache, dass sein Sohn und dessen Familie nicht hier waren, gab ihm sehr zu denken. Denn Seils Frau hatte einen kleinen Sohn - und der hätte hier sein müssen!

Der Junge war erst wenige Monate alt und Gerrok erinnerte sich wieder daran, wie stolz er gewesen war, als Sell ihm berichtet hatte, dass er nun Großvater werden würde...

»Seil!«, erklang die Stimme des Blinden jetzt wieder. »Warum antwortet denn keiner von euch? Wenn ihr Scherze mit mir treiben wollt - das ist kein Scherz, hört ihr?«

Stille, lähmende Stille ringsherum. Gerrok tastete so lange in der Hütte herum, bis er genau wusste, dass sie wirklich verlassen war. Nun hielt ihn nichts mehr hier drin zurück. Fast schon zu hastig für einen Mann, der seines Augenlichtes beraubt war, verließ er die Hütte seines Sohnes und eilte wieder hinaus ins Freie, spürte auf einmal die Wärme der Sonne, die ihm jetzt seltsam intensiv erschien. Und dabei ging es doch auf den Winter zu, der schon in wenigen Wochen mit kalten Winden und heftigen Stürmen die Küsten der Inselwelt heimsu-

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chen würde. Stattdessen war es heiß und windstill - ganz eigentümlich für diese Jahreszeit.

»Dayhan!«, schrie Gerrok jetzt mit zunehmender Unruhe den Na-men eines der Fischer, der die Hütte auf der anderen Seite bewohnte. »Urok!«, brüllte er nach dem Freund, der genauso alt war wie Gerrok selbst. Aber auch hier erhielt der Blinde keine Antwort.

Aufregung hatte ihn erfasst, als er jetzt zwischen den Fischerhüt-ten stand und von einem unguten Gefühl getrieben in die eine oder andere Hütte hinein ging. Aber nirgendwo hielt sich jemand im Inne-ren auf - und es schien fast so, als habe die ganze Bevölkerung des kleinen Dorfes ihre Hütten fluchtartig verlassen. Nur Gerrok war zu-rückgeblieben. Was war geschehen, dass der Blinde jetzt keinen der anderen Dorfbewohner fand? Hatten die Menschen angesichts einer drohenden Gefahr die Flucht ergriffen? Aber dann hätte Sell doch nie-mals seinen Vater zurückgelassen!

Nein, hier stimmte etwas nicht. Hier musste etwas geschehen sein, was vielleicht noch viel schlimmer war, als sich Gerroks Verstand jemals ausmalen konnte.

Er ging mit schweren Schritten hinunter zum Strand, wo sich die Fischerboote befanden und war ein wenig erleichtert, als seine Hände das Holz der Boote ertasteten. Wenigstens die Boote waren noch an der Stelle, wo er sie vor seinem Erwachen noch zurückgelassen hatte. Nur die Menschen waren nicht hier und Gerroks Verstand weigerte sich immer noch, das zu akzeptieren - obwohl er eigentlich wusste, dass es so war.

Er drehte sich um, ging weiter hinunter zum Strand, wo er eigent-lich die Wellen der stetigen Brandung zu seinen Füßen hätte spüren müssen. Aber nichts von alledem geschah. Seine Füße ertasteten eine seltsam zähe Masse und der Blinde zuckte zusammen, sprang unwill-kürlich zurück. Dann machte er wieder einen Schritt nach vorn, spürte erneut, dass das Wasser des Meeres sich verändert hatte und beugte sich hinab, um diese Veränderung auch mit seinen Händen zu ertasten und zu fühlen.

»Das ist kein Wasser«, murmelte Gerrok, als seine Finger auf et-was trafen, das sich eigenartig schmierig und ölig anfühlte. Wie eine

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Masse, die sich nicht ganz einordnen ließ. Unruhe ergriff den blinden Fischer, als er die Finger an die Nase hob und dann daran roch. An-stelle des frischen Salzwassergeruchs registrierte Gerrok jetzt einen stechenden, ziemlich intensiven Geruch, der ihm Übelkeit bereitete. Sofort ließ er seine Hände sinken, wischte sie hastig an seinem Hemd ab.

Seufzend erhob er sich wieder, während das Wissen um etwas Furchtbares sich jetzt in sein Gehirn hämmerte. Die Menschen waren aus dem Dorf verschwunden, das Wasser hatte sich verändert und oben vom Himmel brannte eine eigenartig heiße Sonne.

Aber warum war Gerrok dann noch hier? Er gehörte doch auch zu den Menschen des Dorfes - er war eben nur blind. Aber das war auch schon alles, was ihn von den anderen unterschied! Diese Blindheit - war sie denn womöglich der Grund, weshalb er nicht auch verschwun-den war wie die anderen? Wenn er jetzt hätte sehen können, wäre ihm dann vielleicht auch das gleiche Schicksal widerfahren wie Seil und dessen Familie? Hatten die Menschen vielleicht etwas ganz Schreckli-ches gesehen, das praktisch über Nacht gekommen war?

All dies waren Fragen, auf die der Blinde hier und jetzt keine Ant-wort bekommen würde. Alles, an was er sich erinnerte, war die Tatsa-che, dass er sich gestern Abend früh in seine Hütte zurückgezogen hatte, denn es war ein anstrengender Tag gewesen. Gerrok hatte mehrere Stunden beim Ausbessern der Netze geholfen und am Abend waren seine Finger müde geworden. Deshalb hatte es auch nicht lange gedauert, bis er eingeschlafen war.

Seltsam - ausgerechnet jetzt erinnerte er sich wieder an die un-wirklichen Träume, die ihn im Schlaf heimgesucht hatten. Sie waren von einer Intensität gewesen, die ihm erst jetzt so richtig bewusst wurde, je länger er darüber nachdachte. Er hatte sich unruhig auf sei-nem Lager aus Strohmatten hin- und hergewälzt, weil er im Traum eine gewaltige Flut weit draußen vom Südmeer hatte kommen sehen. Und diese Flut wollte das ganze Dorf mit sich reißen und es vernich-ten!

Diese Träume waren so intensiv gewesen, dass er sogar die Hilfe-schreie der Menschen aus dem Dorf zu hören geglaubt hatte. Oder

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hatten die Menschen wirklich geschrieen? Die Wirklichkeit war nämlich noch schlimmer als seine Träume, erkannte Gerrok jetzt. Denn er war allein und musste mit einer Situation fertig werden, die völlig fremd war.

Selbst bei einer Sturmflut hätte es Spuren der Zerstörung und viel-leicht auch den einen oder anderen Überlebenden gegeben. Aber die Hütten waren heil, die Boote befanden sich immer noch an Ort und Stelle - nur die Menschen gab es nicht mehr. Außer einem alten blin-den Mann, der verzweifelt versuchte, einen Grund für all das zu finden, was in der vergangenen Nacht hier geschehen war. Aber dann wurde die Stille plötzlich von etwas unterbrochen, was das geübte Gehör des Blinden sofort erkannte. Schritte waren es, die schweren tappenden Schritte eines Menschen.

Eigentlich hätte Gerrok jetzt erleichtert sein müssen, weil ganz of-fensichtlich noch jemand außer ihm am Leben war und sich nun den Hütten näherte. Aber da war noch dieselbe warnende Stimme in ihm, die ihn zur großen Vorsicht mahnte. Er wusste nicht, warum er jetzt so handelte, aber er schlich sich hastig zurück in seine Hütte, griff nach dem alten Schwert, das er in besseren Tagen gut zu führen gewusst hatte und versteckte sich direkt hinter der Tür, wartete ab, bis die schweren Schritte immer näher kamen.

Es waren schlurfende, unregelmäßige Schritte - wie von einem Menschen, der ziemlich erschöpft war und kaum noch gehen konnte. Mit dem Instinkt eines Mannes, der sich nur noch auf sein Gehör und seinen Tastsinn verlassen konnte, erkannte Gerrok sofort, dass derje-nige, der sich nun den Hütten näherte, immer öfter zu stolpern und zu taumeln begann. Aber immer wieder konnte er sich noch im letzten Moment fangen - als wenn ihn die letzten Kräfte aufrecht erhielten. Der Blinde hörte schweren, keuchenden Atem und ab und zu ein leises Stöhnen. Was hätte er jetzt dafür gegeben, wieder sehen zu können! Vielleicht wäre ihm dann wohler in seiner Haut gewesen - jetzt aber musste er nach wie vor misstrauisch und vorsichtig bleiben.

Das Schwert hielt er in seinen Händen fest umschlossen, duckte sich unmittelbar hinter dem Eingang seiner Hütte und wartete ab. Die Schritte waren noch näher gekommen und das Keuchen des Mannes

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hatte sich sogar noch verstärkt. Dann geriet er ins Stolpern und fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Natürlich konnte das Gerrok nicht wirklich sehen, aber sein Gehör war mittlerweile so ausgeprägt und geschult, dass er das sofort richtig hatte deuten können.

Ganz langsam wagte er sich aus der Hütte hervor, hielt das Schwert weit von sich gestreckt und ging genau auf die Stelle zu, wo der Mann zu Boden gefallen war. Der schien den Blinden im gleichen Moment erkannt zu haben, denn jetzt kam etwas mit krächzender Stimme über seine Lippen, was Gerrok im ersten Moment nicht verstand, weil die Worte so fremdartig klangen. Erst als der Mann noch einmal rief, begriff Gerrok, was der Erschöpfte von ihm wollte.

»Hilfe... Wasser...«, stieß der Mann wieder hervor und schien jetzt wohl zu bemerken, dass Gerrok nicht ganz wehrlos war. »Ich... bin kein... Feind«, fügte er dann rasch hinzu. »Bitte hilf... mir...«

Gerrok war noch zu weit entfernt. Der andere hatte wohl noch gar nicht bemerkt, dass der alte Mann blind war - ein Vorteil, den er jetzt nutzen musste.

»Beweg dich ja nicht!«, kam es mit stockender Stimme über Ger-roks Lippen. »Ich mag zwar ein alter Mann sein - aber mit dieser Klin-ge kann ich noch umgehen. Du bist tot, wenn du dich jetzt rührst - hast du das verstanden?«

»Ja... ja«, erwiderte der andere schwach. »Ich will nur... Wasser. Ich bin... ein Freund...«

»Wer bist du?«, fragte ihn Gerrok stattdessen und ließ die Klinge nicht eine Handbreit sinken. »Du bist doch ein Fremder - ich höre es an deinem Akzent. Sag lieber die Wahrheit, denn wenn du lügst, wird es bitter für dich!«

»Ich heiße... Ashran«, erwiderte der Mann, von dem Gerrok nur die Stimme kannte. »Es ist etwas... geschehen, was ich nicht verstehe. Ich will alles... sagen, aber bitte... gib mir nur einen... einzigen Schluck Wasser, beim Willen der... allmächtigen Casyris!«

»Du kommst aus Erkelan!«, entfuhr es Gerrok unwillkürlich, als er hörte, wie der Mann den Namen der Gottheit erwähnte. »Casyris ist die Schutzgöttin der Erkelaner. Was hast du im Süden verloren? Über-

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leg dir, was du jetzt darauf antwortest. Ich hole dir Wasser und du bleibst hier - genau an dieser Stelle!«

Eigentlich war es bodenloser Leichtsinn, was der alte Mann jetzt tat. Aber in der Stimme des Mannes namens Ashran klang etwas an, was Gerrok sagte, dass der Erkelaner wirklich kein Feind war. Und auf seinen gesunden Menschenverstand hatte sich der Blinde bisher immer verlassen können.

Er wandte sich ab, ging zurück in seine Hütte, wo an der gegenü-berliegenden Wand ein Krug stand, der noch halbvoll mit Brunnenwas-ser war. Gerrok selbst hatte das Wasser gestern noch geholt - gestern, wo die Welt noch in Ordnung gewesen war...

In der linken Hand den Krug, in der Rechten das Schwert, verließ er wieder die Hütte und stellte den Krug dann einige Schritte vor sich hin.

»Hier hast du Wasser«, rief er dann zu dem Erkelaner, der erneut stöhnte und Gerrok damit unbewusst signalisierte, dass er sich noch nicht von der Stelle gerührt hatte. »Wenn du trinken willst, dann hol es dir - aber beweg dich ganz vorsichtig, hörst du?«

Scharren erklang im Sand, dann erneut ein Ächzen. Der Erkelaner erhob sich, stolperte mit schweren Schritten auf den Krug zu und hob ihn dann hoch. Gerade als er ihn an die Lippen setzen und daraus trin-ken wollte, warf er einen Blick in Gerroks Gesichtszüge.

»Bei allen Göttern!«, hörte Gerrok dann die erstaunte Stimme des Erkelaners. »Du bist ja... blind! Ein Blinder bedroht mich mit... dem Schwert!«

Er lachte kurz und trocken auf, setzte den Krug an die Lippen und trank daraus in gierigen Zügen. Nur diese Geräusche hielten Gerrok jetzt davon ab, sich mit Todesmut auf den Erkelaner zu stürzen. Denn jetzt, wo der andere gesehen hatte, dass nur ein alter, blinder Mann ein Schwert in der Hand hielt, war die Gefahr um so größer.

»Keine Sorge, alter Mann«, sagte der Erkelaner namens Ashran jetzt, nachdem er seinen größten Durst gestillt hatte und die weiteren Worte nun viel leichter über seine Lippen kamen. »Ich kämpfe nicht gegen Schwache und Wehrlose...«

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»Hältst du mich wirklich für wehrlos?«, rief Gerrok und reckte trotzig seine Klinge empor. »Versuch doch einmal, mir das Schwert abzunehmen. Dann wirst du sehen, welche Mühe du dabei haben wirst...«

»Ich habe gesagt, dass ich keinen Krieg mit dir und deinem Volk will, alter Mann«, hörte ihn Gerrok nun sagen. »Wo sind denn deine Leute eigentlich? Das Dorf wirkt verlassen. Oder habt ihr euch alle in den Hütten versteckt? Dann kannst du deinen Leuten jetzt sagen, dass ich allein bin? Ich bin der einzige Überlebende - und von mir habt ihr nichts zu befürchten...«

»Du sprichst in Rätseln, Ashran«, antwortete Gerrok nun, während er schließlich doch die Klinge sinken ließ. Er hatte beschlossen, dem Erkelaner zu vertrauen, denn in dessen Worten war etwas angeklun-gen, was Gerrok nicht gefiel. Etwas, was von einem ähnlichen, uner-klärlichen Ereignis kündete...

»Unser Schiff kreuzte draußen vor der Inselwelt«, berichtete Ash-ran, nachdem er nochmals einen Schluck Wasser getrunken hatte. »Wir hatten Kurs auf den Kontinent genommen, als plötzlich ein ge-waltiger Sturm ausbrach. Der Himmel verdunkelte sich von einem Au-genblick zum anderen und am Horizont erschien eine pechschwarze Wolke, die genau auf uns zusteuerte. Es ging alles so wahnsinnig schnell«, sagte Ashran und hatte Mühe, ruhig zu bleiben, als ihn die Erinnerung wieder überkam und das Grauen gegenwärtig machte. »Das Schiff wurde gepackt und die dunkle Wolke riss es mit, schleu-derte es hoch empor. Viele von uns wurden von dem Sog gleich mitge-rissen und verschwanden in der Dunkelheit. Ich hatte etwas mehr Glück, weil ich mich am Mast festbinden konnte. So wurde ich Zeuge von etwas, was mir schlimmer erscheint als der grauenhafteste Alp-traum. Aber ich habe ganz sicher nicht geträumt, alter Mann. Es ist wahr, was ich erlebt habe - genauso wahr, wie sich die See auf einmal in eine zähe Masse verwandelt hat, die entsetzlich stank. Das Schiff ging unter, aber ich wagte es trotzdem, als ich in der Ferne Land sah. Ich habe an nichts anderes gedacht als nur ans Überleben. Ich weiß nicht mehr, was aus dem Schiff wurde. Ich hörte nur ein berstendes Geräusch und einen sonderbaren Laut, als wenn jemand das Schiff

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einfach verschlingen würde. Du und deine Leute, habt ihr denn noch nicht bemerkt, dass sich alles verändert hat? Riechst du nicht den fau-ligen Atem, der vom Meer kommt, alter Mann?«

»Ich weiß, dass etwas nicht stimmt«, sagte der Blinde und berich-tete Ashran in kurzen Sätzen, dass die übrigen Bewohner des Dorfes ganz plötzlich verschwunden waren und er bis jetzt darüber nachdach-te, was in der Zeit, wo er tief und fest geschlafen hatte, geschehen war. »Etwas ist falsch, Ashran - und ich würde eine Menge dafür ge-ben, wenn ich nur wüsste, was geschehen ist. Die ganze Welt verän-dert sich - geht sie vielleicht unter?«

»Bei meinem Volk erzählt man sich von einem bevorstehenden Krieg der Götter des Lichts und der Finsternis«, antwortete Ashran daraufhin. »Vielleicht bewahrheiten sich jetzt diese alten Prophezeiun-gen. Aber ich will leben, alter Mann - was schert es mich, wenn sich höhere Mächte gegenseitig bekriegen?«

»Glaubst du, wir könnten wirklich verhindern, wenn die Welt stirbt, Erkelaner?«, stellte Gerrok nun die Gegenfrage. »Das sind nur kühne Worte - aber wie willst du dagegen ankämpfen?«

»Indem ich herausfinde, was geschehen ist«, meinte Ashran. »Da es wohl so scheint, als wenn wir beide die einzigen Überlebenden auf dieser Insel sind, sollten wir das Beste daraus machen und uns zu-sammentun. Oder willst du in diesem menschenleeren Dorf auf den Tod warten?«

»Ich kenne die Stunde meines Todes nicht«, erwiderte Gerrok daraufhin. »Wenn sie da ist, bin ich bereit. Aber ich gebe dir recht, dass wir erfahren müssen, was geschehen ist. Wenn du einen alten blinden Mann als Mitstreiter haben willst, dann kannst du dich auf mich verlassen!«

Er konnte zwar das Gesicht des Erkelaners nicht sehen, als Gerrok ihm seine schmale Hand reichte - aber er hätte wetten können, dass Ashran in diesem Moment grinste, als er den Händedruck kräftig erwi-derte.

*

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Es war nicht die Zeit der Trauer und der Nachdenklichkeit. Wahr-scheinlich hätte der alte Mann anders reagiert, wenn er noch hätte sehen können und Zeuge dessen gewesen wäre, was praktisch über Nacht auf der Insel geschehen war und dazu geführt hatte, dass die gesamte Dorfbevölkerung verschwunden war. Alles hatte sich über Nacht verändert - und zwar nicht nur das Leben des blinden Mannes. Das Meer war zu einer stinkenden zähen Masse geworden und jetzt berichtete Ashran seinem neuen Gefährten, dass sich wohl auch die Natur und Pflanzenwelt der Insel stark verändert hatte. Aus einer einst blühenden Fauna und Flora war nun eine öde und zerrissene Land-schaft geworden. Wo einst Wege entlang führten, wuchsen fast un-durchdringliche Dornenhecken. Wo sich ein schmaler Bach von den Hügeln der Insel bis zur Mündung an der Küste ein Bett gegraben hat-te, war nur noch ein kleines Rinnsal geblieben, das auch bald versie-gen würde.

Gerrok behielt seine Gedanken für sich, als er zusammen mit dem Erkelaner seinen Weg ins Innere der Insel fortsetzte. Er stützte sich auf den kräftigen Arm Ashrans und verließ sich nun ganz auf die Au-gen des Erkelaners. Natürlich kamen die beiden so nicht besonders schnell voran - aber es war der Mut der Verzweiflung, der sie antrieb. Denn unten im verlassenen Dorf gab es nichts mehr...

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte der Erkelaner, als er einen Au-genblick innehielt und sich den Schweiß von der Stirn wischte. »Bevor ich dein Dorf erreichte, glaubte ich, irgendwo weiter nördlich der Hügel eine Burg gesehen zu haben. Vielleicht sind wir ja bald dort und...«

»Was?«, entfuhr es jetzt dem Blinden, der sich von Ashrans Arm losriss. »Was redest du da für einen Unsinn? Auf der ganzen Insel gibt es keine Burg, Erkelaner. Du musst dich irren - ganz bestimmt!«

Er sagte das so deutlich, dass er unwillkürlich spürte, wie ihn Ash-ran jetzt erstaunt ansah. Und wenige Augenblicke später ergriff Ashran dann auch wieder das Wort und seine Stimme klang zweifelnd.

»Aber... ich kann mich doch nicht so geirrt haben«, erwiderte er. »Gerrok, was geschieht hier eigentlich mit uns - sehe ich denn Dinge, die in Wirklichkeit gar nicht existieren?«

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»Ich weiß es nicht, Ashran«, antwortete der Blinde. »Aber viel-leicht müsste ich mir darüber gar nicht mehr meinen Kopf zerbrechen, wenn ich jetzt noch mein Augenlicht besäße. Je mehr ich darüber nachdenke, um so sicherer bin ich jetzt, dass meine Blindheit mich vor einem grausamen Schicksal gerettet hat. Ich weiß nicht, welche Macht meine Familie und meine Freunde einfach verschwinden ließ - aber alle anderen konnten sehen und ich nicht!«

»Und ich bin ein Fremder, der sich erst heute morgen mit letzter Kraft an den Strand retten konnte«, setzte Ashran die Gedankengänge Gerroks fort. »Was sind das nur für unvorstellbare Mächte, die so in unser Leben eingreifen können? Wie sieht es wohl an anderen Stellen unserer Welt aus? Oder ist nur der südliche Inselteil von diesem Chaos heimgesucht worden?«

»Selbst wenn wir es wissen - ändert das etwas an unserer augen-blicklichen Lage?«, stellte der Blinde die Gegenfrage. Als Ashran nicht gleich darauf antwortete, fuhr Gerrok fort. »Vielleicht wartet ja noch ein viel grausameres Schicksal auf uns - vielleicht wissen wir das nur noch nicht...«

»Hör endlich auf!«, fiel ihm der Erkelaner ins Wort. »Ich will nichts mehr davon wissen. Ich bin doch nicht verrückt und weiß, was ich gesehen habe - und deshalb werden wir jetzt diese Burg so lange su-chen, bis wir sie finden. Oder hast du eine bessere Idee?«

Er erhielt keine Antwort von Gerrok und das war für ihn das Zei-chen, den Weg wieder fortzusetzen. Beide spürten die Luftverände-rung ringsherum. Der frische Wind, der jeden Morgen vom Meer über die Insel wehte, war gestorben. Stattdessen breitete sich ein stinkend-fauliger Geruch aus, der sich über jeden Fußbreit der Insel legte und den beiden das Atmen erschwerte.

»Wie weit sind wir schon vom Dorf weg?«, wollte Gerrok wissen. »Kannst du die Hütten noch erkennen?«

»Nein«, antwortete Ashran und in seiner Stimme klang jetzt etwas anderes an, was den Blinden sofort zusammenzucken ließ. »Aber jetzt weiß ich endlich, dass ich mich nicht getäuscht habe. Dort drüben ist sie - die Burg!«

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Gerrok spürte plötzlich den eiskalten Schauer der Furcht, der über seinen Rücken strich und ihn zittern ließ.

»Wenn du jetzt sehen könntest, würdest du wissen, dass ich recht habe, Gerrok«, fügte der Erkelaner sofort hinzu, als er erkannte, dass sein Weggefährte sich plötzlich von ihm löste und zwei Schritte zurück ging. »He, nun warte doch mal - es ist nur eine Burg. Sonst nichts!«

»Beschreib sie mir!«, forderte Gerrok. »Los, nun mach schon - wo genau liegt sie? Ich will es wissen!«

»Wenn dir das hilft«, erwiderte Ashran achselzuckend. »Wir ste-hen jetzt auf einer Hügelkuppe. Vor uns breitet sich ein schmaler Ta-leinschnitt aus - und genau auf der gegenüberliegenden Seite ist ein schroffer Felsen, auf dessen höchster Stelle die Burg steht. Es ist ein gewaltiges Gemäuer, Gerrok. Da sind wir auf jeden Fall sicherer als hier draußen in der Ebene.«

»Ich gehe nicht mit«, schüttelte der Blinde entschieden den Kopf. »Ich mag zwar ein alter Mann sein - aber mein Kopf ist ganz klar. Ich bin auf dieser Insel geboren, Ashran und ich kenne jeden Fußbreit Boden - ebenso wie die meisten der benachbarten Inseln. Es gibt hier keine Burg - es hat nie eine gegeben in all den Jahren. Ich weiß nicht, was du dort drüben siehst, aber es ist nicht wirklich...«

»Gerrok - ich kann mir vorstellen, dass du eine Menge durchge-macht hast«, hielt ihm der Erkelaner entgegen. »Aber du musst dich irren. Ich jedenfalls werde dort hinübergehen. Egal ob du nun mit-kommst oder nicht!«

Der Blinde schüttelte immer noch den Kopf. Auch wenn es nur ei-ne Ahnung war, die ihn überkam, so verstärkte sie sich mit jedem A-temzug immer mehr. Und Ashran schien das einfach nicht begreifen zu wollen!

»Na gut«, versuchte es der Erkelaner erneut. »Bist du beruhigt, wenn ich erst einmal hinübergehe und dort nach dem Rechten sehe? Bleib einfach hier und warte auf mich - es wird gewiss nicht lange dauern...«

Mit diesen Worten wandte er sich einfach ab und ließ Gerrok ste-hen. Der Blinde spürte, dass mit Ashran irgendwie eine Veränderung vorgegangen sein musste - ohne dass er sich das erklären konnte. Der

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Erkelaner legte eine merkwürdige Sorglosigkeit an den Tag, die in ei-nem krassen Widerspruch zu all den Ereignissen stand, die hier auf der Insel stattgefunden hatten. Seltsamerweise schien er das aber über-haupt nicht so zu sehen.

»Ashran!«, rief ihm Gerrok hinterher, als er bemerkte, wie sich dessen Schritte entfernten. »Bleib doch hier! Erkennst du nicht, dass alles nur...«

Mitten im Satz brach er ab, als ihm bewusst wurde, dass Ashran schon zu weit entfernt war, um seine Rufe noch bemerken zu können. Und wenn doch, dann reagierte er überhaupt nicht darauf. Der Erkela-ner schien von der Idee, dass diese geheimnisvolle Burg ihnen Schutz und Zuflucht gewähren würde, so besessen, dass dies all seine Gedan-ken beeinflusste und keinen Platz mehr für Zweifel übrig ließ.

Am liebsten wäre Gerrok geflüchtet. Nur weg von hier, von dieser Stelle des Hügels, von der man die Burg sehen konnte. Nur für ihn selbst war sie unsichtbar - denn seine Augen waren blind. Trotzdem glaubte Gerrok die Kälte zu spüren, die jenseits der gegenüberliegen-den Hügel zu ihm herüberströmte und seinen Körper durchdrang. Eine Kälte, die aus einer anderen Welt zu kommen schien und ihn frösteln ließ. So kalt war es noch nicht einmal in den nördlichen Teilen der Welt!

Der faulige Gestank verstärkte sich jetzt, je länger Gerrok hier o-ben auf dem Hügel ausharrte. Gedankenfetzen gingen ihm durch den Kopf und verschwanden genauso schnell wieder wie sie gekommen waren. Er überlegte fieberhaft, wie lange er noch auf Ashran warten sollte - falls er überhaupt jemals wieder zurückkommen würde...

Das war auch der Moment, wo der Blinde auf einmal ein ganz lei-ses Flüstern vernahm, das direkt in seinem Gehirn zu entstehen schien. Eine unsichtbare Stimme, die Worte in einer fremden Sprache murmelte, die Gerrok nicht verstand. Trotzdem wusste er um die tödli-che Bedeutung dieser wenigen Worte und er spürte, dass der Erkela-ner in den Tod ging.

»Nein...«, murmelte er fassungslos, als er von jenseits der Anhöhe ein leichtes Donnern vernahm, das dann in einem gewaltigen Schlag endete und sogar den Erdboden unter seinen Füßen erzittern ließ.

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Noch bevor der Donnerschlag abgeklungen war, hörte Gerrok ebenfalls einen lauten Hilfeschrei, der sich schließlich in ein durchdringendes, entsetzliches Wimmern verwandelte, dessen Echo bis zu ihm hinüber drang. Aber schließlich verstummte auch das und eine lähmende Stille breitete sich auf diesem Teil der Insel aus. Da wusste Gerrok, dass sich genau in diesem Augenblick das Schicksal des mutigen Erkelaners erfüllt hatte - und zwar auf eine unbeschreiblich grausame Weise. Er musste einen schrecklichen Tod erlitten haben!

Die lähmende Stille wich schließlich einem intensiven Scharren, das so klang, als wenn unzählige kleine Füße den Boden berührten - und es kam näher! Genau auf die Stelle zu, wo Ashran sich vorhin von Gerrok getrennt hatte.

Der Blinde warf sich herum, von einem unbeschreiblichen Gefühl des blanken Entsetzens gepackt. Natürlich kam er nur wenige Schritte weit, dann stolperte er bereits über einige unebene Stellen auf dem Pfad und fiel zu Boden. Er stöhnte auf, als er sich Arme und Beine auf-schrammte, wollte sich rasch wieder erheben, denn das unheimliche Scharren war noch lauter geworden.

In diesem Augenblick fühlte er plötzlich etwas Pelziges an seinem rechten Bein und dann kam auf einmal der Schmerz. Gerrok wurde von scharfen Klauen gepackt, die sein Fleisch von den Knochen rissen. In den letzten Sekunden seines Lebens wurde Gerrok dennoch klar, dass auch er von Anfang an niemals eine Chance gehabt hatte - sein Ende hatte sich durch eine grausame Ironie des Schicksals nur verzö-gert. Und als der Todesschrei des Blinden wehklagend zum Himmel emporstieg, endete das Leben des letzten menschlichen Wesens auf der Insel. Und nicht nur dort...

*

Sie waren nicht nur die Herrscher über die unfassbaren Dimensionen jenseits der Feuerbarriere - sie regierten auch über Raum und Zeit. Und als sie zum ersten mal die Welt der Menschen betraten und sich in die große Schlacht der Götter des Lichts und der Finsternis einmisch-ten, veränderte sich nicht nur der Verlauf der Schlacht, sondern noch

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viel mehr. Die Skirr beeinflussten die Zeit, als sie ihren Kräften freien Lauf ließen. Auf dem südlichen Teil der menschlichen Welt war dies auf eine besonders grausame Weise zu spüren. Tausende von Men-schen wurden von einem Atemzug zum anderen aus ihrer bekannten Umgebung gerissen - nur um an einem anderen unheimlichen Ort in einer anderen Zeit wieder aufzutauchen. Und dort erfüllte sich dann ihr Schicksal, denn was sie dort sahen, ließ sie alle wahnsinnig werden. Teile aus den Dimensionen der Skirr manifestierten sich an verschie-denen Stellen der menschlichen Welt und von hier aus begann der Eroberungszug dieser unbegreiflichen Wesen, die von den Mächten der Finsternis gerufen worden waren.

Aber die Hoffnung der dunklen Mächte, aus der Schlacht als ein-deutiger Sieger hervortreten zu können, änderte sich rasch, als die Skirr ihr wahres Gesicht zeigten. Denn sie wollten nur eines - alles an sich reißen und der endgültigen Vernichtung den Weg ebnen.

Stahlburgen des Todes tauchten an verschiedenen Stellen der Welt auf und als die Menschen begriffen, dass hier noch viel mehr ge-schah als nur die Auseinandersetzung zwischen Licht und Finsternis, hatte sich das Grauen bereits auf der Erde manifestiert und begann seine unglaubliche Verwüstung. Was einher ging mit dem Vernich-tungsfeldzug des dunklen Heeres, das schon weit in die bekannte Welt der Menschen vorgedrungen war.

Und die Götter dieser Welt selbst lieferten sich ebenfalls schon ei-nen gnadenlosen und unerbittlichen Kampf, bei dem zu dieser Stunde immer noch nicht feststand, wer als Sieger hervortreten würde. Das änderte sich jedoch, als nun die grausamen Skirr in die Schlacht ein-griffen und die Grenze zwischen Raum und Zeit aufrissen...

Der Fall der Stadt Salingis von Al Wallon Längst war die Dunkelheit über der Stadt Salingis hereingebrochen - und doch fand kein Mensch in dieser Nacht Schlaf. In zahlreichen Häu-sern erhellte das unruhige Flackern von Teerfackeln die schwarze, töd-

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liche Nacht, die Salingis schon bald drohen würde. Sie wussten alle um die Bedrohung, die irgendwo jenseits der Hügel lauerte und sich mit jeder verstreichenden Stunde unaufhaltsam der Stadt näherte und ganz sicher bald hier sein würde. Es war nicht mehr eine Frage von Tagen, sondern nur noch von Stunden...

Hunderte von Flüchtlingen hatten Salingis passiert. Manche von ihnen waren nur kurz hier geblieben und dann sofort wieder weiter gezogen, denn die Bergherzogtümer von Arnish waren mit einer grau-enhaften Gefahr konfrontiert worden. Einer Gefahr, gegen die es kei-nen Schutz gab - zumindest wenn man den Berichten der völlig ver-störten Menschen Glauben schenken konnte, die Hals über Kopf ihre niedergebrannten Bergdörfer verlassen hatten und nur noch ihr nack-tes Leben hatten retten können. Hinter ihnen lagen das Chaos und der Tod - und diese Gefahr drohte jetzt auch der Stadt Salingis.

Skyth blickte mit gemischten Gefühlen auf die Gesichter der vielen Fremden, die schon seit Tagen in die Stadt kamen und jetzt hier in der Schenke ihr letztes Geld in billigen Branntwein umsetzten. Sie wollten sich betrinken und nur noch vergessen, was sie gesehen hatten.

Der schwarzhaarige Dieb hielt sich auch an diesem Abend im Hin-tergrund. Er hatte ein Gesicht und eine Statur, die man sofort wieder vergaß - vielleicht war er deshalb so erfolgreich und ihm noch niemand auf die Schliche gekommen. Aber Skyth schrieb es der allgemeinen Aufregung zu, dass er in den letzten Tagen gar manchen um seinen Besitz hatte erleichtern können. Hier und da ein unscheinbarer kleiner Lederbeutel mit Kupfermünzen, den er in den engen Straßen im dich-ten Gewirr den Menschen aus der Tasche zog - und bevor diese es merkten, war Skyth auch schon längst wieder in der Menschenmenge untergetaucht.

Skyth besaß keine Skrupel mehr, denn das Leben in den Bergher-zogtümern von Arnish war hart. Jemand wie er, der in den letzten vier Jahren buchstäblich ums Überleben hatte kämpfen müssen, besaß keine Illusionen mehr. Das Schicksal hatte ihm alles genommen, was ihn vor einer Ewigkeit - so schien es Skyth jedenfalls - an eine bessere Zukunft hatte glauben lassen. Aber damals hatte seine Frau noch ge-lebt. Kurz vor den Ausläufern der Berge, gut vier Stunden von hier

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entfernt, hatte Skyth Land besessen, das er jeden Tag unter Aufbie-tung sämtlicher Kräfte bearbeitet hatte. Aber es war karges Land, das nicht viel hergegeben hatte und die Ernten waren nicht gut gewesen. Dann war seine Frau krank geworden und innerhalb einer Woche ge-storben. Skyth hatte nur zusehen können, denn er hatte kein Geld gehabt, um einen Arzt zu bezahlen. In Salingis hatten sie nur gelacht, als er das Haus eines Arztes aufgesucht und ihn händeringend um Hilfe gebeten hatte. Stattdessen hatte man ihm auf recht unsanfte Art wieder die Tür gewiesen und als Skyth dann zu seinem Anwesen zu-rückgekehrt war, da war seine Frau schon gestorben. Ganz allein und ohne jegliche Hilfe! Von diesem Tag an war etwas endgültig in Skyth zerbrochen und er hatte sich abgewandt von dem, was andere Geset-ze menschlichen Zusammenlebens nannten. Die Gesellschaft hatte ihm den Rücken gekehrt, also hatte er entschieden, sich von nun an schad-los an dieser verruchten Gesellschaft zu halten!

So hatte er schließlich sein Anwesen verlassen und war nach Sa-lingis gekommen. Seitdem fristete er hier sein Leben als Dieb und Bettler - in einer Stadt, die das Leben seiner Frau nicht hatte retten wollen. Es war kein leichtes Leben für Skyth zu Beginn gewesen und er hatte eine Menge lernen müssen, bevor er sich schließlich unter den Ärmsten der Armen behaupten konnte. Denn auch hier es eine strenge Hierarchie - aber das hatten die Reichen in ihren prachtvollen Häusern und Palästen schon längst vergessen, denn sie blieben schon lange unter sich und kümmerten sich nicht um diejenigen, die oft nicht wussten, wovon sie am nächsten Tag leben sollten...

Man kannte Skyth und viele wussten, dass die Soldaten von Fürst Carris scharf auf die Belobung waren, die man mittlerweile auf seinen Kopf ausgesetzt hatte. Denn der Dieb hatte es gewagt, sogar der Gat-tin des Fürsten einige Juwelen zu entwenden, als diese mit ihrem Hof-gefolge auf dem Weg zum Tempel gewesen war, um dort regelmäßig Schutz und Sicherheit für Salingis zu erflehen. Für diesen Hohn - denn in Skyths Augen war das nichts anderes - hatte er dieses reiche Weib kräftig erleichtert und es war eine Genugtuung für ihn gewesen.

An all das musste der schwarzhaarige Dieb jetzt denken, als er in der Ecke der rauchgeschwängerten Schenke stand und von dort aus

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das dichte Treiben beobachtete. Kerlin, der Wirt hatte ihn händerin-gend gebeten, sich in dieser Nacht zurückzuhalten, denn es befanden sich auch fünf Soldaten hier, die schon ziemlich angetrunken waren und im Grunde genommen nur auf eine gute Gelegenheit lauerten, um Streit vom Zaun zu brechen.

Unter diesen Umständen befolgte Skyth die Bitte des dicken Wir-tes und hielt sich zurück, gefiel ihm der Gedanke, sich in der Nähe der Soldaten aufzuhalten, die seinen Kopf wollten und trotzdem nicht wussten, dass der Meisterdieb hier in der Schenke war. Sogar nur we-nige Schritte von ihnen entfernt und somit zum Greifen nahe - wenn sie es gewusst hätten...

»Keiner von uns wird diesem grauenhaften Schicksal entfliehen können«, vernahm Skyth nun die aufgeregte Stimme eines Mannes, dessen Akzent ihn als einen der zahllosen Flüchtlinge verriet. »Ich ha-be nur Schutt und Asche gesehen und das Entsetzen, als sich die Rauchschwaden verzogen. Selbst die Mauern von Salingis werden die-sem Heer nicht standhalten können...«

»Halt den Mund, du Schwätzer!«, fiel ihm einer der angetrunke-nen Soldaten ins Wort, der auch gehört hatte, was der Mann gerade gesagt hatte. »Wenn du Angst hast, dann sieh doch zu, dass du von hier wieder verschwindest! Von uns wird dich gewiss keiner aufhalten. Um solch eine feige Ratte wie dich ist es sowieso nicht schade...«

Ein meckerndes Lachen kam aus seiner Kehle und die anderen Soldaten fielen in dieses Gelächter mit ein. Der besorgte Mann wollte zuerst zornig etwas erwidern, aber ein anderer am Tisch hielt ihn nun am Arm zurück und redete hastig auf ihn ein. Wahrscheinlich weil er längst begriffen hatte, dass es sonst eine Menge Ärger geben würde.

»He Wirt!«, brüllte der streitsüchtige Soldat. »Wo bleibt unser Wein? Bring uns endlich Nachschub. Oder willst du uns vielleicht noch verdursten lassen?«

Während der dicke Kerlin sich beeilte, dem Wunsch der Soldaten nachzukommen, konnte sich der schwarzhaarige Dieb nicht mehr län-ger zurückhalten. Auch wenn ihn der Wirt gewarnt hatte, so reizte es ihn jetzt einfach, die großmäuligen Soldaten zu bestehlen. Natürlich

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ohne dass diese etwas bemerkten. Für ihn stellte das eine Herausfor-derung dar.

Geduldig wartete er ab, bis der dicke Wirt einige schwere Krüge mit dem scharfen Wein auf den Tisch stellte. Ein Lächeln schlich sich in seine unscheinbaren Gesichtszüge, als er sah, wie gierig die Soldaten ihre Hände nach den Krügen ausstreckten und sie dann an sich rissen. Gierig schütteten sie den Branntwein hinunter und genau diesen Mo-ment wartete Skyth ab, um seinen Plan in die Tat umzusetzen.

Indes hatte er sich ganz nahe an den Tisch begeben, ohne dass dies einige der Umstehenden registrierten. Von den grölenden Solda-ten ganz zu schweigen, denn die hatten ihre Krüge erhoben und san-gen aus vollem Halse alte Kriegsgesänge.

Vorsichtig beugte sich Skyth einen raschen Moment nach vorn und streckte seine schlanken geschmeidigen Finger aus. Sofort ertastete er durch das Wams des Soldaten den Beutel mit Münzen. Es war ein ziemliches Risiko für Skyth, aber man nannte ihn nicht um sonst den Meisterdieb von Salingis. Eines der freizügig gekleideten Mädchen, die hier in der Schenke für den dicken Wirt arbeiteten, fiel dem Soldaten auf und er rief der Schönen etwas zu, was das Gelächter seiner Spieß-gesellen zur Folge hatte.

Während die Soldaten aus vollem Halse grölten, ergriffen Skyths Finger den Beutel und nahmen ihn an sich. Sofort wollte er sich wieder zurückziehen und unerkannt bleiben, aber durch eine unergründliche Laune des Schicksals - oder vielleicht von einer Ahnung getrieben, wer weiß? - drehte sich der Soldat genau in diesem Augenblick um und sah den Dieb, der gerade den Beutel unter seinem schmutzigen Hemd ver-bergen wollte.

»Also das ist doch...«, entfuhr es dem Soldaten, der im ersten Moment so sprachlos war, dass ihm die Worte fehlten. Aber dann hat-te er begriffen, was gerade geschehen war und wilder Zorn entstellte sein Gesicht.

»Halt!«, schrie er so laut, dass seine Stimme auch im letzten Win-kel der vollbesetzten Schenke zu hören war. »Bleib stehen, du ver-dammter Hund! Haltet den Dieb!«

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Er sprang so hastig auf, dass der Hocker, auf dem er gerade noch gesessen hatte, mit solch großer Wucht zurückgestoßen wurde, dass zwei weitere Männer ins Taumeln gerieten und wiederum andere an-rempelten. Skyth nutzte diesen Moment der augenblicklichen Verwir-rung, um in die Nähe deshalb offenen Fensters zu gelangen, das eines der Mädchen gerade eben geöffnet hatte, weil die Luft in dem vollbe-setzten Raum zum Schneiden dick gewesen war.

Hände streckten sich nach ihm aus, versuchten ihn zu ergreifen, aber Skyth hatte schon Dutzende solcher Situationen hinter sich und wusste, wie er sich zu verhalten hatte. Er entzog sich gewandt wie eine Schlange dem Zugriff und erreichte nur wenige Sekunden später das Fenster, das hinaus auf dem Hof führte. Flink wie ein Wiesel zwängte er sich durch den engen Rahmen und trat gleichzeitig nach hinten, um zu verhindern, dass ihn jemand zu fassen bekam.

Der schwarzhaarige Dieb hatte auch in dieser Nacht wieder mehr Glück als Verstand. Aber vielleicht besaß er ja wirklich einen unsichtba-ren Schutzengel, der nicht zuließ, dass ihm etwas Schlimmes wider-fuhr. Vielleicht gerade deswegen, weil er so viel Schreckliches hatte durchmachen müssen. Es gibt immer eine ausgleichende Gerechtig-keit, dachte Skyth, während er federnd auf dem Boden aufkam und dann mit schnellen Schritten in der Nacht untertauchte. Hinter ihm erklangen die wütenden Stimmen der Soldaten. Türen wurden aufge-rissen, Schritte tappten über das steinige Pflaster des Hofes. Aber der Meisterdieb war bereits vom Hof der Schenke und aus den Augen der Soldaten verschwunden.

*

Skyths Atem ging keuchend, als er durch die engen Gassen hastete und es dabei vermied, allzu sehr in den Schein des Lichts zu gelangen, der aus einigen der Fenster fiel und das Pflaster erhellte. Er hörte im-mer noch die wütenden Schreie seiner Verfolger und war erstaunt, dass sie diesmal so hartnäckig blieben. Aber womöglich befand sich im Lederbeutel der ganze Sold des Bestohlenen - wenn Skyth nach dem Gewicht ging, dann hatte er wirklich fette Beute gemacht. Um so wü-

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tender waren die Verfolger natürlich und es bestand kein Zweifel darin, dass sie mit ihm kurzen Prozess machen würden, falls es ihnen doch noch gelang, ihn zu erwischen.

Während Skyth sich seinen Weg durch die engen Gassen der Alt-stadt von Salingis suchte - die er übrigens alle sehr gut kannte - fiel ihm mit einem mal auf, dass sich weiter drüben bei der Stadtmauer der nächtliche Himmel zu erhellen schien. Unwillkürlich hielt er einen winzigen Moment inne und spähte vom Ende der schmalen Gasse hin-über zu einem der Stadttore, das er von hier aus ganz gut erkennen konnte. Oben auf den Zinnen hielten die Posten Tag und Nacht Wache - angesichts der sich immer mehr zuspitzender Bedrohung durch die geheimnisvollen fremden Invasoren, von denen ganz widersprüchliche Dinge berichtet wurden. Der Himmel wurde nicht mehr nur von den Sternen erhellt, sondern von einem schwer zu beschreibenden rötli-chen Schimmer, der an Intensität weiter zunahm.

Auch die Wächter oben auf dem Wehrgang hatten das im selben Moment wie der Dieb bemerkt und Skyth hörte nun ihre aufgeregten Rufe. Wenig später erklangen laute Stimmen in der Nacht.

Unwillkürlich verbarg er sich einen Moment länger in der Nische am Ende der Gasse. Eigentlich hatte er ja möglichst viel Entfernung zwischen sich und der Schenke bringen wollen. Aber das, was gerade oben bei den wachhabenden Soldaten geschah, erweckte das Interes-se des Diebes.

Unterdessen hatte das rötliche Leuchten sogar noch zugenommen und irgendwie waren nun die Soldaten nicht mehr die einzigen, die es bemerkt hatten. Laute Angstrufe gellten in den Straßen, Menschen kamen aus ihren Häusern gelaufen und sahen, was Skyth und die Wachposten bereits kurz zuvor schon erkannt hatten.

Mit dem wachsenden rötlichen Licht vernahmen die Bewohner von Salingis nun auch ein dumpfes Dröhnen, das von jenseits der Berge kam. Zuerst war es nur ganz leise, aber es nahm an Stärke immer mehr zu.

»Die Heere der Finsternis sind da!«, schrie jemand voller Verzweif-lung und genau dieser Ruf löste nun eine totale Verwirrung aus, die Skyth half, unbemerkt zu entkommen. Denn er sah erst jetzt, dass sich

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seine Verfolger von ihm nicht hatten täuschen lassen. Sie hatten einen anderen Weg genommen und hätten ihn nun bestimmt in der Zange gehabt, wenn sich die Ereignisse nicht im letzten Moment überschla-gen hätten.

Skyth zog sich in den Schutz einer Gasse zurück und sah, wie der beraubte Soldat und seine Gefährten nun von einem Kommandieren-den herbeigerufen wurden. Denn auch sie hatten jetzt genau wie jeder in der Stadt bemerkt, dass etwas geschehen war, das seine unheil verkündenden Finger nach der ganzen Stadt ausstreckte! Befehle gell-ten durch die Nacht, Soldaten eilten auf ihre Posten, während der e-benfalls aus seinem Palast herbeigeeilte Fürst Carris versuchte, Herr über das Chaos zu werden, das die Bevölkerung und die Flüchtlinge jetzt erfasst hatte.

Oben auf den Wehrgängen wurde die Unruhe der wachhabenden Soldaten jetzt zusehends stärker. Sie schienen etwas unvorstellbar Schreckliches gesehen zu haben, was bisher den Blicken der Stadtbe-wohner innerhalb der Mauern noch verborgen geblieben war. Aber wie lange noch?

Die Donnerschläge wurden jetzt lauter und auf einmal erfüllten todbringende Gesänge die Luft, wie sie menschliche Kehlen niemals hervorgebracht hätten.

»Sie greifen an!«, brüllte jetzt einer der Soldaten oben auf der Mauer. »Ihr Götter, steht uns bei!«

Fürst Cards mobilisierte jetzt sämtliche, ihm zur Verfügung ste-henden Söldner und postierte sie an allen vier Stadttoren. Was wohl bedeutete, dass die Heere des Feindes Salingis von verschiedenen Seiten angriffen.

Skyth konnte das nur vermuten, denn er hielt sich fern von der Stadtmauer, suchte stattdessen Schutz im nächtlichen Dunkel der vie-len Gassen, während rings um ihn herum das Chaos immer offensicht-licher wurde. Menschen kamen einfach aus den Häusern gelaufen, einige von ihnen auf der Suche nach ihren Angehörigen, die es jetzt vor Angst nicht mehr in den eigenen vier Wänden ausgehalten hatten und ins Freie gestürmt waren. Andere wiederum nutzten diesen Mo-ment, um in leere Häuser einzudringen und sie gewissenlos zu plün-

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dern. Mit der Beute kamen sie aber nicht weit, denn einige der Solda-ten des Fürsten hatten die Räuber sofort bemerkt und stellten sich ihnen nun in den Weg, um weitere Schandtaten sofort zu unterbinden.

Die Mauern der Stadt erzitterten unter dem ersten Angriff des Feindes, während das rötliche Leuchten mittlerweile so intensiv ge-worden war, dass es in den Augen des Diebes zu schmerzen begann. Unmenschliches Gebrüll erfüllte den westlichen Teil der Stadt, als das Tor unter der Wucht des Angriffs einfach zu bersten begann. Die Schreie der Menschen dort waren eindeutig - sie mussten unter dem Druck der Angreifer weichen und sich weiter ins Innere der Stadt zu-rückziehen. Aber trotzdem war genau das geschehen, was die Solda-ten des Fürsten eigentlich unter allen Umständen hätten verhindern müssen - nämlich den Feind am Eindringen in die Stadt zu hindern.

Nur wenige Augenblicke vergingen, bis zur schrecklichen Gewiss-heit wurde, was der Dieb bereits vermutet hatte. Männer, Frauen und Kinder rannten durch die Straßen, verfolgt von Geschöpfen, die nur einem wahnwitzigen Alptraum entsprungen zu sein schienen. Es waren keine Menschen, die in die Stadt eingedrungen waren - nein, es waren Kreaturen, die es eigentlich gar nicht geben durfte. Geschöpfe einer krankhaften Phantasie - und doch waren sie wirklich mit ihren schup-pigen Körpern und den kalten Augen, Schwerter und Lanzen schwin-gend, die den Tod mit sich brachten.

Skyth zuckte zusammen, wandte sich ab von den Bildern des Grauens. Zwar trug er ebenfalls einen scharfen Dolch in seinem Gürtel, aber was würde diese winzige Waffe gegen solche Wesen ausrichten können? Überhaupt nichts - genau deshalb dachte der Dieb nur noch an sich und floh.

Nur wenige Augenblicke später fiel dann auch ein weiteres Stadt-tor und Flammen stiegen in den nächtlichen Himmel empor, breiteten sich rasend schnell aus, leckten gierig nach weiterer Nahrung. Durch die Flammen drangen weitere Kämpfer in die Stadt, gewaltige Riesen mit den bestienähnlichen Köpfen von Löwen. Und sie trugen ebenfalls scharf geschliffene Waffen, mit dem sie die Flüchtenden wie reife Äh-ren auf einem Kornfeld niederstreckten. Die Todesschreie der Men-schen verhallten ungehört.

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Urplötzlich fuhr Skyth herum, als er einige verschreckte Frauen und Kinder sah, die ihn im selben Moment erkannten und ihn mit Au-gen ansahen, die denen von gequälten Tieren glichen.

»Hilfe!«, schrie eine der älteren Frauen. »Du musst uns helfen. Unsere Männer sind... tot!«

Skyth schüttelte nur stumm den Kopf und wandte sich einfach ab. Es war nicht sein Kampf, der hier geschlagen wurde, denn er hatte nur eins mit diesen Menschen gemein - eben die Tatsache, dass sie alle innerhalb der Stadtmauern lebten. Das war aber auch schon alles, denn der schwarzhaarige Dieb hatte in diesen entscheidenden Minu-ten, in denen das personifizierte Grauen Salingis heimsuchte, begrif-fen, dass er sein eigenes Leben retten musste. Sonst würde es ihm ergehen wie all den anderen armen Teufeln, die von den Geschöpfen der Finsternis bereits niedergemäht worden waren.

Er starrte sprachlos auf gläserne Wesen, die wehrlose Soldaten einfach vor sich hertrieben, nachdem diese ihre Waffen voller Angst fallengelassen hatten und um Gnade flehten. Aber ihre Rufe verhallten ungehört, denn so etwas wie Gnade gab es für diese Wesen nicht - sie waren vielmehr beseelt von dem Willen, hier ein Bild des Grauens auf solch unbeschreibliche Weise zu malen, dass sich Skyths Verstand bei-nahe weigerte, zu akzeptieren, was er hier rings herum sah.

Er stolperte über blutige Körper, in denen nur noch ein Hauch von Leben weilte - und dieses verstummte in dem Moment, wo er vorbei rannte. Seine Lungen brannten, während er verzweifelt nach einem Ort Ausschau hielt, wo er sich vor den Kreaturen der Finsternis verber-gen konnte. Aber solch einen Ort gab es wohl nicht mehr, denn der einst so stolze und für die Ewigkeit errichtete Palast des Fürsten brannte ebenfalls lichterloh.

Dunkle Rauchschwaden stiegen in den roten Himmel empor, der die Sterne bereits verschlungen hatte - und das Geheul der Bestien erfüllte die Straßen und Häuser der Stadt, die sich im Würgegriff der Finsternis befand. Es gab noch einige Mutige, die unter Einsatz ihres Lebens versuchten, das weitere Vordringen des Feindes ins Herz der Stadt zu verhindern. Aber sie konnten das Schicksal nicht aufhalten. Der Untergang der Stadt war bereits beschlossene Sache gewesen,

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noch bevor die Wachposten auf dem Wehrgang die ersten Anzeichen des rötlichen Schimmers jenseits der Berge entdeckt hatten.

Unter den Kreaturen der Finsternis befand sich auch ein hünen-hafter Reiter in einer pechschwarz schimmernden Rüstung. Sein Ge-sicht wurde von einem großen Helm verborgen und in seinen Händen schwang er ein Schwert, dessen Klinge ebenfalls ein rötliches Leuchten ausstrahlte. Ein Leuchten, das vom Blut der Niedergemetzelten lebte. Und jedes mal, wenn das Schwert des dunklen Ritters ein weiteres Leben auslöschte, lachte der Unheimliche. Ein Lachen, welches Skyth durch Mark und Bein ging und ihn beinahe die Kontrolle über seinen Körper verlieren ließ, je länger er dieses Grauen beobachtete.

Panik überkam ihn, als er sich abwandte und gerade noch im letz-ten Moment Schutz in einer Nische finden konnte, bevor ihn drei der Echsenwesen entdeckten, die mit bluttriefenden Klingen an der Mün-dung zur Gasse vorbeistürmten. Skyth wagte kaum zu atmen, als er die Bestien greifbar nahe vor sich sah und zitterte am ganzen Leib.

Dann aber nahm er allen Mut zusammen, den er noch besaß und suchte Schutz in einem der Häuser. Er bemerkte die Leichen der Nie-dergemetzelten nur am Rande, während er sich im Haus umsah. Dann aber fand er, wonach er gesucht hatte - nämlich die Klappe im Boden, die hinab in den Keller führte.

Hastig öffnete Skyth sie, stolperte die Stufen hinunter in eine alles umgreifende Dunkelheit und schloss sofort wieder die Klappe hinter sich. Er betete mehr als nur einmal zu den Göttern, dass die Kreaturen der Finsternis ihn jetzt nicht entdeckten und dass der Kelch des Todes an ihm vorbeiging. Auch wenn Skyth nicht gerade ein Leben geführt hätte, das man als vorbildhaft bezeichnen konnte und gar manchen um sein Geld erleichtert hatte, so hoffte er doch, davonzukommen - irgendwie.

Mehrmals hörte er feste, polternde Schritte, irgendwo über sich und seitlich am Haus vorbeihuschen. Und immer wieder erklangen die verzweifelten Hilfeschreie der unglücklichen Bewohner von Salingis, deren stolze Stadt nun ein Raub der Flammen wurde. In Skyths Ohren dröhnte eine unbeschreibliche Symphonie des Todes, die in seinem Schädel widerhallte und ihm Kopfschmerzen bereitete. Auch wenn der

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schwarzhaarige Dieb jetzt zum ersten mal seit langer Zeit mehrmals und intensiv zu den Göttern betete, so änderte das gar nichts an der Tatsache, dass in den Straßen von Salingis ein unbeschreibliches Mor-den sich seinem Höhepunkt näherte.

Skyth wollte nicht mehr wissen, was dort oben geschah - er wollte nur am Leben bleiben, duckte sich selbst im Keller in die hinterste Ecke und wagte sich nicht zu bewegen.

Wie lange er in dem finsteren Keller ausgeharrt hatte, wusste er nicht. Er merkte aber, dass sich etwas verändert hatte, denn die To-desschreie und das Gebrüll der Bestien waren auf einmal verstummt. Trotzdem blieb er immer noch quälende, ungewisse Minuten hier un-ten im Keller, bevor er schließlich einen Entschluss fasste. Den Ent-schluss, wieder nach oben zu gehen und nachzusehen, was in der Zwi-schenzeit geschehen war. Er wusste nicht genau, ob es Stunden waren oder gar Tage, die er hier unten verbracht hatte. Er spürte nur, dass eine ziemliche Schwäche von seinem Körper Besitz ergriffen hatte.

Vorsichtig stieg er die Treppenstufen nach oben, packte ganz vor-sichtig die Luke und lauschte noch einmal, bevor er sie öffnete. Im ersten Moment musste er blinzeln, als die ungewohnte gleißende, röt-lich schimmernde Helligkeit seine Augen traf, er aber dennoch den Keller verließ. Im Haus roch es nach Blut und Tod, aber es waren kei-ne Leichen mehr zu sehen. Von einem unguten Gefühl getrieben, nä-herte sich Skyth nun der Tür, die hinaus ins Freie führte.

Unwillkürlich griff er nach dem Dolch in seinem Wams, den er im-mer noch besaß und ging dann das Wagnis ein, hinauszugehen. Dass der rötliche Schimmer hier draußen noch in Intensität zugenommen hatte, fiel ihm gar nicht auf, weil ein Gedanke jetzt den anderen jagte.

Er blickte hinaus auf die Straße und seine Augen weiteten sich vor Ungläubigkeit und Entsetzen. Dann packte ihn die Welle des Wahn-sinns, tauchte tief in sein Gehirn ein und spülte den letzten Rest menschlichen Verstandes einfach hinweg. Skyths Schicksal war gnädig zu ihm, denn er sah das Chaos der Finsternis und einen riesenhaften Schatten nur wenige Atemzüge lang - aber das hatte ausgereicht, um ihn verrückt werden zu lassen.

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Ein einsamer schwarzhaariger Dieb tappte auf unsicheren Füßen wie ein Kind durch die rauchgeschwärzten Ruinen von Salingis. Und aus seiner Kehle ertönte mit monotoner Stimme ein Lied, das über-haupt nicht zu dem Bild des Todes passte, das hier allgegenwärtig war. Er war der einzige Überlebende, aber das hatte ihn den Verstand gekostet...

*

Der Vorhang des Vergessens breitete sich aus über viele Städte und Dörfer, als die Horden der Finsternis in die Bergherzogtümer von Ar-nish einfielen und dort ein Bild der Verwüstung anrichteten. Salingis, die einst so stolze Stadt, war nur ein Spiegelbild dessen, was auch an anderen Orten der Welt in diesen Stunden geschah - in einem Augen-blick, wo das Schicksal der menschlichen Welt am Scheideweg stand und ihr Untergang bereits beschlossene Sache war.

Aber davon wussten die Götter des Lichts nichts, denn noch hatte die Schlacht den blutigen Höhepunkt nicht erreicht. Auch der Kämpfer des Lichts - Thorin, der Nordlandwolf - konnte zu dieser entscheiden-den Stunde noch nicht wissen, dass eine weitere unfassbare Macht in die Geschehnisse eingegriffen hatte. Denn Thorin war noch auf der Fährte des Heeres der Finsternis und suchte nach der letzten, aber entscheidenden Auseinandersetzung mit Orcon Drac, dem Ritter der Finsternis, der die dunklen Horden anführte.

Als er das niedergebrannte Salingis erreichte, war das Heer der Finsternis erneut weiter gezogen. Thorin hatte nur einen bitteren Blick übrig für die rauchgeschwärzten Ruinen einer Stadt, von der er nur noch ahnen konnte, dass sie noch gestern das Zentrum blühenden Lebens gewesen war. Dann aber folgte er der blutigen Fährte, die das Heer des Grauens hinterlassen hatte und er sah das Leuchten, das von der Götterklinge Sternfeuer ausging. Er spürte die Hitze, die von dem Schwert Besitz ergriffen hatte und er wusste, dass der entscheidende Moment des letzten Kampfes, zwischen ihm und Orcon Drac unmittel-bar bevorstand.

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Aber nicht nur hier begann sich das Schicksal zu erfüllen - auch für die Götter des Lichts schlug die entscheidende Stunde...

Schlachtengemälde von Marten Munsonius

Unter Dächern fauliger Äste sah ich

Schimären aus Schluchten des Wahnsinns,

aus kalten Herzen erloschener Sterne, aus Schächten in natterbehausten Tempeln,

kriechende Dinge - mit pelzigen sechs Beinen und einem Gesicht

dessen Augen gefallenen Sternen glichen, getaucht in Blut, getaucht in Nacht,

die keine Morgenröte kannte... B. Karwath - aus der Rolle von Ushar zitiert

Die Heerscharen des Lichts, angeführt von Odan, dem Weltenzerstö-rer, versuchten der Flut des Vernichtungsfeldzuges der Finsternis Ein-halt zu gebieten. Aber noch wussten die Götter des Lichts nichts da-von, dass der mächtige Azach die Wesen von jenseits der Flammen-barriere, die von unserem Kosmos selbst abgetrennt ist, gerufen hatte.

Dies war ein wirklich unerhörter Vorgang, der selbst bei den mächtigen Wesenheiten jenseits unserer bekannten Welt ein furcht-sames Raunen verursachte. Viele Äonen lang, Zeiträume, in denen bei den Menschen sich ganze Kontinente verschieben, hatte niemand mehr den Namen der dritten Kraft in den Mund genommen - es schien, als habe man diese Macht bereits vergessen...

Doch die Götter der Finsternis wollten unbedingt den Sieg und wa-ren vermessen genug, ihre vereinten geistigen Kräfte tief in den Kos-mos zu schicken, um einen einzigen Moment lang einen Riss in der Flammenbarriere zu verursachen, die aber dennoch ausreichen sollte,

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einigen Wesen der dritten Kraft einen Ausbruch zu ermöglichen. Dies hatte jedoch weit reichende Folgen.

Selbst die alten Schriften von Ushar vermieden es, diese Wesen beim Namen zu nennen, obwohl Einar in den gesicherten Gewölben seiner Zuflucht eine Rolle besaß, die die dritte Kraft ausführlich be-schrieb und sogar beim Namen nannte.

Niemals hatte es der einäugige Gott gewagt, diese eine Perga-mentrolle zu öffnen.

An einem Platz auf einem Regal unweit der Truhe befand sich eine Glasglocke, die dem unerwünschten Betrachter den Blick ins Innere verwehrte. Und obwohl es sich ganz sicher um Glas handelte, so wäre doch kein Sterblicher jemals in der Lage gewesen, an diese Rolle he-ranzukommen, wenn Einar das nicht wollte. Selbst seinen Götterbrü-dern war der Zugriff auf diese Schriftenrolle bisher versagt geblieben - dafür gab es viele Gründe, die aber nur der einäugige Gott kannte, denn er besaß ein Äonen altes Wissen. Deshalb war es ihm auch mög-lich, mühelos die Rolle jederzeit herauszuholen. Wie auch heute, als er nach der Rolle griff und sich damit an einen Tisch setzte.

Die Prophezeiungen der alten Schriften von Ushar verschwammen dieser Tage, doch die Satzfragmente, die Einar klar und deutlich lesen konnte, sprachen von einer dritten Kraft, die über die Erde kommen und dann ein beispielloses Werk der Zerstörung beginnen sollte.

Mit einem entschlossenen Ruck brach er das uralte Siegel, geformt von Denen-die-nicht-mehr-sind, die aber dennoch weise genug gewe-sen waren, ihre schlimmen Prophezeiungen zu hinterlassen.

Der einäugige Einar las die ersten Zeilen der Schrift, während auf der Welt an verschiedenen Orten die Schlachten der Heerscharen des Lichts gegen die Boten der Finsternis tobte. Und es war eine grausame Schlacht, die sich von Stunde zu Stunde ausbreitete...

*

Blasphemisch gezeugte Zerrgestalten

auf Mondlicht saugenden Mauern, auf Kraken von Bäumen,

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von Wolken umstrudelt. Vor Toren titanischer Burgen,

auf Türmen zyklopischer Hybris an Küsten versunkener Länder. In der roten Wildnis des Chaos

sah ich die Urnacht vulkanisch zerrieben. Und Licht und Schatten, Feuer und Eis

im Zwielicht des Kosmos kämpfen B. Karwath - aus der Rolle von Ushar zitiert

Die Heerscharen des Lichts kämpften an vielen verschiedenen Stellen der Welt einen schier aussichtslosen Kampf gegen die finsteren Hor-den. Mutige Männer stellten sich den Scharen des Bösen entgegen und kämpften mit Schwert, Speer, Keule und Dolch mit dem Wahnsinn in den Augen und den Kräften eines Bären in den Muskeln.

Doch immer wieder wurden sie umringt, umzingelt und im Kampf Mann gegen Mann mussten viele ihr Leben auf den Schlachtfeldern der Welt lassen.

Wohin das Auge der Götter auch blickte, an fast allen Stellen der Welt wurde gekämpft und getötet. In den Steppen von Kh'an Sor sammelte sich eine Armee unter der Führung des Generals Kang, der mehr als 90.000 Mann aus den umliegenden Ländern befehligte. Als die Horden der Finsternis inmitten der unter der prallen Sonne glei-ßenden Steppe aufmarschiert waren, griffen Kangs Soldaten in drei Wellen an.

Der klug durchdachte Schlachtplan des alten Generals sollte die Spitze der feindlichen Truppen in kleinere Scharmützel verwickeln, während der Hauptstoßkeil etwa zwei Drittel der Armee der Finsternis abspalten sollte.

Doch General Kang hatte das kriegerische Potential der finsteren Streitmacht falsch eingeschätzt. Legion über Legion der Echsenkrieger fiel über die Streitmacht des Lichts her und wütete mit unvorstellbarer Grausamkeit unter den Menschen.

Und obwohl es die besten der Krieger der früheren Söldner von Kh'an Sor mit fünf oder sechs Gegnern gleichzeitig aufnahmen, wur-

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den sie von den Echsenkriegern mit wenigen gewaltigen Hieben nie-dergemetzelt, als handele es sich nur um Bäume, deren Blätter vom Wind abgerissen wurden.

Sie starben reihenweise und die nachdrängenden Krieger wateten in Pfützen von Blut. Trotz der Wut und der tief in den Gesichtern ein-gemeißelten Entschlossenheit lichteten die Wesen der Finsternis Reihe um Reihe der Soldaten unter General Kang.

Das Blatt wendete sich schließlich. Die Trappen des Generals wa-ren in Auflösung begriffen. Zerbrochenes Kriegsgerät und dazwischen die unzähligen Leichen der Gefallenen, soweit das Auge reichte. Ge-gend Abend, als das Licht der Sonne schwächer wurde, stellten sich General Kang und vielleicht noch tausend Mann in einem letzten, ver-zweifelten Aufgebot dem Feind entgegen. Der Kampfeslärm war schon fast verebbt und über das große Schlachtfeld breitete sich ein unbe-hagliches Schweigen aus. Hier und da hörte man noch unterdrücktes Stöhnen der vielen Schwerverletzten, doch die lautlos marschierenden Echsenkrieger brachten sie schnell zum Schweigen.

Der mörderische Feind umzingelte die letzte Bastion des alten Ge-nerals. Von einem geradezu unheimlichen Johlen und Kreischen beglei-tet, stürzten sich die Echsenkrieger auf die vordersten Linien der Män-ner, die sich um General Kang gebildet hatten. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis das Heer der Finsternis auch den letzten Mann aufge-rieben hatte. Was mit General Kang geschah, wissen nur die Götter allein...

*

Und Welten sah ich im giftigen Schein

von seltsam dämmernden Sonnen. Wo schwarze Flüsse schweigend flossen...

Kaskaden wölfischer Schemen stürzten die Wand eines Berges hinab,

auf dem etwas saß, das die Sterne löschte und Winden Einhalt gebot.

Trunk'ne Gestalten umwogten es langsam

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wie Seegras in träger Dünung, schwankend am Rande des Abgrunds,

der sich in Schwärze verlor B. Karwath - aus der Rolle von Ushar zitiert

Einar erhob sich aus dem throngleichen Sessel und trat an eines der hohen Gewölbefenster, das einen atemberaubenden Blick auf die Län-der der Welt tief unter ihm ermöglichte. Seine mächtige, hünenhafte Gestalt füllte einen Teil des Bogenfensters aus.

Im dem Glas spiegelte sich sein bleiches Gesicht mit dem milchig-trüben Auge, während das gesunde eisblaue Auge in unergründliche Fernen abschweifte.

Überall war die Schlacht gegen die Finsternis entbrannt. Ob in Samara, der Felsenstadt Cathar oder in den Sümpfen von Cardhor - an allen Stellen loderten Kämpfe auf und sie wurden immer heftiger. Die Löwenmenschen und die Gläsernen Kämpfer von Sann-Dok - wo sie auftauchten, hinterließen sie eine unbeschreibliche Spur der Vernich-tung.

Die Steppen loderten, Burgen brannten, ganze Städte gingen in Flammen auf, kein noch so kleines abgelegenes Dorf wurde verschont. Einer sah all dies mit seinem geistigen Auge (allerdings versagte dieses in letzter Zeit des öfteren aus unerklärlichen Gründen). Er erkannte auch auf dem südlichen Teil des Kontinents, wie die Kämpfer des Lichtheeres gegen die Armada der Finsternis vorrückten. Er beobach-tete, wie Frauen sich von ihren schwer bewaffneten Männern aus in-nigster Umarmung trennten, fühlte, wie kleine Kinder spürten, dass ihre Väter wahrscheinlich nie mehr zurückkehrten, erblickte die großen traurigen Augen der unzähligen Kinder und hörte, wie sogar die Hunde heulten - denn sie begriffen auch, wie nahe die Finsternis mittlerweile herangekommen war.

Einar sah Heere, die die Stätten bis zum Horizont ausfüllten, er-kannte Wälder von Lanzenspitzen drohend in den Himmel stechen. Mörderische Gesellen, wie die finsteren Löwenmenschen, stürzten sich wie Furien in die Heere der Menschen aus Urkaar oder wüteten zu-

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sammen mit den Gläsernen Kämpfern bei den Pilgerstätten Tor-Sardoon's.

Einar spürte einen unbändigen Zorn gegen die dunklen Götter A-zach und R'Lyeh in sich lodern, die wie eine furchtbare Geißel über die Welt gekommen waren und etwas noch Älteres und Dunkleres aus den Dimensionen hinter der Feuerbarriere geholt haben mochten. Und während seine Götterbrüder Odan und Thunor an der Spitze des Licht-heers gegen die Hauptmacht der feindlichen Armada schritten, die von Azach und R'Lyeh selbst gelenkt wurde, drehte sich Einar um und be-gab sich zurück in den wuchtigen Thronsessel, um die letzten Zeilen der uralten Pergamentrolle zu studieren. Und mit jedem verstreichen-den Augenblick gewann der einäugige Gott immer mehr Gewissheit...

*

Zu Hügeln, die sich atmend hoben, zu Schatten, die am Himmel zogen

Auf Schwingen, die die Sterne schlugen und ihr Flackern mit sich trugen.

Fackelketten wandten sich auf Pässen, wo ein Dämon schlich,

zu bergumwallten Kratertiefen, über Treppen zu der Höhle,

wo die alten Götter schliefen. Hände nahmen Masken ab, die Namenloses bargen...

Sah Straßen, die wie Silbervipern

sich durch schwarze Länder fraßen. Berge, die wie tote Tiere

zwischen grimmig Hügeln saßen. Sah Brücken zwischen Sternen, die ein Schweigender begeht,

sah Lücken in der Ferne, wo der Wall des Schicksals steht.

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Sah Zeichen, blut geschrieben... B. Karwath, aus der Rolle von Ushar zitiert

Das eisblaue Auge Einars suchte verzweifelt Textstelle um Textstelle hinter sich zu bringen. Jedes Wort saugte der Einäugige in der Schmiede der Götter wie ein nasser feuchter Schwamm in sich auf, in der Hoffnung, noch rechtzeitig in den längst entglittenen Kampf ein-greifen zu können, den das Licht gegen die Dunkelheit führte.

Plötzlich fühlte sich Einar unbehaglich. Ein kalter Hauch strich über seinen Hals und er zog den Umhang fester um sich. Er spürte förmlich die Entscheidung, die unten auf der Welt sich an den beiden großen Heeren vollzog - und die Götter waren mittendrin im Chaos aus Blut und Tod!

Als dann die Heere und die Götter aufeinander prallten, bemerkte Einar ein seltsames Kribbeln an seinen Haarwurzeln. Die Flammen des Krieges wogten in unermesslich hohen Rauchsäulen, die Einar sogar von hier oben aus über den höchsten Wipfeln der Berge erkennen konnte.

Mit zitternden Fingern huschte er nochmals über alle wichtigen Textstellen der Pergamentrolle und seine Lippen murmelten lautlos die uralten Worte einer fast vergessenen Sprache nach, die dort geschrie-ben stand.

Zu spät bemerkte er das schwache Flackern eines fahlroten Lich-tes, das über das ausgebreitete Pergament zuckte. Nicht einmal die Sinne eines Gottes hatten die Ankunft des Wesens aus den Dimensio-nen hinter der großen Flammenbarriere bemerkt.

Ein Geräusch drang an Einars Ohren - und das war beängstigend nah. Zu nah, um noch darauf entscheidend reagieren zu können. Ein Geräusch, das ihm seltsam vertraut schien. Er spürte den Biss der mächtigen Kiefer, die seinen Hals wie einen Schraubstock festhielten, spürte, wie ihn seine göttlichen Kräfte auf einmal verließen, fühlte das Leben selbst entweichen.

Und während das Hirn des Gottes Einar das kratzende Geräusch, das sich wie ›Skiiiirrrr‹ anhörte - kurz bevor er gebissen worden war - zu einem Wort zusammensetzte, das er am Schluss der letzten Zeile

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des Pergaments gerade noch hatte lesen können und wo von Wesen-heiten namens SKIRR berichtet wurde, öffnete der einäugige Gott sei-nen Mund zu einem letzten verzweifelten Schrei...

In diesem Augenblick erstarrte förmlich ein ganzes Heer. Der Wind verebbte zu einem leisen Flüstern und das Prasseln der unzähligen Feuer war kaum mehr zu hören. Die Schwerter der vielen Kämpfer baumelten kraftlos herunter und selbst die Verletzten hörten auf mit dem Wehklagen.

Thunor, der Donnergott, der gerade noch mit seiner mächtigen Waffe eine ganze Reihe von Löwenmenschen niederstreckte, schaute in diesem Moment auf nach Norden. Seine unergründlichen Augen überwanden Berge und durchbrachen sogar die Wolkendecke. Seine Sinne tasteten bis zur Götterschmiede und plötzlich wurde auch ihm die Tragweite des Geschehens bewusst.

Während er und sein Götterbruder Odan im Kampfgeschehen der Heere verwickelt gewesen waren, hatten die dunklen Götter dies für sich genutzt und waren in Richtung der Götterschmiede verschwun-den.

Odan und Thunor begriffen, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb, um das ihnen drohende Schicksal noch im letzten Augenblick zu ver-hindern. Sie verließen die kämpfenden Heere und machten sich auf, um ihrem bedrängten Götterbruder Einar zu Hilfe zu eilen. Doch Men-schen wie Echsenwesen sollten sie nicht wieder zu Gesicht bekom-men...

*

Das Eingreifen der dritten Kraft veränderte alles und davon blieb auch der Nordlandwolf nicht verschont. Aber noch ahnte er nichts von den gewaltigen Veränderungen, die selbst die Götter des Lichts spürten...

Thorin sah von einer Anhöhe aus die dichten Rauchwolken der Vernichtung, die über dem weiten Land hingen und Zorn erfüllte ihn angesichts der vielen blutigen Leichen, die am Wegesrand lagen. Ent-stellt und zerfetzt von Kreaturen, die eigentlich gar nicht leben durften - und doch gab es sie. Er betete ein letztes mal zu den Göttern des

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Lichts, bevor er sein Pferd antrieb und der letzten Auseinandersetzung entgegen ritt...

Schattenland von Al Wallon Der Nordlandwolf hatte aufgehört, die Tage und Stunden zu zählen, seit er der Fährte des dunklen Heeres folgte. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang war er weiter nach Nordwesten geritten, hatte schon am fernen Horizont die Rauchwolken des Unheils aufsteigen sehen.

Er hatte menschenleere Bergdörfer vorgefunden, deren Hütten nur noch aus verkohlten Ruinen bestanden. Tod und Gewalt hatten sich über die gesamten Bergherzogtümer ausgebreitet und sich wie ein erstickendes Tuch über diesen Teil der menschlichen Welt gelegt.

Thorin hatte die schrecklich zugerichteten Leichen von Männern, Frauen und Kindern gesehen - im Tod sahen sie alle gleich aus. Und eins hatten sie noch gemeinsam - ihre Gesichter spiegelten das na-menlose Grauen wider, das sie noch gesehen hatten, bevor sie der Tod aus ihrem Leben gerissen hatte.

Er roch jetzt noch den Gestank verwesenden Fleisches, der über den unzähligen Ruinen der großen Stadt gehangen hatte - auch wenn das schon Tage her war, seit er diesen Ort des Entsetzens passiert hatte. Thorin hatte darauf verzichtet, durch die toten und leeren Gas-sen zu reiten und nach Überlebenden zu suchen - er wusste, dass es keine gab.

Aber nun hatte er sein Ziel fast erreicht. Weit vor ihm erstreckten sich kahle Hügel, die irgendwie bedrohlich erschienen. Grau und bizarr wirkten sie, als hätten unsichtbare Kräfte diese Berge in bizarre For-men verwandelt, die jeden Reisenden warnen sollten, seinen Weg hier fortzusetzen...

Thorin war wachsam, hielt ständig Ausschau nach allen Seiten, denn nun musste er damit rechnen, jeden Moment auf seine Gegner zu treffen. Und es war nicht nur Orcon Drac, dem er dann gegenüber-

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stehen würde, sondern einem ganzen Heer. Eigentlich ein sehr wage-mutiges Vorhaben, zu dem sich der blonde Krieger entschlossen hatte. Aber er hatte noch die Worte des einäugigen Gottes Einar vor Augen, der ihm gesagt hatte, dass von dieser letzten und entscheidenden Be-gegnung das Schicksal der Welt abhängen würde. Auch wenn das für Thorin schwer vorstellbar war - obwohl er in die Zusammenhänge zwi-schen Licht und Finsternis mehr Einblick erhalten hatte als jeder ande-re Sterbliche vor ihm - so zögerte er keine Sekunde, Einar zu glauben. Denn der einäugige Gott wusste um die Vergangenheit und die Zu-kunft.

Das Pferd schien zu spüren, dass die Gefahr immer größer wurde. Es scheute mehrmals und Thorin musste ziemlich hart an den Zügeln reißen, um es weiter anzutreiben. Und je näher er der Hügelkuppe kam, um so mehr tänzelte das Pferd.

Thorin zog mit einer geschmeidigen Bewegung die Klinge der Göt-ter aus der Scheide in seinem Nacken. Instinktiv ahnte er, dass er die Klinge nun gleich einsetzen würde. Sternfeuer spürte die Präsenz des Gegners, denn aus dem warmen Flimmern der Klinge war mittlerweile ein gleißendes Leuchten geworden. So intensiv, dass der Nordlandwolf seine Blicke abwenden musste, weil die Helligkeit seinen Augen schmerzte.

Er erreichte nur wenige Momente später die Hügelkuppe. Der Blick war frei auf eine weite, baumlose Ebene, die nur hin und wieder von verkrüppelten Büschen und Sträuchern bewachsen war. Das Gras war braun und verdorrt, als hätte es hier schon seit vielen Monaten nicht mehr geregnet. Aber Thorin wusste, dass dem nicht so war. Die Berg-herzogtümer von Arnish zählten zu den reichsten Ländern der nördli-chen Welt.

Wer jedoch dies nicht wusste, der hätte die Gegend jetzt ganz si-cher eine Einöde gehalten, in der es sich eigentlich nicht zu leben lohnte. Denn die einst sonnenüberfluteten Hänge, wo emsige Hände Weinreben gezüchtet hatten, waren nun grau vom Kalk und die Pflan-zen verdorrt. Die Felder, die einst Leben getragen und reife Ernten gebracht hatten, waren vernichtet und die darunter liegenden Erd-schichten für immer zerstört. Hier wuchs nichts mehr - nie mehr...

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Thorins Miene spiegelte etwas von den Empfindungen wider, die ihre angesichts dieser traurigen Bilder überkamen. Grün, das war eine Farbe, die er schon seit Tagen nicht mehr gesehen hatte. Nur noch Grau, Braun oder Schwarz - wie der Tod!

Dann sah er die Heerscharen der Finsternis am Horizont. Er er-kannte, dass es Tausende waren, die das Heer bildeten - eine gewalti-ge Streitmacht, die bisher noch niemand auf ihrem Marsch hatte auf-halten können. Der Nordlandwolf erkannte zahllose Echsenkrieger, mit denen er schon auf unliebsame Weise Bekanntschaft geschlossen hat-te - er sah aber auch Kreaturen, denen er jetzt zum ersten mal begeg-nete - Geschöpfe, die so unwirklich waren, dass sie direkt aus einem schauderhaften Alptraum zu stammen schienen. Manche der titani-schen Körper wirkten wie Glas, hell und durchscheinend - und andere wiederum besaßen die Köpfe von furcht erregenden Raubtiefen.

Noch kannst du umkehren, warnte ihn auf einmal eine innere Stimme. Es sind zu viele - du wirst diesen Kampf nie gewinnen...

Dann erst wurde ihm bewusst, wie gefährlich diese Gedanken ei-gentlich waren. Ließ er ihnen noch mehr Freiraum, dann würden sie seinen Willen beeinflusset und ihn in Zweifel stürzen. Und Zweifel - das wäre jetzt absolut tödlich gewesen. Er musste an die Stärke der Götter des Lichts und an die Fähigkeiten Sternfeuers glauben wie noch nie zuvor. Nur so würde es ihm gelingen, seinen unheimlichen Gegner Orcon Drac zu besiegen. Denn dessen Streitmacht war selbst für die Götter des Lichts gefährlich.

In diesen Minuten, wo Thorin nur kurz mit sich und seinen Gedan-ken ins Wanken geriet, dachte er zum Glück wieder an die alten Pro-phezeiungen von Ushar, von denen ihm Einar berichtet hatte. Dort stand es geschrieben, dass diese letzte Begegnung stattfinden würde - jemand hatte das vor Äonen schon aufgezeichnet. Und jetzt nach solch langer Zeit begann sich der Kreis zu schließen.

Thorin betete erneut zu seinen Göttern, bat um Kraft und Stärke, damit er das durchstehen konnte, was ihn jetzt erwartete.

Er trieb sein Pferd an und das Tier trabte los. Thorin dirigierte es mit den Schenkeln hinab in die Ebene, wo das dunkle Heer wartete.

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Auch wenn er jetzt dafür keine Erklärung finden konnte - aber ir-gendwie spürte er, dass Orcon Drac schon längst wusste, dass Thorin kam. Der Nordlandwolf hatte dem Ritter der Finsternis schon einmal kurz im Kampf gegenübergestanden, aber damals hatte es keine end-gültige Entscheidung gegeben, weil Orcon Drac es im letzten Moment geschafft hatte, sich mit seinen Zauberkräften dem letzten Duell zu entziehen. Heute aber würde ihm das kein zweites mal gelingen, denn auch er würde die Schriften von Ushar nicht ignorieren können.

Thorin hätte sehr viel dafür gegeben, wenn er gewusst hätte, was jetzt zu dieser Stunde in anderen Teilen der Welt geschah. Die Götter des Lichts waren schon seit Tagen von ihm ferngeblieben, dagegen waren heftige Gewitter und unfassbar helle Blitze seine ständigen Be-gleiter gewesen. Bedeutete das, dass die Götter irgendwo dort oben kämpften?

Er hätte sich besser gefühlt, wenn er hätte sehen können, was sich jenseits der dichten dunklen Wolken ereignete. Immer wieder kamen ihm Einars Worte in den Sinn - der einäugige Gott hatte mehr als nur einmal Thorin darauf hingewiesen, dass die Schlacht bevor-stand und er eine ganz wichtige Rolle übernommen hatte.

Das dunkle Heer kam immer näher und nun wusste Thorin, dass es kein Zurück mehr gab. Spätestens in dem Augenblick, als erneut ein greller lautloser Blitz am wolkenverhangenen Himmel aufleuchtete und die Gestalt in der pechschwarz schimmernden Rüstung in ein gleißen-des Licht tauchte. Da war sein Gegner - Orcon Drac, der Ritter der Finsternis!

*

Der dunkle Ritter verhielt schweigend auf seinem schwarzen Pferd und ließ die Blicke über die trostlose Ebene schweifen. Sein Antlitz unter dem massiv geschmiedeten Helm leuchtete in einem wilden Feuer, als er sich an die letzten Tage erinnerte. Es waren Tage des grenzenlosen Triumphs gewesen. Ganze Städte waren unter dem Angriff des dunk-len Heeres in Schutt und Asche versunken und unzählige Menschen hatten dabei ihr Leben verloren. Ihr Blut war zum Ruhme der dunklen

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Götter geflossen und Orcon Drac hatte deutlich gespürt, welch große Genugtuung es für Azach und R'Lyeh gewesen war, dieses Opfer ent-gegenzunehmen. Die Stunde der Finsternis war angebrochen - die Stunde, wo das Licht auf der menschlichen Welt unaufhörlich zu sin-ken begann und die einst blühenden Kulturen verschiedener Völker in den Einfluss der Finsternis gerieten. Das war die Zukunft der menschli-chen Welt!

»Schattenland«, murmelte Orcon Drac, als er bis weit zum Hori-zont schaute und erkannte, wie sehr sich die Landschaft verändert hatte. Mit dem Vordringen des dunklen Heeres hatte sich auch das Land gewandelt. Eine graue Zwielichtzone, in der kaum noch etwas lebte. Und Orcon Drac hatte dieses Reich der dunklen Götter stetig vergrößert. Vergessen war die Stunde der Schwäche, die er vor nicht allzu langer Zeit erlebt hatte, als er einen harten Zweikampf mit dem Götterkrieger hatte ausfechten müssen, der ihn fast getötet hätte.

Jetzt hatte sich das Schicksal zugunsten des dunklen Ritters ge-wandelt. Die Götter der Finsternis waren groß und mächtig - und un-besiegbar. Odan, Thunor und der verrückte Einar - was waren sie für Schwächlinge im Vergleich zu den Herren der Finsternis, die über ein weitaus größeres Machtpotential geboten! Jetzt erst recht, nachdem auch Orcon Drac erfahren hatte, dass der RUF der dunklen Götter er-folgt war. Der RUF nach einer dritten Macht, deren Auswirkungen er selbst auch schon zu spüren bekommen hatte. Etwas war aus dem unermesslich weit entfernten Dimensionen auf die Erde gekommen - etwas, was auch der Verstand des dunklen Ritters nicht ganz erfassen konnte. Aber er war innerlich mehr als erleichtert, weil er wusste, dass diese dritte Kraft an der Seite der Götter der Finsternis kämpfte - und dafür sorgen würde, dass die dunkle Seite als Sieger aus dieser großen Schlacht hervorging.

Seine Gedanken brachen unwillkürlich ab, als er die Präsenz des Gegners spürte. Er hob den Kopf, schaute zur Seite und bemerkte die aufleuchtenden Blitze am Himmel. In diesem Augenblick erkannte er auch den einsamen Reiter, der in seiner Rechten ein glänzendes Schwert hoch emporreckte und todesmutig dem dunklen Her entgegen

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ritt. Orcon Drac hätte diesen Reiter unter hundert anderen sofort er-kannt - es war Thorin, sein Todfeind!

»Dieser Narr...«, flüsterte Orcon Drac. »Er muss doch wissen, dass er nicht siegen kann. Nicht wenn die dritte Kraft auf unserer Seite steht...«

Trotzdem kam der Götterkrieger immer näher heran geritten. Es. wäre ein Leichtes für Orcon Drac gewesen, den Gläsernen Kämpfern von Sann-Dok oder den Löwenmenschen ein kurzes Zeichen zu geben. Er spürte die Gedanken der Bestien und wusste, dass sie Thorin am liebsten sofort getötet hätten. Aber der Ritter der Finsternis wusste ebenfalls um die Bedeutung der alten Prophezeiungen und genau wie Thorin war er fest entschlossen, sie zu erfüllen.

Mit seinen geistigen Kräften hielt er die Geschöpfe der Finsternis zurück und befahl ihnen, eine Gasse frei zu machen für den Krieger des Lichts. Dann riss auch er seine dunkle Klinge aus der Scheide und wartete auf den entscheidenden Moment.

*

Thorin hatte jetzt die ersten Geschöpfe des dunklen Heeres erreicht und blickte in hassverzerrte Fratzen der Echsenkrieger, die mit schar-fen Schwertern und Lanzen bewaffnet waren. Die Krummsäbel der Löwenmenschen waren bereits gezückt und richteten sich gegen Tho-rin. Reglos verharrten die geheimnisvollen gläsernen Geschöpfe und ließen den Nordlandwolf passieren.

Sie öffneten eine breite Gasse für ihn, wichen vor ihm zurück - aber nur weil es Orcon Drac so befohlen hatte. Thorin blickte nicht zurück, sondern seine Aufmerksamkeit galt jetzt dem dunklen Ritter, der schweigend auf der Anhöhe verharrte und zusah, wie er näher geritten kam. Hätte Thorin jetzt zurück geschaut, so hätte er gesehen, wie sich die breite Gasse hinter ihm sofort wieder schloss. Ein Sterbli-cher war allein inmitten des feindlichen Heeres aus Geschöpfen, die einem Alptraum entsprungen zu sein schienen!

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»Endlich!«, rief Thorin so laut, dass er sicher sein konnte, dass sein Gegner diese Worte auch hörte. »Jetzt wirst du mir kein zweites mal mehr entkommen, Orcon Drac. Bist du bereit zum Kampf?«

»Ich war es immer, Thorin«, hörte der blonde Gegner die dunkle Stimme seines Gegners. »Du musst verrückt sein, dass du es wagst, diesen Kampf zu fordern. Verlässt du dich so sehr auf den Beistand deiner Götter?« Ein trockenes und gehässiges Lachen folgte den letz-ten Worten. »Sie haben dich allein gelassen - du weißt es nur noch nicht! Die Götter des Lichts werden mit dir zusammen untergehen, Thorin!«

»Rede nicht, sondern kämpfe!«, schrie Thorin mit zorniger Stim-me, reckte dem dunklen Ritter die gleißende Klinge Sternfeuers entge-gen. »Es ist nicht die Zeit der Worte, sondern die der Taten!«

Mit der Waffe in der Hand trieb er sein Pferd an, lenkte es genau auf den dunklen Ritter zu. Aber Orcon Drac wartete nicht ab, bis Tho-rin zu ihm kam, sondern war ebenfalls los geritten. Die beiden Krieger stürmten aufeinander zu und die Augenblicke bis zum Zusammenprall ähnelten einer Ewigkeit...

Hart war der Aufprall, als Thorins Pferd das Tier seines Gegners rammte und gleichzeitig die beiden Klingen aufeinander trafen. Das rot schimmernde Schwert Orcon Dracs biss nach Sternfeuer und als sich die beiden Waffen zu ersten mal berührten, wurde die unmittelbare Umgebung in ein gleißendes Licht getaucht, während gleichzeitig ein lauter Donnerschlag aufgrollte. Aber Orcon Drac wich nicht zurück, sondern drang sogar noch heftiger auf Thorin ein.

Die hünenhafte Gestalt in der schwarzen glänzenden Rüstung wirkte auf Thorin wie der Inbegriff des Bösen. Auch wenn Orcon Drac seine Flammenklinge geschickt führte, so wich der Nordlandwolf vor den immer heftiger werdenden Angriffen nicht zurück. Im Gegenteil - er parierte die kräftigen Hiebe seines Gegners und zahlte mit gleicher Münze zurück.

Thorin spürte die dunkle Energie, die von der Klinge des dunklen Ritters auf Sternfeuer überging und die Kräfte des Lichts zu überlagern drohte. Aber Sternfeuer bestand diese Belastungsprobe. Die Götter-klinge absorbierte die negative Energie und ließ die roten Funken so-

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fort wieder erlöschen, sobald beide Schwerter mit einem hellen Klingen aufeinander trafen.

Thorin und Orcon Drac kämpften verbissen miteinander und kei-ner von ihnen nahm mehr wahr, was um sie herum geschah. Das ge-waltige Heer der Finsternis beobachtete stumm den Kampf der beiden Giganten, aber selbst wenn manche der Bestien danach gierten, den menschlichen Krieger mit bloßen Händen zu zerreißen, so befolgten sie dennoch die Befehle des dunklen Ritters, der ihnen untersagt hatte, sich in diesen so entscheidenden Kampf einzumischen.

Hier ging es nicht um die Blutgier der dunklen Kreaturen, sondern um ganz andere Dinge. Das Schicksal der Welt stand auf dem Spiel und diese mit solcher Wucht geführte Auseinandersetzung zwischen den beiden Kämpfern des Lichts und der Dunkelheit war maßgebend für den Ausgang!

Erneut drang der Ritter der Finsternis auf Thorin ein und diesmal richtete sich die Flammenklinge nicht direkt gegen den Nordlandwolf, sondern fügte dessen Pferd eine schmerzhafte Wunde zu, die das Tier schrill aufwiehern ließ. Das Pferd bäumte sich auf und Thorin war für einen winzigen Moment lang nicht aufmerksam. Er konnte sich nicht mehr im Sattel halten und wurde von einer unsichtbaren Kraft herun-tergerissen. Geistesgegenwärtig rollte er sich zusammen, hielt die Göt-terklinge in beiden Händen fest und kam zum Glück nicht ganz so hart auf dem Boden auf.

Aus den Augenwinkeln registrierte er, dass Orcon Drac mit ge-schwungener Klinge heran geritten kam. Er spürte den tödlichen Hauch der gegnerischen Waffe und konnte sich gerade noch im letzten Moment ducken. Nur deshalb traf ihn Orcon Dracs Schwert nicht - sonst hätte sein Leben jetzt und hier ein Ende gefunden...

Er hörte den zornigen Schrei des dunklen Ritters, als dessen kraft-voll geführter Schlag sein Ziel nicht traf, wartete aber nicht ab, bis der Gegner eine zweite Chance bekam. Mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze sprang er hoch, stellte sich dem dunklen Ritter in dem Mo-ment entgegen, als dieser gerade sein Pferd herumreißen und dann erneut auf den Nordlandwolf einstürmen wollte.

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Thorin holte mit Sternfeuer aus und die Klinge biss sich durch die schwarze Rüstung des Gegners, versetzte ihm eine Wunde am rechten Oberschenkel. Ein Aufschrei ging durch die Reihen der dunklen Kreatu-ren, als sie sahen, wie ihr Herr und Meister verletzt wurde.

Aber falls Thorin gehofft hatte, Orcon Drac dadurch schwächen zu können, so sah er sich rasch eines Besseren belehrt. Auch wenn dunk-les Blut unter den Scharnieren der titanischen Rüstung hervordrang, so ignorierte der Ritter der Finsternis den Schmerz. Wilder Zorn ergriff ihn, der ihm sogar noch zusätzliche Kräfte verlieh. Er schwang seine Klinge wie ein Berserker und führte einen kräftigen Schlag nach dem anderen, so dass Thorin sich nur mit Mühe wehren konnte.

Aber der Nordlandwolf hielt den Schlägen tapfer stand, auch wenn er so langsam spürte, dass die Kräfte seines Armes zu schwinden be-gannen. Die Stärke des Gegners dagegen schien mit jedem verstrei-chenden Augenblick sogar noch zuzunehmen. Nur noch die Magie des Götterschwertes half Thorin jetzt, diesen Kampf durchzustehen und seine Position zu behaupten.

Erneut zuckten Blitze am Himmel auf und eigenartige atmosphäri-sche Klänge ertönten, die aus einer unbestimmbaren Richtung kamen. Gleichzeitig hörte Thorin, wie Orcon Drac mit lauter Stimme einige Worte in einer ihm unbekannten Sprache rief. Die Donnerschläge am fernen Horizont wurden daraufhin noch lauter und gewaltiger als es ohnehin schon der Fall war.

Als Thorin zwei Schritte zur Seite machte und sich vor einem töd-lich gezielten Hieb nur so in Sicherheit bringen konnte, spürte er den-noch die unbeschreibliche Hitze, die von der glühenden Flammenklinge ausging. Sie streifte ihn am rechten Oberarm und hinterließ dort eine Wunde, als wenn Thorin jetzt Bekanntschaft mit einem glühenden Ei-sen gemacht hätte.

Gleichzeitig riss der wolkenverhangene Himmel für Bruchteile von Sekunden auf und gab den Blick frei auf einen wabernden giganti-schen Schacht, der direkt aus dem Nirgendwo zu kommen schien. An den Rändern dieses großen Schachtes leuchtete es in Tausenden von Farben und irgendwo weiter in der Tiefe war etwas undeutlich zu er-kennen. Etwas Großes und Schwarzes!

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Wieder drang der dunkle Ritter auf Thorin ein und diesmal war der Schlag so hart, dass der Nordlandwolf ihn nur mit Mühe parieren konn-te. Dabei geriet er ins Taumeln, stolperte und fiel nach hinten. Orcon Drac ließ keine unnötige Sekunde verstreichen, setzte ihm nach und stieß mit der Flammenklinge nach der Brust des blonden Kriegers. Dennoch gelang es Thorin, dem tödlichen Stich zu entkommen, indem er noch zur Seite glitt. Aber das Schwert erwischte ihn trotzdem, bohr-te sich aber nicht in Thorins Herz, sondern nur in dessen Seite.

Thorin schrie auf, als eine Welle grausamer Hitze ihn erfasste und ihn fast bewusstlos werden ließ. Mehr von seinem Instinkt getrieben, schaffte er es noch, Sternfeuer unter Aufbietung sämtlicher Kräfte hochzureißen und sie Orcon Drac entgegenzustemmen. Genau in dem Moment, wo der dunkle Ritter nach vorn sprang, um seinem Gegner den endgültigen Todesstoß zu versetzen.

Sternfeuer fraß sich in den Körper des dunklen Ritters und schüt-telte ihn wie ein Insekt, das sich in den Klauen eines Riesen befand. Thorin sah die schreiende Gestalt Orcon Dracs nur noch durch einen milchigen, undeutlichen Schleier, denn der Schmerz in seinem Körper war mittlerweile so stark geworden, dass er kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte.

Er bemerkte, wie die titanische Gestalt des dunklen Ritters erneut zu taumeln begann. Plötzlich erklangen wiederum diese unirdischen Laute, gefolgt von einem solch gewaltigen Donnerschlag, dass man ihn selbst am anderen Ende der weiten Ebene noch hätte hören können.

Rötlicher Nebel bildete sich aus dem Nirgendwo, umhüllte die wankende Gestalt des dunklen Ritters und ließ seinen Körper auf ein-mal durchscheinend werden. Die Nebelschleier wurden immer dichter, bis Thorin seinen Todfeind nicht mehr erkennen konnte. Er selbst ba-dete in einem Meer aus Schmerzen und die Hitze in seiner Seite nahm weiter zu. Die Nebel griffen nun auch nach ihm und das dunkle Heer schien seinen verschleierten Blicken zu entschwinden.

»Was... was...?«, murmelte Thorin fassungslos, als er spürte, wie auf einmal die öde Ebene und die zerklüfteten Berge vor seinen Augen entschwanden. Gleichzeitig wurde er von einer geheimnisvollen Kraft

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gepackt und hochrissen. Ein harter Ruck ging durch seinen verletzten Körper, der ihm erneut die Schwere seiner Wunde klarmachte.

Thorin schrie, als er zu schweben begann und durch den Nebel genau auf den in unzähligen Farben leuchtenden Schacht zu getrieben wurde.

Schwach waren seine Bewegungen, als er mit der Götterklinge nach einem unsichtbaren Gegner hieb - den er zwar nicht sah, aber von dem er wusste, dass er da war. Er spürte nämlich den Sog einer fremden Kraft, der immer stärker wurde, je näher er dem großen Schacht kam.

Und dann tauchte er ein in eine Welt von Farben und Klängen, wurde umschlossen von unzähligen Empfindungen und Eindrücken. Immer tiefer hinein in die Schacht ging die geheimnisvolle Reise und ganz schwach vernahm er Stimmen, furcht erregende Stimmen. Und er sah Umrisse von pelzigen Körpern, die riesenhaften Spinnen ähnel-ten.

Das waren die letzten Eindrücke, bevor eine gnädige Ohnmacht seine Sinne löschte und ihn bewusstlos werden ließ, während er weiter und tiefer in den Schacht trieb, der ihn aus der sterbenden menschli-chen Welt entfernte und mitriss in eine Dimension, die viel unvorstell-barer war als es sich ein menschlicher Verstand jemals erträumt hätte. Aber das wusste Thorin nicht, denn eine Blase aus Licht und Luft um-schloss seinen Körper, als er durch die Sphären trieb und nahm auf eigenartige Weise Einfluss auf seinen Körper. Die Wunde hörte auf zu bluten und schloss sich sogar unter der Einwirkung der unfassbaren Kräfte.

Aber all davon spürte Thorin nichts mehr. Er war in einen tiefen, todesähnlichen Schlaf gefallen, der sehr, sehr lange andauern sollte. Und er träumte - von der Vergangenheit einer Welt, die in diesem Moment starb...

*

Die dritte Kraft hatte eingegriffen, als das Duell der beiden Kämpfer ihren Höhepunkt erreichte. Die Skirr sahen den Götterkrieger und er-

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kannten die Wahrheit. Für einen winzigen Augenblick öffnete sich ein Riss in der Zeit und auch die Skirr begriffen, welche Auswirkungen dieser Kampf haben würde, wenn sie jetzt untätig zusahen. Die Kräfte des Universums würden wirksam werden und die Dunkelheit von hier vertreiben. Das wäre auch ganz sicher so geschehen, wenn der RUF nicht erfolgt wäre.

So aber nahm das Schicksal einen ganz anderen Lauf. Die Skirr ergriffen den verletzten Götterkrieger und rissen ihn mit sich in den unergründlichen tiefen Schacht aus Raum und Zeit. Sie schlossen ihn ein in ein winziges Gefängnis, aus dem er sich niemals mehr würde befreien können. Damit war die Gefahr durch den Götterkrieger ge-bannt und die dunklen Heerscharen konnten ungestört ihren gewalti-gen Eroberungsfeldzug fortsetzen. Selbst wenn sie jetzt nicht mehr von Orcon Drac angeführt wurden. Die Götter der Finsternis hatten ihn zu sich geholt, denn das Schwert Sternfeuer hatte ihm tiefe und schwere Wunden zugefügt. Wunden, die selbst die Götter der Finster-nis nicht mehr heilen konnten. Deshalb setzten sie sich selbst an die Spitze des grausamen Heeres und die Schrecken fanden einen neuen Höhepunkt, als die Welt der Menschen in ein Chaos aus Blut und Tod versank...

Welt ohne Hoffnung von Al Wallon Rauchschwaden stiegen in den trüben Himmel empor und kündeten von dem Untergang der stolzen Drachenschiffe, die den Feind zu ver-treiben versucht hatten. Die meisten Krieger aus dem Volk der Nord-männer hatten in den vom Sturm aufgepeitschten Fluten des Eismee-res ihr Leben lassen müssen - denn sie hatten gegen einen Gegner gekämpft, gegen den sie überhaupt keine Chance besessen hatten. Aber das war ihnen erst so richtig bewusst geworden, als die meisten der Drachenschiffe schon von den Feinden zerstört und in den Fluten versunken waren - und mit ihnen die Krieger des nördlichen Volkes, die nun ihre Dörfer und ihre Familien schutzlos zurückgelassen hatten.

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Die alte Frau blickte gedankenverloren hinüber zum Horizont, wo die Rauchschwaden immer stärker wurden - und dann ging ein erster Ruf der Angst durch das ganze Dorf, als die an den Strand schlagen-den Wellen die Leichen der ersten Gefallenen an Land spülten. Großes Wehklagen erfüllte das Dorf in den Eisländern und eine winzige Träne stahl sich aus den Augen der alten Frau, denn auch sie hatte Freunde und Verwandte verloren. Aber sie konnte nicht mehr weinen, denn zu groß war das Entsetzen gewesen, das schon vor Tagen über die ge-samten Eisländer hereingebrochen war und das Land in seinen grau-enhaften Klauen zu ersticken drohte.

Zuerst waren es nur unbedeutende Vorboten des Unheils gewesen - die See war stürmischer und wilder geworden und das Wetter hatte sich ebenfalls zusehends verschlechtert. Und dann waren die Zeichen des Unheils über diesen Teil der menschlichen Welt gekommen und das nördliche Volk musste sich gegen diese furchtbare Gefahr wehren. Wofür alle jetzt einen hohen Preis zahlen mussten. Einen Preis, der so hoch war, dass es viele kaum fassen konnten, angesichts der zahlrei-chen Toten, die nun ans Ufer gespült wurden...

Wehklagen erfüllte den Strand - die jungen Frauen trauerten um ihre Liebsten und die Älteren gaben sich still ihrem Kummer hin. Die Kinder blickten mit weinenden Augen auf die zerfetzten Körper ihrer Väter und begriffen nicht, dass ihre friedliche Welt jäh ein Ende gefun-den hatte.

Die alte Frau hörte Schritte hinter sich und entfloh ihren paniker-füllten Gedanken - zumindest für den Augenblick. Sie wandte sich um und blickte in das ebenmäßige Gesicht der fremden blonden Frau, die vor einigen Wochen auf geheimnisvolle Weise in ihr Dorf gekommen war. Ihr Name war Lorys und sie stammte aus einer zerstörten Stadt namens Samara, die so weit im Süden lag, dass niemand das nördli-chen Volkes so richtig wusste, wo sie genau zu finden war. Dennoch war sie von den Menschen hier freundlich aufgenommen worden, denn sie kannte einen der ihren - einen Krieger, der sein Dorf vor einigen Jahren schon verlassen hatte, weil ihn die unbekannte Welt gelockt hatte.

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»Ich spüre, dass er nicht mehr lebt, Sventa«, sagte Lorys nun zu der alten Frau. »Ich kann nicht sagen, wie es geschehen ist - aber ich weiß es. Thorin ist tot!« Ihre Stimme klang zitternd bei den letzten Worten und die alte Frau begriff, dass Lorys für diesen Mann viel mehr empfand als nur freundschaftliche Gefühle. Jetzt, wo sie von ihm ge-trennt war und ihm nicht länger zur Seite stehen konnte, wurde der ehemaligen Fürstin von Samara mit jedem Tag mehr bewusst, wie sehr sie Thorin vermisste. Und nun verdichteten sich die dunklen Ah-nungen, die sie schon seit Tagen kaum noch schlafen ließen.

Ahnungen, in deren Mittelpunkt Tod und Verderben gestanden hatten. Weil sie wusste, dass Thorin den letzten entscheidenden Kampf einfach nicht gewinnen konnte - auch wenn er eine starke Waf-fe besessen hatte. Doch angesichts dieser großen Übermacht war das nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein gewesen! Sie hatte das sofort gewusst, hatte aber trotzdem nicht gewagt, ihm ihre Zweifel kundzutun, als sie mit Thorin in den Höhlen unterhalb der gefallenen Stadt Samara und anschließend in den Sümpfen von Cardhor mehr erlebt und gesehen hatte als die meisten übrigen Menschen auf dieser sterbenden Welt. Ja, es war eine Welt, die jetzt im Begriff war, unter-zugehen - und die Götter des Lichts ließen die Menschen im Stich!

»Woher willst du wissen, dass Thorin nicht mehr lebt?«, fragte sie nun die alte Sventa. »Er ist weit im Osten - du kannst es nicht wissen, Lorys.«

»Trotzdem spüre ich, dass etwas... Schlimmes mit ihm geschehen ist, Sventa«, kam es hastig über Lorys Lippen und zuckte zusammen, als sich das Kind in ihrem Bauch wieder einmal zu bewegen begann. Es war herangewachsen in den letzten Wochen und ließ seine Mutter fühlen, dass es da war und bald das Licht der Welt erblicken würde. Was würde das Kind aber dann noch zu sehen bekommen? Nur noch zerstörte Wälder und Dörfer und viele verwüstete Länder? Würde der Rest der Menschen, die bis jetzt dieses furchtbare Chaos überlebt hat-ten, Sklaven in einer zukünftigen Welt sein, die von den Mächten der Finsternis in ihren Klauen gewürgt wurde? Oder würde es zusammen mit seiner Mutter sterben, bevor es geboren war?

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»Solange wir noch hoffen, ist es noch nicht zu Ende, Lorys«, ant-wortete die alte Frau daraufhin und ihre Worte kündeten von großer Weisheit. Sie hatte viel erlebt in ihren siebzig Sommern und Wintern und diese Erfahrung hatte sich in ihr Gesicht gegraben. »Und wir müs-sen am Leben bleiben«, fuhr sie dann fort. »Hier sind wir nicht mehr sicher. Wir müssen weg von hier - und zwar so schnell wie möglich...«

»Und wohin?«, fragte Lorys voller Verzweiflung. »Gibt es denn überhaupt noch einen sicheren Ort auf der Welt, wo nicht die Finster-nis herrscht, Sventa?«

»Wenn es ihn gibt, dann werden wir ihn ganz sicher finden, Lo-rys«, erwiderte die alte Frau mit einer solchen Überzeugung, dass selbst Lorys wieder einen Funken Hoffnung schöpfte. »Aber wir müs-sen sofort gehen. Bevor das Böse diesen Ort erreicht hat.«

Sie wartete nicht darauf, was Lorys dazu sagen wollte, sondern wandte sich zu den übrigen Frauen, Kindern und Alten um, die noch immer bei den an Land gespülten Leichen standen und sich ihrer Trauer hingaben.

»Hört mir zu!«, rief Sventa so laut, dass es alle hören konnten. »Wir müssen fliehen - noch in dieser Stunde. Ein Feind, der so hart und unerbittlich zuschlägt, wird auch uns alle vernichten, wenn wir uns jetzt unserer Verzweiflung hingeben. Los, packt alles zusammen, was ihr tragen könnt!«

Die alte Frau blickte in erstaunte und verständnislose Gesichter. Ein erneuter Blick hinaus auf die sturmgepeitschte See und die dichten Rauchschwaden sagte Sventa, dass ihr weniger Zeit blieb als sie ver-mutet hatte.

»Das, was unsere Krieger getötet hat, wird bald hier sein!«, rich-tete sie erneut das Wort an die anderen. »Und sie werden uns alle töten. Ich bin alt und habe keine Angst mehr vor dem Tod, aber es gibt viele unter uns, die noch zu jung sind. Wie Lorys hier!« Sie zeigte auf den gewölbten Bauch der werdenden Mutter. »Dieses ungeborene Kind soll leben. Genau wie alle anderen unserer Kinder. Und deshalb müssen wir gehen - sofort!«

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Lorys war erstaunt, welche Energie von dieser alten Frau auf ein-mal ausging - aber jetzt, angesichts des Todes schien sie über sich selbst hinauszuwachsen.

Einige der Menschen aus dem Dorf eilten auch sofort hinüber in ihre Häuser und packten rasch einiges zusammen. Sie würden nur das mitnehmen können, was sie tragen konnten - mehr nicht. Denn das Land im Norden war wild und zerklüftet, bedeckt von Eis und Schnee. Diejenigen, die sich jetzt Sventa und Lorys anschließen wollten, wuss-ten, dass es ein langer und gefahrvoller Marsch werden würde - ein Marsch, der ebenfalls einige Opfer kostete.

Wind kam auf, der sich jetzt in ein stetiges Heulen verwandelte und Schaumkronen auf den Wellen tanzen ließ, die nun immer heftiger ans Ufer schlugen und bereits gefährlich nahe bei den Hütten waren, die die Menschen nicht weit vom Strand errichtet hatten.

»Ihr seid verloren, wenn ihr hier bleibt«, sagte Sventa nochmals zu denjenigen, die sich nicht dazu entschlossen hatten, ihr Dorf zu verlassen. »Die dunklen Mächte werden bald hier sein - und sie ken-nen keine Gnade.«

Aber ihre Worte stießen nicht auf Gehör. Weitere Versuche wären vergeblich gewesen, also widmete sie sich besser denjenigen, die ge-nau wie Sventa noch einen winzigen Funken Hoffnung besaßen, an den sie sich jetzt alle klammerten. Hoffnung, die auch etwas mit dem ungeborenen Leben zu tun hatte, das Lorys in sich trug. Denn Sventa spürte, dass mit der fremden Frau aus dem Süden etwas in ihre Hei-mat gekommen war, das nicht sterben durfte.

Wenig später verließ eine Gruppe von hundert Menschen das Dorf, angeführt von der alten Frau und Lorys. Sie kamen nur langsam voran, denn der Wind war kräftiger geworden und brachte erste Schneeflo-cken mit sich, die schon bald dichter fielen und die Spuren der Flüch-tenden zuzuwehen begannen.

»Wohin gehen wir eigentlich?«, rief eine der Frauen, die immer wieder zum Horizont zurückschaute, wo ihr Dorf und die ihr vertraute Welt in einem Reigen aus tanzenden Schneeflocken verschwunden war.

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»Immer weiter nach Norden!«, rief Sventa gegen das Brausen des Windes an. »Im Herzen des Eislandes gibt es genügend Verstecke vor den finsteren Horden. Da werden sie uns so schnell nicht finden kön-nen. Wir brauchen eine sichere Zuflucht - und genau die werden wir auch finden. Kommt jetzt und seht nicht mehr zurück. Es ist besser so...«

Genau in diesem Moment fing der Orkan zu toben an. Aber das Herz des Sturms befand sich noch jenseits des Horizontes. Genau in der Richtung, wo sich das Dorf der Nordmenschen befand und das jetzt wohl von den finsteren Mächten heimgesucht wurde.

Täuschte sich Sventa oder glaubte sie im Tosen des Orkans die klagenden Hilfeschreie der Zurückgeblieben zu hören? Erfüllte sich jetzt das Schicksal der Unglücklichen, das sie bereits schon längst ge-ahnt hatte?

Wahrscheinlich würde sie niemals eine Antwort darauf erhalten, aber die alte Frau wusste, dass es richtig gewesen war, aus dem Dorf zu fliehen und ins Landesinnere zu gehen. Sie besaßen einen Vor-sprung und wenn sie Glück hatten, dann konnten sie den Mächten der Finsternis entkommen. Aber für wie lange, das wusste niemand von ihnen.

Schneeschleier tanzten vor den Augen der flüchtenden Menschen und sie hüllten sich verzweifelt in ihre Decken und Felle, um sich vor dem brausenden Wind zu schützen. Einige von ihnen brachen zusam-men, blieben erschöpft liegen. Für sie war der Weg bereits zu Ende und der dichte Schnee deckte ihre reglosen Körper zu, während die anderen weiter nach Norden ins Landesinnere gingen.

Draußen vor der Küste jedoch nahm das unfassbare Grauen nun Gestalt an. In den dunklen Wolken zeichneten sich zunächst nur die Konturen einer gigantischen Gestalt ab, die dann aber konkrete For-men annahm. Es war der finstere Azach selbst, der über die Wesen gebot, die im Nordmeer lebten und die sich dort in ihre unterirdischen Höhlen zurückgezogen hatten. Aber der Ruf des mächtigen Gottes befahl sie an seine Seite und sie erschienen genau in dem Augenblick, als sich die Flotte der Krieger aufmachte, um ihre Heimat vor dem An-griff der finsteren Mächte zu bewahren.

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Was dort draußen auf hoher See geschah, wird für immer ein Ge-heimnis bleiben, denn diejenigen, die Zeugen dieser Schrecken wur-den, lebten alle nicht mehr, waren grausam verstümmelt und entstellt.

Und dieses Grauen näherte sich nun dem Ufer, wo sich das Dorf befand, in dem einige verzweifelte Menschen zurückgeblieben wäre, um ihre Toten zu bestatten und dann der Dinge zu harren, die auf sie zukamen.

Sie mussten nicht lange warten, denn die tosenden Wellen schlu-gen so heftig an den Strand, dass einige der Häuser vom Sog einfach gepackt und wieder hinaus auf die offene See gerissen wurden.

Die Menschen schrieen vor Angst, wollten sich vor den Wellen in Sicherheit bringen, indem sie sich weiter hinauf ans Ufer begaben. Aber diese trügerische Sicherheit war nur von kurzer Dauer, denn mit dem nächsten Wellenschub erhoben sich plumpe Körper aus den Tie-fen des Eismeeres, die nun mit klauenbewehrten Händen nach den Unglücklichen griffen und ein Blutbad unter ihnen anrichteten. Es dau-erte nur wenige Minuten, bis niemand im Dorf mehr lebte. Die Wesen aus der Tiefe waren gnadenlos und verrichteten ihr blutiges Werk so, wie es ihr Meister von ihnen erwartete. Der finstere Azach thronte hoch oben in den Wolken und erfreute sich an den unvorstellbaren Bildern des Grauens, zitterte vor Wohlbehagen, als die Wesen des Meeres Frauen und Kinder zerrissen und teilweise verschlangen. Steine und Felsen färbten sich rot vom Blut, das aber schon vom nächsten Wellenschub wieder weggespült wurde.

Dann aber spürte der mächtige Gott der Finsternis etwas anderes - nämlich, dass es nicht alle Menschen waren, die in diesem Dorf ge-lebt hatten. Seine starken Sinne tasteten umher, versuchten die übri-gen Menschen zu finden - aber seltsamerweise gelang ihm das nicht. Als wenn eine unsichtbare Hand diesen Haufen Flüchtender schützte.

Hätte Azach in diesem Moment Kontakt mit den Wesen von jen-seits der Flammenbarriere aufgenommen und sie zu Hilfe gerufen, dann wäre es selbst denjenigen, die aus dem Dorf geflohen waren, nicht mehr gelungen, mit dem Leben davonzukommen. So aber beging selbst ein Gott wie der mächtige Azach einen Fehler - indem er näm-lich diesen Vorteil nicht nutzte und versuchte, die Frau zu finden, die

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ein Kind unter dem Herzen trug, das schon einmal indirekt in die Ge-schehnisse eingegriffen hatte. Sein toter Götterbruder Modor hätte anders gehandelt, denn er hatte kurz vor seiner Vernichtung erfahren, wie diese Kräfte gewirkt hatten.

So aber vergaß Azach und auch sein Bruder R'Lyeh die kümmerli-che Handvoll Flüchtender, die sich ins Landesinnere begaben und eine Zuflucht suchten. Stattdessen errichteten sie zusammen mit den mächtigen Skirr eine Herrschaft des Schreckens überall dort, wo einst Menschen gelebt hatten. Die vielen Königreiche und Fürstentümer der Menschen waren gefallen und vernichtet - und die Götter des Lichts hatten eine Niederlage hinnehmen müssen - aber war sie endgültig?

Nach dem Ende... von Marten Munsonius

Ich sah Welten kommen und gehen.

Von der Geburt des Kosmos bis zum Tod. Das Rad der Zeit dreht sich weiter -

vom Anfang bis zum Ende Ewigkeit ist nur ein leiser Hauch, denn ich werde noch existieren,

selbst wenn das Universum stirbt... Das Lied des FÄHRMANNS

Mit den Skirr war etwas Ungeheuerliches zur Erde gekommen, die, wie nie zuvor, als es Menschen gab, so radikal ihr Antlitz änderte. Die Stahlburgen waren auf der Erde eingeschlagen, geschickt von den spinnenartigen Wesen, die nicht davor zurückschreckten, den Göttern der Erde selbst zu trotzen. Und was niemand für möglich gehalten hätte, war trotzdem geschehen - die Skirr und ihre Verbündeten, die Heere der Finsternis, hatten die Götter Einar, Thunor und Odan gefan-gen!

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In den Inselreichen des Südens, in den Ländern des Nordens - wohin das Auge auch reichte, die Gläsernen Kämpfer von Sann-Dok und die Löwenmenschen von Herlan siegten zusammen mit den Ech-senkriegern und anderen dunklen Kreaturen Schlacht für Schlacht. Auch wenn ihr einstiger Anführer Orcon Drac nicht mehr unter ihnen weilte, so tauchten ihnen die dunklen Götter selbst den Odem des Hasses ein, der sie unbesiegbar machte.

Am vierten Tag waren große Teile der Kontinente sprichwörtlich verdunkelt. Die Städte brannten lichterloh. Die Menschen ließen alles im Stich und flohen um ihr Leben in großen Scharen - viele von ihnen hatten nur noch das retten können, was sie auf dem Leibe tragen und auf holprigen Karren mit sich führen konnten. Wehklagen überall. Ver-ängstigte Gesichter und verzweifelte Augen ohne jegliche Hoffnung. Münder pressten sich zu stummen Hilferufen, die an die Götter des Lichts gerichtet waren. Doch selbst die Sonne schien nur trübe durch die dichte und mittlerweile völlig undurchdringliche Wolkendecke über den Kontinenten. Und als der dämmrige Tag in einen düsteren Abend überging, hatten die Menschen das Gefühl, von den Göttern des Lichts verlassen worden zu sein. Denn selbst die ehemals leuchtende Sonne hatte sich gnädig abgewandt und ließ den Treck der Verzweifelten in nicht enden wollender Hoffnungslosigkeit zurück.

Folgt man dem planetarischen Äther in die Tiefen des Kosmos, wohin sich jene zurückgezogen haben, über-die-man-nicht-sprechen-sollte bis hin zur Flammenbarriere, so trifft man auf den FÄHRMANN.

Der FÄHRMANN gehört zu den Geschöpfen des Kosmos, die schon existierten, als selbst die Erde noch eine Ansammlung abgerissener Sternenmaterie in einem erst in Entstehung begriffenen Sonnensystem war. Freilich war der FÄHRMANN bereits in dieser jungen Zeit des Kosmos eines der ältesten Geschöpfe gewesen, an dem sich sogar die über-die-man-nicht-sprechen-sollte mit ihren fast grenzenlosen Fähig-keiten messen lassen mussten.

Der FÄHRMANN ging seinen Weg, der durch die Ätherstraße des Kosmos führt, hielt an Gestaden von Zeiten und Welten, die für uns so unfassbar sind, dass wir erst gar nicht den Versuch machen, sie zu beschreiben. Der FÄHRMANN kennt natürlich auch die gewaltige

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Flammenbarriere, die unseren Kosmos von anderen Teilen des Multi-versums trennt - und für ihn birgt sie keinerlei Geheimnisse mehr...

Wie wichtig aber selbst ihm der Durchbruch der Skirr durch die Flammenbarriere war, zeigt ein Blick in die Anmalen der Geschichte. Selbst über den Zeitraum eines Sternenalters hinweg, verzeichnet kei-ne Legende oder gar Mythologie der uralten Rassen des Kosmos, dass der FÄHRMANN jemals in ein Geschehen eingegriffen hat.

Doch diesmal war es so. Ein absonderlicher, ja unheimlicher Vor-gang führte dazu, dass die Barke des FÄHRMANNS in die Schmiede der Götter des Lichts eindrang - zwar nicht körperlich, aber die Präsenz des unbegreiflichen Wesens selbst genügte, dass die mächtigen Skirr ihre pelzigen Beine einknickten und das menschenähnliche Haupt vor dem FÄHRMANN verneigten. Keines Menschen Auge wäre jemals in der Lage gewesen, dem FÄHRMANN direkt ins Antlitz zu schauen und die Skirr von jenseits der Flammenbarriere erst recht nicht!

Einen winzigen Moment lang erklomm ein schwacher Lichtschein, rätselhaft und unerklärlich, am ehesten noch mit einem Polarlicht ver-gleichbar, wie man es zuweilen in den Eisländern des Nordens erbli-cken konnte - vor der großen Katastrophe.

Die Götter selbst, Einar, Thunor und Odan hatten ihre Augen ge-senkt und harrten voller Unglauben der Dinge, die da kommen sollten. Zweifellos rechneten auch sie mit dem Schlimmsten, aber um so grö-ßer war dann die Überraschung für sie, als der FÄHRMANN sie mühe-los und wie mit einem Handstreich zu sich in die Barke hob.

Die Skirr, die selbst nichts von jenseits der Flammenbarriere mit-bringen konnten und die gemeinsam mit den Göttern der Finsternis zu den lange versunkenen, unbekannten Städten unter den Ozeanen vor-gedrungen waren, wo sie aus den Arsenalen der älteren Völker solche Dinge wie die Stahlburgen entwendet hatten, waren höchst über-rascht, wie die starken Ketten, die selbst die Götter des Lichts aus ei-gener Kraft nicht sprengen konnten, mit lautem Geräusch zu Boden fielen.

Indes hatte sich der FÄHRMANN wieder ans Ende der Barke ge-stellt und lenkte unbehelligt von den Skirr seine Barke ganz langsam in den Strom des kosmischen Äthers. Doch die Reise sollte die Götter des

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Lichts nicht in den unendlichen Raum führen, wo im Angesicht ihrer Niederlage sie das schwarze Meer der Leere umfing - nein, der Weg führte vielmehr über die Länder und Kontinente der menschlichen, verwüsteten Welt.

Der FÄHRMANN zeigte ihnen schweigend die Orte ihrer vielen Nie-derlagen, wies ihnen die brennenden Städte und machte ihnen das ganze Ausmaß der gewaltigen Katastrophe klar - mit Bildern, die sich ihnen unauslöschlich ins Gedächtnis einbrannten.

Die Barke des FÄHRMANNS steuerte auf eine Region zu, die fast unsichtbar war, verursacht von der Gewalt eines lokalen Sturms. Doch weder Einar, noch Thunor und erst recht nicht Odan konnten das ge-ringste Schütteln der Barke ihres Gefährtes bemerken. Der FÄHRMANN ignorierte die großen Kräfte, so wie er die Skirr ignorierte und plötzlich befanden sie sich im Auge des großen Orkans, wo Windstille herrschte.

Umgeben von Bergen, am Rande eines gewaltigen Sumpfes, wo knorrige, mit dünnem Farn behangene Bäume standen, ragte auf ei-nem felsigen Plateau eine der Stahlburgen mit ihren Turmzinnen em-por. Sie sah fast aus wie eine gewöhnliche Burg, wäre nicht der giftige Odem gewesen, den sie verströmte und der alles Leben auf dem Fel-sen hatte verlöschen lassen. Thunor, der sich vorbeugte, konnte selbst aus dieser Entfernung am Fuße der Stahlburg die Gerippe und Schädel verschiedener Lebewesen erkennen.

Und schon drehte das FÄHRMANN wieder ab. Den Sturm unbe-rührt hinter sich lassend, zog die Barke ihre Bahn weiter nach Norden, schneller und schneller. Um sie herum wurde es Nacht. Keiner der Götter sprach in diesen Minuten ein Wort - oder waren es vielleicht sogar schon Stunden, seit sie die Barke des FÄHRMANNS betreten hatten?

Auf jeden Fall übertraf das, was sie zu sehen bekommen hatten, ihre schlimmsten Erwartungen. Azach und R'Lyeh, die Götter der Fins-ternis, hatten wirklich ganze Arbeit geleistet und die Erde in einen gro-ßen Hort des Todes und der Zerstörung verwandelt.

Rechts von der Barke tauchte auf einmal ein fahles Licht auf. Es kam näher, wurde immer größer und ähnelte schließlich einer Leucht-blase auf unruhiger See.

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Zuerst konnten die Götter des Lichts nicht erkennen, was diese Blase umhüllte. Dann aber erkannten sie einen großen Körper, der reglos in der schimmernden Luftblase trieb, von unsichtbaren Kräften gehalten und für die Ewigkeit reglos gefangen.

Sie sprangen alle zur gleichen Zeit voller Entsetzen auf. In ihren Augen glomm der Funke von Enttäuschung und Zorn, als sie erkann-ten, wer dort in dieser Luftblase ruhte. Es war Thorin, der Krieger, der die Schlacht hatte entscheiden sollen. Und was war nun? Eine geheim-nisvolle Kraft, deren Ursprung selbst den drei Göttern des Lichts nicht bekannt war, hielt den Nordlandwolf in der Leuchtblase gefangen - und in der Zeit!

Das letzte Fünkchen Hoffnung, das ihnen während ihrer Gefan-genschaft bei den Skirr noch verblieben war - zerstoben! Hier ruhte ihre letzte Hoffnung, das Rad des Schicksals noch einmal herumdrehen zu können. Aber auch diese Chance war vertan, genau wie viele ande-re zuvor. Was sollte jetzt nur geschehen? Würde der FÄHRMANN sie irgendwo absetzen? Konnten sie Widerstand organisieren?

Doch ehe die drei Götter des Lichts noch weitere Gedanken ver-folgten, kehrte die Barke auch schon wieder zurück in die Schmiede der Götter, wo die Skirr immer noch still und ehrfürchtig verharrten, als sei überhaupt keine Zeit verstrichen.

Der FÄHRMANN dachte gar nicht daran, die Götter in die Freiheit zu entlassen. Es war zuerst der Donnergott Thunor, der sich heftig wehrte, als er mit seinen Brüdern die Barke wieder verlassen musste.

Stellen wir uns die Kraft eines Gottes vor, der Herr über die Gezei-ten ist und über Wind und Sturm einer ganzen Welt. Ihm gegenüber ein unbegreifliches Wesen, der den Kosmos schon seit ewigen Zeiten durchstreift und selbst über jene gebietet, über-die-man-nicht-sprechen-sollte. Ein Wesen, das genau wusste, dass jedes Aufbegeh-ren der Götter des Lichts sinnlose Kraftverschwendung bedeutete.

Es fand auch kein Kampf statt, sondern der Donnergott griff nach dem Arm des FÄHRMANNS, der wiederum Thunors Arm umschloss - und alle Gewalt entwich ins Leere!

Einen Moment nur, während Thunor verzweifelt zupackte, rutschte die Kapuze etwas zurück, die das Gesicht des FÄHRMANNS stets in

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Dunkelheit gehüllt hatte und gab den Blick auf dessen Gesicht frei. Ein Blinzeln Thunors, der sich ohne jeden weiteren Widerstand in Ketten schließen ließ. Genau wie Odan und Einar. Aus Thunors rechtem Au-genwinkel stahl sich eine Träne. Die Götter weinen nur selten und wenn, dann überschwemmen ihre Tränen ganze Länder. Diesmal blieb es aber nur bei einer Träne, die dem FÄHRMANN galt, dessen kindli-ches Antlitz den jungen Kosmos widerspiegelte...

*

Epilog Stille herrschte in den meisten Dörfern an der Küste des nördlichen Eismeeres. Kalter Rauch stieg in den wolkenverhangenen Himmel em-por und die stürmischen Fluten rissen die wenigen, noch nicht zerstör-ten Boote mit sich, die an der Küste verankert waren. Es gab nieman-den mehr, der sie jetzt benutzen würde. Denn die wenigen Überleben-den hatten sich längst in alle Winde zerstreut und ihre Spuren hatte der Schnee zugedeckt.

Die Ruinen von Samara wurden allmählich von Moos und Flechten überzogen. In den alten Mauern krochen Ratten und Schlangen um-her, denn sie fürchteten die Menschen nicht - hier lebten sie nicht mehr.

In den Ebenen von Kh'an Sor wehte der stetige Wind, trieb Sand mit sich, schleuderte ihn bis weit über den Horizont in die Todeswüste von Esh. Aber die Wüstenwanderer, die diesen Streifen Land einmal als ihre Heimat angesehen hatten, befanden sich entweder in der Sklaverei der neuen dämonischen Herren oder hatten längst die Flucht ergriffen. In noch einsamere Gegenden, die es sich nicht lohnte, zu beherrschen.

Giftiger Odem hing über den Sümpfen von Cardhor, einst Sitz des mächtigen Gottes Modor, der nicht mehr war. Die Menschen, die in dieser unwirklichen Landschaft gelebt und einst zu Modor gebetet hat-ten, durften sich nicht lange über ihre neu gewonnene Freiheit freuen, zu denen ihnen der blonde Krieger aus dem Norden verholfen hatte. Denn die neuen Herren kamen plötzlich und unerwartet und sie regier-

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ten mit Blut und Tod über die einfachen Menschen, knechteten sie noch mehr als es Modor einst getan hatte. Die Zahl der Menschenopfer stieg wieder an und das Volk zitterte vor Angst und Schrecken.

In der Felsenstadt Cathar fanden unermesslich grausame Opfer und Rituale zu Ehren der Skirr statt - am Fuße der Stahlburgen wurde das Volk geknechtet und geschunden und die Klageschreie verhallten ungehört.

In den schneebedeckten Hochebenen gab es eine Region von zer-klüfteten Felsen, wo der pfeifende Wind nicht ganz so stark war und wo an einer windgeschützten Stelle mehrere Feuer mit unruhigen Flammen flackerten.

Die alte Sventa beugte sich über die stöhnende Lorys, wischte ihr über das schweißnasse Gesicht und hielt ihre Hand. Die Wehen kamen jetzt öfter und regelmäßiger und es war bald soweit, wo neues Leben das Licht dieser fast vernichteten Welt erblicken würde. Ein Kind, das nichts begreifen würde, wenn es später einmal von grünen Hügeln und schönen Tälern erfuhr. Denn die existierten nur noch in den Erzählun-gen - die Wirklichkeit dagegen war viel unbarmherziger und grausa-mer.

Und irgendwo inmitten des gigantischen und unbegreiflichen Schachtes, der durch die geheimnisvollen Kräfte der Skirr geschaffen worden war, glitt eine Leuchtblase weiterhin durch Raum und Zeit - und in ihr befand sich der Einzige, der diesem entsetzlichen Treiben noch hätte Einhalt gebieten können - wenn ihn das schimmernde Ge-fängnis nicht daran gehindert hätte. So aber war der Krieger der Göt-ter in dieser Leuchtblase gefangen, trieb vorbei an erkalteten Sternen und eruptierenden Sonnen - aber das sah er nicht, denn er befand sich in einem tiefen Schlaf, aus dem es so schnell kein Erwachen geben würde. Es war ein Schlaf, der Träume entstehen und genauso schnell wieder verschwinden ließ. Und die Welt der Menschen starb...

Ende