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finclcn wir clie Spulcn clcr moralischcn Algumcntc, r¡it clcncn tnan solchc [ìorr]c- rllngctl rr::chtferti¡1tc, rnit allcn nròglichcn fant¿rsl-ischcn Wenclungcn u.ucl Vcrrlrr:- hungcn. Abcl bis zLr erincr¡r gowissctr Gi:acl rcflelçticrtcn sic <.loch allo clic Splachc clcs Markt¡r1atzcs. HIIFITEL 5 þiuËl r H t1Ër H t1 H r' t u t..lri ü HrH Ë: [:'IË f'1 r_r Ë: Ë L T 5 r; HH f".l 13 R Ll l'.1 f, L p r: Ë þl': [i ü l'.1 rJ ti I 5 r_: H Ë Ë; F E E I tr H tr f..l ü Ë t4 UM DIE GESCHICH'IE dcr Scl'rulden zu crzählen, mrissc' wir. aucÌr rel<.n- strlrieren, wie dìe sprachc des Marktplatzes .jeclen Aspckt des menschlìchen Da- seins durchclringen konnte .- bis hin zur wortwahl all derer, clie moralìsche und religiöse Einwåinde gegen Schuldcn erhoben. ln clen Veden uncl in den chr:istlichcn Texten wird, wie ich bereits ausgenührt habe, cliesclbe seltsame wendung vollflùhrt: sie beschreiben Moral als schulclverhältnis und legen irn selben Atemzug clar:, Mo- ral könne nicht aufschuldcn reduziert werden, sondcm müsse in etwas anderem wurzcln.' Aber was ist dieses Andere? Die lìeligionen geben am liebsten gr:of3e, kosmologi- sche Antworten: Die Alternative ztt einer Moral aus dern Schulclverhältnis erkennt die l(ontìnuität c'[es universums an, bejaht clas Leben trotz Ëntropie, unterwirlT sich vollkommen einer Gottheit oder zieht sich in cine andere welt z¡rnick. Meine Zieie sind vergleichsweise bescheidener, deshaib wähle ich den entgegengesetzten An- satz. Wollen wil die moralischen Grundlagen des ökonomis<:ht:n J,ebens und in Erweiterung davon des menschlichen Lcbcns insgcsarnt verstehen, mûssen wìr mit den ganz kleinen Dingen beginnen: den alltaglichen Details der sozialen Existenz, der Art und Weise, wic wir unsere Freunde , L;einde und I(incler behandeln'-. oft in kleinen Gesten (das Salz reichen, un eiue Zigarette bitten), über die wir uns gar keine Gedanken machen. Die Anthropologie hat uns gezcigt, wie unglaublich ver- schieden sich die Menschheit irn Lal¡f der Geschichtc organisiert hat. Die Mcnsch- heit weist aber auch bemerlcenswert vicle Gerneinsamlceiten aul'.'- funclamentale ethische Prinzipien, die allem Anschein .nach iiberall existielcn und auf clic na¡ sich in der lìegel beruft, wenn die.Menschen Dinge hin und her geben oder darliher debattieren, was andere ihnen schulclen. Auf der anderen Seil:c ist c'las Leben oft so kompliziert, weil clie prinzipien cin- ander widersprechen. wie ich noch zeigen wcrde, zichcn sie uns beständig in clia- metral entgegengesetzte Richtungen. Die rnoralische l,ogik des T'auschs ¡-Lnd clamit der schulden ìst nur eine Richtung; in einer k<¡nkreten situal.ion könncn ganz ur1-

Graeber, 2012, Schulden, Kap. 5

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Page 1: Graeber, 2012, Schulden, Kap. 5

finclcn wir clie Spulcn clcr moralischcn Algumcntc, r¡it clcncn tnan solchc [ìorr]c-

rllngctl rr::chtferti¡1tc, rnit allcn nròglichcn fant¿rsl-ischcn Wenclungcn u.ucl Vcrrlrr:-

hungcn. Abcl bis zLr erincr¡r gowissctr Gi:acl rcflelçticrtcn sic <.loch allo clic Splachc

clcs Markt¡r1atzcs.

HIIFITEL 5

þiuËl r H t1Ër H t1 H r' t u t..lri ü HrH Ë: [:'IË f'1 r_r Ë: Ë L T 5 r; HH f".l

13 R Ll l'.1 f, L p r: Ë þl': [i ü l'.1 rJ ti I 5 r_: H Ë Ë; F E E I tr H tr f..l ü Ë t4

UM DIE GESCHICH'IE dcr Scl'rulden zu crzählen, mrissc' wir. aucÌr rel<.n-strlrieren, wie dìe sprachc des Marktplatzes .jeclen Aspckt des menschlìchen Da-seins durchclringen konnte .- bis hin zur wortwahl all derer, clie moralìsche undreligiöse Einwåinde gegen Schuldcn erhoben. ln clen Veden uncl in den chr:istlichcnTexten wird, wie ich bereits ausgenührt habe, cliesclbe seltsame wendung vollflùhrt:sie beschreiben Moral als schulclverhältnis und legen irn selben Atemzug clar:, Mo-ral könne nicht aufschuldcn reduziert werden, sondcm müsse in etwas anderemwurzcln.'

Aber was ist dieses Andere? Die lìeligionen geben am liebsten gr:of3e, kosmologi-sche Antworten: Die Alternative ztt einer Moral aus dern Schulclverhältnis erkenntdie l(ontìnuität c'[es universums an, bejaht clas Leben trotz Ëntropie, unterwirlT sichvollkommen einer Gottheit oder zieht sich in cine andere welt z¡rnick. Meine Zieiesind vergleichsweise bescheidener, deshaib wähle ich den entgegengesetzten An-satz. Wollen wil die moralischen Grundlagen des ökonomis<:ht:n J,ebens und inErweiterung davon des menschlichen Lcbcns insgcsarnt verstehen, mûssen wìr mitden ganz kleinen Dingen beginnen: den alltaglichen Details der sozialen Existenz,der Art und Weise, wic wir unsere Freunde , L;einde und I(incler behandeln'-. oft inkleinen Gesten (das Salz reichen, un eiue Zigarette bitten), über die wir uns garkeine Gedanken machen. Die Anthropologie hat uns gezcigt, wie unglaublich ver-schieden sich die Menschheit irn Lal¡f der Geschichtc organisiert hat. Die Mcnsch-heit weist aber auch bemerlcenswert vicle Gerneinsamlceiten aul'.'- funclamentaleethische Prinzipien, die allem Anschein .nach iiberall existielcn und auf clic na¡sich in der lìegel beruft, wenn die.Menschen Dinge hin und her geben oder darliherdebattieren, was andere ihnen schulclen.

Auf der anderen Seil:c ist c'las Leben oft so kompliziert, weil clie prinzipien cin-ander widersprechen. wie ich noch zeigen wcrde, zichcn sie uns beständig in clia-metral entgegengesetzte Richtungen. Die rnoralische l,ogik des T'auschs ¡-Lnd clamitder schulden ìst nur eine Richtung; in einer k<¡nkreten situal.ion könncn ganz ur1-

Page 2: Graeber, 2012, Schulden, Kap. 5

l:tltschiccllicltc I'r'inzi¡rict.t ztttl) T'ra¡1erì lçor¡lnlùn. Ln clie:scrn sinn.i¡^1. clic rilor,alisc[rc:Vc'rwirrung, clic ich im r' I(a¡ritcl bcs¡.rlochcn habc, lçeincswcg¡l nû.1. viclnrcirr grri'-clct clas moraìischc r),rkc. r' gc.rvisscr wcise auf errc' cri"scrl spannnng.

r'm wi¡kÌich zn verstch<"n, was schulcrern sincl, mtissc' wir cresharb crst verste_hen, wie sehr sic sich von ancrcrcn gcgcnscitigen vcrpfrichtungcn unter,scrrciclc¡l,nc1 clas crfbrcrert wiecrc*r¡n, aufzr-rzcige', wie cliesc anclci.e' verpflichtungen .at_sächlich anssehcn. Das ist jecloctr mìt besondcrcn Scrrwicrighcitcn vc¡br:ncren. Dir:alctuclle soziarthcorie cinscrrricriricrr dcr: okonor.niscrrt:n Antlrropologic ist inclicscr Flinsicht e'stau'ricrr wenig rrilfieich, Lrs gibt zrn¡ar einc g,,*ntrigi antrrrop.-Iogischc l-i.cÌ:atur zum rleispier r-iLrcr cìcscrrcn[<., t .gìnr.,"r-,.r mit crcm A'f.sa.z crcsfianzösischen A.trrro¡rorogcn Marcer Mauss aus crcm .lahr rgz5, ebe'so ArbcitenÙibe¡ >schcnkökonomien<, clie rrach ganz a'cìe.en Grunclsätzen fïnkti.nie¡en alsMail<twirtschaften, aber letzte¡r Llncles konzentricren sich all clicse Arbeitcn auf clcnA'stansch vo'Gcscrrc'ken: lmmer wcnn jemand etwas scrrcnkr, carsteht. crac{urchei'e Sch'ld, uncr dcr lÌ.upf?inger: cles Gcschenks rnuss irgcnclwan' cliese Gestc cr_widern Ganz ähnricrr wie bci clcn grof3e'Rcrigìo'en hat s.ìch crie r,ogik cles .Mar-r<tssogar ìrr clas Dcukcu clercr cingesclllichcn, clie sic am e,tschicclcnstc' ableh'cr.r.

Also werde ich hier ganz von vorn beginnen uncl oine r,öllig neue lt heorie a'fìste.llenrnrissen, praktisch ganzvon Anfàug an.

Zum Tcil hängt das .probrem mit crer rrerausgerrobenen stellung der ökonomie i'clen hcutigcrr sozialwissenschaften zusamrn*. t', viercrlei Flinsicht wircl sie wieei'e I(önigsdiszipli' behancrert. Gc'a.s. wìrcr e¡wartct, class jecler, cle'in Amcrir<ai' leitcnder Funktion tätig ist, eine Ausbirc.lung in öko'omiscrrer Trrcoric hat ocrerz¡"tmindest rnit ihren Gmtrcìartssa¡¡cn vcrtr.rllr. isi. t-las hat zr.rr Foìge, class clic G^rncl-aussagen als r.iberkomme'c weisrrcitcn gerten, crie einfhcrr nicr-rt hintcrfragt wercren.(Dass rnan es r¡ìt einc'r tiberkommener'r w"irh"it zu tun rrat, merkt man, wcnn manals kompletter lgnorant behancrert wircl, sc¡baÌcl man sie i. Frage sterlt: >sie rrabe'offentrar noch nie etwâs von cìer Lal'f'cr_I(urve gehört?<; >Sie brauchcn aber unbe_clingt cine Einf'tihrung in cras wirtscrraftriche ÈinmaÌeins< ... crie .I,rreorie

erscheintals so ollensichtlich wahr, crass keiner, cler sie ve¡sterrt, wicrersprcchen kan'.) FIi'-zu komrnt noch: Dic sozialther¡ricn, clie am nachchticklichsten cren Anspruch ar-rf,wissenscl-raftlichkeit erhebcn' beispiorsweisc clic >Trrcoric crer ral.ionalcn .[Ì'tschei-

li].T;: .:i:,'.r, n von clc'glcic'urr r\u.¿'urcn ti',.clit.mcrst.hlichc I,syc'c.rus wiccÌrc uk()'olnun: cìass m,rn Mcnscrrcn ¿'r besrt'n ars Ar<tctrr.c bclr,r(.htc;, tlic ihrc ci_genen lnteressen vcrrbrgen u'c1 in.iecler situation rçarkulier.cn, wic sic r'äglichsr gutabschneiclen, wie sie cren gròr3ten Gewi'n oc.rer rnöglichst vier Vergntigc. ocrerGltick mit dcm ger:ingstcn riinsatz ocrer Auf'wand erìangen, Dicsc sicht ist schc¡n

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--l

scltsarn, zutnal cx¡rcriurt_.ntcllc psycholo¡¡r:n wicderholt. eczciat habc¡r, dass rlic ¡-\tr-nahiuc:¡r einfach nicht zutrcf,fcn..

Von fitìh an gab cs stìtÌìllctr, clier cinc't'hcoric cle¡ soz.ialcrr Intc¡alcti.u auf ei'egrol3ziigigcr:c sicht clcr rncnschlichen Natur griinclen wollte'. sìc 6eharrtc' clar*auf) Mr¡ral sci mcrrr ars wecrrserseitigcr vorteii, sei vor ailcnr vom (ìcr,echtigr<eìts_cmpfìnc1en motivicrt. Zttm schltisselbegrifl'in cliesem Zusa¡nmcnherng w'rcle >Iìeziprozität(: clas Gefiihl von Greichheit, A'sgeglicìrenhcit, Fair,ncss u.á syn,n,rtri",verkörpcrt in unserc' llilci von cter cerecritigkoit als c.iner waage . ökcir.r,ischeTransaktionerì waren einfäcrr eine variante cles rrr.i'zips trcs a'sgcgrìe tr"r,"r, ,t\ur*tar¡schs e inc variantc, crie notorisch z'm scrrcìtcrn verur.eilt war, Aber we'n wirttns dies alles genaucr anschauen, erke¡lnen wir, class allc menschlichen Bczich'r.r-.geu auf cter eincn odcr ancleren l,ontr vorr lìeziplozität bcruhen.

ln dcn r95oer-, r96.er- u'cr r97oer:-Jahre'gab es ei'en rcgcrrccrrtc. FIype um clieIìcziprozitüt sie hie13 clamals >T¿tu¡^ch-Thcoric< ,",n.i *,,,ã" in ,",.n"rr.úi.h ,ri.l.r,,varia'ten e'l.wickelt, von (ìeorge FIoma.s' >Trrcorie crcs soziaren A,stauschs< irrdcn vcr:cirrigtcn Staatcn l¡is zn clalrclc L,évi*str:auss' sl.mkturalisrnus in Fr,ankrcich.Lévi*strauss, so ctwas wie ein inteilektucilcr c:'ott cler Anthropologie, f,ormuliertedie a.f3erorcle'tliche The¡^c, man könnc clrei sphären cles *e¡rschlicrre' r,cbe'¡^luntcrsclleidc.: sprachc (crer Austauscrr vo' wortc'), Verwa'crtscrrafft (cler Aus-ta.sch vo'Fra*en) und ok.'olnic (crcr A.stausch von Di'gcn). Aile crrei sphär,cnseien vorn selben Grr.rndgesetz cler Iìeziprozität behcrrscht. ¡

Lévi-stra.ss' ster'ist; nlittlcrwcirc gcsunkcu, .ncr soÌche oxtremen Anssagcn er_schei'en ¡tickblickencr ein bisschen iâcrrerlich. Abcr bisrrc¡ rrat noc.h nicmancr cinekuhne rreue Theorie als F-irsatz clafür vorgcschlagen. stattdessen sincl clie Annahmeneinfach in den Hintergruncr gctreten. r,ast,iecre'r glaubt

'ach wie vor, class cras so-

ziale Leben im l(ern aul'cleln Prinzip aer neripro"iiät beruht uncl class 're'schlicheI'teraktione'desharb am besten ars eine Art voÌr Austausch verstancre'wercren

kön'en. wcnn es so ist, clann sind schurden tatsäcrrlich crie wur:zer jegricher Morar,weil schuldcn cntstchen, wcnn cras Grcichgewicrrt nicrrt wiccrerrr",g.rt.ilt *u.a".

I(ann man aber Gerechtigrçeit wirkricrr ar.rf Reziprozität recr'zìer.cn? Man lcan.ohnc wciteres riormen von Reziprozität anfìirrrcn, cric nicht soncrerlich gerecht er-scheincn >was du nichl. wiilst, cras ¡nan clir tu, das fiig, atrcrr keinem orld".n r.,ukli'gt nach ci.er he¡vo.ragenden Grundlage rtir cin ethisches system. llci >Ar-rgeum Augc< dcnke'clie r¡eisten von ,ns hi'gegc'weniger an {ìcrcchtigke.it, son¡re¡:nvor allem an rachstichtige Gclvalt.,r>I-Iilllst clu mir, so hclf.,ich clir< ist cinc fì:cuncl.'lichc Ankr'indigr,'rg, >eine Fla'cl wäscrrt clie ancrere< ist clagege ' cine .Metaprrer:.(ïirpolitisr;he l(orr'¡rtio'. urngekchrt gibt es cincrcutig moraÌischc Reziehungcn, crienichts [rit Iìcziprozität zu tt-tn haben; clic Bczieh¡ng zwischc' Mutter u'cl l(inci istein ofT ziticrtcs Bcispiel. f)ie nìeisten von uns

"rlerr-r"n von cle' [ilte¡:n, was Gercch-

tigkeit und Moral sind. Aber cs ist ga'z scrrwicrig, rlic Bezierr*ng zwiscrren [iltorn

bfh
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-"T?W-

uncl l(incl als ausgcsprochcn rcziprok zu lrctlachtcn. Wriirclt:n wj.r'abcr cicshaib claraus fblgcrn, class cs keinc nìoralischc lSezichung ist? Dass sie nichts mit Gt:rechtig-

kcit zu tun hat'/

Die kanac'lische Schrifistcllor'ìn Margaret Atwoocl beginnt ilrr ktirzlich ersr:h.icnc-

ncs Iluch Liber Schulden mit einem ühnlichen Paradox:

An seinem eirtunctzwanzigsten Ge[rultstag bekarn lirncst lfh<trnpson

Scton, Schrifisteller uud Naturforschcr schottischer Abstaurmung,von seinem Vater einc skurrile I{echnung präsentierL: eine Auf'stellungaÌler Ausgabcn, dic in dor l(inclheit uncl Jugcncl dcs klcinen Erncstangefhllen waren, cinschlicßlich clcs F:[onolar:s fiir dcn Arzt, cler ihnentbuncìen hat.te. Noch s.kurriler war, dass .F,rnest alles bezahlt ha-

ben soll. Ich fand immer, darss Mr. Seton senior ein Mistkerl war, aber

inzwischen lrage ich lnìch: Was wäre, wenn er -im Prinzip -- rechth ätlre ?5

Die meisten von uns würden sicb das nicht fragen. liin solches Vcrhalten crscheintLrns Llngeheuerlich,.ja unmenschlich. Sicl'rcr ernpfànd es auch Seton so: Er bezahltedie lìechnung, sprach abcr nie wicder ein Wort mil seinem Vatcr.('It-r gewisscr Wei-sc ist gcnau clas der Grund, warum wir cs so empórcncl fìnden, eine solche lì.ech-nung zu präsentieren. Kontcn abzugleichen becleutet, class beide lJeteiÌigtc danachfrci ihrer Wegc gehcn können. Mit der Vorlage dicser lìechnung verrnitteì.t der Vater,dass er von nnn an nichts mehr rnit scincm Sohn zn tnn hat.

Mit anderen Worten: Die meisten von ul'ts können sich zwar vorstellen, dass wirgegentiber: Lrnseren Eltern eine Schuld haben, aber wenige kommen auf die Idee, wir'könnten sie buchstäblich abbczahlcn --oder auch nur, dass dicsc Schuld abbczahltwcrden so/l¿e. Aber wenn sie nicht bezahlt werden kann, inwiefern ist es dannüberhaupt eine >Schuld<? Und wenn es keine Schuld ist, was ist es dann?

Wir lçönntcn uns als Alternativc Fälle anschauen, bei denen clie Erwartungen vonReziprozität ins Leere zu laullen scheinen. lJerichte von Iìeisenclen irn rg, Jahrhun-clcrt beispielsweise sind voll davon. Missionare in bestimmten"Ieilen Afrikas warenolt verbhiflt tibcr die Iìeaktionen, wenn sie Medizin verabreichten, l{ier eine typi-sche Erzählung eines britischen Missionars im I(ongo:

Ein oder zwci Tage nachdem wir Vana erreicht hatten, stießen wir aufcinen Eingeborencn, clcr sehr schwer an Lungenentztinclung er.krarlktwar. Cornbcr behandelte ihn uncl hielt ihn rnit krälitigcr Gcfltigclbr:ti-

Ìrc anr [,cbcn. [[rm r,vurclc vicl Auf'rncri<s¿rrnlccit uncl l,flcgc zutcil, clernn

scin l:[aus lag neben cleur l.,agcr. A.ls wir znm ArLf'bruch bereit waren,gillg c¡i clcrn1Vlann gLrt. Zr.r Lulsclrr.n [:irsl.auÌrcrl lçarn ci hcrbei ulrcl bat:

Llns Lull oin Gcschenk, Lrncl cÌ war cbenso verwunctert unc{ vcrärgcrtwie wir nach scincr llitte, als wir ein solches ablchntcn. Wir crwicler-ten, es sei an ihm, uns ein Gcschenk zu bringcn r"rncl D¿rnkbarkoit. zu

zcìge n. l)aranf sagtc cr: >Also wirklichl lhr: weìflen À,1äì1ne): kcnntl<e ine Schar¡r l<7

Zu Anfang des zo, .Iahrhnnderts tmg dcl fì-anzösische Pìrilosopl-r l,ucicn 1,óvy-llrr"rhl

ähnliche Cleschichten zusammen. lir wollte bcweiscn, class clie >Einge bolcnen< miteiner gärlzlìch ancle¡cn fÌorm von Logik agicrtcn. Darnnter war dic Gcschichte ei-nes Mannes, clcn man vor dem Ertrinkcn gorettet hatte und cler dann zu scinem

Iìctter ging und ihn um l(leidung bat. Odcr clic Geschichtc von clcm lìingeborenen,c{cr nach cinem lligerangrif'l gesund gepflegt wurdc nnd clann ein Messer verlang-te. Ein lranzösischer Missitlnar in Zent¡:alaf¡ìka bctcucrl-c, solchc Dingc crÌebc erregelmä13ig:

Man rettct jcrnanclcru das Leben, r-urcl clann muss rnan bald cinen Uc,

slrclÌ von ihrn gewártigen. Dcr lìetter hat eine Verpflichtuug dem Gc-

retteten gegeniibcr und wircl ihn nicht mchr los, wenn er ihrn lçeine

GescÌrenke rnacht.s

Nun, ein Leben zu retten wir¿l fhst imrner als etwas lJesoncler:es ernpfunder.r. Alles,was mit Geburt uucì'fod zus¿rrnmenhängt, hat unweiger:lich teil am Unendlichen undwirft. cJalum dio alltäglichcn rnoralìschr:n Maßstäbe iiber den FLaufen, Viellcicht sinddeshalb derartige Geschichten in rneine.r Jugencl in Amerika zu einem l(lischee ge-

wordcn. Ich crinncre mich, dass man mir, als ich noch ein l(ind war, mehrllach er-zählte, bei den Inuit (oder manchmal. waren es Budclhìstcn ocler Chinesen, aber selt-samerwcisc nie Afiikaner) gelto, dâss jemand, der einem anderen das Leben gercttetl-rabc, für immer fúr den Geretteten verantwortlich sei. Das widcrs¡rricht Llnsereln

Gefühl von lìeziprozìtät, aber ar,rf eine unheimliche Weisc crgibt es auch Sinn.Wir l<önnen natiirLich nicht wissen, was in-r l(opf clcr lJatientcr-r ìr-r dlescn Gc-

schichten tatsächlich vorgìng, wcil wir nicht wlssen, wer sic waren uncl welcheFirwartungen sìe hattcn (zr,rm l3e ispicl wie sic sich normalcrwcisc gcgeni.iber: ihr:en

Arzten verhielten). Abcr raten wì¡ einmal, versuchen wir ein Geclankencxperiment.Nehmen wir an, wir hätten es mit cinen Ort zrl tun, an dern llctter u¡rcl GeLettcter:

automatisch wie llrùder werdcn. Man crwartct, class sie künlTig allcs tcilcn undclas¡^ cler eine fÌir dcn anderen sorgt, wenn er in Not gerät, Dann wircl cter Patientgewiss sofbr:t bemerken, dass sein nelrcr lJrudcr au{3crorclcntlich rcich zu scin

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_--.M-

schc.iùt und nicht viel braucht,ln¡lihrcncl abcr cr, clcr P¿rtic¡rt, r¡iclc l)ingc nicht bc-

sit.zt, clic der Missicxtar ihrl r¡cben kö¡ntc.lii¡rc anclcrr: Möglichl<cit. (r.rncl r'vahrschcinlichcr) ist firlgcncles Szcnalio: Slcllcn

wir uns vot:, cs handelte sich nicht nm eine raclilcaI gleìchlangige Beziehlrng, so¡-dern ltrn gcnau das Gegerrteil. In vielen'Icilcn Afiikas waren vcrsicrtc l-Iciler auchwichtige politischc Personcn mit cincl großen l(licntel chcmaligcr Patienteu, IlrcliescLn fiall belcuilclet ein kr-infliger Arthänger urit seinem Är-rlla¡-rchen seinc politi-sche GcfblgschafT, I(ornplizicrt wircl dic Sachc dadurch, dass Anhängcr bedeutcnderMätrtrer sich in diesem'Icil Afiikas iu e.incr zier¡lich starkcn Verhancllungspositìonbefändcn. Gul.e Flancllanger waretl schwer zu bekommen. Von wichl"igcn L,cuten cr-wartete rnan grofizi-igiges Verhaltcn ¡;egenüber: Anhäugern, darnìt dic sich nichtcinem lìivalen anschlossen. So gesehen wäre die Bittc um ein I'Iernd oder ein Messerdie llitte um eine Bcstätigung, dass dcr Missionar den Bittender-r als Anhängcr ha-ben möchte. Dagegen wäre eine Bezahlung wie bei Setons Gestc gegentibcr scincmVater eine Belcidigung: Sie wZire gleichbcdcutencl mit clcr Ar.rssage, der Missionarhabe ihm zwar cl¿rs Leben gercttct, abcr in Zukunft wcllle der Cìcrcttete nichts rnehrmit ihm zu 1;un haben.

Das ist ein Gedankenexperiment -- weil wir einfach nicht wissen können, was iml(opf der af'rikanischen Ilatienten vorging. Der entscheidende Punkt ist, dass solcheVerhältnisse radikaler Gleichheit uncl radikaler Ungleichheit in cler Welt tatsächlichbestehen und ihre .jewcils eigene Moral besitzen: Vorstellungen, was in einer bc-stimmten Situation Recht und Unrccht becleutet und wie dernentsprcchend zu han-deln ist. Uncl dicsc moralischen Vorstellungen sind vollkomnen anders als der Aus-tausch nach dem Motto >wie du mir, so ich dir<. Im Folgenden skizziere ich diewichtigsten Mòglichkeiten, wie solche Moralvorstellungen aussehen können, undlege dar, dass es hauptsáchlich clrei moralische Prinzipien gibt, auf ökonomischeI3eziehungen gegrùnclet seiu können, Alle drei komrnen in allen menschlichen Ge*

seÌlschafTen vor; ich nenne sie l(ommunismus, Hierarchie und Austausch.

Hrl¡114Ulll5l,lU5

Ich defìnicre I(ommunismus hier als,jede menschliche lÌeziehung, die nach de rn prin-zip funktioniert ))icder nach seinen Fähigkciten, jedern nach scincn Bedürfnissen<.

Ich gebe zu, dass meine Defirrition dieses llegriff's ein bisschen provokant ist. Das

Wort >I(ommunismus< kann sehr starke emotionale Iìcaktioncn anslösen , vor allcmnattirlich, weil wir dazu neigen, es mit den >kommunistisciren< Regimen gleichzu-sctzen. I)as ist eine Ironie, denn die kommunistische¡l Partcicn, dic in cler Sowjet-

runiclri'Ltncl ìhr:c¡r Satcllitcn rcgìertcn uncl in China r-rniì I(uba inurel noch rcgiclcn,haben dlc Systernc .in il'rren l,änclern nie als >kommunistisch( lrezeich¡rct. Sìc splac.hen vielrnelit vo¡r >sozialisl.ischen< Verhàiltnissen. >>I(ornmun.ismlrs< wat irnrncl t;itr

ferner, etwas verschwotnmener .ldealzustand, iiblicl'rerweisc verbuncler¡ mit clenl

Absterben des Staates - errcicht werden sollte er weit ìn der Zuknni't,

Die Art, wie wir über den Kommunismus denkeu, wird von cinorn .Mythos be-

herrscht: [ìs war einmal einc Zeit, da gehörte clcn Mcnschcn alLcs gemeìnsarn: iur

Paiadies, i¡n Golcìenen ZetlalLer, als Saturn die Welt regierte, bei urzeitlichen FIor-

den von Jägern uncl Sammlern. Danu kam cler Sündenfall, und scithcr sind wir uritArbeitsteih-rng uncl Privateigenturn geschlagen. Del Traum verhielS, dass wir: eincs

thges clank technischem Forl.schritt. rlnd allgemeìncm Wohlstand, durch cinc gcsell,schaf'tliche Revolution ocler clurch clie litihrung cler Partei in cler Lage wären, in denursprünglichen Zustand zu¡tickzukehrcn, den gcmeinschalïlichen lìcsitz und clic

gemeinsarne Verwaltung der kollektivcn l{essourcen wieclerherz¡"rstcllen. hr den

letzten beiden.Iahrhunclerten stritten I(ommunisten und Antikomrnunisten cla¡:tiber,

wie plausibel dieses Bild wal nnd ob dic Verwirklichturg ein Scgcn oclcr eìn Alp-traum wäre. Aber hinsichtlich der Grundlagen sind sich alle einig: Komrnun.ismus

bedeutete Gemcinschaftseigentum, >ur:sprünglicher Kommunismus< hatte in derfernen Ver:gangenheit bestandcn und konnte eines'I'agcs wiederkehren,

Wir könnten dies >mythischen l(ornmunisrnus( nennen - oder sogar >cpischenI(ommunismus( -', es ist eine Geschichte, die wir uns sclbst gern erzåihlen. Seit denTagen der Französischen Iì.evolution hat sie Millionen Menschen inspiriert, aber sie

hat der Menschheit auch gewaltigen Schadcn zugefr"igt, Nach mcincm Dafïirhal-ten ist es höchste Zeit, dass wir diese ganzc DisÌ<r,rssion beiseite lassen. >>I(ornmu-

nismus<< ist kein magisches lJtopia und hat auch nichts mit dem llesitz der Procluk-tionsmittel zlr tun. Kommunismus gibt es hier und heute lris zn einern gewisscnGrad in.jeder: menschlichen Gcsellschaft, obwohl es nie eine Gesellschaft gab, in cler

alles auf diese Wcise organisiert war. Und es ist auch schwicrig, sich vorzustellen,dass eine solche GesellschafT überleben könnte. Wir alle handcln sehr olT wie Kom-

rnunisten, atrer niemand handelt konsequent imrner als l(omrnunist. J)ie >>komrnu-

nistische Gesellschafl< - im Sinne einer Gesellschaft, die ausschlief3ìich nach diesem

einen Prinzip organisiert ist - wird nie existicren. Abel allc gescÌlschaftlichcn Sy-steme und sogar Wirtschaftssysteme wie de r I(apitalisrnus wrllden immer aul einem

Fundament von real existierenclem I(ommunismus errichtet.Wenn wir hei clem oben genannten Prinzip >>jeder nach seinen fiähigkeiten, jecìern

nach seinen Bedürfllissen< beginnen, können wir auch die Frage des incìividnellenoder plivaten Eigenturns genaucr betrachtcn (clas ofi sowicso nicht viel rnelu als

eine rechtlichc Formalität ist). Wir können zu den drängenderen rrnd eher pral(ti*schen Fragen vorstof3en, wer urlter welchen Bedingungcn T,ugang zu wclchen Din-gen hat.e Unc[ wcnn dies das I'unktionsprinzip ist, können wir sagen, ctass eine

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--.".....rylF-

liìorru vt.ln l(clmLnunismus bcstt.:ltt, sclbsï vi'crtlt t.ttt¡ zwci M.c¡tsclt<,:tr ¡r'tiIcìitanclci zlr

tun habcn.

hiast allc, che bei cincrn bclicbigcrr Projcht zusantrten¿ìrb(:iicn, firlgcn cticsem.Prin-

zip. "' We nn .jcmancl be im lìeparie re n eines lcapr"rtl.e n Wassclrohrs sagt: )Gi b mìr clen

Schraubenschlüssel<, wircl sein l(ollege in der ltegel nicht a¡ltwortcn: >Und was

bekonme ich claf'tir?< r-richt cinrnal, wenn dic beiclen fiir lixxon-Mobil, lìurgcr'

I(:ing oclcr Goldman Sachs arbeitcn. Dcr G¡¡"LlLc[ ist schlicht clie liftìzienz (und das istr:eichlich ircnisch, wenn Ìn¿rn beclenkt, class nach a.llgemeincr Auf fàssung >I(ornmlr-

nismus cinfach nicht funktioniert<): Wenn Sic wollcn, dass etwas wi¡klich erlecligt

wird, besteht clie cfIìzienteste Methocle clarìn, die Aulþabcn nach Ì:rähi¡¡kcitcn zrl

Itertcilen nnd clcn Mcnschcn zr-r gebcn, was sic brauchcn, um dicse Aufgabcn zu

bewältigcn." .Man konnte es sogar als einen Skandal cles l(apil.alismus bezeichnen,dass dic meisten ka¡ritalist.ischen Unternehmen irltern kommnnistisch opcricrcn,Zugegeben, sie operieren nicht sehr: demokratisch; mcistens sincl sie mit hierarchi*scherr l(ommanclokettcn irn militärischen Sl.il organisiert. Aber oflt bestelìt cla ciucintcrcssantc Spannung, wcil hicrarchischc I(ommanclokcttcn uicht sonclcrlich e fTì-

zient sind: Sie lördern Dumrnhcìt bei cleu Leuten an cler Spitze und gereiztenSchlendr:ian bcirn Fuf3volk unten in cler Flierarchie. Je dr:inglicher cs ist, zu impro-visicren, clcsto clcmokratischer wird die I(oopcration in der l{cgel. Erfincler haben

das immer gewusst, Start-up-Unternelìmcr steÌlen das häufìg l'cst, und Computer-Ingenieurc haben das I'rinz\r ktirzlich wicclcrentdcckt: nicht nur rnit solchen Sa-

chen wie Freeware, r"iber die alle sprechen, sondern auch in der Organisation ihlerllnternehmen. Applc ist ein bertihmtcs lìeispicl: [ìs wurde von (tiber:wiegend repu-blikanischen) Computer-Ingenleuren gegrtindet, die in der-r achtzigcr Jahrcn IIIMvcrlief3en r"rnd sich in kleiner-r, dernokratischcn Zirkcìn von 2o bis 4cl Pcrsonen zu-sarnmcnschlossen, Llm rnit ihren Laptops in Garagen zu ttiÍteln.

Genauso verhalten sich die Menschen rnutrnaßlich nach gr:ofien I(atastrophen ..

einer lilut, cinem Stromansfall oder einern wirtschaftlichen Zusamrnenbruch: Sic

wenden sich einenl improvisicr:ten I(ommunismus zu. Vortibergehend wcrdcn Flicr-archien, Märkte und dergleichen zu l,uxnsgüt.ern, die sich niemand leisten kann.Wer so etwas einmal erlebt hat, betont clen ganz besonderen Charakter dieser Situa-tion: wie Fremdc zu Brüdcm und Schwcstcrn werdcn und die Gescllschaft wicneugeboren erscheint. Das ist wichtig, denn es zeigt, cìass wi¡ nicht cinfhch nurtibcr l(ooper:ation sprcchen. Viclmehr gilt IØmnuuùsntus ist das |ìundantent des

nensch.lichen ZtLsantmenleber?s. Er macht eine Gesellschaft tiberhaupt erst rnögliclì,Es herrscht die Annahmc, vonjeclem, cler nicht ausdrticklich Feind ist, krjnne manetwas crwarten nach dem (ìmndsatz >>jedcr nach seincn liähig[<citcn<, wenigstensbiù^ zu einem gewissen Grad: zum Beispiel wenn Ílan herausfìnclen will, wie tnan zueinem bestirnmtcn Ziel gclangt, r"rnd der andere den Weg wciß.

Da wir clìes als selbstverständlich voraussetzen, sincl Ànsnahmen anf .schlussreich.

l)cl cnglis<rhc Anlhr:opolergc l.ich,varcl Ì.ivan l.ìvans-I)¡'itch¿rcl, c.lcl in clcn tg2orÈJah-rcn lìorschungcn bci clcn Nucr betricb, cincm l{irtcnvolh arn Nil ìm Siicisuctan, bc-richtúl von scìncln Unbchagert, als er Lrcrttclkl.c, class.jcmancl ihn absii:htiich i¡r clic

f'alschc Iììchtung geschickt hat1.c:

Einrnal fì'agtc ich nach dcm Weg zu eincrn bcstirnmten Or1. uncl wurclcabsichtlich gctäuscht. Bctrribt hehrtc icl-r ins I-,ager zurlick uncl fì'agte,

war:Lun rnan mir clen fàlschen Weg genannt hattc. Jemancl antwoì"l-c,

tc mir: >Du bist cin Ausländer, warlrtrr solltcn wir dir clen lichl.igcnWeg sagen? Selbst wenn ein Nucr, cler cin lìremclcr w2irc, uns nach

dcm Wcg Ír:agtc, wrir:dcrl wir zu ihm sagen: >Dn gchst cinf'¿rch gcraclc-

ans weiter<, aber wir würclen ihrn niclrt sagen, class cler Weg sich teilt.Warum solltcn wir es ihm sagen? Aber du bist jctzt cin Mitglicd un-scrcs Lagcrs und bist nett zu Llrlseren l(indcrn, deshalb werdcn wirdir in Zrlkun[T den richtigen Weg sagen,<"

Die Nuer sind dauerncl in irgendwelche Fehden verwickelt. Ein Frelnder lçann sichje<ler:zeit als I'rcind cntpuppeni cler cincn gr.instigen Platz .fiir cincn Flintcrhalt aus-

kundschaflet, r"rncl dâ wàre es r"rnk1ug, eine ntitzliche Inlonnation zu gcben. Auf3er

clem spielte Evans-Pritchards cigcnc Sittr.rtion oflcirsichtlich cinc lìolle, clcnn cL war

lìepräsentant der britischen Iìegicrung, die lcurz zuvor clie L,LrlIwafï'e geschickt uncl

dìe Bewohner der Siedlung hatte bombardicren lassen; anschlicf3cr-rcl wurclen sic

umgesieclelt. Untcr diesen lJmstänclcn crschelnt cler Urngang cler Nucr rnit livans-Pritchard ziemì.ich gro{3ztigig. Aber der entscheidencle Punkt ist, dass etw¿rs vondiesem Ausmaß passieren mlrss einc unmittelbare Iìe drohung von Lcib uncl Lcbcn,

T'error:bombardement cler Zivilbevölkemng -, bis Menschen irn Ilegelfhll in E¡wä-

gung zichen, einen Fremden nicht in die lichtige Richtung zu schickcn.'rlìs geht nicht nur um Weltregionen. I(onversation ist ein Gebiet, das besonders

zurn l(ommunismus lleigt. I-,tigcn, Iìeleidigungen, Flerabsctzungen uncl anclerc For*

men ver:baler Gewah. sind wichtig --aber wirksanl sind sie rneist nur, weil clie Men-schen sich norlnalerweise nicht so verhalten: Eine l3eleidigung triflt mich mrr, wennich clavon ar"rsgchc, dass dic andercn nornralerwcise lìriclcsicht a¡"rf'rne ine Gelltihle

nelìnen, uncl es ist unnöglich, eirìen anderen zu belügen, der nicht glaubt, dass

ich normalerwcisc die Wahrhcit sage. Wcnn wir clìc freundschalllichen fìeziehun-

gen zu einem anderen Menscheu wirklich abbrechcn wollen, hören wi¡ ganz ar.rf,

mit ihm zn sprechen.

Dasseltre gilt fiir kleine fr:enndliche Gesten wic um l¡cuer Lritten ocler um cincZigarette. Es ist leichter, eincn Frenrden Llrn eine Zi.garelte zu bil.ten als um clie ent-sprechende Summe Geld oder sogar: Nahrlulg. Tla1,sächlich ist os sehr schwierig, clie

llitte um eir-re Zigarette abzulehnen, wenn lnan selbst erst einrnal als }(aucher cr-

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kannt r,r,nrclc. Ilei solchcn l<lcincn Gcstcn - clcr Ilittc um cin Str:cichholz, um cirrc

Inlblmation, clen Ar"rfZug aulzuhaltc¡r kr)nnlcn wir sagen, dcr ¿\ntcil von >>jcdem<

(nach sr:incn ttähigkcitcn) sci so ¡ninit¡l¿rl, ctass clic rnciston votl uns clcr llìttc ent-splcchcn wcrden, ohne iibed'ratrpt nachzuclenkcn. Urngckehrt gìlt clas Gleiche auch,

wcnn clie Re cltirlìrìssc eincs anclercn-- sogar cincs Frcmclen-- besonders spektakr"rlär

oder dr:amatisch sincl: zurn lleispiel wenn cr zu ertrinken droht. wenn ein l(ind aul'clie Schie ncn der U-Bahn gclallen ist, crwaften wir, class jeclcr hcÌf'en wird, dcr clazlr

in dcr Lago ist.Ich ncnne das >clcrnentaren I(ommunismus<: die Annahmc, class Mensche¡r, so*

f'er:n sie sich nicht als lrcincle bctrachten, nach clem prinzip handeln >.jecler nacÌrseinen Fähigkeiten, .jcdern nach seincn lledtir:fhissen<, wenn clie Not gro13 gcuuge¡scheint oder cle¡ Pt'eis vernùnftig. Natr"irlich haben unterschicdliche Gerneinschaf-tcn ttnterschicdlichc Standa¡:cls. In grof3cn, r"rnpersönlichen stäcltischen Gemcinsch¿rlrten geht der Standard womöglich nicht weiter, als um fieucr zu bittcn oder nachclern weg zr"r fì'agen. Das crschcint als nicht viel, aber: es legt den Gr.undsl.cin fïir.ttmfàsscudcre gcsellschaf'Tliche ]ìeziehungen. In klcineren, weniger LlnperrìönlichcnGemeinschallen - besonclers solchen ohne sozialc l(lasscnunterschiede wird diescLogik noch viel trreitcr angewcnclet: Zum lleispiel ist es of't praktisch unmöglich,die }littc nicht nur r-rm'rabak, sondern anch nm Nahrung abztrÌehnen - manchmalselbst die Ilittc cines lÌrernden, ganz sicher dic llittc eines je den, dcr als Mitglieclder Gcrneinschalt gilt. Genau eine seite wciter: in seinem Bericht, nachdern livans-Pritchard seine Probleme bei dcr Frage nach dcm weg geschildert hat, rnerkt er an,dass dicselben Nuer es für nahezu undenkbar halten, .jemandem, clen sie als Mit-glied ihres Lagers akzeptiert haben, cine Bitte nach eincm l(onsumgegenstancl ab-zuschlagen. Eiue Person, von der bekannt ist, dass sie einen gewìssen Vorrat anGetreicle, Tabak, werkzeug oder lanclwirtschaf'tlichcn Gcräl.schallten hat, wird er-lebcn, class der vorrat im Handumdrehen schwindet."rDoch cliese elernentare Frei-gebigkeit und Grof3zùgigkeit erstreckt sich niemals auf alles. Oft gelten die Dingc,die man bercitwillig teilt, cben deshaib als banal und unwichtig. Bei clen Nuerbesteht wahrer lìeichturn darin, Vieh zu besitzen, und niemand würde.jc Vich cin-Iàch so teilen. Junge Nucr-Männer lernen, dass von ihnen erwartet wird, ihr Viehmit ihrem Leben zn vcrteidigen; Vieh wircl auch uie gekauft oder verkauft.

Die Verpllichtung, Nahrungsmittel und sonstigen Gmndbedarf zu tcilcn, ist in.jecler Gescllschaft, dcren Ange hörige sich als Gleichc empfinclen, clie Grundlage derAlltagsrnoral. I)ie Anthropologin Audrey Llichards berichtet, dass llemba-Mütt.er,>die ansonstcn viel durchgehen lassen<, ihre I(indel sehr schelten, wenn eines, clas

einc orangc odcr eine andcre Leckerei bekommcn hat, sie nicht sollc¡:t mit seincnFreunden teilt.'5 Teilcn ist in solchen Gesellschaften -cigcntlich in allen Gesell-schafien, wenn wir recht dartibor nachdenken -- eìne wichtige euelle lïr clie Freu-clcn cles Lebcns. Deshalb ist'I'cilen in clcn bestcn und in den schlimmst;en Zeiten

bcsc¡nclcrs r¡richlig: w¿ihrc¡rcl cini:r Flungersnot, abcr ¿ruch in f)hascn aLr13crscwöhtr-

lichc¡r (ibcrllttsses. Iìeiichtc fiiihcr Missionare Libe¡ ¡lolclamclikanischc [Irr: inwoh-lLcl t:nt.lt¡rlt.cl {ast. irnrrrcr lìcnrclkungcn, lvic ticf sic von clcr Grol3ztigighcìi. in Zr:itcuder Not Lrecinclmckt waron, of.t gcge niiber vollÌ<ommcn lìremclcn.'{' So heit3t es ctwa:

Rei der lìi.iclçkehr vorn Fìschfäng, von der:,Iagd, vorn l{andel tanschonsie viclc Gcschcnlce aLls; wenn sie ctabei etwas ungewöhnlÌch (ìLrtcs

erhaltcn haben, selbst wcnn sie es gckar.rft habc¡r ocier wcnn cs ihnengescherrkt wurde: Sie machcn ein .Fest fìir das ganze Do¡f'clarar-rs. lhreGastlreunclschafl gegen alle Artcn von lireinclen ist bcrncrkenswert.'?

Je gröf3er das Iìest, desto wahrscheinlicher ist, class cs cine l(onlbination von liciemTeilen (zum Iìeispicl von Essen und (Ìetränken) und sorgfältlger Zuteilung von an-clerern gibt: lJesonders wertvolles lrlcisch etwa, sei es von Jagdwlld ocler von Opf'er-

tieren, wird nach sehr ausge fèilten Regeln, wer w¿ìs zu bckommen hat, ver:teilt. DerAustausch von Gcsc.Lrcnken nimmt ofl spiclorischcn Charaktcr an, häufig als trori-setzung der tatsächlichen Spiele, Wetttrewerbe, Vorfìihrungen und Darbictungen,clic zu volÌ<stürnlichen Festen gehören. Wie in dcr Gesellschaft insgesarrit kann mandie geteilte Geselligkeit als einc Art korrrmunistische Basis verstehen, auf'cler alles

anderc errichtct wird. Es ìst a¡"rch wichtig zu bctoncn, dass cs bciln Tcilen ¡richtnllr un'ì Moral geht, sondern urn Vergnügen. Einsamc Vcrgnügurrgcn wil cl es immergeben, aber für die meisten Mcnschen sind clie bcsondcrs vergnriglichen Aktivitä-tcn imrner damit verbunclen, cìass irgendctwas gcteilt wircl: Mr-rsik, -trssen, Alkohol,Drogen, I(latsch, Dramen, Betten. Die Wurzel der"meisten Dinge, an dcnen wir Spaf3

haben, ist ein gewisser I(ommnnismus der Sinnc.Als sicherer Llinwcis attf kommunistische Verhältnisse wird nicht nur nichl. Buch

gcführt, sondern alle Beteiligten würclen es als vcrletzenc{ oder zumindest sehrseltsan ernplinden, so etwas auch nur in l-ìrwägung zu ziehen. So war: beispieiswci*scjcde Staclt, jeder Clan oder.jedes Volk im Bund dcr Flodenosaunec oder Irokesenin zwei Hälften geteilt.'8 l)as ist cin häufìges MLrster: In ancieren T'eilen der Welt(Amazonien, Melanesien) gibt es ebenfälls Übereinktinllc, dass Mitglieder der e incnSeil;c nr"rr.jemancien von der andcren Seitc hciraten odcr nur Nahrungsmittel esscn

diirlen, dìc auf'der ancleren Seite gewachsen sìncl. Solchc lìegeln sind explizit c{ar-

auf ausgerichtet, dass bcidc Scitcn bei dcn gr:nndlegcncler-r .tJe dürfirisser-r des l"cbens

voncinanclcr abhàingig L¡leiben. Irn Sechs-Nationen-Ì:luncl cler lrokesen hatte jecle

Seitc die Toten der anclcren Scitc zu bestattcn. Nichts wärc atrsurdcr als eine.tSe-

schwerclc: >l-ctztes Jahr haben wir fi.inl'.t'ote von euch bestattct, aber ihr habt nurzwei von uns bestattet.<

I)iesen elemcntarcn l(ornrmrnisrnns können wll als lìo.hstofL des Zusamrnenlcbens

bet¡:achten, als AnerÌ<ennung der'I'atsachc, dass wir letztlich voncinancle¡ abhäncis

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sintl, was clen l(c¡n clcs sozialc,:rt lrìfiedcns airsmachl.. Alrcr in clcn urcisl.cn Ïiällctrre icht clicsc nrinìmalc Grundlagc nicht aus. Wil hancÌcln imrner irn Gcistc grof3ercrSolicla¡itlil. gcgcrrLibcr rnauchct.t l..,cute rt als gegcnliber a¡rclcre n,

Ilestimmtc Institutioncn sincl ausclriicklich aul dic l?rinzipien von Solidaritätr.rnd gegcnscitiger llilfc gegrtindet. An erster Stelle sind hier clic Mcnschen zu ncl-nen, clie wir lieben; Mtitter gelten als cler InbegriÍf der sclbstloscÌ1 Liebe . Da¡achkom¡nctr nahe Vcrwandtc, Iihcmänncr uncl l.iìrcfi:aucn, Geliebte, clic tresten Fr.eun-de . Mit dicsen Menschcn teilen wir alles, ocler zumindest wìssen wir, dass wir unsin einer Notlage an sie wenclcn kônnen; über:all gehört das zur Defrnition cinesguten frreundes. Solchc Freuirdscha{Tcn könncn dur:ch cin >Ììreundschafì.sband<oder als >Illutsb¡tidcrschallt< rituel.l bcsiegelt werden; solche lircnnde kônne¡ cin-ander nichts abschìagen. wir könntcn also sagen, jede Gesellschafï sei von >initi-viduell kommunistischr¡n< Iìeziehungen durchzogen, lìeziehungen von Mensch zuMcnsch, die unterschiedlich ausgcprägt und unterschicdlich intensiv nach dernMotto >>jeder nach seinen lrähigkeiten, .jedem nacìr seìnen l]cclürfiris¡^en< fi.rnktio-.nielcn. ")

Dicsclbe Logik kann man auf Gruppen ausweitcn und das wird auch so angewen-det: Nicht nr"rr Arbeitsgruppen, sondern alle nicht zufÌilligcn Grr-rppen werclen sichdadurch del'inicren, dass sie ihrc cigenc Art von elcrnentarem l(ommunismus prak-tizicren. Fs wird immer besti¡nmte Dinge gcben, die innerhalb dcr: Gruppe gctciltwerden ocler frei verÍìgbar sind, anclerc Dinge, dicjernand auf'Ersuchen cìen an-dcren Mitgliedern zur vcrfi.igung stellt und clie man nic rnit pclsoncn aut3crhalbder Gruppe teilen würcle : Flilf'e bcirn Flicken der Nctze in einer Vercinigung vonÌ:iischern, Nachschu[r an lliiromaterial in eincr Iìr.ir:ogemeinschafT, bestirnmte Inf'or-rnationen bei warenhündlern und so weiter. und dann gibt es I(ategorien von Men-schen, an clie wir uns in bestimmten Situationen wenden konnen, etwa bei derËmte oder beim Umzug,'" Von hier könnten wir zu verschiedenen liormcn cles

Teilens und Zusammenlcgens ùbergehen, wer wen bei welchen Aunþaben zu Flilferuft: beim umziehcn, bei der Ernte, oder, wenn man in Schwierigkeitcn stcckt, anwen rnan sich mit der Bill;e um einen zinslosen I(redit wendet. ScÌrlief3lich gibt es

untcrschiedliche liormen von >Alllnende<, dcr kollektiven verwaltung gemeinsamerRessourcen.

Die soziologie dicses clernentaren I(ommunismus ist ein riesiges Feld. Aber wegenunscrer speziellen ic'leologischen scheuklappcn ist es uns noch nicht gelungcn, dar:-

übcr zu schreibcn, weil wir praktisch nicht in der Lage sincl, clieses rìelcl zu erken-ncn. Ich will Ìrler gar nicht versnchen, das weiter auszuführen, sondern beschrän-ke mich abschliefSend ar-rf drei I,uukte.

f'irstens haben wir es hier nicht mit Reziprozitât zu tun - oder aÌlcnfalls mit Rczi-prozität in einem sehr weiten sinn." Gleich auf beiden seitcn ist das wissen, classclic arrclcre Person dasscll¡c für mich tun utit'de, abcr nìcht, ctass sie es auf .jccien F'all

Ltttt tuircl. l)as Ïleis¡ricl clcr Jrokescn zeigt clcutlictr clic Glunclvoraussctzung: Solchc¡r

Iìeziehungen liegl. dic Annahme zugruucle, cwig zr"r claucrn. Dic Cìcsollschaf't rn¿ircl

inrrnc¡: cxisticlen, und immer wircl cs cinc ntjlclliche und ei.nc.sticlliche Seilc clcs

Dorf's geben. Deshalb mttss nicht Buch ¡¡efìihr:t wcrden. ln ühnlicher Weise ncigcndie Mcnschen dazu, ihre Mütter und ihre bcsten lireunde so zn behanclcln, als wiipden sie ewig ìeben, obwohl sie genau wìssen, class es nicht so ist,

I)er zweitc Punkt h2ingt mlt dem berlthmten >Gesetz der Gastfì:eunclschaft< zu-sanmen. Es tresteht eine bcsonclcre Spannung zwischen eìnem verbreitetel Sterco-

typ riber sogenannte >prirnitive GescllschafTen< (Völker: ohne Staaten uncl Märktc),dass in solchen Gesellschaften jeder, der nicht Mitgliecl cler Gerneinscha[t ist, als

Feincl betrachtet wird, und clen vielen ll¡zähl¡,rngen frtiher curop2iischcr Reise nder:,

die tief becindruckt von der auf3er<;rdcntlichen Castllrcundschaft der >Wildcn<<

berichten. An belden lìeobachtungen ist etwas Wahres. Ist der Ii¡crndc rnöglicher:-

weise ein gefährlicher lreind, bestcht der normale Weg, clio Gel.ahr zu tiberwincler.r,

in einer spektakulären Geste der Grof3ziigigkeil:. Sie hinterlüsst clen Liindruci<, dass

beicle in Geselligkeit niteinander verbnnden sincl, uncl clas ist clie Cirunctlage allerfriedvollen sozialen Bezìehnngen. Zr.rgegeben, wenn man sein Gegenùber gar: nichteinschàitzen kann, gibt es ol't eine Phase des Testens. Christoph Columbus wie I(a-pitän Cook berichtetcn von der Insel Hispaniola und von Polynesien riLrereinstirn,mend übe¡ Inselbewohner, clie cntweder flohen, angrifl'cn odcr etw¿rs anbotcn -und danach oft in die lloote kletterten und sich mit allem beclienten, was ihnengefiel. Die Crew drohte Gewalt an und tat dann cloch ihr Möglichstes nach dern

Grundsatz, Beziehungen zwischen {icmden V<jlkern solì1.en nicht aul'Gewalt, son

dern auf >>normalem< I-Ianclelsaustausch beruhen.Der Umgang mit potentiell feindseligen F¡cmclcn provoziert eine T-,ogik des

>Alles ocler Nichts<, eine Spannung, die in den englischen Wörtern >>host<, >hos-

tile<, >hostage<< uncl sogar >hospitality< (>>Gastgeber<, >feindlich<, >Geisel<, >Gast-

freundschaft<) noch cnthalten ist, die alle auf dieselbe lateinische Wurzel znrück-gehen." Mit diesen Beispielen mochte ich unterstreichen, class alle diese Gestcrr

nichts weiter sind als ùbcrtriebene Demonslrationen des >elementaren I(ornmunis-rnus<, der, wie gesagt, die Ilasis jegÌichen soziale n .Le bcns ist. Deshalb wird auchder Unterschied zwischen Freund und Feind so oll durch Essen ausgedrtickt- uncl

häufig sind es die einfachstcn, gàngigsten Alltagsnahrungsmrttel. Nach eìnem inEuropa uncl im Vorcleren Orient bekannten Grunclsatz werclen Menschen, c'lìc l}otuncl Salz geteìIt haben, einander nie Schaden zufìigcn, Anclererseil.s wcrclcn gcnarr

die Dinge, die in erster Linie dazu da sind, urn mit aÌlen geteilt zu wercten, ¡leractenichtmiT. Feinden gcteìlt, Bcì den Nuer', die so lreigcbig mit Esscn r.rncl alltäglichcnBesitzti.imern sind, folgt cine lllutf'chde, wenn ein Mann cinen ancleren umbringt.Jedcr Mann in der Nacl-rbarschaft muss sich auf'die eine oder andere Seite stelìen,

und dcrr Angchririgen gcgnerischer Sciten ist es strikt vcrboten, miteinancter zr.r

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cÌsscrn oclcr âuclì ntlr atts clcmsclboÌ1 Iìcchol'oclcl cincr Schalc zLL t.r'inkclr, clic ç:incr'clcl ncuen lre inde kiirzlich bcnut.zl. hat .--son¡^l. wircl Schr,ccklir:hcs gcschchcn.,,r I)icsisl aulScrolcletttlich unlrccilrcm, rLncl claraus cnl.si.cht cin stalhcr ALrt.ricb, cini: [ììni-gung ausztthandcln, Glcichzeitig heif3t es oft, class Mcnschcn, clie ìhr: lisscn gcteilthabcn ocler zulninclest clic richl.igcn, archctypischen Nahruugsmittcl, einandernìchl. schac'len clürl'en, s<¡ sehr sie auch geneigt sein r.nögen, c[as zn tun. Gctegontlichzieht clics einc beinahc komischc F<¡r'r¡alitlit nach sich. Einc arabische LÌinl¡rcchci,gcschichte illustr.icrt das: Währcnd ein Liinbrcchcr ein Llaus clurchwrihlt, stcckt erden Filrger in einen itopf, um zrL probìeren, ob el Zucker cnthäLt, Aber es ist Salz,uncl clcl tÌinbrccher eLkennt, dass cr Salz anl'L'isch dcs Manncs gegessen .hat, clcrrdas Hatts gchör:t. Also stcllt cr pflichtschulclig alles, was er entwenclct Ìral., an sciuclrPlatz zurück.

f,assen wir dcn l(ommunismrts als ein moralischcs Systcm auf uncl wenigcr als c.inclìrage der Eigentumsverteilung, wircl schliel3lich noch klar, dass diesc Art der Morral bis zu einem ¡rcwisscn Gracl bei jeder: Transaktion im Spiel ist ar.rch bei Ge-schät'ten. Sinc{ zwei Mcnscheu ¡niteinancler: bekannt, Ì<rinnen sic schwc¡lich clieSituation des.jeweils anderctr ausblenclcn. FIändler: ¡cduzieren of't die preise fìi¡BecltirftiSe. Darurn gehörcn Ladenbesitzer in armen Vier:teln läst nie clerselben cth-nischen Gruppe an wie ihre l(lrnden. Iiür cincn FIändler aus clcm Vicr:tel würe cs

nahezu unmöglich, Gclc'l zu vcrdicncn, denn er sttinclc ständig unt-e¡ Druck, seincuarmen Verwandtcn ocler ehemaligen Schulkarneraclen Zahlungsauf.schub zu gewäh*ren ocler zumindest günstigen l(rcdit. Auch das Urngckchrtc ist richtig. [rine An-thropologin, die einige Zeit in eincr ländÌichen iì.cgion aul'Java gelcbt hat, erzähltcmir, sie betrachte es als Mal3stab ihrcr sprachlichen FähigÌ<citcn, wie gut sie aufdem örtlichen lìasar feilschcn könne . sie war f'rustriert, wcil sie die prcise nie soweit clrticken konnte wir: die Einheirnischen. SchliefSlich erl<lärtc ihr cin javanischer:Freund: >>Auch von reichen Javanern nchmen sie höhere preise.<

wieder sind wir bei demselben Prinzip: wenn die Bediirflnissc (ticf'c A,rmut) oderdie Fähigkciten (unvorstellbalcr tìeichtum) hirueichend spektakulär sind, wird sich,sofcrn nicht soziaìes llewusstsein vollkommcn fèhlt, irì dic übcr'ìcgungcn dcr Men-schen imme¡ ein gewisses Maß von kommunistischer Moral einschleichen.,,r Ëinetürkiscl-re I-,egende iiber dcn rnittclalterlichen SufÌ-Mystiker Nasrcclclin Flodschaillustriert clie Viclschichtigkeit, dic auf diese weise in das I(onzept von Angebotund Nachfrage cingel,ùhrt wird:

Eines Tages, als Nas¡:e ddin die Verantwortung für clas örtlichc T'eehaus

oblag, karn cler l(önig rnit scincm Gelblge vor:bei. Sic hatten .in cler:

Nähe ge.jagt und wollten nun llrtihstrickcn.>>F{ast du Wachteleier?<, fi:agte der l(önig.>Icìr bin sicher, ich werde welche aufireibcn<, antwortete.Nasrcddin.

I)cr I(rinig bcstclll.c cin Omclctlc ¿ìus cin(:m l)utzc.ncl \ y'acht-clcicrn,

und Nasr:cclclin ciLtc davon, trm War:htclcìcr zu suchcn. Nachclcm clcl'

i(önig untl sc.in (Ìer[blgc gcspe ist ltal.t.cn, vellattgtc Nasrcclclin hLi¡iclcrt.

Golclmtinzcn von ihncn.

Der l(önig war vcrwirrt. >Sind Wachtelcier in clicscm'L'cil clcs I-,an-

des so selten?<<

>Nicht clic Wachtelcicr sincl hicr seltcn<<, an1.wortc1.c Nasrcclclìn,

>sonclern itie llesucho von l(rinigcn.<

THt_t5r_tH

I(ommunismus gründet clernrrach wccler auf'Tausch noch attf lìezi¡rrozität -- auf3cr,

wie ich angernerht habc, in den Sìnn, dass gegensciiige trrwar:tutrgc¡r ttttr] Vcrant-

wortlichlçeitcn ins Spicl komrnen. Sclbst hier scheitrl. cs bcsscr, cin anderes Woì:t zllverwenden >Wechsclscìtigkcitr< vie.lleicht. -, urn hcrvor:zuheben, dass Austauscl-t

nach vòllig alcteren Prinzi¡ricn abläul'U es isl. einc gn.rnc'lsützlich andctc Arl rnora-

lischcr Logìk.

ìleim Tausch lçornmt cs ganz aul clie Glcichwer:tigkeit an. .lrs ist ein FIin tLnci I':l.el

zwìschcn zrvei Sciten, und jcde Se itc gibl. entsprcchencl c1cm, was sic crhaftcn hat.

Deshalb hann man clavon sprcchcrL, dass Mcnschen Worte wechscln wie in eincrAuseinandclsetzung Schlägc odcr sogar: Schüssc.'5 Dabci tntss nicht immer cxakte

Gleir:hwertigkeit bestchcn' selbst wenn es ein Ma.l3 gäbe, um dies zu tibcrprüf'en ,

cìoch es rnuss sich einc Form der In1.er:akt.ion crgebcn, ctic zu Gleichwer:t.igkeit ten-

cl1ert. .Ia, wir habcn es hier in gewisser Weise mil; cìnem I'aradox zu 1.uu: Jcdc Seitc

versucht irnmer, clie anclere zu ber^iegcn, aber sofem nicht eine Seite volÌstänclig

gcschlagcn wir:d, ist es am einfhchstcn, dic Sachr: abzrrbrochen, wcnn bciclr: das

Ergebnis fiir einigermafien ausgeglichen erachten. Wenn wir zttm Tar"Lsch mater:ieÌ-

ler Gr.itcr i-ibergel-ren, finden wir cinc ähnlichc Spannung. Oft ist ein fi.lement vonWcttbewerb dabci; zurninc{cst besteht immer clie Möglichkcit. Abcr: gleichzeitiggibt cs das Gefùhl, dass beide Sciten lluch lltihren und class '' anclcrs als ini l(ommu-

nismns, bci dcm immcr cine Vorstellung von liwigkcit im Spiel ist -'dic l3ezichr"rng

.jeclcrzeit bccndet werden kann. Die Betelligtcn könncn clcn Aust¿rusch jederzeit

beendcn.

Der Anteil von Wcttbewerb kann anf.' ganz untcrschicclÌìchc Weisc wirksam w<:¡-

clor. Sind bcide an clcr'I'ransaktion bel.eiligl.e Parf.r:icn bci 'I'auschhandcl oclcr lcorr.'

merziellem Austausch nLlr am Wert der getauschtcn Gütcr interessiert., sind si¡l

untcr l]mstänclcn l.atsücìrlich nnr ¿ruf'dcn rnaximalen nratcricllcn Vort;cil aus. D¿rs

behaupten dic ()honomen so bcl'rarrlich. Anthropologcn weisen auclcrerscil.s schon

sei1. L,angcm auf einen Aspekt beim Austausch von Gt:schcnken hilr: Wenn Gc'

gens1.ände hin und hcr gchcn, die hauptsächlich insoweil. intercssanl sind, als sii:

bfh
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die lìezichungen zwischen clcn lrcteiligl.cn Persol'rcn rvitlcr:spic¡;cln ocler ncrr orcl-nen, clann gibt cs lvcttbei,vcrb allenfhlls in urngekchlLer l{ichtung -.je<ler will clenanclcren an Grof3ztigigkoil rlberlrieten uncl lnehl schenken. Abcr ci¡rs nac¡ clcl¡randeren.

T'ypìsch für den kommerzicllen Austausch ist der >unper:sönliche< Aspekt: hnGrunde sollte es vollkomlnen unwichtig sein, wer uns ctwas verkar-rll oder etwasvon uns kault, wil verglcichen einfach den wert zweier Gcgenst?rnc,le. Zugcge ben:Wie jccler Grunclsatz trìfft auch clicser in c'[er Praxis scltcn ganz zu. Damit ei¡elfransaktion zustande kommt, ist cin minimales Vertrauen erforclerÌich, und sofèrnwir es nìcht mit eincr Verkaufsmaschine zu tì.rn haben, crf'ordert. clas in cler: ilegelein Minimum an tJrngänglichkeit. selbst irn unpersönlichsten Einkanf'szentrumoder supermarkt wird von den Angestellten erwartet, class sic Fre undlichkeit, Ge-cluld und andere bemhigende Ëigenschaften zuminclest vorgeben. Auf einern Ba-sar irn Vorderen Orient mltss man womöglich einen ganzen Prozess zur Flerstellungeiner simulierten Freundschaft durclllauf'en, gemeinsarn 'ree trinken, Ëssen ocler'Ihbak teilen, bis ein ähnlich diffbrenzierter Prozess cles lieilscÌrens bc¡¡innen kann.Ein intcressantes Ilitual: Erst wird Gemeinschaftlichkeit durch elementaren l(om-munismus hergestellt, dann folgt ein langes schcingefecht riber preìse. Alles ruhtauf'der Annahme, dass l(äufer und verkäu[i:r znmindest zu diesem Zeitpunkt Freun*de sincl (uncl sich deshalb zu lìecht über die unvernünftigen liorderungen des an-cleren ernpören und ârgern). Aber es ist Theater. wenn der Gegenstancl den Besitzergewechselt hat, gehen beide ihrer wege und haben in der Regel nichts rnehr rnit-einander zu tun.'6

Meist ist das Feilschen - der madagassische Begrifif dafïr bedcutct wörtlich>einen Verl<auf'auskämp{'en<< (miady uarona) - frir sich schon eine euelle cles Ver-gntigens.

Als ich zum ersten Mal Analakely besuchte, den großen I(leidermarkt in clerHauptstadt von MadagasÌ<ar, war ich in l3egleitung einer rnadagassischen Freundinunterwegs und wollte einen Pullover kar.rf'en. Die ganze sache dauerte über vierstunden. Der Ablauf war in etwa so: Meine Freundin s¿rh an einem stand einenPullovet der ìnfrage kam, erkundigte sich nach dern preis, und dann entspann sichzwischen ihr und dem verkäuf'er cin langer wettstreit mit worten und Gesten, un-weigerlich gehörtc dazu, dramatisch beleidigt zu sein, Emptimng zur schan zustellen und angewidert wegzugehen, Flierbci hatte ich mehnnals den Einclruck,dass sich go Prozent del Auseinandersctzung um die lcl.zte, winzige Difïerenz vonein paar Ariary, also ein paar Pfennige, drehten, die fïir beicle seiten anscheinenclzu einer sache clcs Prinzips geworden waren. Gab de¡ l{ändie¡: nìcht nach, konntedas ganze Geschäft scheitern.

lìei rneinem zweiten Besuch begleitetc mich eine ancle¡:e Freundin, ebenlàlls eineiungc lrrau, clie cinc Liste rnit Maf3en für Kleicler clabei hatte, clie sie fïir: ihrc schwes-

tcr kaufcn solltc. lìci jeclcrn Stanc'l verhiclt. sic sjch glcìch: Sic g.ing cinlach lrin trnd

[ì:ag[c nach clem Prcis.

l)cr ful¡run larurt.c i[rr cincn [)r'cis.

>In Ordnung<, erwiclcrte sie, >und was ist clein richti¡1er:, cndgr-illiger l?reis?<

Er sagte cs ihr, und sic gab ihnr das GeÌd.

))Warte mal<, sagte ich zu ihr. >I(ann ich das auch?<

>Natr"irlich<, erwiclerte sie. >Warum rricht?<

k:h erzähltc ihr, wie es bei meincm letztcl llcsuch mit dct andcrcn lireundìtr gc

wesen war.

>Ach ja<<, meinte sie . >Manchen L.,euten ¡nacht clas einlzrch Spal3.<

'Iausch crlaubt uns, unsere ScÌrulden zu begleichen. Wir bekommen eine Moglicli-keit, nns für quitt zu erklären: das hcif3t, die lìezichung zn bcenclen. IJei Verk2ìuf'crn

geben wir in der llegel nur vor¡ eine llcziehung zu haben. lJei Nachbarn könnte die

Iìezichtrng der Cìruncl sein, die Schulden liellcl ni<:ht bcgleichen zu wollen. L,attra

llohannan schildert, wic sie in einer Siedh-rng iler'f iv in ciner ländlichen llcgion

Nigerias ankam; soforli strömten Nachbarinnen herbcì und brachten kleine Cle

schenkc: >zwei Ahrctr Getrcidc, eincn Speisekiirbis, ein FIuhn, lìinfTornaten, ciuc

Handvoll Erdntisse<.'7 Weil sie nicht wusste, was von ihr crwartct wLrrclc, cìattkte

sie allen und schrie b ihrc Namcn in ein Nol.izbr"tch; dazu notiertc sic, was jecle ge-

bracht hatte. SchliefSlich nahmen sich zwei Frauen ihrer au und erklärten ihr, dass

solche Geschenke immer erwidcrl. werclen müssten. Es sei vollkommen uuaugeme:s-

sen, einfach ohne Gegengeschcnk drei Eier von ciner Nachbarin anzunehmen, Man

müssc nicht llier zunickb¡ingen, aber etwas von ungefähr gÌeichen We¡t. Man

könne auch Geld bringen - das sei nicht unpassend -, allerdings erst nach cincr

gewissen Si:hamfris1., und vor allen di.irf'e es nichl. genau die Snmme sein, clie die

Eier kosteten. Þls mi.isse ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger seìn. Wenn

.iemand nichts bringe, sei er ein Ausbeuter oder Parasit. (ienalt dcn Gegenwert

zu br:ingen becleute, dass man mit dcr Nachbarin nichts mehr zu tun habcn wollo.

Tiv-Frauen, so erf'uhr die Anthropologin, konnten einen Gtttteil cles thges darauf

verwenden, vielc Meilen bis zu einem cntlcgcnen FIof zu ¡narschiercn, utn einc

Hanclvoll Okra-schoten oder ein paar Mrinzen zu tiberbringeu >in cinem endloscn

J(reislauf'von Geschenken, bei dem Ì<einc gcnau den Wert des Ciegenstands zurlick*

gab, den sie zulctzt bck<¡r¡rnen hatte<. Und indcm sic clas tatcn, schufcn sic kon-

tinuicrlich ihr:e Gesellschafl.. Sicher lag clarin auch eine Spur l(ommunismus: Nach-

barn, die sich gr"rt verstanden, halfen einander auch in Notfällen. Abcr anclers als

bei mutma.[3lic]r clauerhalten kommnnistischcn I]cziehungen rnusste cliese I'orm vot-t

nachbarschafTlichem Verhältnis ständig neu gcschaflfcn und erhalte¡r wcrcten, weil

.jederzeit ein Glied in der Kette hcrausbrcchen konnte.

Irs gibt encllose Variationen dieser lrorm, durch (ìabctr Gleiches rrlil. Gleichc¡n

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odor ¡nil. bcinahc Cilcichcm - ztL vcrgcltcn. Dic bckanntcstc lìorm isl. clcl z\ustauschrtotr Cìcschculçcn: Ich spcuclicrc jcrnanclenr cin llicr:, o¡ s¡rcncliut nrir rlcin nächs-tcs llicr'..Pclli:lçlc (,ìlcich¡¡¿crt.i¡lkeit implizicrt. Glcichhcìt., Âbcr ¡tohmr:¡r r¡¡ir cirr ri.-was komplizicrtcres lleispicl: Tch lac{c cincn lircuncl in cin schickcs l{csjtaur,ant zl¡nALrcnclcsscn ciu. Nach eitretr Schamfì:isL l¿iclt e¡ rnir:ll eiu. Wie Anthropologcn scitLangcrn betoncr:, lçann die schierc [ìxistenz solchcr Sitten bcsc¡nclcrs c{as Gefühl,class man clen Clelhllen crwidern sr.¡ll¿e nicht urit dcr ökonomischon Stanclarclthco-rie erlçli:irt werclcn. Sic geht clavon aus,.jecle Inl.t-raktir.rn von Mc,.nsche n sei letztlichcin Gescl'rälI, wir allc seicn cigcnnützigc Indir'ìdue n uncl vcrsuchten, ülit möglichstgeringctr l(osten ocler möglichst gcrìngem Ar.rf'wancl cl¿ls Maxìrnum lì-ìr uns sclbst;herauszuholen.'8 Aber das Gef'ühl ist volli<ommcn real uncl kann bci Menschen mitbcsclrränktcn Mitt.eln, clic bcstrcbt sincl, clen schein zrL waluen, erhcbliche n strcss;artslrjsen Also: Warum solltc sicl'r cin Anhângcr der marktwirtschafilichen'I'hct.rr.ic,clcn ich in cin tcur:cs Restaurant cingelader-r habc, ein bisschen nnwohl f tihlen - ur-r-

angenehm ìn meiner schulcl stehenci - , bis er in clcr Lage ist, clcn cìcfaìlen ztr crwì-clcrn? warum solltc er, wenn cr rnil. mir im vvcttstrcit liegt, geneigl sr:in, mich incin noch tclucres Iìcstaurant einzuladen?

l)enken wir an aÌl clie Festmahlc uncl Feierlichkeiten, von c'lenen weiter oben clielleclc war: Ar-rcl-r da gab es ìmrner r:ine lJasis von Gesclligl<eit unc.[ spielcrischem(utanchrnal atLch gar nicht so spiclcrischcm) Wcttbcwerb. Ar-rf clcr cinen Seite stci-gert cs das vergnr"igen aller Betciligten -- wcr will schon ganz allein in eincm her.-vorrergendcn fi:anzôsischcn lìest¿rurant s¡:eiscn? Aul'clcr andcrcn Seite können ctìcDingc leicht aullcìncn Wettstrcil, im gegenscitìgcn libcrbictcr-r hinauslauf'cn .' uncldamit auf'vcrbisscnheit, Derniitigung, wlrt ... und scl'rlirnmercs, wie ich noch zei*gen werde, In nlanchen Gesellschaften sincl solchc spiele formalisiert, aber es istwichtig zu bctonen, dass sie sich nur zwischcn pe¡sonen uncl G.ru¡rpcn entwic[<eln,die sich gegenseitig als mehr odcr weniger gleichrangig betrachten.'1)urn zu unse-rem imaginären Ökonomcn znnickzukehren: Es ist nicht eincleutig, ob er sich injcdcm rtall hcrabgesetzt ftihlt, wenn er ein Geschcnk erhalten hat ocler zum Ësscneingeladen wurcle. sehr wahrschcinlich wrirde er so empfìnden, wenn cler wohltä-tcr jernand wäre, clen cr als gleichrangig an Status oclcr wtirclc bctrachtetc: cirrI(ollege zum lìcispicl, Hätte Ilill Gates oclcr George soros ihn zum Essen eingelaclen,wtir:cle er vermutlich folgorn, dass er ctwas Ecìles gratis bekommcn hat, uncl es clabeibclasscn. Spricht clagegen ein schmeichlcrischcr rangnieclcrcr: I(ollegc octcr ein eifriger lrxamenskancìidat dic lìinladr.rng ans, dann vcrtnlrtct cl wahr,schcinlich, allci¡schon mit der Zusage elweise er dem Einlaclenden einen Gefällen , fälls cr clie Lrlin*laclung annchme, was cr wahrscheinlich nicht tut.

wcnn wir in cincr Gesellschalt f'eine AbstulrrrlgeÌì von status und wiirclc sprircn,scheint clas auch clcr Fall zu sci¡1. Pierre lìourclieu spricht von clcr >Dialektik vo¡Herausfbrderung r-rncl Paladc<, clie allc lJhrcnspiclc bei clcn Män¡rcr.n clcr.kabyti-

schc¡r lìcrbcr in Algcricn bcherrsc|c, Dabci worck'n wcchsclscit.i¡¡c lìc[cicligungcn,

Angrifl'c (in lichclcn odcr grof3en Auseinandcrsetzungen), Diebstählc odcr Dro-

hunge rr rnit cterselben l,ogih bctractrtct wie cler Aust¿rr"rsch von Geschcrrkcn.r" Lìin

Gcschenk zu tiberreichcn ist cine Ehre und zu¡;lcich cinc Provokation. Anf'cinGeschcnk zu reagieren erf'c¡rclert hohe I(unstf'ertigkci1.. Der richtigo Zeitpllnkt istentscheidcnd. Das Gegengcschenk rnuss sich auf3erdem deutlich unterschciclcn und

ein kleines bisschcn auf'wcndiger scin. Ùber allem abc¡ stcht cìer rnoralischc Clmncl-'

satz, dass rnan sich immer einen Gleichrangigen alrssLrclÌen tnuss. Wet einen aucle-

ren herausfordert, der off'ensichtìich ältcr, reicher uncl angesehener ist, läufï Gefahr,

brüsÌ<iert uncl damit gedernütigt zr-r werclen. lliuen armcn, aber ¿rchtbar:en Mann tnil.

einem Geschenk zu iiberwältiger:, clas er hôchstwahrscheinlich nichl. cr:widern

kann, ist graLrs¿ìm nncl schaclet deur l{uf'dcs Schenkcrs genaìlso. .Dazu cine irrclcxre-

sische Gcschichte : Sie handelt von e-lncrn reichen Mann, cler cinen hcr¡lichen Och-

sen opl'ertc, um eincu gcizigen lì.ìvalen zu bcschämen. Der artne Mann dcmütigte

ihn und gewarlll clen Wettsl.reit, indem er in aller lluhe eìn Fluhn opf'er1c. ì'

Spiele wie clicscs wcrclcn l¡csonders raffinierl, wenn der Status noch nicht gatrz

ausgcmacht ist. Wenn die Untcrschiecle z¿¿ eindeutig sinil, bringt das ganz eigene

Schwierigkcitcn r¡it sich. Ein Gescirenk lÏr einen l(önìg auszuwählen ist oft beson-

ders heikcl r"rnd l<ornpliziert. Ilinem l(önig kann man und clas ist das Proble-

matlsche --eigentlich kein Geschenk merchen, das kann allenlàlls ein andercr I(önig,

weil I(önige defìnitionsgemäfi schon alles haben. Andere rseits wirc'l eruvartet, dass

man sich ernsthafT bemüht:

Ëines Tages wurde Nasreddin zum l(önig geruf'en. lrin Nacht¡ar sah,

wic cr mit einem Sack Rtiben die Stra.[3e hinuntcrciltc.>Woftir sìnd die lìiiben?<, fiagte er.

>Ich wurde zum l(önig gerufen. Ich dachte, ich sollte am besten ein

Geschenk mitbringen.<>Du willst ihrn Iìüben bringen? Aber Rüben sind doch ein Bauern*

essen! Und er ist ein l(önig! Dr"r solltest ihm etwas Angemesseneres

bringen,'Irauben vielleicht.<Nasreddin gab dem Nachbarn rccht ¡"rnd trat rnit ciner Weinrebe

vollc¡ Trauben vor den l(önig. Dem I(önig gefiel clas nicht. >Du gibstmirTrar-rben? Aber ich bin eln I(ciLrìg! Das ist lZiche¡lich. Irtihrt diesen

ì)ummkopf'hinaus uncl lehrt ihn Manieren! WerfI clic ï'rauben cin-zeln nach ihm, r"rnd dann jagt ihn aus dern Palast.<<

Die Wächter des I(önigs zerutcn Nasrecldin in ein Ne bcnzimrncr und

schlugen ¡nit der Weinrebc auf ihn ein. J)a fìel el aul die l(nie undbegann zu schluchzen. >Danlçe, Gott, danke llür deine unendliche(.liite !<

Page 11: Graeber, 2012, Schulden, Kap. 5

-rent'-

))wanlnì danl<sl rlrr (-]<>1.1.?<<, lì.agtor sic ihn. >l)u wirsl. zrrlic:1...;l rc,clcrnr,itigt !<

.Naslcrìcli¡r clrviclcrl.i.:: >>Oh, ictr clachte: gcr.aclc: )(;oLl srìi L)all<, cìass

ich nicht mit lliibcn gckommcn bin!<<<

I¡r noch grôlScrc Schwicrigkcilen kannicmancl.jecloch golaloÌì, wcnn ef clern I(önigctw¿ls schcnkcrt solltc, cl¿rs clicscr'noch ¡licht hat, Ar.Ls clcr r.ömischcn I(aiscrzcit hö-tcn r¡,'ir von cinct¡ [irfìncl<:r, clcr mil. gr:of3cm ll'arntam dcr.n l(aiscr"['.ibcrius einc glä-serne Schale tibcl r:eichtc, Der Ì(aisc,'r'w¿rr verl,rrirrt: Was war so Bosonclorcs an clicscr¡l)ing ar-rs Glas? De¡: Ma¡rn licf3 clie Sclralc zu lloclcr-l lallcn. Sic zcr[rr,ach ¡ìcht, son*clern bckatn uttr Dcllcu. llr hob sie altf uncl presslic sic wicclcr in ihr:e trrs¡rr:.i]nglichcIbrrn.

>.Hast ciu ìrgendjernandcrn crzählt, wic clu cliescs Ding hcrgestcllt hast?<, liagtedu: aufþeschrecktc'Iìbe¡i¡.rs.

Del Lìrfìnclet versìcherte iLrm, er habc es nicmandcm elzählt.. Daraufhin tic13 ihnclc¡: Kaiscr urnbringen, clcnn hättc sicl'r dic Nachricht von clern unzerbrcchlic.hcnGlas vcrbreitct, scìn schatz aus clolcl r.rncl silber w¿irc balcl wcrtlos gewescn.r,

Im llmgang mit l(önigcn ist cs am bcstcn, crnsthalt z¡-r vcrstrchen, clas Spiel ¡rit-ztts¡riclen, abcr der Vcrsrtch isl- irnme¡: zrrrn ScheiLcrn vt:rurteilt. Ib¡ lJattuta, ci¡arabischc¡ lleiser-rdcr aus dem r4. Jahrhunclcrt, crzählt von clcn Gcbr:är-rchen clesI(önigs von sind, cines liurcht cinflo.f3cnclcn Monarchcn, den: cs bcsoncleres ver.-

8nì'igen bercitctc, nach G¡.rtdlinken scinc Macht ztr dcnrotrst|icrcn.,rljs w¿¡ Sitte,class fìernclc I-Iclclcn, clie clen I(önig bcsuchten, gr:rl3artigc Geschenko mitlrrachtcn,Ganz gleich welches Geschenk cs war, er revanchicrte sich unwcigcrlich, inclern erclem Schenker ctwas iibcrreichtc, das nrn cin Viellàches wcrtvoller war. In cler llolrge cnl.wickcltc sich cin rcgclrcchtc:s Gcwcr:be daraus: Òrtlichc Ììanl<icrs liehen lìc-suchcrn Gelcl, dar¡it sie besonclers spektakulärc Gcschcnkc kauf'cn konnten, clennsic wussten, dass sie durch die r-irlöse aus dem königlichen Gegengeschenk gutcnl.lohn.t wtirdcn. Der l(önig mttsstc davon erlähren habcn. Ër wancìte nichts clage-gen eìn - denn cle r springende pnnkt war zv zeigen, class nichts seìnem Rcichtumglclchkam , nnd wcnn cs sein n.rLrsste, ì<onrrtc er immer noch clie ßankìers cnteig-nen. sie wussten, class dcr wirklich rvichtigc wcttstrcit nicht urn lìeichtum ging,sonclcrn un1 Status, uncl scin Stattts war absolut.

Illeim ll'ausch werclcn clic Gcgcnständc als glcichwcrtig bchautleÌt. Das gilt clanninrplizit auch f'lir dic bctcilìgtcn pcrsoncn: zuminclest. ìn clen-r Augcnhlick, wcnn einGeschcnk rnit cinem Gegengeschcnk beantwortet oder cìcld bezahlt wircl; ocler:wcrlrt keinc Schuld oclerr Vcr¡rfliclrtung mchr besteht r"rncl lreiclc Bctoiligte nnbclastctìhr:er Wcgc gchcn können. D¿ts wicdenun irnpliziert Autonomie. Bciclc pri¡zipìc¡¡rassen schlecht zu Herrschem, weshalb l(önigc irn Allgerneincn jcde A¡:t vo¡ A¡-Ls-tausch al¡lcìrncn.r'r .Abcr rnit clel AussichI auf pot.enticllc Annr.r[ier.ung, aul letzt-

crrcllichc ()lcichncr:Ligl<cit, finctcn r,vir encllosc Varial.ionc'n, cncllosc Spicle, clic marr

s¡rìelcrr J<ann. Man kanrr ctwas von cincrn ¿r¡rcter:n erbiltcn in c{cmWisscn, class mart

daclu¡ch dcr¡r [)irrtncr clas l{cr:lrt gib1., im Gcgcnzug, ct.r,vas {ilcichwcr'li¡;cs zu vct lan-

gen. [n manchcn Situationen lçann es sclgar als einc so]chc llitte interpreticrt werclcn,

wcnn rÌan den lìcsitz cles andcrcn lobt. Im IB. Jahrhr-rnclcrt ]e¡nl.cn cnglis<rhc Siecl-

ler in Nenseeland rasch, dass es keine gute ldcc war, zlllr-r iìcispìel cincn besondors

schöncn Jaclc-Anhärrgcr, clcn cin Maoli-l(rieger urn clen Hals trLrg, z-tL lobcn, [Jn-

weigcrlich bestancl dcr l(ricger daraul., clcn Anhàngcr herzuschcnkctr; cin Nci¡r

akzepti.erle cr nicht. llncl nach einer gewissen l¡rist tanchte cler l(rieger wiecler auf

uncì lobtc dcr-r Mantcl o<ler das Gewehr cles Sicdk:¡s. Dcr Sicdlcr: konntc clcm nur'

cntgehen, wenn er dem Maori ctwas schenkte, bevor tr Ltm etwas bìttc¡r i<onntc'.

Manchmal haben Geschenkc nLu den Zwech, class cler Schcnker irgencletwas ver'-

langen kann: Nj.mmt rnan clas Gcschenk an, stimmt man stillschwei¡¡cncl ztt, dass

cler Schcnl<er verlangen kann, was itnmc¡ ct ¿ngcrnessen fìnc1et.]5

I)araus kann sich etwas entwickeln, clas schr an "lhuschl'ranclcl erinnert-- ein Gt:*

genstancl wird Ii-ir einen ¿r-uclercn hergegeben. Wie wir: gesehcn lrabor, passicrl clas

sogar in Systemcn, die Marccl Manss als >Schcnkijkon<xricn< bezeichrìet hat, sogar

zwischen weitgchcncl lìrernclen.16 Lnnerhalb von GerneinschalTen ist man cher be-

strebt, wic clas Re ispìel dcr Tiv schr schcir-r veranschaulicht, Ausgcglichenheit ztr

vcrmciclcn. Ist Cìcld ge bräuchlich, werden clie Menschclr cs entwcdcr im Umgang

mit Freunilen und Verwandten (in cinel Dorfþemcinschafl sind clas pr:aktisch alle)

nicht oder, wie wir am llcispiel cìer rnadagassischen l)orfbewohncr in l(apltcl 3 ge-

sehen haben, ftir eine¡r ganz anderen Zweck vcrwcnclen.

HlERIIÉI]HIË

'Iausch irnplizìert also formale Gleichhcit - oder ztttnindest dercn Möglichkeit,weshaÌb Könige so ungewöhrrliche Schwierigkeiten daniit haben.

hn Gegcnsal.z dazu f.unktioniercn explizit hier:archiscÌre lleziehuugcn -- das hcif3t

solchc zwi¡^chcn minctestens zwei Beteiligten, lrobci cler eine als dern anderen tiber-legen gil1. - ganz und gar nicht r:eziprok. Das ist schwer zu erkennen, weil clic lle-zichung oIl rnit entsprechencien Iìormulierungen gerechtlcrl.igt wird (>cl1c llartem

sor:gcn fiir Nahrung, clcr Grundherr sorgt fiir: Schutz<), alrer clas ztLgruncle liegencle

Prinzip ist genau clas Gegenteil von lìcziprozitü1:, In cler l'raxis f'unktioniercn I-[icr'-

archien nach oincr Logik des PräzedenzLälls.

Stellen wir Llns zlrr Verdeutlichung ein l(ontinuum vorÌ cinseitigen sozialen Bc-

ziehungen vor, bei clcm ar¡ eincn llncle maximale AusL;eutung st,eht uncl am andcren

tnaxirnalc Grof3zr,igigJ<cit. Das cinc [ìnc1e dcs l(ontinuums becler,rtet Diebstahl oclcr

Pllinclerung, das andere selbstÌose Wohltätigkeit,rT Nur an den bciclen cxtrcmcn

Punkten sincl konkrel.e lntcraktioncn zwischcn Pcrsonen moglich, clie sorrst. nichts

bfh
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miteinânder zu tl'tn hätten. Nur ç:in Verri.ic.kter wtircle sr..incn Nlachbarn ausraubcn.IJinc lìande tnaroclicrcnclcr Soiclatcn ocler lì.citcrnomaclcn, clie in c.incn llauc¡rweilcroinf?illt, um zu ¡rliindcln Lrncl zu 1,ergrrr'/altigon, hat ganz sichellçeìn l¡ltcressc, claLr-..

erhafte lJeziehttngen ¡¡it den Überletrenden arrzuknüpfi:n, Aull ähnliche Weise be-harren Religionen olt darauf) wahre wohltätigkcit habe anonym zu sein , cler Emp-fänger solle nicht in cler ScÌrulc'[ cles Woh]täter:s stehen. Eine extremc l¡orm diese¡Art von wohltätigkeit, clie a¡rs vielen Tcilcn der wclt bcrichtet wircl, ist clas heim-liche schenken, eine Art umgekehrter Diebstahl: Man schmuggclt das Geschenkbuchstäblich bei Nacht und Nebel in das Haus des lirnpfängers, soclass nie¡nanclweì{3, wer cs gebracht hat. Die f.igur des Nikolaus (cler, erinnern wir nns, nicht nurcler schutzheiligc der I(inder ist, sondem auch der Heilige der Diebe) ist wohl clieflomme Legende zu diesem Prinzip: cin grof3zügiger Ëinbrecher, rnìt clem es keincsoziale lleziehr,rng geben kann und clem man deshalb nichts schulclet,.im lìal1 desNilçolaus, weil es ìhn gar nicht gibt.

Abr:r schanen wir trns an, was passiert, wenn wir uns nur ein bisschen von clenbciden Ënclen cles Konti¡ruums weg bewegen. Ich habe gehört (ich vermute, class esnicht stimmt), in weißmssland raubtcn llanden so systematisch Reisende in Zü-gen und llussen aus, dass sie es sich zur Gewohnheit gemacht hätten, jcclern opfereine Art Quittung zu ge bcn als ltcstätigur-rg, dass der Ilet;rcff'endc schon einmal aus-geraubt wurde . Das ist off'ensichtlich ein schritt ìn Richtung staat. Genau cìavonhandelt eine ve¡rbreitete Theorie über die lìntstehr.rng von staaten, clie mincles-tens bis zu Ibn Khalduu zurüchgeht, einen nordaliikanischen Flìstolikcr arLs clemr4. .Iahrhundert: Nordafì'ikanische Iìäuberbanden ordnen ihre Beziehungen zu densesshafTen Dorfbewohnern. Aus Pltindenrngerì werden Tributzahlungen, vergewal*tigung wird zum >>Recht cle¡: ersten Nacht< oder verschleppung von Lirauen zumGeschenk fü¡: den kôniglichen Harcm. Ëroberung uncl schrankenlose Gewaltaus-übung werden eingehegt und sind damit kein räuberisches verhäìtnis mehr, son-de¡:n ein moralisches: Die Hcrren gewähren schutz, die Dorfbewohner sorgen fürihren unte¡rhalt. Nehmen wir einmal an, alle lleteiligten sind sich einig, sie würclennach einem gemeinsarnen moralischen l(odex handeln, so class selbst l(önige nichtalles tun können, was sie wollen, sondern gewisr^e Grenzen respektieren und clenBauern erlauben mrissen, darüber zu diskutieren, wie viel die Verwalter cles l(önigsrechtmäf3ig von Ìhnen cintreiben dùirfen. selbst dann werclen sie clen schutz, densie erhalten, kaurn nach Qualität und euantität berechnen, sondern cher wcrclcnsie nach sitte und Gewohnheit gehen: wie viel habcn wir letztes.Iahr gezahlt? wieviel mussten unsere vorfahren bezahlen? Fùr clie andere seite gilt das Gleiche. wennr¡ilcìe Gaben die Grundlage soziale¡ Beziehungen bilclen, wircl es keine Gegensei-tigkeit geben. Dcr Bettler, dem sie ein paar Mtinzen hinwerfèn, wird, wenn er siespäter wiedererkennt, Ihnen wohl haum Geld geben - aber es l<<innte gut sein, classcr mit weitercn Mrinzen von lhnen rechnet. (ìanz sicher gilt clies lür Spcnclen an

r,r'ohlt¿iligr: Organisat.ioucn. (lch habc dcr l,atrdarbcitcr¡¡o,r,cllcschafl I-lnil¡:d Iriarr¡

'vVolkcls Gcld gespcnclct und habe nìchts mchr clavon gehör't,) .Liin solchcl Alcl clcr

cinscì{,igcn Grc{3zLigigkcit gi.lt als I'r'iìzcclcnz[hll liìr' cl;rs, wrs spiitor'orlvâi tcl. wilcl.rrr

LÌs ist gcnauso, wic wenn Sic cincln l(incl eine SüI3ig[<eit ge ben.

Flierarchien I'nnlctionicrten nach cincm Prinzip, das das Gcgcntcil von lleziprozi-tät ist. Wenn klar unc'l von allen Beteiligtcn als Rahrnen dcr iìeziehung akzcpticrt

wircl, 'uver übcrlegcn und wcr unterlegcn ist, uncl wcnn dic Rczichung so langc

lresteht, dass wir cs nicht nur mit schicrer WillÌ(rir zrL tun halren, ct¿rnn weldendie lìetciligtcn davon ausgehen, dass ein Nctz von Gewohnhcitcn ocler Sitten ihrcIìeziehung reguliert. Manchmal glaubt man, clie l(onstcllation gche auf'e inen Glün-dr"rngsakt in Form einer Er<¡be¡:ung zr"rr:Lick. Ocler man nimmt an, cs sei cinc tiber-

kornmene Sìttc, ¿lie kciner Lirklärung bedtlrf'e. Aber damìt taucht bei clcr Schwic-

rigkeit, einem l(önig oder einer anderen hòhcrgestellten.Person ein Geschenk zlt

machen, eine weitere I(ornplikation auf: Es besteht immer die Cìefähr, clies als Prä-'

zeclenzfall z¡"r behandeln, ihn dern Netz del Gewolurheitert hiuzuzu[ügen r-Lncl Ì<tinf-

tig als vcrpllichtend zu betrachten. Xenophon bcrichtet, in c'[cn lrlihcn'Iagen cles

Pcrscrrcichs sci jcclc Provinz bcgicrig gcwcscn, dcln (ìroßl<önig ihrc cinziga|tigcrr

und besorrde¡s werlvollen Erzettgni.sse zttm Geschenk zu tnachen. I)araus cntwi*cke lte sich das Tributsysl:eni: I(tinf tig wurdc erwart.ct., class clic J?rovinzcn jcdes Jahr:

die gleichen >>(ìeschenke< brachten.re Ähnlich schrcibt cler grof3e Mediävist Marc

lìloch:

Schon im g. Jahrhundert, als cines Tagcs der Wcin in clerr königlichetrI(ellern in Ver lehlte, hatte man clie Mönche von St. Denis gebet.en,

zoo Fässer zu lief'ern. Seitclem fbrderte man cliesc Lief'crung von ihnenjecles ,Iahr als bindend, und um sie anfzuhebcn, beclurfte es eincrI(aiserurlçunde. Wir hören, dass es in Arclres einmal einen tsären gab,

den der örtliche Grundherr dorthin mitgebracht hatte . Die þ,inwohuer

lreuten sich an dern Schauspiel, ihn gegen Hunde kärnpfen zu selten,

nnd erboten sich, ihn zu pflegen. f)ann starb das Tier:, doch der Herrf'orderte nach wie vor das lìutter.'I"

Mit anderen Worton: Jcdes Clcschcnk an cinen licuc'lalherl:n, besonclers wcnn es

clrci, odcr vicrmal wiederholt wurde, wanclelte sich in ein Gcwohnheitsrccht unct

erwciterte clas Nctz der Gcwr:hnheiten. Pcrsoncn, die l-fijhelrangigeu Geschenke

machten, erbaten sich deshalb oft einen Briel) cler ihnen bescheiuigte, cs hancllc

sich um kein Gewohnhoitsrecht nnd das Gcschcnk welclc künfìtig nicht cingefbr-

dert. Eine solche Forr¡alisierung ist zwar ungewöhnlich, aber jcde soziale Iìezie-

hr"rng zwischen Ungleichen wird unweigerlich rnit eincr ühnlichen l.,ogik zu funk-lìonicrc¡r beginnen u¡lcl sei es nur aus cirte m G¡und: Wenn man anrtitntnt, cirrc

Page 13: Graeber, 2012, Schulden, Kap. 5

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Iìczichun¡1 qriinclc aul'>Gc:wohnhcitr<, stt bcslcht. clie c:inzi¡¿c.Mt)¡rliq;[¡1.,r¡1', <las lìc-

sLchcn cincr Pflich[ ¡rachzr-rwciscn clalir.r, zu zcigcn, class schon fì'iihcr.5o gchanclclt.

w rrrdc.()LT wircl ¿trs solchen Ubelcinktinllcn clic L,ogik cines I(astcnsystcms: lJestitnütl.e

Clans sind clafiir verantwortlich, clic zercmoniellcn Gcwändcr zu we bcn, clie liischcliir clic l<önigliche n Gelage zu licfèrn oclcr clcm l(rinig clie Haarc zu schneicterr. Sie

hcificn kLinf'tig Weber, liischcr oclcr Tlarbicr.a' Dcr lctztc Pr¡nkt kann gar nicht gc,

nng bctoul. wcrclcu, wcil cl. cinc andcre Wahrhcit clcmonstricr:1, clic häulìg riberse-

hen wird: Die LogiÌ< cler Iclentität ist immer uncl überall rnit d<.:r L,ogik dcr llicrar-chic verwobt:¡ì. Nur wcnn bcstìrlmtc .Personen über anclcrc gcstellt. wcrclen ocler

,jcder in einem bcstimmten Verhältnis zun'r I(onig, znm Flohenpr:iestel ocler zu clen

G¡i"inclerväleln cingeorclnet wird, spricht man von einem Volk, clas clurch scincNatur vclbunclen ist ^' tibcr firndamerìtal unterschiccllichc ,Arten von Mcnschen.Icleologicn von l(aste und Ilasse sincl nur cxtrome lleispir:le . So etwas geschiel-rt irn-Ineri wenn eine Gruppe sich iibcr anderc erhebt ocler sich ancìeren untc¡o¡clnct ineine¡ Weisc, class clie tiblichen MafSst2ibe eines fai¡:en Urngat-rgs niclrt nr<:hr gelterr.

Tats¿iclrl.ich geschicht etwas Dct'artigcs en miniatu'c in unse¡en plivatcsten lìczic-hungen. In clem Augcnblick, da wir ein Gegenr,iber ¿rls cinc andele /rf Menscherkennen, trns entr,r,ccler ùber:legen oclcr unl.crlegcn, werclcn clic normalcn llcgclnclcr Gegenseitigkeit rnoclilìziert odcr au[3er KrafT gesetzt. Wcnn cinc Frer.rnclin un-gewöhnlich grof3zügìg zu uns ist, we¡den wir uns wahrscheinlich revanchicrcnwollen. Handelt sic wicclerholt so, werclen wir f'olgcrn, dass sic allgemcin ein groI3-ztigiger Mensch ist, und wir welclen uns wahrschcinliclì nicht mchr so ofT re vanrchieren.'1'

Wir könncn eine einfäche lrormel aufstellen: Wird eine bestimrnte Handlungswci.se òf.ter wieclerllolt, dann wircl sie zur Gcwohnheit, uncl in cler Folgc dcfinicrcn wirclarnit das Wesen des Handelnclen. Urngekehrt kann clas Wesen einer Person auchdadurch defìniert werden, wic sicl-r anclere in der Ver:gangenhcit ihr gegentiber vcr-halten habcn. Um oin Aristokrat zu sein, wircl man clara¡,rll beharren, dass lnan inder: Vergangenheit als Aristolcrat behandelt wurdc (denn Aristokratcn leisten nichtsBesondcrcs; sic verbringcn ihrc Zeit meistcus darnit, in eincm Zustand rnutma.l3licherÜberlegenheit zu existieren) uncl class dies weiterhin so sein solltc. Dic I(unst, eincsolche .Person zu scìn, bestcht zum grö.l3ten'Ieil clarin, sich selbst so zu verhalten,dass erkcnnbar wird, wie tnan von a¡.deren behandelt werden möchte : IìLir cincflI(önig heifit das, sich selbst rnit Golcl zu üborùüullcn als Àr"rf'l'orclcrung zrn clie ancle-ren, das cbenfalls zu tun. Am anderen Ende cler Skala zeigt uns clas, wie Missbrauchsich scÌbst legitimicrt: Einc ehernalige Studcìltin von mir, Saraìr StilLnan, hat cs so

fbrmul.iert: Wenn in den Vereinigten Staatcn ein r3-jähriges Mädchen aus dcr Mit-telschicht verschleppt, vergewaltigt und umgebracht wirci, ist cias ein erschüttern-dcs Vorbrechcl, clas rnutrnal3lich jcdcr am licrirscllapparal in clcr Wohnung tibcr

Wochcn vcrfbl¡¡t. Wcnn sich hcrausstr:Ì11., class cì¿rs r 3' jähr:igc Mäclchcn c.irrc l(in..

cier:prostitrricrte w¿ìr, tiber .Iahrc hinwcg lcgclmä(3ig vcrgewaltigt uncl schlìcl3lich

cr:rnoÌdcl wurclc, schcnl<t clcur nie mancl besonctr: re Iìeacht.ung cl;rrnit cuclct so.jr .

mand nun einmal.'lr'Ihuschen I{öhergestellte uncl Iìangnieclere mal.eriell wcrtvoÌlc tìegenstände als

Gcschcnke oder Zahh,rngen aus, schcint clabei entscheidend zr-r sein, dass die Dinqc,dic von clcr eincn und dcr ande¡cn Seitc kommcn, in il-rrcr Qualität so unterschied-lich sind, class ihr relativer WerL nicht zu cluantifìzicren ist. Dann ist nic:ht- cinmal

daran zu denken, die Gaben gegeneinaücler aufiureclìnen. Mitte [alterlichc Aulorcnbcharrten clara¡-rf, die Gesellschafi als eìne Hìerarchic zu sehen, in der Priestcr lüralle bcten, Adligc íùr allc kämp['en uncl Il¿ruern allc crnähren. l-lncl trotzclcm wilrcr

es nicmanclem i:ìngefallen, f'estzulegen, wie viele Gebete oder wie viel militärischerSchutz einer Tonnc Weizcrl cntsprach. Niemancl zog eine solche Iìcchnung auch nurin Ërwägung. >Niecler gestellte( Menschen bekornmen keineslalls nur minclerwcr-

tige Dinge und urngekehrt. Manchrnal gilt genau das Gegcnteil. Ilis vor l(urzem

rnusste so zìenrlich .je dcr narnhaf'tc ìlhilosoph, Malcr, Dichter odcr Mnsìker eincn

reichen (ìönner f-inden, der ihn unterstritzte. Ilerühmte literarischc r.rncl philosophi-sche Werke haben oft ein Vorwort -' Lrns mutet es heute seltsam an -, in dcm tibcr-schwänglich und schmeichlerisch Wcishcit nnd'Iugencl eincs langc vergcssenen

Grafen gepricsen werderl¡ dcr cinen lclcinen Zuschuss gewährt hat. Nach clcr Aul'-

fassung dcr damaligcn Zcit tal cs clcr n¿ttirlichcn Ùbcrlcgcnhcit dcs Arlligcn kcincn

Abbmch, dass er Unterkunlt und Verpflegung zur: Verlügung stellte, viellcicht auch

Gelcl, und der llcdachte seine L)ankbarkeit damit zeigte, class er die Mona Lisa ma7-

te oder T'occctta unt:l Fuge in d-MoLL komponierte.

Eine grofSe Ausnahme von diesem Grundsatz grbt es.jedoch -- das l'hänomcn der

hicrarchischcn Umvertcilung. Dabei rn¿crdcn nicht Dingc derselben Art ausge-

tausclrt, sonclern !!cn(tu d\e gleichen Dingc: In Niger:ia werfen beispielsweise clie

Irans bestirnmter Popstars während eines l(onze¡:ts Geld auf die llühne, das die Stars

bei einer Fahrt durch clas Viertel ihrer L;ans wiecler aus den Fenstern lluer Lirnou*

sinen werfen. Wcnn cs dabei blcibt, können wir von einern absoluten Minimuman Hierarchie spr.echen. l.n weiten'Ieilen von Papua-Neuguinea kreist das soziale

l.,eben um >große Männer<: charismatische Persönlichkeitcn, clic cinen Grof3teil

ihrer Zeit damit zr-rbr:ingen, zu drüngen, zu überreden urld zu rnanipulieren, Llm

gewaltige Reichtlimer anzuhäufen, dic sie bei einem großen liest clann wieder ver-

teilen. Man krjnnte von hier direkt zn - sagen \r'r'ir . . einem Fläuptling cincs Indìa-nerstamms im Amazonasgebiet oder in Nor:clamerika iibergeherr. lhre Rolle ist. stär-

ker formalisicrt als die der grofSen Männer, abcr sie haben kcinc Macht, jcmanden

zu zwingen, etwas zu tun, das der lJetrellende nicht will. Deshalb sind die norcl-

amerikanischen lndianerhäuptlingc auch für ihrc rhetorischen Fähigkcitcn unc'l ihre

tiberredr"rngskünste bertihmt. In der Folge neigten sie dazu, sehr viel nlehr hcrzu-

Page 14: Graeber, 2012, Schulden, Kap. 5

--qryry_

gcbcn, als sic ci haltcn h¿ttc¡t, IJcobacht.cl bcruclhtcu olì., class clcr'lliiLlptlìng of L clr:r'

ärrnslt: Mann irt ptttrd.o p<:rs(irtlichc:r llcsilz irn Dorf'r,var, wcìl cr ¡rcrma¡c¡t gro.3-

ziigìg scin lüussLc.

il'atsächlich [<ön¡rtc ¡nan ¡4cnatt clics als l(ritcliurn nehmclt, wic r:galitär c'inc (]c-

scllschafl wirklich ist: ob clie]cnigcn an clor Spil.zc nur l(anälc f'Lir dic Umvcrtcilungsincì ocler ihrc Posit.ion claztt nutzen, urn lìeichtiuner anzuhilul'en. Letzter:es ge-

sclliehl wohl aut hziufìgstcn in aristc¡kratischcn (ìcscll¡^chalì.on, bei clcncn noch cinweit.ercs Elornent hinzukonrurt: t(ricg und Pltindemngcn. Schlicf3lich wird làst jeder,cler clheblìchcn iìeichtu¡n erlangt, wenigslens einen'Icìl clavon hergcben o.[Ì inpompöscr, spcktakr-rlärcl Weise an viclc .Mcnschcn. Jc mchl l{eichtu¡n clurch l'li.in*clcr:ttng odcr lri:prcssnng angchäult wurdc, clesto grolSartiger uncl scll¡¡;thcrt'liche¡:wii:cl die Verteih.rng ausfallcn.'t'r lJncl was lïir kr:ic¡4erischc Atistokraticn gilt r.rmso

r¡ehr: ftir antikc Staatcn, in denctr clie l-Icnschcr: sich fäst imrncr als clic Ileschr-itzcrclcr Flilfloscn, FILiter cler Witvverì uncl Waisen und l(ämpf'er fìir clie Ar:rncn gcrierten.Die Vorgeschichtc clcs moclerncn IJmvcrteilnìlgsstaat.s .mit scine¡ bcrLichtigtcn'I'crr-.clcnz,, i.cLcntity poLitics, also clic llintcilr"rng cler Menschen.uach partikr-rlarcn lnter'essetr unc'[ Iclentitätcn, zu {rirclcrn -.- lässt sich nicht bis zur >Llrforrn cles Kommuuis-mus< zurtickverfblgen, sondern nnr aul'I(rice uud Gcwalt.

ü F E Ë ll r=r t.l rj E ¡ l,l Ï 5 [ H F Il li L] n ñ L I T Fr T E hl

Wir sprcchcn hicr nicht tibcr untcrschicdlichc Gescllschaf'tstypen (wic gesagt istallcin dcr Gcdanke, wir scicn schon irnmer in abfrcnzbarcn >Gcsellschalïen< or.,

ganisiert gewcsen, zwcili:thafT), wie ich hier noch cinmal unterstrcichcn möchte,s<¡ndcrn tibcr moralischc Prir-rzipien, clic tibcrall nebencin¿rnder bestehen. Im Ver*

haltcn zr-r Ltnst:rcn bcstcn f.ìrcunclcn sincl wir allc l(ourmnnistcu, abcr irn Umgang mitkleinen l(indern ljeudalherre n. lrine Clesellschafl, in cler clic Menschen nicht beidessìnd, ist so gr.rt wie rrnvofstellbar.

Wcnn clies der: Fall ist, liegen jcdoch sof'ort lblgcnde liragcn auf'der: Flancl: Wennwil alle uns ständig zwischen komplett untcrschiedlichen Syslernen c'[cr morali-schen lìuchfiihrung hin und hcr bcwcgcn, warum hat das noch niemand rcgistriert?Wam¡n lltihlen wir uns clancrncl gcnötigt, allcs in clic l3egrifI'e von l(eziprozit.ät zuIässen?

lirinncrn wi¡: ur-rs an clicscl Sl.ellc an clie'I'atsachc, dass wir uns Gerechtigkeit incrstcr l-ìnie als lLeziprozitZit vorstcllcn. Dcnl<en r,vir abstrakt, cla¡rn vcrfàllcn wir auf'Reziprozität, insbcsonclcrc dann, wenn wir ein iclcalisiertes Gescllscliaftsbilcl cnt*werfen. Wciter obcn habc ich scì-ror-r lìcis¡rielc angcfiihrt. Irol<cscr.r,Stäurrne handcl-ten nach einem ìlthos, clas vcrlangte, .jeder rnti.sse auf'clic llcdürl.nissc unterschied-licher Ar:tcn von Mcnschcn achtcn: cler lìreuncle, cler lramilienmitglieclcr, cler:

Mitgliecter ihrcr Clans müttcrlichcrsoil.s, in schwicrigcn Zcitcn sogar auf'dic llcclürf,

lissc ficunclliclìcl Iììiciildot, Als sic atrst¡:ak1. Libcr clic {.lcscllsch¿r[1 ¡tachclachl.crt,

l<amcn sic ¿rul cl¿rs Moctr:ll mit clen bcìclcn Sciten ctcs t)orlis, in dcmjc:cìe Scite clic:

Vcrpflichtr.rrrg úLrornahnr, c[ie'lblen tlel anr.lcrcu scitt: zr-t beglabco. lis warr inöglich,

sich l(omnunismus clurch lìcziprozitât vorztlstcllctt. l3er:tichtigt kornplizicrt, .ja

chaotisch war in clicser Flinsicht aucll der r.nittelaltcrlichc lÌcuclalisntus. Liorrnttlicr-

tr:n zeitgenössischc Ì)enl<er allgcrneine Atrssagcn darüber, rccluzierte.¡'L sic allc I(äLrgc

uncl St¿inde aul cinc ci¡rlirche lrormcl, nach clor,icdcr Stancl scirron T'cil bcilr:ug:

>M"rnche bctcn, manche kärnpf'en, wieclc¡ ¿rncìcle ¿ìrbeltc:ìl.('15 Als rcziprolc wrrrcìc:

letztlich so¡1ar clic l.Iierarchic gcdcutet, obwohl clicse Fortncl nichts mit clen realert,

konk¡:cl.cn Llczichtrngcn zwischcn Pliestern, .[ìittern ttucil l]artern zLl l-ttn l'ìatte

A¡thr6¡rologcn kenncn dìcscs llh¿inon'rc:n. Sollen Menschcn, clie rric (ìclcgcnheil:

hattcn, wirklich übcr ihre Clesr:llschafi oclcr I(ultlr als Gesamtphär-rorllen nachzu-

clcnkcn, uncl vcrrnutìich gar nicl'rt bcgr:if.fen, class sie i¡r einctn Cìemeinwcscn lcbten,

das anclere Menschen als >Gescllschaft< odcr >>.Kultur< bczcichncn würclcn, crklä-

ren, wie clcnn bei ihnetr alles zusamn.lcnhänge, sagen sir: in etwa: >So zahlcn wil'

Llnscren Mül.tern ctic Mühc zurück, class sic uns aufþezogell habcn.( Ocler sic cr:t-

wet'lcn kornpliziert.e Diagrarnme, in clcncn clic Fralten aus Clau A dcn M2iunertr aus

clan Il gcge ben wer<ìen, cìie wicderlrm ihrc Frauen clan c ge ben, der seitle lìratteu

clarr A gibt. Doch all clicsc Bcschreibr-rngcn spie8cln nic ganz gcnatt clas rn¿iclet, was

clie Menschcn im wirklichcr-r Lcbeu tun.'r{'Ilciln Versuch, utts ciue gerechtc Cìcsell-

schaf't auszumalen, kommcn wir kaum ohne llilcler von Glcichgcwicht uncl Sytrnc-

tric aus, ohnc cingängige Schaubilder, i¡r denen sich allcs ausgleicht

Dic Lc,lee, cs gebc so etwâs r¡,,ic >dcn Mail<t<, ttntcrschcidet sicl-r clavon gar tricht

so sehr. Ökonornen werdcn das häulig zuSeben; sie tnlisscn ihncn nur dìc richt.i¡1en

[.ragen steìlen. Märktc sind nicht rcal, sondcr"u mathcmatischc Moclelle, Seschaf]len

a¡s dcl Phanta¡;ic cincr in sich gcschlosscneu Welt, in clcr alle dic glcicl'rr.: Motiva-

tion uncl das gleiche Wissen ìrabcn u¡rd den gleichen, am lligeninteresse orientierten

Austausch betreiben, Auch den Ökonorncn ist dìes bewnsst: Dic Wirklichkeit ist

inimcr komplizicrtcr.. Abcr sie sind sich auch bewusst, dass ntan die Welt immcr cin

bisschen verzerren uncl vcreinfhchen muss, utn zu cinem matl-ìematischen Moclell

zu kommeu. Daran ist nichts atlszìlsetzcn.problc¡natj.sch wircì cs crst clann, wcl'ur cinige - oft dicsclbcn ()l<otloulcrt '-- er-

klären dairf'cn, .jecler:, cler die Gcsetze des Marktes ignoricrt, wcrcle bestrâfT. Odtl

sie clür:fin bchauptcn, alles funktionicre nach clen I'rinzipierÌ cler Cìer:echtigkcit,

allsgcnommctl clic EinmischlulScn cier l{cgicmng, wciL wir' .ja in ciner Marl<l;ord-

¡ung lebcn: tinser: Wirtschaftssysl.em sci cin ricsiSes Netz fcziploker lleziehltu-

gcn, in clern sich am l,jncle clic l(ontost¿inctc ausglcìchen uncl allc Schuldcn bezahlt

wcrclcn.

Diese cìmncìsütze verwickcln sich, und wclcher in einer geflclbenen situation

vorhcÌrscht, ist oft schwicrig zu sagcn. Dahcr ist dcr Ansprnch lächerlich, wì¡'

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kônntcu urcnsrrhlichcs Vr.'rhaltcn in dcr Wirtschaf.t uncl in anclcren BercÌchcn au['cine rnathematischc lrormel lcclttzielen. Wir dtirlcn dcnnoch einc gewisse lìezi¡rro-zitlit in,jecìcr SitLlation rLrttcrstellcn; e.i¡r schar[tr lìeobac]rtcr wild immer eine¡r 9¡rt-sprechenden Anhaltspunkt fìnden. Mehr noch: Bestimmte prinzipien haben ofÏèn-kundig eine inhä¡:ente 'I'enclenz, sicir rnit andcren zu vermischcn, Zum Beispielkönnen viele cxtrem hierarchische Iìeziehungen (zumindest zcitweise) nach korn-munistischeu Prinzipien filnktioniercn. Wenn Sie einen leichen Chef habcn, werdensie sich in ciner Notlage an ihn wenden, und von ihnl wird crwartct, class er Ihnenhilf.t. Aber nur bis zu einem gewissen Grad. Niemand elwartet so viel Flillle, dassdie zr-rgruncle liegencle Ungleichhcìt gefährdet ist.,ti

Fjbenso kiinnen kommunistische Iìeziehungen leicht in Verhältnisse hierarchischerungleichheit abgleiten - häufìg oirne dass es jemand bcmertt, obgleich leicht zuelkennen ist, warum das geschieht. Manchmal sind clie >Fähigkeiten< uncl >Bedrirf -nisse< unterschiedlicher Menschen sehr r.rngleich. Genuin egalitär:e Gesellschaftensind ¡;ich dessen bcwusst und treff'en ar"rsgeklügelte vorsorge, damit nicht manche '.-

zun l]eispiel cin besonders guter Jäger in einer GesellschafT von Jägern .- sich ztrweit r.iber: die anderen erhe ben. Ëbenso sincl sie misstrauisch gegenüber: allem, wasdazu lùhren könnte, dass sich ein Mitgliecl der Gcsellschafi gegeniiber einem andc-nen crnsthaft in der Schuld fiihlt. tìin Mitglied der Gesellschaft, das sich besondereAufinerksamkeit für seine Leistnngen erhofft, wird spott ernten. oft ist cs claherdie einzige angemessene Reaktion, wenn einem etwas Bemerlçenswertes gelungenist, sich úber sich selbst lustig zu machen. Der dänischc schriftsteller peteì1 Freu-clren beschreibt in Booft oJ'the llskimos, wie man in Grönland dcn Takt eincs Men,schcn danach beurteilt, wie sehr er zunächst herabsetzt, was er seinen Gästen an-bietet:

Der alte Mann lachte. >Manche Menschen können nicht viel. Ich binso ein schlechter Jäger, und meine Frau ist eine schreckliche l(öchin,sie ruiniert alles. Ich habe nicht viel, aber ich glaube, da drauf3en liegtnoch ein StücÌ< Fleisch. Es könnte noch da sein, weil die Flunde es

rnehrfach verschmäht haben.<

In der Eskimo-Art der Untertreibung war das eine solche Ernpfêh-Ìurrg, dass allen das Wasser im Mund zusammenlief ...

Der Leser wird sich noch an derr walrossjàge¡ aus dem letzten l(apitel erinnern, derbeleidigt reagierte, als der Autor ihm für ein Stück Fleisch danken wollte - schlief3-lich helfen sich Menschen gegenseitig, und wenn wir etwas als Geschenk behan-deln, werden wir zu etwas, das geringer: aÌs menschlich ist. >Hier oben sagen wir,mit Geschenken macht man Sklaven, nnd rnit cler peitsche H¡ude.<a8

>>Gesclrenk< bedeutet hier keinerL Gegenstand, der einlàch so her:gege ben wir:d,

auch nicht dìo gcgcnscilige [,lilfi:, <]ic wi¡ norrnalc:rwerisc r,rntcr Mr:uscltcu cr"ç¡,/iìrlcÌl

könncn. Jemanclem zu claukcn beclcrLtct, cr hâttc ¿tttcÌr anclcrs hanclolu kcinnct-t uncl

sc.inc.[:int.schciclt.rr:rg, so zu hartclcln, ct'zcu¡]c cinc Vcrpflìchtttttg, cin Gcf ilhl ,¡oti.

Schulcl -. und clar:rit Untcrlcgcnhcit. I(ourmnnen oder egalitärc t(ollcktive in clen

Vcrcinigten Staaten stchcn ofl vor einem vcrgleichbaren Dilenrna uncl habcn ih¡e

cigencn Vorkehrnngcn gegen schleichcncle I{icrar:chis.icrung getroff'cr.r. l)ass l<onr-.

rnnnistische Vcrhäh.nisse allniählich ins Flierarchischc abglcitcn, ist kcincswcgs r:rt..

auswcichlich GoscllschafTen wic dic Inult haben cs i-ibcr viele tatLsend Jahre ge-

schaflt, clies zu verhindern. Aber rnan lnuss intmer auf dtlr lJtlt sein.

Umgekchrt. ist es se hl schwierig -ofI schlichtweg unmöglich -, Bcziehttngon, clie

anf'dcr Annahme gr:rinclen, dass kommnnistisch getcilt wircl, in l3ezichungen mitAustausch unter Gieichen zu verw¿rndchr. Wir erleben clas dauerncl irn Umgang mitIireunde n: Gewinnt man dcn llinclruck, ein anciercr nutze clie eigene Glo13zùgigkcÌt

aus, ist es oft Ìeichter, die lleziehungganz.abzubrechen, als eine lìückzahlung zu

fbrdern. llin extrernes l3eispiel ist clic Maori-Geschichte über einen berúchtigten

Nimnlers¿ìtt, clcr alle lrische¡ an clem l(üster-rstreif'cn, wcr cr lebte, vcrärgcrl.c, wciì e r

sie dauernd um die besten Stticke ihres Fangs bat. Seine clirekte IJitte um Nahrtrng

war praktisch unrnöglich abzule hncn, also gabcn die lrischer ihm pllichtscÌruldigst,

worurì er gebeten hatte. Aber eincs T'ages beschlossen sie, dass cs genug war, und

brachten ihn nm.a')

Eine gemeinsame ßasis der Soziabilität zwischen li:enldcn kann, wie bereits er-

läutert, erst geschaifèn werden, nachdem allsprobiert wurde, wo die Grenzen der

anderen llcgen, wenn man sich ihrer llesitzttimcr zu ber.nächtigcn versucht. Ähnlich

kann es sein, wenn man versucht, I;rieden zu schlief3en, oder attclt bei¡n Aufbatt

ciner gcschäftlichen Partnerschaft.lo In Mac'lagaskar crzählten mir clie Menschen,

zwei Mânner, die in Erwäeung ziehen, gemeinsam ein Geschäf't zlt betrciben, wrir-

den lllutsbrùder. lllutsbrüderschafì., Jatidra, bestcht in clern uneingeschränktet-t

Versprechen gegenseitiger Hilf'c. Ileide lìeteiligte schwören fcicrlich, sie wtirden

niemals einc Bitte des anderen abweisen. In der Praxis sind die Partner einer sol*

chen Ùbereinkunft besonnen in ihren l'iorderungen, Aber melne Freuncle betonten,

es kornme vor, dass,jemand, der zum ersten Mal eine solche Übereinkurrf.t schlief3e ,

die Cìrenzen ausprobierc. Womöglich verlangt cr das .[-[aus dcs andcrcn, das llemd,

das der andere am Leib trägt, oder: (ìtnmer das beliebteste BeispieÌ) clars Iì.ecltt, cinc

Nacht mit scincr Frau zu vcrbringcn. Die cinzi¡1e Grenzc ist clas Wisscn, der andere

könnte alles, was rneu verlange , e benfalls cìnfbrcler¡r.t' Auch hier sprechon wir wic'-

der tiber dic ursprtingliche Etablierung von Vertratten. Wenn klar ist, dass dic ge-

genseitige Verpflichtung gilt, ist der lloclcn beleitct, und clic beìclen Männcr krjntrerr

beginnen, aul l(omrnission zu kaul'en und zu verkauf'en, Gcld vorzustreckcn, Gr:-

winne zu teilen; sie werclen sich völlig vertralren, dass kiinfi:ìg .jeder dic gcschäfi-

lichen Interesscn des anderen inr Auge behalt, Die bcrùlhrnteslen und dramatisch-

Page 16: Graeber, 2012, Schulden, Kap. 5

-.""5qr

stcn l\Lrgcrtblicl<t: sirrcl solchc, in clcncn '.1'auschbczichun¡;cn zrr hir,:rarchisr,hcn zun'crclcn dlchen: wcnu clic bciclcn Ììetciligtcn wic Glcichc agiotcn, (ìcschcnlçc alrs-laltscltctl o<1cr Schliigc ocL:r lzVarcu oclcr irgcnclct.was, r,iircl c[ann cini.:l clt:r'beidc¡etwas tut, clas clcn .Maf3stab vollkommen clurche.inanclerbringt.

Der Gcschenkaust¿rusch tendiert. clazlr, wic ich schon crwähnt habc, cìn wett-bewcrb im gcgenseit.igen Úbertrum¡r[en zu welclcn, uncl clicsc T'cnclenz wircl i¡manchelt Gesellschaf'ten in grofSen öfÏ'cntÌichcn Wettkärnpf'cn kanalìsic¡t. Iitir>heroischc Gescllschaf'tcn<, wic wir sìc ncnncn, ist clas bcsc¡ncler-s typìsch: GeseÌl-schal.'ten, in denen clie lìegier:ungen schwach oder nicht vorhanclcn sincl unil clicGcscllschalï stattdessen runcl nnt aclligc I(ricgcr <.xganisicrt ist. .li:clcr l(ricger hatseinc loyalen Cìefolgsleutc und ist mit den anclelen chrrch bestänc{ig wcchseh-rcl<:

AllianzerL r"rncl lìivalitär.r-'n verl¡ulclen. Ljin Grot3tcì[ clcr cpischen Dichtung -- vonclel. ILitts Libcr das Mcthabhctrat.a bis zu lteotuttLJ'. hanclelt von solchen heroischenZeiten. Die Anthropologen habcn ühnliche Vcrh¿iltnisse bci clcn Mac¡rì in Ncusee-land und clen l(wakiutl, Tlingit uncì l-laicia an der anerikarrischen NorclwestÌ(i.istegcfitnc'lcn. In herc¡ischen Gesellscha{'ten wcrclcn ¡¡r:o[3c liestrnahlc unc'[ cler nachftrl,genclc Wettstrcit an Grof3zligigkcit oft als clie lìortsotzLrng clcs l(rieges behanclelt:Man spri.cht von >i(ärnpf'en mit llesitz< ocler >l(ümpf'cn mit Essen<<, wer ein solchcsIiest gibt, ergeht sich ofT in fhrbigen Iìeden, wie clie lieindc gcschla¡ren uncl vclnichrtet wurdcn dr.rrch glorreiche Akte cler Grol3ztigigtccìt. (l(wak.iutl-I.izir-rptlinge bc*zeichneten sich ger:n als große l3crge, vor denen Gaben wic gigantische Felsblöclceherunterrollten.) oder: cr riihmt sich, wic crobertc Gegner ctrLrch Grofiztigigkeit zuSklaven gernacht wurden - so auch clic l{e clewcndr.rng cler L-ruit.

Solchc Aussagen soÌlte rnan nicht wortwörtlich nchmen - cin weitercs Merkrnalsolchcr (ìescllschafTcn ist einc hoch entwickelte Kunst des prahlens.5, HeroischeHäuptlinge und I(rieger neigten dazu, sich sysl.ematisch sclbsl: zu erhöhen, genauwic Angehörige egalitärer Gesellschaften sich systematisch kleinreclen, Der llnter-legcne in einen Geschenkcwettstreit wu¡de nicht tatsächlich versklavt, aber erkonnte sich durchaus so fiihlcn. und dic lìolgen konnten katastrophal sein. Eineantike griechische Quelle schilclert keltische Gelage, bei clenen rivalisiercncle Aclli,ge zwischen rìtterlicheu l(ämpfen uncl clcmonstrativcr Cìr:of3zügigkcit erbwechseltenuncl ihren lreinden hc¡rliche Golc{- und silberschätze zeigtcn. Gelcgcntlich fiihrtcclies zu einer: Art schachmatt: .Iemancl wurcle mit cinem so gro.f3artigen Geschenkbeclac.ht, ctass cr nicht rnithalten konnte. Als cinzige ehre¡-rhafTe lìeaktion blicb ihmin dicscrn lrall nur, sich selbst clic l(ehle clurchzuschnciclcn.i:r

6oo Jahre später fìnden wir ctwas Ähnliches in einer islänclischen saga, clie voneinem alterndcn wikingcr namens Egil handelt. Egil fì:eunclet sich rnit eìnem,jtin-geren Mann namcns Eìnar an, der immer nocìr tibcrfälle unterni¡nmt. Dic beìdensitzcn gern zusatùmen uncl dichten. Eines T'ages kommt Finar an cìnen herrlichenSchild, >beschricbcn ¡rit alLcn llr:zählungcn, uncl zwischcn clen Schrilten war:e¡

Vcrzicrungcn aus Golcl r¡ri1. liclelsterin<:n<. .Nicrnancl ha1.tc.je so ctwâs geschcn. lirnimmt clen Schilcl r¡it zu cineur ]lcsuch bci Fìgil, Iìgì[ ist nicht zu.[{ausc. lìinar war-

tc1. clrei L'age, wic es Sittc ist, clann hüngl el clen Schilcl i¡r clen Me Ikcller uncl rciietwcg

Egil kehrte nach Flanse zurück, sah clen Schild und Lragtc, wer einen

solchen Schatz besaf3. Man sagte ihm, -trinar habc ihn besucht nncl

ihm dcn Schild geschenkt. Darauf sagte Egil: >Zur FIöllc niit ihnrlDenkt er, ich werde die ganzc Nac.ht aul bleiben und ein Gedicht über

diescn Schilcl verfassen? Hol rnein Pfèrd. Ich rcitc il-rm hinterher uncl

br:ingc ihn um.< Iiinars Gh-ick wollte es, dass cr früh gcnug aufge bro-

chen war, u¡n rc-:ich.lich Entfernung zwischen sich uncl Ì,igrl gcbrachlzu habcn. So gab sich Lìgil schlie f3lich damit zufì:iedcn, cin Gcdichtriber Einars Cleschenk zu vcrfässcn.5a

.Der: kornpctitive Austausch von Geschenken macht nicmanclen im wörtÌichcn Sinn

zu einem Sklaven; r:s ist einfach cine Sachc clcr Eh.rc. Abc¡ füt' dicse Menschcn ist

dic Ehrc alles.

I)as Problem, wenn jemand Schulden nicht bezahlen konnte, besondcrs llhrcn*

schulden, hatte vor allem damit zu tun, dass Adligc auJ' diese Welse ihre Gelolg-

schaft um sich sarnmclten. Ilcispìeisweise verlangte das Gesctz der Gastfieuuclschaf-l

in den alten Zeiten, dass ein Reisender etwas zu essen und ein Dach über ilen l(opl'

bel<arn und als gcehrter Gast behandelt wurde'- aber nur eine bestitnmtc Zeit lang.

Wenn ein Gast einfach nicht wegging, wurclc er schließlich ein Untergcbencr.

Die historische Forschung hat sich kaum um solche >Anhänger( gekümmert. InvieÌen lìpochen * vom römischen I(aiserreich bis zum mittelalterlichen China .'- wa-

rcn dic wichtigsten Beziehungen, zumindest in mittlcren und grof3en Städtcn, der-

artlge Patronageverhältnisse, .leder, dcr reich wal und Iiinfluss hatte, sah sich von

ciner Schar von Lakaien, Speichelleckern, ständigen Essensgästcn und allen rn<ig-

lichen andercn urngebeu, die bcrcitwillig abhängig waren. Die dramatische uud

poetische Dichtung cler darnaligen Zeiten ist voll von solchen lììguren.55 Tatsächlich

becleutete, chrbar zu scin und der Mittclschicht anzugchören, v.lele .Iahrhun¿lerte

Ìang, dass man morgens von i['r"ir zu T'tir ging und detr lo]<alen Magnatcn seine lì.c-

verenz erwies. llis heute gibt es solche infcrnnellen Patronageverhältnisse, i-ibcrall

wo relativ reicJre uncl mZichtige Menschen dcn Wnnsch versptiren, Netzwelke von

Untcrstützern zu kntipfcn -- eine Praxis, die für viele Regionen des Mitteln-recr-

ranms, des Vorderen Orieuts ¡,tnd Latcinamer:ikas gut ilokumenticrt ist. Solche Ilc-ziehungen bestehen ofTenbar aus einem bunten Mix aller drei .Prinzipiert, dir: ir:h

Page 17: Graeber, 2012, Schulden, Kap. 5

-reilPr-

\¡'cìlor obctr crl:ìtttrrt habt:,'lì'rll.zclcll rn¡ollcn <lie rncisl.cn llt:o[rachl.cr ¡;ic rLubocliirpiin clic Sprache von 'L'¿ulsch uncl ScIulclc¡r pressen,

l.ii¡t lclztcs Lìcis¡r.icl: .[tt citrr:tn r97r vcròlÏcnt.lichtcn Saurrnclbauc{ ¡nit. clc¡"f itelGi..Jt.s ancLS¡rolls fìnclcn wir cincn l<rtrzcu Aullsatz cler Anthropologin l,orraiue: Iìlax-tcr Libc¡ cin l¿incllich gcplligtcs l)ópartcmclrl in clen fì:anzijsischcn Pyrenäcn. Dit:mcisten Einvt,ohncL sincl lJartcrn. Allen ist gcgenscitige t{ilf'eleisttrng sehr wìchtig;cìcr lì'anzrisis,;hc I'ìogi.ifti rentlrc setuice hci[31. l¡ör't]ich ribelsctzt >cincn Dienst gc-Lrtln<<' Menschen, clic iu clcrsclbcn Gcmcindc lcbcn, sollen aul'cinaniler,acht-crt r-rncl

sich cinschaltcll, wcnn ihre Nachlrarn Plobleme habcn. Das isl dcr l{crn clcr ì:]thil<in clcr Gcmeittschafl, uncl wie wir alle wissen, hurktionlc¡t.¡cclc Gemcinschaft so.So wcit, so gut. Doch danu bemcrkt l-,orrainc lllaxtcr, c'l¿rss clic gcgenscitigct FIiÌf'e inet\ /as ganz anclclcs nmschlagcn kann, wenn,jcmancl cinen besc¡ndcrs gro[3en Die nst:

gcleistel hat:

Wentr ein ly'lanrr zum Chcf] ci'er ]iab¡:ik seht und n¿rch cincr ¡\rbei.tf.a¡r1 1¡¡ç1 clcr Chcf ci'c fïir ilr. fi..clct, ist clas eitr lìcisPicl, class manjernanclcm einen Dicnst elwejst. I)cr Mann, clcr dic ¡\rbeit Lrclçomnlenhat, kö''te clen Cl-ref ic claftir, bczahlc', abe' e¡: ka'' ihru Iìcspcktcrwciscn oclcr ih¡n viel[cìcht syrnbolische Gcschcn]<c machcn i. ]ior.mvon Lìrzeugnisseln ¿ìLls scincm G¿rrten. wcnn cjn cìcschcnk cine lirwi-deru'g erfbrdcrt uncl eine Ì<onlcrcte Erwicleru'g

'icht 'röglich ist,

erfblgt clie l(iickzahlr.mg in I¡c¡nn vol1 Untcrstiitzung oclcr llespekt.i6

So wircl aus gcgenseitiger t-Iilf'e Unglcichhcit. Uncl so entstr:hen lleziehungen zw.i-schcn Gönucr r"rnc{ Cltinstling. Wir haben clas ber:cits ges^chcn. Ich habc ilicscs Zitatausgewählt, weil clie Irormttlicntng clcr Verfhsscrin so scltsaur ist. Sic isl. ei¡ \ /icìer-spruch in sich. Der chef'tul. dem Mann einen Gcfàllen..Der Mann kann clen cìe.fal--

len nicht zurtickzahlcn. Deshalb zahlt er zurtick, incìern er von zcit zu Zeit beiscinctn Chcl'zu Hause aufTaucht mit einern I(orb 'Ionratcn uncl ihm seincn lì.cspekterweist. Also, wie ist es clcnn nun? l(ann er clen Gefallcn zurrickzahlcn ocìer r-richt?

Pcter rìreuchens walrossjzigc¡ dcnkt zwcifellos, er wissc gcnalr, was hìer vor sichgcht Dcn Korb mit Tomatcn vorbeizubringen ist cl¿s Àtluivalcnt cincs wörtlichausgcdrtickten Dankes. so wird anerkannt, man stche dcm anclcr.en gegcntibel inDankcsschuld und clas Gcschenk habc tatsächlich cinen SkÌaven gernacht wic cìiel:'eitschc I{unclc macht. Der Chel'und der Angcstelh.e sincl vr¡n nr-rn arr grunclsätzlichunterschicclliche Artcn von Menschcn. Das problcrn cìabei ist, class sìe in allen an-ilercn Aspelttcn nicht gruncls2itzlìcl-r untcrschicclliche AÍ.cn von Mensche¡ sincl,Schr wahrscheinlich sincl sic beide IÌranzosen mittlcrcn Alters, Familienväter, Btir-ger der llcpr"Lbliì< mit ähnlichen Vorlieben bei Musik, Sport r.rncì Essen. Sic l1ti.ìsstcÌ1cigt:ntLich gleìch sein. ln clel frolge mlrss Ìran sich sclbsl. clie 'tbmaten -- ein Zeichen

clcr Anctkc¡rnr"rng, class einc Schtrlcl bcsi.cht., clic iric zt.r¡r-icltgcz;rhlt. wcrclen l<¿n¡r

so vorstcllcn, als wärr:n sic crnc A¡t Ììtickzahlung: Zinsen ['i-ir c.incn l(reclit, c1ct, w.ic

allc borcitwi.llig vorgcbcn, cincs T'ages zur'lickgczahlt wci-dcn ha¡rn. Uncì clann r,vcr'.

clen clic be idcn lìetciligtcn wicclcr in ihrcn glcichlangigen Status zurtickkehlcn.rT

.F,s ist bczeichnend, dass der Cìelällen darin bcsteht, dem llctroffencler cincn Ar-beitsplatz in eìner lrabrik zu gebcn. Denn was cìa passicrt, untelscheldct sich nicht:

sohr von clern, was passiert, r,venn Sic c-ine ncue Albeit ìn eincl Fab¡ik ¿rntrctcrr. IiilrArbcitsvcr:trag ist schcìnba¡ ein fi'cicr Vcrtrag zwisc.hen Gleichcn -- abcr einc Ver-

oinbarr"rng zwischen Cìleichen, bci del beicle sich darìn einig sincl, class lccinc

GLcichhcit mchr bc-^tcht, sobalcl cler einc von beiclen clic StecLruhr. bctiitigt hat,t8

Das Cìesctz sicht hicr c,'in klcincs l'roblcm nncl bcstcht clahcr clarauf, class Sic Ihr:c

Gleichheit nichl glundsàitzlich r.rncl nicht ar.rl Dauel vell<aufen lsönnen, clenn es

wäre von Ihncn sittcnwìclrig, sich sclbst in clic Sklavc¡ci zu vcrkauf'cn. Solchc tiLrcr-

einkünllte sincl nur dann akzeptabel, wcnn die Maclrt ites Chcf's nicht absolut is1-,

auf die Arbcitszeit bcgrcnz.l, und wenn Sìc clas ver:Lrr:icficÌìccht ha[:cn,.jcclerze.it

clcn Votr:ag zn b¡:echcn nnd clamìt wicclcr vollc Glcichhclt zu cllangcn. Mir schcilrt,

dass diese Übercinkunft zwischen Cìleicherr, r'richt rnehr: gleich ztL sein (zumindest

fiir cinc bcsl.immtc Zcit), von cntscheiclcnder: Wichtigkcit ist. [ìs ist der I(crn ciessen,

r,vas wiL als >Schulclen< bezcichnen.

Was also sind Schuldcn?

Schulclen sincl etwas sehr Speziellcs, uncl sie cntstchen in sehr speziellen Situa*

tioncn. Erstens mllss cs cinc lìczichung zwischcn zwei Pctsonen gcbcn, clie cjnanclc:r

nicht als grr.rnclsätzlich unterschier'lliche Artcn von Wescn betrachten, clic zr.ulin

des1. ¡rotenticll gleich sind uncl tatsachlich gleich in den Bclangen, c'lie wirùlichwichtig sind. Sie befinclen sich zwar derzeit nicht in einem Zustand cler Gleichheit

aber: es bestcht einc Möglichl<cit, dic Dingc wicclcr ins Lot zu bringon.

lleirn Scl-rcn.lçen elf'orclert clas, wie wir: gesehen haben, eine gewisse Statusgleich-

hcit. Dcshalb hat unser Ökonom kein Gefiihl der Ver:pflichtung - ftihlt er keinc

lihrcnscl-rulclcn , wenn er von jernandem zlurl Lrssen cingelaclen wird, dcr cntweder

einen vìel höheren oder cinen vicl nieclrigeren Status hat als er selbst. .Bei fìrr¡rr*

ziellen l(¡:cditcn witd nnr verlangt, dass die bciclcn llartcien rcchtlich gleich sincl.

(Sie dür:fen eincm l(ind oder einern Vernickten kein Geld leihcrr. Ocler viclrnchr, Sie

können das nattirlich tun, aber dic Gcrichtc wcrclcn .Ihncn nicht helfen, es r,r'iede.r

znrückznLrcl<ommen.) Eine .jr-uistische Schr-rlcl hat (im Vcrglcich zur moralischcn

Schuld) anclcre lrcsonder:e .lìigenschaften. Sic kann zum llcispicl vcrgcben we rclcn,

was bei eincr rnor:alischen Schnlcl nichl ir-¡rmcr: rnöglich ist.

.Liine genuin unbezahlbare Schulcl gibt es fblglich nicht. Wenn cs koine clenkbare

bfh
Page 18: Graeber, 2012, Schulden, Kap. 5

ÊE$r

Möglichkcit gäbe, clic Sitiration ztt lcjscrt, wr,i¡clt:n wi¡ ¡licht von >Schulcl< sprcchen.

Auch clcr französischc Dr¡rf ber¡'ol-rner wrirde tnutma.ßlich scincm Chcf'clas l.,cben

retten oder von oincm L,ottogcwinn die ltabrìk kaufen, Wenn wir r-ibcr elncn l(rimi*nel.len sager:r, cr habe >scitre Schulcl gegeniibcr dcr GesellschafT bezahlt<, drtickenwir damit aus, er habe ctwas so Schrcckliches getan, ciass cr aus dcn Zusl;and der

Gle ichhcit vor clem Gesetz, c'ler nach clem nattirlichen l{echl. je clern Rürger seines

l,ancles zusteht, vcrbannt wnrclc. Abcr wir sprechen von >Schulcl<, wciL sie zurtick-gezahlt werden kann, weil die Gleichheit wieclerhergestcllt werden ,ta¿n, und sei

es um clen Preis des Tocles clurch dic Gifïspril.ze.Solangc die Schuld nìcht bcglichen isl:, gilt die Logik der f:licrar.chic. Irs gibt kuinc

I{cziprozitüt. Wic.jeder weil3, der einmal im Gcfhngnis saf3, tcilen dic Ge{ängnis-würl.er dem Häftling als lÌrstcs mit, dass allcs, was im Clefängnis passiert, nicht das

Geringstc mit Gerechtigkeit zu tun hat. In ähnlicher Weise trcten Schnlc.lner undGìäubiger einander gegeni-iber, wie cìn llaucr v<¡r clcn F'eudalherrn tritt. .Das Ge-

wohnheits¡:echt grcifl l'latz. Wenn Sic lhrcrn Glilubiger'fom¿ìtcn aus dcm cigcneuGarten bringen, käme es Ihnen nicht in clen Sinn, er könntc lhncn et.was zurticlç-geberl. flr könnte abcr crwartcn, dass Sie das wieclcr tun. Doch ir¡mer bestcht c{ie

Annahmc, dass clie Situation einìger:maf3en unnattir:lic[r isl., weil die Schulcl wirÌ<lichzr"rrüchgezahlt wercìen sollte.

Das macht Situatiouen, bei denen es urn tatsächlich unbezahlbare Schuldcn gclrt,so anders nncl so schrnerzhafT. Weil Gläubiger und Schuldner lcl.ztlich Gleiche sind,kann tnit dern Schuldner etwas nicht stimrnen, nruss es sein Fehlcr scin, wenn es

ihm nicht gelingt, clas zu tun, was erfoldcrlich ist, um fìir sicll clie Gleichheit wic-d erherzustellen.

Diese Verbindung wird Ì<la¿ wcnn wir uns die Etymologie cler geläufìgen Wör-tcr f ùr >Schu.lc'l< in dcn curopäischcr-r Sprachcn anschauen. Manchc sind Synonyrnefìir >Fel-rler<, >Siinde<, >Verf'ehlung<; wie der I(rirninelle an der Gesellscha[t schul-dig geworden ist, hat der Schuldner immer etwas von einem I(riminellen.5e Plutarchberichtet, im antiken l(reta sei es üblich geweserl, dass jemand, cler einen Kreditangenommen habe, so getan habe, als stehle er das Geld alls der Börse cles Geldge-

bers. Plutarch über:legt, waruln das wohl so war. Wahrscheinlich, >damit man ihnen,wel1n sie das Gelcl nicht zurückzahlen, cine Gcwalttat vorwerl'en und sie rlesto mehrbestrafen kann<.6o Deshalb war es in vielen Bpochen der Geschichte üblich, zah-lungsunfähige Schuldner ins Gefängnis zu werfen oder - wie in der Frùhzeit cler

römischen Rcpublih -- hinzurichten.Schulden sind dann eigentlich ein Tansch, der nicht zr.r Ende gebracht wurde.Daraus fblgt, ilass Schulclcn zweilelsliei einc Schöpfung der llcziprozität sind r-rnd

wenig rnit anderen Ììormen von Moral zu tun haben (wie dem I(ommunismus mitscinen Iledürfirissen uncl l,àihigkeitcn; wie den Hierarchien rnit ihren Sitten und[iigenschaftcn). Gut, wcnn wir wirkÌich wolltcn, könnten r,vir argumentieten (man-

chc a¡qumcnlir:rcn so), Ko¡¡r¡nunisnurs sci cin Zustancl pormancntcf gcgcnscit.iScl:

Vcrschulclung, uncl einc itlierar:chic wcrcle aus unbczahlban:n Schuldcn korlstlr:relt.

Abcl ist. clas nicht gcractc clic alte (ìcschich1.c, clic rnit clcr Àtrttahtur: bcgintrl., allc

mcnschlichcn .lntcraktioncn mùssten delìnitionsgem¿if3 lrbr:mern cles 'Ilauschs scin,

und clann allc rnöglici'ren intellekt.ucllc¡r Winkelzùgc voìlf'tilrrt., nur' ìrrì1 clas zrL bc-

weis(r n?

Ncìn, nicht aìle ¡ncnschlicl'rcn Intcraktiorren sincl Fotmc-tr von T':iusch, NLLr tlan-ch: sind es. T'ausch förctctt eine bestimmtc Art uud Wcisc, tncttschlichc llezic-

hungen zu begreif'en. Dcn¡r Tausch irnplizier:l. Gleichheit, abel auch Gctreuntheit

Sobald das Gelcl bezahlt: unc'[ clìc Scl-rulclcn beglichcn sincl, wircl c{ic (ìleichhcit

wiec'lcrhcr:gcstellt uncl beicle lìetciligtc konncn sorglos von dannen gchen r-lnd rnris-

scn in Zukun.ft niclrts ûìohr nlitoìn¿ìncler zu tun habe n.

Die SchuÌden sincl das, was zwischen clcn l¡ciclcn Ìleteiligtcn licgt, dic so langc

noch nicht fì:ei ih¡:er Wcgc gchcn l<önnen, wie sie noch nicht vollkomrncn gleich

sind. Aber darüber senkt sich schon cÌer Schatten cndgiìh.igel Gleichhcit. Ihr lrr-Ìrcichen zerstört cl<,'n Grttncl der .lìezichr-rng uncl alles, was in cìer Zwischcnzcil pas*

siert ist.(i' Das gilt i'ür alles Menschliche, was in clcr Zwischenzcit liegt uncl itas

bedcutet, dass alle clerartigen ìnenschlichcn Bezichttngen zutninclesl cin klcincs

Lìlcmcnt von I(rininalität, Schulcl ttncl Scham in sich tlagcn.

FLir: dic T'iv-IiratLen, clìe ich obcn erwähnt habc, war clas keirr gr:ol3cs l'roblcrn.

Indern sie da[iir: sorgten, class jede bci jeder imrner ein bisschen Schu]clen hatte,

schr-rf'en sic clie Gesellschaft * wenn auch cinc sehr zcrbrcchliche l"ortn von Gcscll-

schafT .., ein zartes Nctz alls VelpfÌichtungen, drei Eler uncl cinen I]eutel Okra-

Schoten zurtickzugeben, Iìindungen, die crne ttert und tlett gcschaffen wurclcn, weil

jede Verpflichtung.jeclerzcit ausgeglichen werden konnte.

tJnscrc cigcnen Gcpflogenhcitcn clcs g<rsclìschaf'tlichcn lJrngangs untcrscheiclen

sich nicht sehr stark davon. Nehtten wir zum Ileispiel die Sitte in der amerikani-

schen Gesellschaft, datLernd >bitte< uncl >danke< zu sagen. Vielfàch gilt dies als

eine Grundfbr:m moralischen Verhaltens: Wir taclcln dauemc'l unserc I(indcr, wcìl

sic cs vergcssen, gcnauso wic clie Moralhùiter cler Gesellschaft -- Lehrer uncl Priester

ctwa - alle andcren tadeln. Oft glauben wir, dicsc Sitte sci universal, aber wie dcr

Inuit-Jägcr vcrdeutlich hat, ist sie nicht universal.6'Wio so viclc Flö{lichkcitsfbrmen

im alltâglichcn tJmgang ist es gewisserma[3en dic Dcrnokratisierung einel Gcstc

I'cuclaler Ehr:crbieturrg: Jeder soll so bchandelt welctern, wic fì'ühcr trttr cin Gr:und-

herr odcr einc sonstigc ::anghöhcrc I'crson bchancl<,'lt- wt.Lrcle.

Viclteicht ist es nicht in jedem lrall so. Stcllen wir uns vor, wir sincl in einem übei:-

llilìt.en llus und halten nach cincm Sitzplatz Ansschau. .Fiinc lirau zieht ihr:c'I'aschc

zlrr Seite nnd macLtt darnit eincn Sitzplatz l}:ei. Wir lächeln ihr zu, nickcn ocler

driicken clurch eine anclere kleine (ìeste uusere Dankbar:keit aus. Ocler vielleìcht

sagcn wir auch >Vielcr.r Dank<. Lìine solche Cìesto islì cinfa<rl'r clic Ancrkcnnlrng cler

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gcnrcirìsântc.n Mr:nschlichkeit; Wìr crl<cnncn an, clas.^ clic lirau, dic clcrr Sitz blo"clcicrt hattc, kcin physisclrcs llinclcrnis ist, sonclem cin mcn¡^chlichcs Wcsen, unclclass wir cr;hi.c Derrkbatkcil gcgcniìbcr oirìcr.I.)ersolr elr¡:finclcrr, clic wir: wahrschcin-lich nie wieclerseÌren werclcn,

Nichts davon triFf't in clcr flegcl zu, vvenrÌ wil jemanclen am anclcrcn Entle cìcs

Tischcs bittcn, >bitte reichcn Sie cìas Salz her:i.ibcr<, oclcr wenn cler: ì:ìricf träger sichbcdanlct, wcil Sic eine Senclung qr"ritticr:t habcn. Solchc Gesten sincl f'tir Lrrrs gleich-zcitig leere liormalitätcn uncl iloch die moralischc Gruncllagc dcr GcscllschaÍt. Ihrescheinbare unwichtigkeit ist daran abzulesen, dass so gut r,vie niema¡rcl aus prinzipablehncn wtirclc, >bittc< uncl >clanke< in allen rnöglichen Sit¡"ratio¡rcn zu saflerì ,.

sclbst Menschen, dencn >>Iìs tttt rnir leicl< oder >Ich ontschul¿ligc rnich< fäst nichti-iber clie Lippcn kornmt.

Das englische >ple¿ìs..( ist clie l(u¡:zfbrm fiir >ii'you please<, ))wcnll e s lhnc' gc-fällt, clies zu tun( Entsprcchendes gilt fiir die meisten europäischen sprachcn(frarrzösisch s'il uous plaîr, spanisch por Jauor). wörtlich heil3t es >sic habcn kei-uerlei vcrpflichtung, clas zu tun(. >Gebcn sic mir: das salz. lch sagc nicht, class Siecs l.Lrn miÌssen!< Aber clas stimmt niclrt; es gibt eine gesellschafTlichc vcrpflìchtung,nnd es ist so gut wie ausgeschlosscn, ihr nicht nachzukommen. Abcr ljtikette be-stcht zu einem grol3cn'l'cil aus dcm Austausch hrjllicher: Iiiktiorren (oclcl um csweniger höllich auszudrücken: ar.rs Ltigen). wenn sic jemanderr bitten, Ihnen classalz ztt reichen, eÌtcilen sie ihrn auch einen .uefchl. Indem Sie clas wort >bittc< an,fiigen, sagen Sie, dass es kein ßefbhl ist, abe¡ fäktisch ist cs ein Befchl,

Das englische >thank you< kommt vr¡n >thinlc<, denken. ursprtinglich bedcutetees >>lch werde daran denken, was sie fìir mich getan haben<.- was in cler Regel auchniclrt stimnrt. In anderen sprachen (das portugiesische obrigado ist ein gutes lìei-spiel) bedeutct der standardausdrucì< >sehr verpflichtet<, das hcif3t >Ich stehe inIhrer schuld<. r)as franz<jsische >merci< ist noch anschaulicher: Es geht auf >mercy<zurück, Gnade. wenn ich das sage, liefere ich mich symbolisch der Gnacle deswohltäters aus -- denn cin schuldner ist schlicßlich ein l(riminellcr..r zu sagcn>yorlre welcorne< oder >it's nothing< (französisch de rien, spanisch cle natla, cleutschschon ¿1ut) das hat zuminclest den Vortcil, oII wö¡tÌich richtig zu sein -- ist eir-r weg,der Person, der sie das salz gereicht haben, zu versichern, class sic in Ihr Fiaupt-buch im l(opf'keirre Schuld cintragen. I)as gitt auch für >my pleasurc<: Damil sagcnsic >Nein, es ist ein I(redit, l<eine schuld<, sle haben mir einen Gefallen getan, clcnnmit Ihrcr llittc urn das salz haben sic mir clic Gclegenheit gegeben, etwas zlr tun,was ich für sich genommen lohnend fänc1.6r

Wenn wir die stillschweigcndc Schuldenrechnung cntziffèrrr þ>Ich stehe in Ihrerschulcl<, >Nein, sic schulden rnir nichts<, >wenn überhaupt, schulilc ich lhnenetwas( - als wùrde man unendlich vielc lìinl.räge in ein imaginäres Hauptbuchschreibcn und wicclcr durchstlcichcn), wircl es cinfäch zu vcrstchen, warum solchc

Dingc ofì: niclit als dic Quint.t:,5senz clcr Moral, sonclc¡n als clie Quintcsso¡rz clcr M.o-

¡:al der Mittelschicht bctrachtct wer.dcn. Fis ist riclrtig, heutc bcstimrnen clie Gefiih-lc c{er lVlittelschicht c{ie Gcscllschaf't, Aber ¡nanche linclcn cias imruer noch scltsanr.

Die oberen Zehntausencl glar,rbcn häufig immer noch, lìespr:ktsbezcr-rgungen gc*

brihrten hauptsächlich Flöherrangigen, und Iìnden es merkwürdig, wcnrl Briefìr:ä-

gcr und I(onditorcn sìch unbeclingt gcgcnseitig wie kleine lìeudalhe¡rcn bchandeln

wollen, Am anderen Hnde habcn wir all .jenc, dic in >cinfhchen Vcrhält¡risscu< aul-

ge'"vachsen sind, wie man in Europa sagt: in i(leinstädteu, ärmlichen Vicrteln, iih¡:r-'

all dort, wo noch dic Annahme vorherrscht, dass alle, die kcinc J:ieincle sinc1, sich

normalerweise umeinander kümmern wercten. Diese Menschen finden es ofi verlet-zencl, wenn man ihnen ständig crzäl:rlt, class r/e Jàc:to die Möglichkcit bestehl, si<'

l<önnten ihre Aufþabe aÌs l(cllner oder 'Iaxifahrer ni.cht korrekt e rf üllerr oder die

Gäste des l-Iauses nicht mit 'Iee vcrsorgen. Mit anclercn Worten: Die Mitl.clschichl.-

etikette beharrt darauf , wir seien alle gleich, je doch in einer sehr spezieÌlen Weise.

Auf der einen Seit.e behauptet die Mitl.elschìch1., niemand erteile einem anclercn

Bcfehlc. DenÌ<en Sic nur an clen stämmigcn SicherheitsmaÌln im l.iinkar"rllszentrun,

der unweiger:lich aulltaucht, sobald Sie sich einem lle¡eich nähem, zu dcm dcr Zu-

tritt verlroten ist, uncl lragt >I(ann ich lhnen helfen?< Auf'der anderen Seite wird

,jedc Gesto, dic zr¡ dem gehört, was ich >elernentarcn l(ommunismns( gcnannt habe,

so behandelt, als sei sie tatsächlich eine Form von Austausch. .I,olglich muss wÌe bei

den f iv die Mittelschicht-Gescllschaft bcstânclig neu gescl-rafï'en werclen, wic cin

unendliches Spiel {lackernder Schatten, das Hin und Her unendlich vieler Schuld-verhâltnisse, die kurz aufblitzen nncl meistcns sofbrt wieder trcglichen wcrdcn.

All das ist eine relativ neue Erfìndung, Dìe Gewohnheit, irnrner >bitte< und>>danke< zu sagen, setzte sich während der kom¡nerziellen lìevolution cles r6. und17. Jahrhunderts durch '- bei eben jenen Mitteìschichten, clie har.rptsächlich fiirdiese llevolution verantwortlich waren. Es ist die Sprache der Ämter, der I-,äden

und I(anzleien, und irn Lauf der letzten 5oo Jahre hat sie sich mit diesen Bin¡ich-tungen ausgebreitet. Die Sprache ist nur ein Zeichen einer umfässendercn l)enkwei-se, einer lìe ihe von Annahmen, was Menschen sind nnd was sie einander schuÌden.

Heute sind diese Annahmen so tiel verwurzelt, dass wir sie 6¡ar nicht mehr wahr-

nehmen.

Manchmal erkennt ein bcsonclers hcllsichtigcr Gcist an cler: Schwelle zu cineL nen-

en historischen Epoche allc hnpli[<ationen clessen, was da bcgirLnt - manchuraI bes-

ser, als spätcre Cienerationen dies können. Ich rnöchtc dicses l(apitel mit der Schril.'t

von François Rabelais - entsprungener Mönch, Arzt, llcchts¡lclehrter -' becnden,

der um r54o in Paris seinen bertihrnten spöttischen Lobpreis verfasste und iu das

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dr.ittc tiLrch scincs 8rof3ctl'vVcrks Gcr;garúuct urLcl PontagrtLel alt{ìa}r¡r' Das I(apilcl

\¡,/urclc bclialtlt als >L'ob t-lcr SchLrlclrlot r'lncl Gläubigcr<'

I(abelais legt cìie Lobrccle Pertrurg in cle n Muncl, cincm wandclnclen Gcleh|tcn volt

höchstcr l<lassischcr llilclung, clcr, wie eI. antl]ct'kt, >>ittttncr an clrei¡,tnclscchzig 'ver*

schicdne Mit.tcl l¡er:cit [hattcl, urn sicl-r (ìclcl ztL machcn, so viel er.jcclerzeit bcclr.rr'['-

t.c, cl¿rvon clas gcr,vöhnlichste nnd ehrlìchste noch clcr Wcg clcs hoimlichen Mausetls

war<<.6i Der gLltùttil.ìgû lì.icso Pantâgmel nimmt Panrlrg auf rLncl verhilfi ihm sogar

zr.r cincm chrbare n lìinkotlmcn, aber cs stört ihn, dass I'anurg nach wie vOr nit Geld

unr sich rvirl.t. ur-rcl bis über beiclc Olrren in Schulclen steckt, Wäl'c t's uichl bcsscr,

mcint Pantagruel, wcnn man se i¡re Gläubiger bozahlerr k¿inlltc?

Panurg entgcgnct cntset.zt: >Gott bcwahrc mich clavor, cla.[3 ich.]c lar"rs dcn Sctrul-

clenl her:arLskomnrc,< SchulcleÍì sind dic .llasis se incr Pltilosophic:

Nichts llcsscrcs, als scÌrulc'lcn .haben! Da bittct man r.tnablässi¡; dcn

liel¡cn Gott fihr.clich, clal3 er ctil: cin gesundcs, glückliclies, laÌrges.l,c-

bcn schcnkc, uncl wcil rilan für,chtet, sci¡r Gclcl bci clir zu vcrlicren, so

reclet man vor clen f,eutt:n nuf das lleste von clir, clamit sich imme¡

Ncr.re [inc]cn, clie itir borgcn, tìcue (ìucllen llicf3cn nncl altr: L,öchcr mit

Liiscl-rcr¡ L,chm zugeschmi<,'rt. r'vercten l<önncn, clen andcle hergebcn

sollcn.tr

Vor alle¡l wcrdcn clie GIäubigcr: immcr betcn, ihl Scl-rr"rlclncr môgc zrL Gelcl komureu.

lrs Ìst wic bei dcn Sklavcn in clcr Antike , clie bcìur .tìcgr:äbnis ihrer Ilcrrcn geopfèrt

werclen sollten. wenn sie ihren l.Ierrcn ein langcs l,eben und gute Gesundheit

wünschtcn, mcintcn sie clas -- aus Selbsterhaltungstricb ganz chrlich! Mehr noch:

schulclen Ì<<innen cìen schuldner zn cincr Art clott macherl, dcr a1lcs (Geld, wohl-

wollende Gläubigcr) aus dem Nichts schalft.

Uncl clicse hirchste Gli-ickscligkcit wollt lhr nrir verwehr:en, indem

Ihr mich fr:agl, wann ich aus ureinen Schnlden herauskommen werde?

Ri, so helf ' rnir cter heiligc lìabolir1, we nn ich nicl-rt mein Le btag Schttl-

dcn .frìr: clas bcsl.c llancl zwischcrr l{inrrncl uncl lirdc gchaltcn habe, Iür

clas, was einzig ttnd allcin die Mcnschheit zltsanmenhZilt, dic sonst

vcrltonutcrt müf3lc, viollciclit gar fÏr.icnc gr:ol3e Scclc dcs Wt)ltalls,

clie, wic clic Akac{emiker sagerl, aÌle Dinge belebt

Dall clcril wirklich so ist, mrLfi l-'luch sofbrt cinlcr.rchtcn, wcnn Ihr: cs

nur einmal vcrsuchl., Euch einc Wclt den llegrifÏ unc{ Wescn nach

vorzustellen -- rncìnetwegen clic dreilSigstc von clcnen, clic cler Philo-

soph Metrocìoros s.ich cfsat'ìrl, oclel clie achtturclsicbzigstc dcs Petro-

nius -, in der es kcit're Cìläubigcr: und Schulclnor gäbe: cine Welt ol-rne

Schtrlc{igscitll lji, t'la wrirclerr clir: Cìcstirrrc attclr ki:it,ro ¡lcitlgr:ltcrr.lìal.r.

trcn hal¡cl'r, uncl alÌes gericle in Vcrwirrr'tng 'lt.lpil"cr' cìcr clcm Satttlt-t

rrichl:s schulcìig zr-r sein mcintc, wLirclc itrn aus sciner Sphirrc vcrchiin-

gcu uncl allc lt'rtclligcnzen, Göttcr, Flimmel' Dürnoneu' Gcnien' Flero*

cn, "Icuficl, Ilrclc, Mct:r: uncl sämtliche [ilcmcnl'e an seiner homerischcn

I(ette au.[hängen ... Dcr Moncl erschiene blutig und fìnster; ctenn wos*

halb solltc clic Sonne ihrn ìhr Licht lcihcn, dazr¡ würe sic ja nicht l'cr-

pflicl-rtet. Auch der Ërc{e wür:cle sie nicht uchr leuchtctt' del clic an-

clerc. Gcsl.irne ihre rr rn¡ohlt?itigcn EinflLlti glcichenrlaf3cn vorcntlìaltcll

rn',lirclen . .

Zwischcn clcn lilct¡rc¡rt'cn giib' cs kciue Reziehrmg mr:hr' Lceinert

Austattsch,kcilcnWechsel;clcnnkeineshällcVerbincllichltcìtcn¡r'e-gcn clas anc{elc, von cìem es.ia ebenfhlls nichts cmpfìrlgc Aus der Lrcle

kämc keìn Wasser, W¿rsser vclwanclclte sicl: nicht in Lufl' l'ull nicht

in lieuer, ttncl clas fìcttct crwärmtc nicht die Tlldc Dicse brächte nr'tr

tJtrgchcuer, 'I'itanen uncl Gigant'e tl hctvor; kcin lìcgcn regnet'c' kein

Licht lcuchtcte, kein Wincl wehte; es wàir' kcin sommer noch Llerbst'

L,r-rzil'er sprengtc scine liesseln, br'äche mit clen l'iurìcn' clen llachegeis-

tern nncl gchör:ntcn ltbuf'eln atts clen AbgrrLncl clcr l'lóllc hc|vor uncl

suchte alle Clöttel clcr gr:of3cn wic kleincn Vcilì<er atts ihrcn Hitnrncln

ztr vcrtreitrcn

Unc[wasrrochsclrwer.erWiogt:I.jineWeh-,inclcrnicl.rtsgeliclrenutrclqcscJrtrlcletwiircle, w2rre >cine wahre I-Iunclewelt< . v"ilcl nnd cliaotisch'

I(cin lVlcr-rsch s¡rràirrgc clct¡r antlcr¡r bci; cla könnt' cincr langc >llertcrl

IieuerlWasserl Moldcrl ililfel Flilfcl< schreien' che tnan altch nttr den

tìingcr ftir ìhn rührte . FIat er cloch nichts gcÌiehen, also ist man ihm

auch nichts schulcligl Niemancl l'ìätte cin lntcrcsse claran: tnag er ab-

brennen, SchilfbnLch erlciden, FIab uncl Gut verlieren odcr ttmkot.n-

nlcn; weil cr nichts geliehcn, leiht man auch ihtl nìchts'

I(tLr:z ttncl gut, ar-r-s cincr solchen Welt wären (ilanbe' Licbc nncl

Fto fIhr"tn g vert'rannl..

Panttrg - cin Mann ohne lìamilic, alÌeirr' clt:sscn cinzigc lìeruf'ung im l'cben es

ist, viãl Ge lcl in die .l..Iancl zu bcko¡nncn uncl es d¿rnn anszlrgeben'- ist clcr richtige

Pr:oplretoinelWclt,clicclarrralscrstarrbrach.Scincsic.l'ltistnal'iirliclrcliccitrcsl'cl-c/zerr Schrrlclncrs . t-ticht cincs, clcr Gcfàlrr läuf1, irr cin stinkendes Verlìcs gcwor.f'ert

zuwerclcrr,wcnllcrrrichtzalrìenkal.rn'f)oclrwaserbcschrcibt,ist,cìieLogischcsclrlussfblgcrung, clie reclttcti<s ucl ubsttrcltLt¡t, clic lìabclais wie iumcr in wil"zigcr

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Vt-'rclrchung clarlcgt, clcr Atrnahmcn i.rbor clic Wclt als T'arrschv*:håjltnis, clic hinlc¡:all rtnsc¡e¡t hi.ibschcn [rùilgcrlichen Formalitiitcn schlurnmcrt (clic, beilär"rfìg br:meil<t,[{abcl¡is vorltthl:t:1r: s¡:in 13uch ist im WcscntJichcn cinc Mischurrg arrs klassischelIìildung und schmutzigcn Witzen).

Uncl es stlmmt, was ef sagt. Wenr-r wir.jecle menschliche Intcraktion so interpre-tieren, dass clie Menschcn einander ein Ding für cin ancìeres geben, clann könnenbe stäncligc me nschliche lleziehungcn ¡rul dic.lioLm von schuldcn annchmcn. sonstwüre niemancl cinern audcrcn ctwas schr.rldig. Fjine Welt ohne Schulclen wtirdcdic l{rickkehr zrÌm ursprünglichen chaos becleuten, zr.rm l(rìcg allcr gegcn alle. Nic-mand wi.ilcle die geringste veralÌtwortung fìir andcre versptircn; clic'I'¿rtsache, cinMensch zu sein, hätte keine lìcdeul.r.rng. wir alle wür:en bald einsame plancf-en, bcideuen man sich noch nicht cinmal clarauf'verlassen kônnte, class sic in ihrer. Urn-laulbahn bleiben.

Pantagmel will nichts von alldem. seine Gefühle in clieser sachc könnten, wieer selbst sagt, mit einern wort des Apostels paulus zusamrnengcfässt werclen: >seiclniemandetn etwas schr"rldig, auf3er claf3 ihr cuch untercinancler licbct.<('7 Und cla¡¡erkl¿irt er in einer wirklich biblischcn Geste: >>was einmal geschehen ist, wercle ichin Orclnung bringen.<

>Das Allerwenigste, was ich tn' kann, ist, Fjuch zu cìankcn<, crwiclcrt panurg.

IiËF]TËL È,

5ËlHtË r'1TT 5Ëli r_ri.lti Tüii

1(fiFl,R¡¡/ W1R Z UIl konventioncllcn Wirtschaftsgcschichte zr-rriick, spr:ingt

etwas ganz bc"^onc'lers ins Auge, nürnlich wie viel ar-rsgeblcnclcl. wulde. D¿rs nlensch-

lichc Lebeu arLf''I'ausch zu ¡ecluzicren lrccleul.ct zltm eiuen, alle anclorcn wirtschaft-

lichen l(onstelÌationen bciseitc zu lasse¡r (Hierar:chie, I(ornmunisntus). AulScrclern

I'ehlt ein grof3er'Icil der Menschhoit in dicscm lìild: clcr'fcil, dcr nicht aus rnännli-

chcn Erwachsenen besteht unct clessen Alìtag rnan clcshalb schwellich clarauf rcclu*

zieren kann, Dìnge zu tattschcn, stcts aul'clcr Suchc ¡rach clent cÌgcnen VorLcil.

Das Ër.gebnis ist eine gereinigte Sicht cìer Art uncl Weise, wie Gcsch2ifl.e tatsäch-

lich firnktionicrcn. Die orclentlicl-rc Welt der: Läctcn uncl Ëinkar-Lfiszentren ist cler

Inbegrifl des Mittelschicht-Ambientes. Aber ganz obcn und ganz unten itr clem

Systcm, in cìer: Welt der lìankstcr ttncl der Gangster, werden Gcschäfte olï ganz an-

dt:rs getätigt uncl unterscheidcn sich nicht sehr von dcm Àblaul bci dcn Gunwing-

gu ocler clcn Nambikwara - zumindest insof'crn Sex, Drogen, Musik, ausgefallenc

Spcisen uncl lanerncle Gcwalt lreteiligl. sincl.

So gcsehen zeugt es von rlihrencler Naivität, wcnn Ökonotnen dar¿uf beharrcn,

clas Wirtschaftslebcn bcginne rnit Tansch, rnit dem unschuldigen Austausch von

Ì?fèilen gegen Zeltstangen, wobei niemand in eincr Position sei, eincn ancleren zu

vergewaltigen, zu clcrnritigen oder zu quälen, uncì gehe dann ein{hch seiner Wege.

AlÌe Geschichten, clie wir anschließend erzähleu, sincl lückenhafi. Die Frauen

tar,rchen, wic es scheint, aus dem Nichts auf. Iljrinnern wir uns an die in l(apitel jziticrtc Passage aus dcm Wcrk dcs Numismatikcrs l'hilip Gricrson ùiber (ìeld uncl

clie barbarischcn (lesctzestexte :

In walisìschen Gesetzen wircl clie lìnt.schâclìgung hauptsächlich in

Vich errechnct urtcl in .i¡:ischcn Gcsctzcn in Vich oder Dierlstmädchcn

(cumaL), üdelmetalle spielen in beiden einc erl'reblichc l(olle ln clcn

germatrischen l(oclizcs komrncn har"rptsüclllich tscle lmctallc vor '..'

Wic kann rnan einc solche l,assage lesen, ohne gleich irt der zweil-en Zeile str-rtzig zrL

wcrclctr? >Dicnstiniiclchcn<? Iìcclcutct clas niclrt >Sltlavinncn<? .Ia. Irr altcn lilancl

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Aus clcm Amerilçanischen

von Urscl Scháfèr

Hans llre r-Lndl

Stephan (ìebauer

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