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Ein Magazin über die Zukunft Europas Herausgegeben von der Jugendpresse Deutschland Frühjahr 2009 grenzgänger* WOHIN SOLL DIE EUROPÄISCHE REISE GEHEN? BRÜCKENBAUERIN CLAUDIA ROTH IM INTERVIEW S.4/5 GROSSE TRÄUME, SCHWERE ZEITEN S.12/13 VERTRAGSLOS S.16/17 LETZTE RETTUNG WEB 2.0 S.24

grenzgänger

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Im Frühjahr 2009 setzte sich die Redaktion von politikorange in einem Themenmagazin mit den Grenzen von Europa auseinander.

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Page 1: grenzgänger

Ein Magazin über die Zukunft EuropasHerausgegeben von der Jugendpresse Deutschland

Frühjahr 2009

grenzgänger*WOHIN SOLL DIE EUROPÄISCHE REISE GEHEN?

BRÜCKENBAUERIN CLAUDIA ROTH IM INTERVIEW S.4/5

GROSSE TRÄUME, SCHWERE ZEITEN S.12/13

VERTRAGSLOS S.16/17

LETZTE RETTUNG WEB 2.0 S.24

Page 2: grenzgänger

die europäische union / s. 14/15 Einfach erklärt, was schwierig erscheint: die Institutionen der EU

Innen (Ver)fassungslos / s. 16/17 Der Aufstieg und Fall des Lissabon Vertrages

was bleibt / s. 18Das Dreiländereck Polen-Tschechien-Deutschland fünf Jahre nach der Osterweiterung

ist aller anfang schwer? / s. 19Wie Polen sich langsam in die Europäische Union integriert

mehr demokratie wagen? / s. 20Warum die EU mehr Legitimation benötigt

wer ist eigentlich europa? / s. 21 Der europäische Weg kennt mehr als ein Ziel

der fanclub europa / s. 22Wie Fußball und Musik zum Wahrzeichen der EU werden können

eudoku und reutsel machen spass / s. 23Ein EUdoku und ein rEUtsel für eine bessere Zukunft

letzte rettung web 2.0 / s. 24Drahtlos von Brüssel in die Heimat

eunite it! s. 25Über die Utopie eines Bundesstaates Europa

erasmus orgasmus s. 26/27Wie der Studentenaustausch die internationale Liebe fördert

herausgeber und redaktion politikorange – Netzwerk Demokratieoffensive (c/o Jugendpresse Deutschland e. V., Wöhlertstraße 18, 10115 Berlin / Tel. (030) 450 865 50, Fax (030) 450 865 59 www.jugendpresse.de, [email protected])

chefredaktion (Visdp) Mandy Buschina, Christoph Herms, Antonie Rietzschel

redaktion Annika Bischof, Nils Glück, Julia Hahn, Franka Henn, Steffi Hentschke, Kathrin Hünemörder, Nina Keim, Irene Sacchi, Hanne Schneider, Sergey Simonov, Friedhelm Weinberg, Konrad Welzel

gestaltung und satz Maria Messing von FlexoDesign

fotos editorial: Jessica Michalski - www.jugendfotos.de S. 4/5: Thomas Trutschel · S. 6: Stefan Steinacker S. 7: German Marshall Fund (l.), Europäische Kommission in Washington S. 8: privat S. 9: privat

Außen claudia roth im interView / s. 4/5 Grünen-Chefin Claudia Roth über die Grenzen der EU ein starkes team / s. 6/7Zur Bedeutung der transatlantischen Beziehungen

bedeutsam, aber problematisch / s. 8 Vier Standpunkte zum Georgienkonflikt

grenzen eines traums / s. 9 Europa als Vorbild für Mittelamerika

umgang mit flüchtlingen stellt unsere werte in frage / s. 10/11 Über die Flüchtlingssituation an den Außengrenzen der EU spricht Elias Bierdel

grosse träume, schwere zeiten / s. 12/13 Wie die EU zur Krisenmanagerin in Nahost werden kann

Europa ist wie ein Jugendlicher. Dynamisch, kritisch und in ständiger Änderung begriffen. Manchmal aber auch in sich gespalten und schwierig – und in den besinnlichen Momenten fragt er sich nach seiner eigenen Identität. Ergründen kann er alle offenen Fragen oft nur, wenn man an seine eigenen Grenzen geht. Sie abschreitet. Sie übertritt. Dabei immer wieder zurücksehend, ob er auch sich selbst treu geblieben ist.

Dieses Magazin will die Grenzen Europas ausloten. Es stellt sie in Frage - will wissen, was dahinter liegt und wie die Zukunft aussehen kann. 20 junge Leute haben sich getraut, sind Grenzgänger gewesen, zeigen Innenansichten und Außenperspektiven der Europäischen Union und haben dabei ihre ganz eigene Vision der Zukunft Europas geschaffen. Der Blick über den eigenen Tellerrand hat sich gelohnt.

Geh über Grenzen!

editorial

S. 10/11: Borderline Europe · S. 12/13: Eric Gusenda – jugendfotos.de S. 14/15: www.europal.europa.eu S. 13: Marvin Schuld – jugendfotos.de S. 18: privat S. 19: Maurice Gierse – jugendfotos.de S. 21: Mandy Jochmann – jugendfotos.de S. 22: Friedhelm Weinberg – jugendfotos.de S. 24: Vladimirs Guculaks jugendfotos.de S. 26/27: Irene Sacchi S. 28: fashion4art

illustration Seite 20: Andre May

mit freundlicher unterstützung der Vertretung der europäischen kommission in deutschland

druck BVZ Berliner Zeitungsdruck GmbH auflage 30.000 Exemplare

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grenzgänger* / Ausgabe Frühjahr 2009Außen grenzgänger* / Ausgabe Frühjahr 2009 Außen

brücken nicht immer einstürzen lassen

Was hätte denn die europäische Union von einem Tür-keibeitritt?

Erstens wäre es ein wichtiges außenpolitisches Signal, wenn Europa die Kraft hat, ein Land zu integrieren und demokratisch einzubinden, in dem mehrheitlich Moslems leben und das islamisch mitgeprägt ist. Zweitens gibt es einen ökonomischen Aspekt. Für die deutsche Wirt-schaft würde sich natürlich auch ein lukrativer neuer Markt eröffnen. Und drittens würde ein Türkeibeitritt auch für die in Deutschland und in anderen EU-Ländern lebenden Türken und Türkischstämmigen ein Zeichen sein, dass sie willkommen sind und zu uns gehören. Außerdem ist es sehr wichtig, dass Demokratie und Rechts-staatlichkeit in der Türkei durch die Erfüllung der EU-Kriterien ein neues und sicheres Fundament bekommen.

Sie betonen immer wieder, dass ein glaubwürdiger Beitrittsprozess die demokratischen Kräfte in der Türkei entscheidend stärkt. Sind hier nicht Ursache und Wirkung vertauscht? Müsste nicht die Türkei aus eigenem Bestreben Reformen erlassen und ihr dann ein EU-Beitritt angeboten werden statt den Druck der Beitrittsmöglichkeit als Anlass für Reformen zu nehmen?

Beide Prozesse müssen natürlich Hand in Hand gehen. Es nützt gar nichts, als Außenstehende der Türkei die Kopenhagener Kriterien zu diktieren.

Ein eigenes Bewusstsein für Menschenrechte oder Rechte von religiösen Minderheiten muss auch aus der türkischen Gesellschaft selbst kommen. Aber dieses Bewusstsein gibt es dort ja in weiten Teilen bereits. Und durch einen Beitrittsprozess würde es noch deutlich gestärkt. Ähnliche Erfahrungen gibt es auch in anderen Ländern. Beispielsweise wurde von den Opfern der Francodiktatur in Spanien der Beitrittsprozess zur Union sehr positiv als Hilfe verstanden, die ihre junge Demokratie geschützt hat.

Frau Roth, ist die Gesellschaft in der Türkei eigentlich schon soweit? Die EU- Inspektoren haben immer wieder besonders kritisch die Menschenrechtssituation in der Türkei beäugt. Stehen nicht ihre eigenen politischen Schwerpunktthemen wie Menschen- und Frauenrechte im starken Gegensatz zu dem Weltbild vieler Türken?

Es gibt doch kein Weltbild in der Türkei, in der Folter zur gesellschaftlichen Praxis gehört. Es gibt dort so viele Demokraten wie in Deutschland und diese Menschen wollen in einem Rechtsstaat leben. Natürlich existieren auch patriarchale Strukturen. Doch gerade die Behauptung, der Islam wäre an allem Schuld, ist in hohem Maße falsch. Es gibt feudale Strukturen, die mit demokratischen Verhältnissen nur wenig zu tun haben, Strukturen in ländlichen Gebieten, wo die Rolle der Frau tatsächlich nicht die ist, wie ich sie mir vorstelle. Solche Zustände sind natürlich nicht hinnehmbar

und absolut kritikwürdig. Andererseits haben wir in deutschen Universitäten einen Anteil an Professorinnen von 10 Prozent, in der Türkei ist er bereits dreimal so hoch.

Cem Özdemir sagte kürzlich in einem anderen Interview, „dass die Ablehnung des angestrebten türkischen EU-Beitritts dort am höchsten in den Mitgliedstaaten ist, wo die Zahl der Türken besonders hoch ist.“ Wie kann denn die Politik den Beitritt den EU-Bürgern schmackhaft machen?

Natürlich ist ein Beitritt immer eine Herausforde-rung. Der Beitritt der Türkei, eines riesigen Landes mit 70 Millionen Einwohnern, ganz besonders. Dennoch wünsche ich mir einen objektiven Diskussionsprozess, also eine Erwägung von Vor- und Nachteilen. Hier in Deutschland werden gern die üblichen Ängste vor Überfremdung und Ähnlichem inszeniert.

Stattdessen sollten wir über die Chancen eines Türkeibeitritts reden. Dass einer der erfolgreichs-ten europäischen Filmemacher, Fatih Akın, ein Deutschtürke ist, Feridun Zaimoglu ein gefeierter deutscher Autor ist oder Cem Özdemir als Tür-kischstämmiger einen deutschen Parteivorsitz inne hat, zeigt, dass der Integrationsprozess auf einigen Ebenen schon sehr weit ist. Solche Menschen sind Brückenbauer, aber diese Brücken dürfen wir eben nicht ständig einstürzen lassen, sondern müssen sie weiter ausbauen. Erst dann werden Ängste nicht mehr so leicht heraufbeschworen werden können.

Frau Roth, lassen sie uns doch noch einen Blick auf weitere mögliche Beitrittskandidaten werfen. Ein Großteil der ukrainischen Bevölkerung steht schon jetzt hinter einem EU-Beitritt. Seit vergangenem Jahr gibt es auch ein Assoziie-rungsabkommen zwischen Brüssel und Kiew. Ist die Ukraine für Sie, Frau Roth, eine Option für den EU-Beitritt?

In naher Zukunft halte ich einen Beitritt der Ukraine für keine Option. Es sollte auch noch etwas anderes als weiß und schwarz, Mitglied oder Nichtmitglied, geben. Dabei spreche ich nicht von einer privilegierten Partnerschaft. Auf dem Weg zur Heranführung an Europa gibt es jedoch eine Reihe von Schritten, die getan werden können: Schaffung von Zugängen zum Binnenmarkt, Umweltabkommen oder Visaerleichterungen. In Richtung Weißrussland und Ukraine braucht es auf jeden Fall ein Partnerschaftsabkommen und eine Verstärkung der Zusammenarbeit.

Utopisch mag die Idee des Beitritts von Israel klingen. Andererseits hat sich Israel im Rahmen des Türkeibeitritts selbst einmal ins Spiel gebracht. Viele Israelis haben ihre Wurzeln in Europa und geografisch ist es auch nicht weit entfernt. Was halten sie von diesem Gedankenspiel?

Und was machen wir dann mit einem hoffentlich bald existierenden Palästinenserstaat? Man kann natürlich trefflich streiten über den geografischen Aspekt der Europäischen Union, aber dieser gilt nicht allein. Ich halte im Zusammenhang mit Israel die Stärkung einer Mittelmeerpartnerschaft für einen guten Weg, sodass die Europäische Union mit den sie umgebenden Ländern durch Partnerschaften verbunden ist. Aber Israel als EU-Mitglied – welches wäre denn das Argument, das für Israel sprechen würde, einen Palästinenserstaat aber ablehnte?

Die letzte Grenzverschiebung der EU fand 2007 statt. Mit Rumänien und Bulgarien wurden die bislang wirtschaftlich

frau roth, zum abschluss verraten sie uns doch bitte ihr liebstes türkisches rezept.

Ganz einfach: Mante. Die türkische Mante ist sozusagen die kleinste denkbare Maultasche, für mich als Schwäbin also die ideale Verbindung. Sie werden gekocht und dann kommt darüber eine Mischung aus Knoblauch und Yoghurt sowie heiße Butter, die mit einer recht scharfen Gewürzmischung verrührt wird. Sehr lecker!

rezept für mante (türkische ravioli)

DER NUDELTEIG

375 g Mehl1 EiSalz und Wasser

TÜRKISCHER JOGHURT

2 Liter H-Milch¼ Liter Sahne1 Liter Naturjoghurt

schwächsten Länder in die EU aufgenommen. Wäre es jetzt nicht an der Zeit, eine Atempause zu machen, um die beiden Länder zu stabilisieren sowie die Europäische Union als Einheit zu stärken?

Integration und Erweiterung sollten ein gemein-samer Prozess sein. Man muss sehen, dass das bestehende Europa handlungsfähig ist, bevor man weiter erweitert. Andererseits kann man Länder wie Kroatien oder die Türkei nicht dafür verant-wortlich machen, dass die EU es nicht schafft, ihre Handlungsfähigkeit zu verfestigen. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass der Vertrag von Lissabon nun endlich angenommen und umgesetzt wird. Bis dahin müssen wir in Sachen Nachbarschaftspolitik und Integration weiterarbeiten.

Frau Roth, zum Abschluss verraten Sie uns doch bitte Ihr liebstes türkisches Rezept.

Ganz einfach: Mante. Die türkische Mante ist sozusagen die kleinste denkbare Maultasche, für mich als Schwäbin also die ideale Verbindung. Sie werden gekocht und dann kommt darüber eine Mischung aus Knoblauch und Yoghurt sowie heiße Butter, die mit einer recht scharfen Gewürz-mischung verrührt wird. Sehr lecker!

Claudia Roth Bundesvorsitzende der Partei Bündnis 90/Die Grünen

PÜNKTLICH ZUR EUROPAWAHL WIRD WIEDER ÜBER EINEN TÜRKEIBEITRITT IN DIE EURO-PÄISCHE UNION DISKUTIERT. EIN GESPRÄCH MIT CLAUDIA ROTH, PARTEIVORSITZENDE VON BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, ÜBER DIE GRENZEN EUROPAS UND DARÜBER, WO DIE REISE EIGENTLICH HINGEHEN SOLL. Von Mandy Buschina und Christoph Herms

Politikorange: Frau Roth, was ist europäisch an der Türkei?

Roth: Was ist nicht europäisch an der Türkei? Wenn man sich auf Spurensuche begibt, sieht man schnell, dass viele Wurzeln der europäischen Kultur in der Türkei liegen.

1963 ist vom damaligen Kommissionspräsidenten sehr klug beschrieben worden, was Europa ausmacht. Er sagte, dass sich Europa nicht nur geografisch, sondern auch über ein gemeinsames Wertefundament definiert. Und dazu gehört eine demokratische Türkei.

Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass Parteien wie CDU/CSU und andere konservative Parteien in Europa einen Türkeibeitritt ablehnen, für wie realistisch halten Sie einen zeitnahen Türkeibeitritt?

Die Frage ist, warum die konservativen Parteien den Beitritt ablehnen. In Deutschland wird pünktlich zur Europawahl in Bayern wieder die Türkei auf die Agenda gerufen mit einer durch-schaubaren Taktik und antitürkischen Position. Und dann wird gefordert, dass das deutsche Volk in einem Referendum über den Türkeibeitritt abstimmen soll.

Mit Verlaub, das ist eine Art von Kampagnenpo-pulismus, den die Menschen durchschauen. Ich hoffe auf eine differenzierte Auseinandersetzung, wobei noch zu klären wäre, ob ein Referendum zum Beitritt ein geeignetes Mittel zur politischen Entscheidung ist.

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DIE FÜLLUNG

Rinderhack ZwiebelnKnoblauchSalz und PfefferPetersilie scharfe Paprika

SAUCE

türkischer JoghurtSalzdurchgepresster KnoblauchButterCayennepfefferRosenpfeffergetrocknete Pfefferminze (Nane)

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grenzgänger* / Ausgabe Frühjahr 2009Außen grenzgänger* / Ausgabe Frühjahr 2009 Außen

K ein Staat kann die Probleme der Welt alleine bewältigen, diese Worte fügte

Bundeskanzlerin Angela Merkel der Botschaft zur Amtseinführung von Barack Obama hinzu. Für die Europäer ist es klar, dass globale Krisen auch globale Lösungsansätze verlangen. Weitere Alleingänge, wie sie unter der Bush-Regierung zu sehen waren, sind nicht erwünscht.

Das Ziel Europas steht und fällt mit den transat-lantischen Beziehungen. Die zunehmende Globa-lisierung zeigt, dass die Systeme Europas und der USA eng miteinander verflochten sind. „Globale Herausforderungen, wie die Weltwirtschaftskrise oder die Klimakrise erfordern eine beidseitige Führungsposition der USA und ihrer europäischen Partner“, sagt Anthony Smallwood, Pressesprecher und Public Diplomacy Experte der Delegation der Europäischen Kommission in Washing-ton. Eine enge Zusammenarbeit der USA mit Europa, geprägt von positiven transatlantischen Beziehungen ist demnach unumgänglich. Das Grundgerüst dafür ist durch die gemeinsame Vergangenheit vorgegeben. Auf der einen Seite sieht Amerikas Bevölkerung ihren Ursprung in

der dorn im auge

Die amerikanische Grunddefinition von Krieg und Frieden, von hard und soft power, war der europäischen Bevölkerung und den Regie-rungen ein Dorn im Auge. So bemängelten die Europäer die Alleingänge der USA und die fehlende Zusammenarbeit. „Es gibt in Eur-opa ein immanentes Unterlegenheitsgefühl gegenüber den USA. Das und die Kritik der Europäer am Irakkrieg führte zu den bekannten Kontroversen und Konfrontation“, sagt Lentz.Das zuvor sehr positive Image der USA musste unter der Bush-Regierung starke Einbuße hinnehmen. Das zeigt eine Umfrage des German Marshall Funds zum Thema transatlantische Trends. Während 2002 noch 64 Prozent der Europäer eine globale Führungsposition der USA befürworteten, sank die Zahl auf 36 Pro-zent in 2008. Gründe für den Imageverlust sind in der Person George W. Bush und der in ihm personifizierten Außenpolitik der USA zu suchen. Was unter Bush stark gelitten hat, soll nun durch den neuen Präsidenten der USA wieder ins Reine gebracht werden.

Europa. Auf der anderen Seite war es der Einfluss der USA, der Europa nach dem zweiten Weltkrieg und während des Kalten Krieges maßgeblich geprägt hat.

Trotz zunehmender Komplexität der Welt im 21. Jahrhundert bilden gemeinsame Werte, Tra-ditionen und Ursprünge eine stabile Basis für die transatlantischen Beziehungen. „Beide politischen Einheiten basieren auf den selben demokratischen Grundprinzipien wie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Ordnung“, sagt Rüdiger Lentz, Büroleiter der Deutschen Welle in Washington und Präsident der Atlantischen Initiative in den USA. Gemeinsame Vergangenheit und Überzeugungen schweißen zusammen und helfen, gemeinsame Lösungen für die Zukunft zu finden.

Mit dem 11. September 2001 und den außenpolitischen Interventionen der USA in Afghanistan und im Irak kam der Bruch. Wäh-rend die US-Regierung unter George W. Bush ihre außenpolitischen Maßnahmen mit Gewalt durchzusetzen versuchte, strebte Europa einen Lösungsansatz auf internationaler Ebene an.

ein starkes teamUNTER BUSH RUTSCHTE DAS IMAGE DER USA IN DEN KELLER. DIE ZUSAMMENAR-BEIT ZWISCHEN EUROPA UND DEN USA WAR ANGEKNACKST. MIT DER WAHL OBA-MAS STEIGT DIE HOFFNUNG AUF EINE NEUE ÄRA DER TRANSATLANTISCHEN BEZIEHUNGEN. DOCH DIE LöSUNG LIEGT NICHT NUR AN EINZELPERSONEN. Von Nina Keim

eine neue ära?

Die Wahl Barack Obamas zum 44. Präsidenten der USA ist in vielen Mitgliedstaaten der Euro-päischen Union positiv aufgenommen worden. Mit Obama steigt auch die Hoffnung auf eine neue Ära der transatlantischen Beziehungen, fern ab von Alleingängen der USA und geprägt von Zusammenarbeit und Dialog.

Die afrikanischen Wurzeln und die positive Ausstrahlung haben Obama geholfen, schon weit vor der Wahl am 4. November, die europäische Bevölkerung in seinen Bann zu ziehen. Für die Europäer gab es nur einen amerikanischen Präsidentschaftskandidaten. Auch nach der Amtseinführung blieb Obama den Europäern verbunden. Er sucht das Gespräch, zeigt sich offen hinsichtlich globaler Klimaschutzlösungen, und plant das vor allem von europäischen Staaten kritisierte Gefangenenlager Guantana-mo zu schließen. Einmal mehr zeigt sich, dass auch in der Politik der Ton die Musik macht.

„Der Tonfall und einige Rahmenbedingungen haben sich maßgeblich verändert“, sagt Small-wood. Das gefällt den Europäern, denn es zeigt eine klare Wende zur Bush-Regierung.

Doch es ist leicht, den Hype um Barack Obama und seine Chancen zu übertreiben. Die Erwar-tungshaltung ist hoch und kann schnell in Ent-täuschung umschlagen. Sowohl die amerikanische als auch die europäische und weltweite Bevölke-rung wollen schnelle Veränderungen sehen. Die Vorstellungen sind allerdings oftmals überzogen.

„Die Bevölkerung muss mit mehr Realismus an-statt solch einer Wunschvorstellung an die Sache herangehen und darf Personen wie Obama nicht

überstilisieren“, sagt Lentz. Frieden kann nicht in zwei Monaten hergestellt werden und auch die Weltwirtschaftskrise und der Klimaschutz bedürfen mehr Zeit für langfristige Lösungsan-sätze. „Die Herausforderung an Obama ist es, die große Beliebtheit in konkrete Politik umzusetzen“, sagt die Vize-Präsidentin des German Marshall Funds, Karen Donfried.

Neben überzogenen Erwartungen von Seiten der Bevölkerung gerät auch manchmal in Verges-senheit, dass Obama in erster Linie Präsident der USA und nicht Retter sämtlicher weltpolitischer Krisen ist. Auch wenn er in Sachen Klimaschutz einen deutlichen Schritt auf Europa zugeht, vertritt er, genau wie sein Vorgänger, eine US-Sicherheitspolitik. „Präsidenten wechseln, aber das grundlegende Interesse der USA bleibt im weitesten Sinne gleich“, sagt Smallwood. Auch einfühlsames Verhalten gegenüber Europa mache da keinen Unterschied. Obamas Verantwortung liege in erster Linie in den USA. So wird für die USA die Außenpolitik immer eine Mischung aus diplomatischen Lösungen und härteren Alterna-tiven bleiben. Das zeigt das Beispiel Iran: „Wenn diplomatische Initiativen im Iran scheiten, sind härtere Sanktionen von den USA zu erwarten“, sagt Donfried.

besondere alliierte

Für Europa gilt es umso mehr, die eigenen Sicherheitsinteressen und die Zusammenarbeit der EU und NATO mit den USA neu zu definieren.

„Das Unterlegenheitsgefühl Europas kann nur durch klare Positionen von den Europäern über-wunden werden“, sagt Lentz. Denn auch Europa ist nicht in allen Themen geeint und nationale

Interessen spielen immer mit in den Prozess hinein. Um globale Krisen zu lösen, bedarf es starke transatlantische Beziehungen, die geprägt sind von zwei gleichwertigen Partnern.

Die Hoffnung auf verbesserte transatlantische Beziehung durch Obama ist durchaus berech-tigt. Der US-Präsident sucht das Gespräch und verdeutlicht die Besonderheit der transatlan-tischen Alliierten. Zudem liegt gerade in der Wirtschaftskrise die Chance für Europa und die USA, wieder näher zusammen zu rücken und sich auf gemeinsame Werte zu besinnen. Es gilt, sich auf gemeinsame außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitische Grundsätze zu einigen. „Die europäischen Staaten sind noch immer die bedeu-tendsten Alliierten der USA“, sagt Donfried. Das werde auch in der näheren Zukunft so bleiben.

Wer Obama allerdings schon jetzt als Retter der transatlantischen Beziehungen und des Images der USA sieht, scheint voreilig. Es geht um das große Ganze und Obama ist nur ein Teil davon. Unbezweifelbar, Obamas Beliebtheit wirkt sich positiv auf die transatlantischen Beziehungen aus. Doch es müssen weitere Schritte folgen, um die Erwartungshaltung der Europäer zu erfüllen. Was in jedem Fall helfen wird, ist die Bereitschaft zur Diskussion und Kooperation. Nur ein offener und ehrlicher Gedankenaustausch kann die angeknacksten Beziehungen zwischen den USA und Europa verbessern. Internationale Treffen wie der G20-Gipfel in London und der NATO-Gipfel in Straßburg und Kehl ermöglichen es beiden Partnern über konkrete Lösungsansätze zu sprechen, transatlantische Ziele zu festigen und die Erwartungen an den jeweiligen Partner zu artikulieren.

Karen Donfried Vize-Präsidentin des German Marshall Funds

Anthony Smallwood, Pressesprecher und Public Diplomacy Experte der Delegation der Europäischen Kommission in Washington.

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grenzgänger* / Ausgabe Frühjahr 2009Außen grenzgänger* / Ausgabe Frühjahr 2009 Außen

GEORGIENKONFLIKT, GASPIPELINE, GROSSMACHTALLÜREN. NEIN, ÜBER EINEN RUSSLANDBEITRITT IN DIE EUROPÄISCHE UNION SOLL AN DIESER STELLE NICHT DISKUTIERT WERDEN. ABER ÜBER DIE FRAGE, WIE MAN ZUEINANDER STEHT, GERADE NACH DEM KONFLIKT IN SÜDOSSETIEN. WIE SEHEN JUNGE RUSSEN DIE ZUKUNFT IHRES LANDES IM ZUSAMMENSPIEL MIT EUROPA? Von Sergey Simonov

Artjom Mursakow engagiert sich in der Kremlpartei „Einiges Russland“ und war während des Südossetien-Krieges klarer Befür-worter des Eindringens russischer Streitkräfte in die Konfliktzone.

„Das Putinsche Russland hat sich bewährt“, schrieb Artjom Ende August auf dem Internetportal polit-gramota.ru. Den georgischen Präsidenten Saakaschwili hat er damals als einen „Wahnsinnigen“ charakterisiert, und die Reaktion des Westens auf die Ereignisse im Kaukasus als zweitrangig einge-stuft. „Endlich haben wir – ohne sich ständig umzusehen nach der Meinung der Weltgemein-schaft – mutig unsere Landsmänner, ihre Leben und ihre Häuser verteidigt“, schrieb damals Art-jom. Dauerhaft sei diese Politik jedoch gerade im Hinblick auf das Verhältnis zur EU nicht aufrecht-zuerhalten. Schließlich seien die „Wirtschaftsbeziehungen zur

Europäischen Union zu stark und zu bedeutsam für beide Seiten, um verringert oder gar abgebrochen zu werden“, erklärt Artjom. „Neue EU-Mitglieder wie etwa Polen oder Litauen haben zwar versucht, den übrigen Mitgliedstaaten eine antirussische Haltung aufzuzwingen, doch es ist ihnen zum Glück nicht gelungen“.

Anders sieht es aus, wenn man in die Reihen der liberalen „Jab-loko“ – Partei sieht. Während des Konfliktes zwischen Südossetien und Russland demonstrierte der 26-jährige Aleksandr Schurschew mit seinen Kollegen aus der „Jab-loko“ – Jugendorganisation gegen den Krieg und verurteilten beide Seiten. Die kriegerischen und unreflektierten Drohgebärden tra-fen bei den jungen Liberalen auf wenig Begeisterung. „Die EU hätte doch nie erwartet, dass Russland in diesem Krieg so weit gehen würde“,

so Aleksandr. Aber auch von Seiten der EU würden die Beziehung zu Russland nicht mal eben so abge-brochen. „Dafür sind wir doch wirt-schaftliche viel zu wichtig für sie“.

Jewgenij Konowalow ist überzeugt, dass die EU schon längst begrif-fen hat, dass sich in Russland ein „autoritäres und unberechen-bares Regime etabliert“ habe. Demzufolge hat der Krieg in Südossetien diese Erkenntnis höchstens noch bekräftigt. Die Eins icht , dass Russ land e in autoritärer Staat sei, spielt laut der Meinung des Vorsitzenden der russisch sozial-demokratischen Jugendorganisation auch die entscheidende Rolle beim Aufbau von Wirtschaftsbeziehungen. Sicher-lich habe die Wirtschaftkrise dazu beigetragen, dass Pragmatik und die Notwendigkeit zur Kooperation mit allen Beteiligten der Weltwirtschaft überwiegt, doch stabile und nach-

haltige Beziehungen können mit einem Regime wie dem russischen nicht aufgebaut werden.

Die Position des jungen Georgier Irakli Tschedija überrascht wenig:

„Der Aggressor in Südossetien war die russische Seite“. Zusammen mit der Tatsache, dass die Europä-ische Union den Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine sozu-sagen hautnah miterleben durfte, hält er es nur noch für eine Frage der Zeit, bis die EU einen Kurs in der Energiepolitik einschlägt, der sie weitestgehend unabhängig von Russland macht. „Der Kreml hat in letzter Zeit Interessen verschie-dener europäischer Staaten bzgl. der Lieferung von Energieressourcen gegeneinander ausgespielt, und dem wird die EU versuchen, ein Ende zu setzen“, erklärt der junge Politikwissenschaftler.

D ie Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele.

Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle. (Konrad Adenauer)

Alejandra Noriega träumt als eine von wenigen diesen Traum auch für Mittelamerika. „Ein mittel-amerikanischer Integrationsprozess ist notwendig, nicht nur auf dem Gebiet der Wirtschaft. Wir soll-ten akzeptieren, dass wir viele Dinge gemeinsam ha-ben. Nicht nur Probleme, auch das, was wir geben können. Gemeinsam könnten wir gleichwertiger Partner für unsere Verhandlungspartner sein.“ Ihr Traum ist Teil familiärer Tradition. Ihr Großvater, dessen Unterschrift die Ein-Quetzal-Banknote ziert, weil er erster Präsident der guatemaltekischen Zen-tralbank war, kämpfte noch auf dem Sterbebett für die ökonomische Integration Zentralamerikas.

Was in Europa Wirklichkeit geworden ist, wird für Mittelamerika noch lange ein Traum bleiben. Obwohl der Begriff „regionale Zusammenarbeit“ das neue Schlagwort des 21. Jahrhunderts zu sein scheint, ist die Diskrepanz zwischen politischem Willen und Alltagsrealität groß. In Mittelamerika fast unüberbrückbar. „Es gibt keinen Bedarf an Integration. Die sechs mittelamerikanischen Län-der haben sich völlig unterschiedlich entwickelt. Die Menschen hier sind so verschieden, dass der Versuch, die gleiche Politik zu implementieren, den Bürgern einen Teil ihrer Freiheit, ihrer Indi-vidualität nehmen würde.“ So wie Diana Selech-nik, Zahnärztin aus Guatemala Stadt, denken die meisten Menschen in Mittelamerika. Das Wort „Integration“ löst, wenn überhaupt etwas, Befremden aus. Die drängensten Probleme der Menschen sind Armut, Analphabetismus, Epide-mien, schlechte Bildung, korrupte Regierungen. Integrationsrhetorik ist Luxus. „Etwas wie die Europäische Union wäre in Mittelamerika nicht möglich. Für Costa Rica wären offene Grenzen eine Katastrophe, es würde bedeuten, dass kri-minelle Banden ungehindert aus Guatemala und Honduras ins Land kommen könnten. Und sie würden kommen, in Scharen,“ sagt Esteban San-

chez Garcia, ein in Guatemala arbeitender Lehrer aus Costa Rica. Gab es nicht ähnliche Ängste von Westeuropäern, vor der Aufnahme der mittel- und osteuropäischer Staaten? Erinnern wir uns an 70 Jahre europäische Integrationsgeschichte, die mit erschöpften, nach Frieden und Ruhe lechzenden Staaten begann. Sie begann mit ein paar einzel-nen Träumern. Sie wurde zur Hoffnung für viele. Heute ist sie Notwendigkeit für alle.

unabhängigkeitsglocken – keine einheitsglocken

Als 1821 die Unabhängigkeitsglocken in Zentralamerika laeuten, stirbt auf einer franzö-sischen Mittelmeerinsel ein Europavisionär. Blut-rünstig schwang sich Napoleon zum Herrn über den halben Kontinent auf, doch sein Traum eines französisch geführten Europas endet vor Moskau. Das Resultat der napoleonischen Kriege ist nicht ein integriertes Europa, sondern die Neuordnung politischer Ordnung, die Geburt moderner Staaten. Fast 100 Jahre lang ist von europäischen Einheitsträumen nichts zu vernehmen.

Auf der anderen Seite des Atlantiks versuchen sich fünf kleine Länder im Aufbau neuer National-staaten. Die unter spanischer Kolonialherrschaft unter dem Namen „Provencia Capitania de Guatemala“ zusammengefassten Länder Guatema-la, Honduras, Nicaragua, El Salvador und Costa Rica durchliefen trotz ähnlichster Bedingungen völlig unterschiedliche Entwicklungen. Mit Aus-nahme von Costa Rica, deren Geschichte eine Er-folgsgeschichte ist, wechselten sich in den Ländern Zentralamerikas die grausamsten Diktatoren und fast ebenso blutige Revolutionen ab. Heute gehö-ren Honduras, Guatemala und Nicaragua mit zu den ärmsten Ländern der westlichen Hemisphäre. Dennoch: die fünf ehemaligen Provinzmitglieder und Panama müssen überlegen, wohin sie ihre Boote in Zukunft steuern. Der Wettbewerb im Bereich von Textilproduktion beispielsweise ist hart, viele Betriebe wandern ins billigere Asien. Der Export von Zitrusfrüchten und Kaffee ist

wichtigster Wirtschaftsfaktor für die meisten der sechs Länder. Verstärkte wirtschaftliche Zusam-menarbeit und gemeinsames Marketing könnten diesen Wirtschaftszweig stärken. Immerhin haben sich die Länder Mittelamerikas zu einem gemein-samen Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten durchgerungen.

Die politischen und sozialen Herausforde-rungen in den kleinen Ländern zwischen Atlantik und Pazifik sind unzählig. Aber auch die Chancen. Leider gibt es nicht viele Menschen, die Chan-cen hier auch erkennen und ergreifen. Zu groß ist die Enttäuschung in Guatemala, Honduras und Nicaragua über die Regierungen, die Geld stehlen statt Schulen zu bauen. In Guatemala können fast 60 Prozent der Bevölkerung nicht lesen und schreiben. 70 Prozent des Kapitals ist in den Händen von 60 Familien. An der Grenze zu Mexiko tobt ein Krieg der Drogenbanden. Die Gefahr, wegen eines Mobiltelefons mit einer Waffe bedroht zu werden, steigt täglich. Gewalt und Chaos sind ständige Begleiter im Norden Mittel-amerikas. Die Länder in Mittelamerika müssen Strategien entwickeln, diesen Problemen zu begeg-nen. Und warum nicht gemeinsam nachdenken, wenn die Probleme ähnlich sind. In Europa gab es kluge Köpfe in den Regierungen, die einen poli-tischen Integrationsprozess vorangetrieben haben, nicht immer mit hundertprozentiger Unterstüt-zung oder dem Verständnis der Bevölkerung. In Mittelamerika müssen die klugen Köpfe in der Bevölkerung sich aufmachen, Veränderungen anzuschieben. Auf Regierungen können sie nicht hoffen. Das ist der Unterschied.

Europa darf von Mittelamerika nicht erwarten, einen schnellen Integrationsprozess zu beginnen. Aller Notwendigkeit zum Trotz. Aber die Europäer könnten, wenn sie sich selbst hundertprozentig zu Europa bekannt haben, ein Beispiel sein für die Menschen in Mittelamerika. Sie könnten den Mut transportieren, den die Menschen hier brauchen, um eine eigene Version von Alejandras Traum zu entwickeln.

bedeutsam, aber problematisch

EUROPA WIRD EINS. DOCH IST DER UNIONSGEDANKE AUCH AUF ANDERE REGIONEN DER ERDE ÜBERTRAGBAR? IN MITTELAMERIKA SPRICHT VIELES DAFÜR – UND DAGEGEN. Von Katrin Hünemörder

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umgang mit flüchtlingenstellt unsere werte in frage

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jedoch wieder vermehrt als Journalist tätig. 2007 gründete er den Verein „Borderline Europe“. Der europäische Umgang mit Flüchtlingen steht auch hier im Mittelpunkt. Von direkten Aktionen sieht Bierdel jedoch ab – der neue Verein hat sich ganz der Dokumentation verschrieben.

Politikorange: Der Begriff „Festung Europa“ ist mittlerweile schon in den Sprachgebrauch vorgedrungen. Doch wie robust ist diese Festung derzeit wirklich?

Elias Bierdel: Wir können vor allem eine Verfestigung der Ost- und Südgrenzen Europas beobachten. Der gesamte Grenzbereich wird militä-risch kontrolliert und es erfolgt eine kontinuierliche Aufrüstung mit High-Tech-Waffen. Frontex, die euro-päische Agentur zur Sicherung der Außengrenzen, ist die EU-Einrichtung mit dem am schnellsten wachsen-den Haushalt. Dennoch ist das Fundament der Festung in doppelter Hinsicht wackelig. In Zeiten der Finanzkrise verfallen die Staaten wieder in nationale Egoismen. Und der Umgang mit den Migranten stellt unsere Werte in Frage. Während auch in Deutschland ständig die Bedeutung der Menschenrechte propagiert wird, werden sie täglich an den Grenzen gebrochen.

Die Mittelmeerstaaten weigern sich konsequent Flüchtlinge aufzunehmen. Asylanträge werden abgelehnt, angekom-mene Flüchtlinge massenweise abgeschoben. Das Limit sei erreicht. Alles Humbug oder steht Europa vor einem Flüchtlingskollaps?

Ein Kollaps droht sicher nicht. Die Regierungen Europas und insbesondere Deutschlands haben ihre Kritierien für Asyl so weit verschärft, dass es für beinahe niemanden mehr in Frage kommt. Die Menschen werden bereits auf dem Meer aufgehalten. Da sie oftmals das europäische Territorium nicht mehr erreichen, kommen sie gar nicht erst in die Lage, Asyl zu beantragen. Das ist ein glatter Menschenrechtsbruch.

Ein Lösungsansatz wäre die Aufnahme von Flüchtlingen durch die Nicht-Mittelmeerstaaten Europas. Warum geschieht dies nicht?

Diese Frage ist besonders mit Blick auf Deutsch-land sehr spannend. Die Bundesrepublik hat grundsätzlich eine gute Struktur zur Betreuung von Flüchtlingen. Doch statt diese zu nutzen, verschärft die Regierung die Asylgesetze. Wir haben in der EU gemeinsame Außengrenzen, also müßten wir auch gemeinsam die Verantwortung tragen. Aber gerade Berlin blockiert die Hilferufe der Südländer. Hier sitzen die Zuchtmeister der Abschottung. Die Bundesregierung ist deshalb erheblich mitverantwortlich für das Sterben im Mittelmeer. Weil wir nicht helfen, läßt Malta die Leute ertrinken.

In den europäischen Medien ist wenig über die Flücht-lingsproblematik zu erfahren, konkrete Zahlen sind fast niemandem bekannt. Warum besitzen Flüchtlinge keine Lobby in einer Gesellschaft, die sich sonst stets auf die Einhaltung der Menschenrechte beruft?

I m Juli 2004 erfuhr Elias Bierdel am eigenen Leib, was er seit Jahren dokumentiert: Das

harte Durchgreifen der Europäischen Union an ihren Außengrenzen.

In See gestochen, um Gutes zu tun, endete die Reise für den ehemaligen ARD-Korrespon-denten in einer italienischen Gefängniszelle. 37 afrikanische Flüchtlinge nahmen der Vorsitzende der Hilfsorganisation „Cap Anamur“ und seine Crew an Bord des gleichnamigen Schiffes nahe der italinieschen Insel Lampedusa auf, retteten sie somit vor dem Ertrinken im Mittelmeer. Danach folgte eine Katastrophe der Anderen: Anstatt zurück nach Afrika brachten sie die Sudanesen nach Sizilien. Ein Gesetzesbruch, wie die italienische Regierung befand. Die „Cap Anamur“ wurde beschlagnahmt, Bierdel und zwei weitere Crewmitglieder festgesetzt und erst auf Protest der italienischen Bevölkerung freigelas-sen. Noch weniger Mitgefühl als die sizilianische Polizei zeigte die deutsche Medienlandschaft. Da die Rettungsaktion von Kamerateams begleitet wurde, hatte Bierdel schnell den Ruf des berech-nenden Selbstinszenierers inne. Sein Ansehen litt erheblich, die Wiederwahl als Vorsitzender von

„Cap Anamur“ scheiterte. Heute läuft der Prozess gegen Elias Bierdel immer noch – ihm drohen bis zu zwölf Jahre Haft wegen „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“. Die Flüchtlinge schob Italien bereits 2004 kompromisslos ab. Mittlerweile ist Bierdel nicht mehr bei „Cap Anamur“ aktiv, dafür

Die Menschen wollen den Preis, den unser maß-loser Lebenswandel fordert, nicht wahrnehmen. Der „Pro Asyl“-Gründer Herbert Leuninger hat die Flüchtlinge einmal als „Botschafter der Unge-rechtigkeit“ bezeichnet. Das finde ich sehr treffend. Es geht nicht um die Menschen im einzelnen, sondern um die Botschaft, welche unsichtbar mit den Flüchtlingsbooten mitfährt: „Ihr tragt Mitschuld.“ Der Schlüssel zur Lösung liegt bei uns, doch die Gesellschaft will das nicht sehen. Das Migrationsthema ist ein Kristallisationspunkt für diverse Probleme der EU: Rassismus, Über-fremdungsängste, Verschwendung von Ressourcen, Klimawandel und so weiter.

Wem die Überfahrt nach Europa gelingt, der landet zu-meist in Flüchtlingslagern. Wie schätzen Sie die Situation momentan vor Ort ein?

Niemand möchte diese Menschen haben, darum geht es. Geradezu exemplarisch ist die Lage im Flüchtlingslager auf Lampedusa, einer Insel zwi-schen Tunesien und Malta. Das Lager ist relativ neu und grundsätzlich in Ordnung, allerdings völlig überfüllt. Es herrschen daher unhaltbare Zustände, doch die italienische Regierung ist nicht zu einer Übernahme der Migranten aufs Festland bereit. Stattdessen sollen dort lediglich weitere Lager errichtet werden, was natürlich die Situation nur kurzzeitig entspannt. Das Problem sind also nicht die Lager selbst sondern der Umgang mit den Menschen darin.

ALS UMSTRITTENER FLÜCHTLINGSRETTER WURDE ELIAS BIERDEL 2004 INTER-NATIONAL BEKANNT. FÜNF JAHRE SPÄTER DOKUMENTIERT ER IMMER NOCH DIE SCHICKSALE AFRIKANISCHER FLÜCHTLINGE – UND LEGT DABEI IMMER WIEDER DEN FINGER IN EUROPAS SICHERHEITSPOLITISCHE WUNDE. Von Christoph Herms

Nach offiziellen Schätzungen überleben 50 Prozent der Menschen die Reise nach Europa nicht, auf den Rest wartet auch kein Leben in Saus und Braus. Frauen enden oft auf dem Sexmarkt, Männer als Billigstarbeiter auf Obstplantagen. Warum treten viele Afrikaner den weiten Weg überhaupt an?

Wer in so schlechten Verhältnissen lebt, dass er seine Familie nicht ernähren kann, findet oftmals sogar ein Leben in Sklaverei besser. Wenn einem in der Heimat auch der Tod droht, warum sollte man dann nicht die Strapazen dieser Reise auf sich nehmen, wenn immerhin eine Hoffnung auf Verbesserung besteht? Die Gefahren sind den meisten durchaus bekannt, doch die Not ist in der Regel größer.

Lassen Sie uns ein wenig in die Zukunft schauen. Wird der Flüchtlingsstrom weiter zunehmen? Oder hat die EU mit ihrer Abschreckungspolitik bestehend aus Abschiebehaft, gefängnisähnlichen Flüchtlingslagern und dem harten Durchgreifen von Frontex Erfolg?

Der Flüchtlingsstrom ist bisher im Wesentlichen konstant. Doch wenn der Klimawandel die Leben-grundlagen von Millionen Menschen vernichtet, werden mehr kommen. Dagegen arbeitet Frontex. Durch die militärische Sicherung der Grenzen müssen die Migranten immer weitere Wege über See in Kauf nehmen. Es erreichen Jahr für Jahr weniger Flüchtlinge unsere Küsten, was im Endeffekt bedeutet, dass zunehmend mehr Men-schen an der Seegrenze sterben. Allein in den vergangenen zwölf Jahren gab es mehr als 15.000 do-kumentierte Tote, die Dunkelziffer liegt weit höher.

Nach Ihrem Ausscheiden als Vorsitzender von Cap Anamur haben Sie 2007 „Borderline Europe“ gegründet. Wie werden Sie in Zukunft agieren?

Wir werden die Lage an den Grenzen weiterhin beobachten, notieren und über die Zustände berichten. Solange die EU sich verhält wie ein Borderline-Patient – verschlossen nach Innen und aggressiv nach Außen – werde ich mich der Flüchtlingspolitik widmen. www.borderline-europe.de

frontex:Dies ist der wesentliche knackigere Name für die „Europä-ische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“. Sie koordiniert Aktionen der Mitgliedstaa-ten zum Schutz der Unionsgrenzen, wurde 2005 gegründet und sitzt in Warschau.

Grundsätzlich ist jedes Land selbst für die Sicherungs-einer Grenzen zuständig. Frontex übernimmt mit seinen gut 200 Mitarbeitern lediglich unterstützende

Aufgaben wie die Ausbildung von Grenzbeamten. Dennoch gerät die Agentur immer wieder in die Kritik, da sie als Motor für das gegen afrikanische Flüchtlinge gilt. Weitere Infos unter: www.frontex.europa.eu und www.ec.europa.eu/justice_home

europäischer flüchtlingsfond:Bis 2013 stehen 628 Millionen Euro bereit, mit denen die Mitgliedstaaten der EU bei der Aufnahme von Asylbewerbern, Flüchtlingen und Vertriebenen unterstützt werden. Zuständig in Deutschland ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg. Die Europäische Union ist weltweit der größte Geldgeber für Entwicklungshilfe – mit mehr als 49 Milliarden Euro im Jahr 2008.

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grenzgänger* / Ausgabe Frühjahr 2009Außen grenzgänger* / Ausgabe Frühjahr 2009 Außen

telmeerraum eine Zone der Stabilität errichten. Dazu gehört eine Zwei-Staaten-Lösung mit einem demokratischen Palästinenserstaat in friedlicher Nachbarschaft zu Israel. Doch das Thema Nahost scheidet die europäischen Geister. Zu Beginn der israelischen Militärangriffe Ende 2008 war die Haltung der Europäer keineswegs einheitlich. Vor allem Deutschland hatte Israel den Rücken gestärkt und der Hamas die alleinige Schuld zuge-wiesen. Die tschechische EU-Ratspräsidentschaft sprach kurzzeitig von „Selbstverteidigung“ Israels. Dagegen hatten vor allem Frankreich und Groß-britannien die israelische Offensive kritisiert, und der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy war im Alleingang in den Nahen Osten gereist, um Friedensstifter zu spielen.

Wenn innerhalb Europas die Meinungen auseinanderdriften, sinkt der außenpolitische Einfluss der Gemeinschaft. Ohnehin hinter den eigenen Grenzen als „soft power“ belächelt, wird der EU vorgeworfen, sie könne aus eigener Kraft im Nahen und Mittleren Osten nichts bewegen. Als Partner im 2002 gegründeten Nahost-Quartett

D ie Menschen in Gaza leiden. Familien sitzen zwischen Trümmern, es fehlt an

Strom, Trinkwasser, Brot und an Medikamenten in den Krankenhäusern. „Krieg“, schreibt der Militärstratege Carl von Clausewitz 1832, „ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ Im Nahost-Konflikt stehen diese Mittel immer dann hoch im Kurs, wenn die Politik ihr ratloses Gesicht aufzieht, Spieler die Regeln brechen und Einigung als Alternative ins Abseits rutscht. Dann kann es schnell gehen und die Diplomatie muss den Waffen weichen.

Ende Dezember 2008 ist die Gewalt im Nahen Osten erneut eskaliert. Drei Wochen lang führt Israel Krieg gegen die radikal-islamistische Ha-mas-Bewegung, die aus dem Gaza-Streifen heraus Ziele in Südisrael bombardiert. Es ist ein Kampf zwischen militärisch ungleichen Gegnern, bei dem die Grenzen zwischen Feind und Freund nicht eindeutig sind. Die Offensive „Gegossenes Blei“ war der massivste Militärangriff Israels auf das Palästinensergebiet seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967. Der markiert in den Geschichtsbüchern

den Beginn des Nahost-Konflikts. Die Bilanz der jüngsten Militäraktion: 13 getötete Israelis und mehr als 1300 tote Palästinenser, die Hälfte davon sind nach Schätzungen Zivilisten.

Jeder Krieg baut neue Schranken auf dem Weg zurück an den Verhandlungstisch. Je mehr sich die Bevölkerungen radikalisieren und extreme Kräfte an Einfluss gewinnen, umso mehr sinkt auch die Hoffnung auf eine Lösung des Kon-flikts ‚von innen’. Ein dauerhafter Frieden muss daher von außen kommen. Nicht nur von Israels Schutzmacht USA, sondern auch von Europa, dass sich schon lange mehr Einfluss im Nahen und Mittleren Osten wünscht. Es ist ein Mix aus Sicherheitsbedürfnis und Zukunftsvorsorge, der das Interesse der EU-Staaten an einer Lösung des Schlüsselkonflikts zwischen Palästinensern und Israelis erklärt. Die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, der Nuklearstreit mit Iran und die Abhängigkeit von den Ölreser-ven der arabischen Welt machen den Nahen und Mittleren Osten zu einer strategisch wichtigen Region. Das europäische Ziel: Im gesamten Mit-

wollen die europäischen Staaten gemeinsam mit den USA, Russland und den Vereinten Nationen internationalen Druck auf die Konfliktparteien ausüben. Doch durch bloße Aufrufe zur Waffenru-he und regelmäßige Finanzspritzen in eine zerrüt-tete Region, sagen Beobachter, könne Brüssel vor allem den USA im Nahen Osten nicht das Wasser reichen. „Die EU als Ganzes hat sich als unfähig erwiesen, rasch geeint und tatkräftig aufzutreten, die Lücke auszufüllen, die in der Übergangsphase zwischen den amerikanischen Administrationen klaffte, und sich überzeugend für einen friedlichen Konfliktaustrag und die Wahrung internationalen Rechts einzusetzen“, sagt die Nahost-Expertin Muriel Asseburg von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

Doch jedes Konfliktmanagement im Nahen Osten steht heute vor gleich mehreren Her-ausforderungen: Der Rechtsschwung nach den Parlamentswahlen im Januar hat die Hardliner in Israel gestärkt. Die Palästinenser sind weiterhin gespalten zwischen der gemäßigten Fatah von Präsident Mahmud Abbas und der Hamas, die seit Sommer 2007 den Gaza-Streifen kontrolliert. Die USA kämpfen mit der hausgemachten Finanzkrise und Präsident Barack Obama muss zunächst den Absprung in die Post-Bush-Ära schaffen, bevor sein Blick gezielt gen Osten wandern kann. Das heißt jedoch nicht, dass das außenpolitische Profil der EU hinter den eigenen Grenzen verschwim-men muss. Im Gegenteil: Der diplomatische Werkzeugkasten ist groß. Zwar fehlt der EU der Vorschlaghammer einer Militäraktion, doch bleibt vor allem wirtschaftlich Spielraum für eine eigenständige Politik – auch als Gegengewicht zum ‚major player’ USA.

Seit Ende der fünfziger Jahre unterhält die EU (damals Europäische Gemeinschaft) diplo-matische Beziehungen mit Israel. Im Rahmen der europäischen Mittelmeerpolitik regelt seit 2000 ein Assoziungsabkommen vor allem die wirtschaftlichen Beziehungen, verlangt aber auch Respekt für Demokratie und Menschenrechte. So hat sich die EU in den vergangenen Jahren zum wichtigsten Handelspartner Israels entwickelt, noch vor den USA. Ähnliche Verträge hat Europa auch mit der Palästinensischen Autonomiebehör-de sowie mit den arabischen Nachbarn Libanon, Jordanien und Ägypten. Die EU könnte diese Abkommen aussetzen, um Druck auf die Kon-fliktparteien auszuüben. Gegenüber Israel hat die Staatengemeinschaft bisher jedoch auf dieses Instrument verzichtet. Ein klarer Standpunkt der EU sollte dabei nicht mit der Diskussion um die historische Verantwortung Europas gegenüber Israel verwechselt werden. Nach dem Ende des Gaza-Feldzugs wachsen die völkerrechtlichen Zweifel an den israelischen Angriffen. Der Vor-wurf: Israel habe mit übermäßiger Gewalt auf die Provokationen der militärisch unterlegenen Hamas reagiert. Die UN fordert unabhängige Untersuchungen, Menschenrechtsorganisati-onen sprechen von „Kriegsverbrechen“ und der EU-Kommissar für Entwicklungshilfe, Louis Michel, sagte: „Es ist offenkundig, dass Israel das humanitäre Völkerrecht nicht respektiert“. Für Israel selbst ist der Kampf gegen die Hamas ein Fall von nationaler Selbstverteidigung und so stößt die internationale Kritik auf wenig Verständnis in der Regierung. „Dass unter dem Kampf gegen den Terror manchmal Zivilisten leiden, kann geschehen“, rechtfertigte Israels damalige Außen-ministerin Tzipi Livni die Offensive.

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Doch Gaza ist mehr als eine Basis, von der aus Terroristen israelische Ziele angreifen, und mehr als ein Sicherheitsrisiko für die Region. Und die Hamas selbst, die in Gaza alle Fäden zieht, ist mehr als eine Terrororganisation. Gerade darin besteht die Herausforderung an jedes Krisenma-nagement im Nahen Osten. Kurz- und mittel-fristig setzt die EU auf finanzielle Hilfen. In den vergangenen Jahren haben die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten mehrere Milliarden Euro in den Wiederaufbau der Palästinensergebiete investiert, ein Großteil der Gelder ist in huma-nitäre Hilfen, aber auch in die Aufrüstung ziviler Sicherheitskräfte und in die Schaffung von Jobs geflossen. Wirtschaftliche Entwicklung, so die EU-Strategie, solle bessere Lebensverhältnisse greifbar machen und die Bevölkerungen vom Frie-densprozess überzeugen. Auf einer internationalen Geberkonferenz für Gaza im März 2009 haben die Teilnehmerstaaten weitere vier Milliarden Euro zugesagt, rund 500 Millionen davon kommen aus der EU. Der andauernde Geldstrom aus Brüssel hat bisher jedoch kaum Erfolge verzeich-net, weder langfristig das Wirtschaftswachstum in den Palästinensergebieten angekurbelt, noch

NACH DREI WOCHEN KRIEG IM GAZA-STREIFEN SCHWEIGEN OFFIZIELL DIE WAFFEN ZWISCHEN ISRAEL UND DER RADIKAL-ISLAMISTISCHEN HAMAS. DOCH IM NAHOST-KONFLIKT STEHT DER FRIEDEN AUF MESSERS SCHNEIDE. ZEIT, DASS SICH DIE EUROPÄISCHE UNION ALS KRISENMANAGERIN IN DER REGION DURCHSETZT. POLITISCHE INSTRUMENTE STEHEN BEREIT. IN ZUKUNFT MÜSSEN SIE EFFEKTIV EINGESETZT WERDEN, NOTFALLS AUCH ALS DRUCKMITTEL GEGEN ISRAEL.Von Julia Hahn

grosse träume, schwere zeiten

Jerusalem

WESTJORDANLAND

JORDANIENÄGYPTEN

Nazaret

Golan-höhen

Syrien

UNDCF-ZONE

GAZA-STREIFEN

LIBANON

stabile politische Verhältnisse geschaffen. „Euro-päische und amerikanische Politik, die auf eine dauerhafte Konfliktregelung abzielt, wird die Hamas – und den Gaza-Streifen – nicht länger ignorieren können“, sagt Nahost-Expertin Asse-burg. Friedensgespräche müssten alle Parteien ein-beziehen. Die Hamas jedoch wird von Israel, den USA und der EU offiziell als Terrororganisation bezeichnet und daher nicht als Gesprächspartner anerkannt.

Nach dem Drei-Wochen-Krieg in Gaza sind neue europäische Initiativen auf dem Weg. Die EU könnte die Chance nutzen, ihrem Wunsch nach mehr Einfluss im Mittleren Osten ein gan-zes Stück näher zu kommen. Das jedoch würde strategische Entscheidungen und eine einheitliche Linie aller 27 Mitgliedstaaten erfordern. Die EU könnte aber auch in Zukunft weiterhin Entschei-dungen umsetzten, die sie nicht selbst getroffen hat. In diesem Fall würden die Mitgliedstaaten in den Wiederaufbau von Infrastruktur investieren, ohne langfristig Stabilität zu erzeugen. Es geht also nicht um die Möglichkeiten der EU, sondern um den nötigen politischen Willen.

Mittelmeer

TotesMeer

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ISRAEL

hamas:Die Hamas ist aus dem ersten Palästinenseraufstand gegen die israelische Besatzung („Erste Initifada“) 1987 hervor-gegangen. Offizielles Ziel der Bewegung ist die Errichtung einer islamischen Gesellschaftsordnung und die Zerstörung Israels. Im Januar 2006 konnte die Hamas als Partei die Mehrheit bei den palästinensischen Parlamentswahlen erringen. Ihr Sieg wurde jedoch nicht anerkannt und die Bewegung hat sich weiter radikalisiert. Im Juni 2007 über-nimmt die Hamas gewaltsam die Kontrolle im Gaza-Streifen.

Hier unterhält die Bewegung auch ein Netzwerk an sozialen Einrichtungen. Seit Januar 2009 wird Mahmoud Abbas (Fatah) von der Hamas nicht mehr als Präsident anerkannt. Die Hamas wird von Israel, der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft.

fatah:Nach dem Tod des Palästinenserpräsidenten Jassir Arafat im November 2004, wird Mahmoud Abbas mit einer deutlichen Mehrheit der Stimmen zum Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde und damit zu Arafats Nachfolger gewählt. Die Fatah gilt heute als gemäßigt und wird von Israel, den USA und der EU als einziger Verhandlungspartner anerkannt.

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die europäische unionin der europäischen union leben 494 millionen menschen in 27 ländern. Vom kleinen luxemburg bis zum großen rumänien, von portugal bis finnland reichen die grenzen der eu. und warum gibt es sie? die idee der eu ist, dass vieles, was wichtig ist für unser leben, nicht mehr allein im eigenen land geklärt wird. die menschen aus vielen verschiedenen ländern sollen sich zusammenfinden anstatt miteinander zu streiten. über Jahrhunderte hatten sie meist krieg gegeneinander geführt. daraus haben die Völker gelernt. sie sprechen miteinander und

entscheiden gemeinsam. häufig müssen sie dafür schwierige kompro-misse finden. nach welchen regeln sollen unsere bauern lebensmittel anbauen? welche abschlüsse können wir an der universität machen? wie und wo können wir in europa arbeiten? an welchen faszinierenden entdeckungen und erfindungen arbeiten die forscher in der eu? das alles muss organisiert werden. deshalb hat die eu institutionen: die wichtigsten sind der rat, die kommission, das parlament und der euro-päische gerichtshof.

europäisches parlament

Demokratie bedeutet, dass Ihr entscheidet. Ihr gehört zu den fast 500 Millionen Menschen in der EU. Aber nicht alle können gleichzeitig und miteinander wichtige Entscheidungen treffen. Deshalb wählen die Bevölkerungen ihre Vertreter. Das sind dann die 785 Abgeordneten des Euro-päischen Parlaments. Ab Deinem 18. Lebensjahr kannst auch Du Deinen Abgeordneten wählen. 99 kommen aus Deutschland. Sie setzen sich auch für Deine Heimatregion in Europa ein. Gleich-zeitig bestimmen sie gemeinsam mit dem Minis-terrat über Gesetze und wichtige Veränderungen. So entscheidet das Parlament mit darüber, ob und welche neuen Länder in die EU aufgenommen werden und bestätigt die Mitglieder der Kommission.

europäische kommission

Die Europäische Kommission wird häufig als „Hüterin der Verträge“ der EU bezeich-net. Denn sie sorgt dafür, dass die Beschlüsse der EU in allen Mitgliedsländern auch tatsächlich Realität werden. Daneben hat die Kommission auch das ganz wichtige Recht, die Initiative zu ergreifen für neue Vorhaben der EU. Sie schlägt dann dem Rat und dem Parlament neue Gesetze vor. Auch die Vertretung der EU überall in der Welt ist eine Aufgabe der Kommission. Sie wird von 26 Kommissaren und ihrem Präsidenten gebildet. Jedes EU-Land ist also in der Kommission vertreten. Die na-tionalen Regierungen schlagen die Kommissare vor. Im Parlament muss sich jeder einzelne Kommissar der kritischen Diskussion mit den Abgeordneten stellen, um deren Zustimmung zu erhalten.

europäischer gerichtshof

Für die Bürger in Europa ist es sehr wichtig, dass sie sich auf das bestehende Recht verlassen können. Das Recht soll den Bürger schützen und das Zusammenleben regeln. Der Euro-päische Gerichtshof ist das höchste Gericht der Europäischen Union. Er wacht sorgsam darüber, dass alle Verträge, die die EU-Länder miteinander geschlossen haben, auch eingehalten werden. Der Gerichtshof prüft auch, ob neue Beschlüsse der

EU mit dem bestehenden Recht zu vereinbaren sind.

europäischer rat

Hier trifft die deutsche Kanzlerin den französischen Präsidenten. Und noch alle anderen Staats- und Regierungschefs der EU sind dabei. Sie treffen sich mindestens alle sechs Monate um die wichtigsten Ziele der europäischen Politik zu bestimmen. Unsere Spitzenpolitiker diskutieren dann häufig die ganze Nacht hindurch. Die Themen reichen vom Schutz des Klimas bis zur Energieversorgung, von Europas Politik in der Welt in Zeiten von Kriegen bis zum Aufbau der EU selbst. Im gleichen großen roten Gebäude in Brüssel treffen sich auch die Ministerinnen und Minister aus der EU: die Außenmi-nister, die Innenminister, die Minister für Bildung oder Landwirtschaft oder Finanzen. Wenn sie sich in ihren Beratungen nicht einig werden, müssen am Ende die Staats- und Regierungschefs entscheiden.

europäische flagge

Die Europaflagge besteht aus einem Kranz, zwölf goldenen, fünfzackigen Sternen auf azurblauem Hintergrund. Sie wurde 1955 vom Europarat als dessen Flagge eingeführt und 1986 von der Europäischen Gemeinschaft übernommen. Heute ist sie als Symbol der Europäischen Union bekannt. Die Zahl der Sterne, zwölf, ist traditionell das Symbol der Vollkommenheit, Vollständigkeit und Einheit.

farben: Pantone Reflex blue für den Hintergrund und Pantone Yellow für die Sterne · Volltonfarben: Blau 100% Cyan und 80% Magenta und Gelb 100% Yellow

per handy zur wahlEinen besonderen Service zur Europawahl 2009 bietet das deutsche Informationsbüro des Europäischen Parlaments: „Per Handy zur Wahl“. Wer sich über die Web-Site www.europarl.de/europawahl mit seiner Mobiltelefon-Nummer oder seiner E-Mail-Adresse registriert, der erhält rechtzeitig zum Wahltag am 7. Juni 2009 eine Wahlerinnerung per SMS oder E-Mail. Für diejenigen, die gern spielen und einen Preis gewinnen möchten, bieten wir dort auch zwei Online-Spiele an: das Europa-Puzzle und das Europa-Quartett.

YouthletterDas deutsche Informationsbüro des Europäischen Parlaments bietet mit dem Youthletter Jugendorganisationen eine Online-Plattform, auf der sie sich und ihr aktuelles Projekt zu Europa oder zur Europawahl vorstellen können. Der Youthletter präsentiert jede Woche ein neues Projekt und zeigt damit, wie junge Leute sich für Europa engagieren! Wer noch beim Youthletter dabei sein möchte, kann Elizabeth Pender, Email: [email protected] oder Judit Hercegfalvi, Email: [email protected] aus dem deutschen Informationsbüro des EP oder telefonisch unter 030/ 2280 1083 kontaktieren.

das abgeordnetenhaus der europäischen union

Im Europäischen Parlament, das auch als Bürger-kammer der Europäischen Union bezeichnet wird, sind alle 27 Mitgliedstaaten vertreten. Alle 5 Jahre wird das Parlament neu gewählt. Die Anzahl der Vertreter aus jedem Land wird mit Hilfe eines Rechenverfahrens ermittelt, dass nicht nur die Be-völkerungsanzahl des Landes, sondern auch seine Größe berücksichtigt.

So soll gesichert werden, dass einerseits eine proportionale Repräsentation der Bürger gewähr-leistet wird, andererseits aber auch kleinere Län-der gegenüber größeren Ländern nicht zu stark benachteiligt sind. Derzeit hat das Parlament 785 Mitglieder.

info

Hast du Fragen zur EU? Dann wende dich an die Vertretung der Europäischen Kommission in Berlin!

Nikola JohnTel. +49 30 22 80 24 10 Fax +49 30 22 80 22 40 [email protected]

europawahl 2009 deine entscheidung

am 7. Juni 2009 wird das neue europäische parlament gewählt. und nur wer sein kreuz setzt, kann was bewegen!

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grenzgänger* / Ausgabe Frühjahr 2009Innen grenzgänger* / Ausgabe Frühjahr 2009 Innen

(Ver)fassungslos16 17

EIGENTLICH SOLLTEN DIE EU-BÜRGER ZUM JAHRESWECHSEL EINE VERFASSUNG BEKOMMEN. DER LISSABONNER VERTRAG SOLLTE DER EUROPÄISCHEN UNION DIE BEHÄBIGKEIT NEHMEN, SIE TRANSPARENTER UND VOR ALLEM DEMOKRATISCHER MACHEN. DOCH DANN KAM ALLES ANDERS: DIE IREN STELLTEN SICH qUER, DIE TSCHECHEN UND POLEN STIMMTEN MIT EIN UND PLöTZLICH STAND DER VERTRAG, WIE SCHON 2005 DIE EUROPÄISCHE VERFASSUNG, AUF DER KIPPE. DIE MEISTEN HABEN BEI DEM GANZEN HIN UND HER DEN ÜBERBLICK VERLOREN. EIN KLEINER CRASHKURS. Von Antonie Rietzschel

Was sollte sich ändern?

Außen-und Sicherheitspolitik

Bisher kümmerten sich der Kommissionspräsi-dent, der Aussenkoordinator und Aussenkom-missar um dieses Thema. Durch den Vertrag von Lissabon wird dafür ein komplett neues Amt geschaffen. Der so genannte Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik, vertritt die

Interessen der Mitgliedsländer außerhalb der EU. Er ist außerdem der Chef des Außenministerrates und hat gleichzeitig das Amt des Vizepräsidenten der EU-Kommission inne. Ernannt wird er vom Europäischen Rat.

Europäisches Parlament

„Undemokratisch“, ein Vorwurf, den sich die EU nicht mehr länger gefallen lassen will. So darf das

Was ist der Lissabonner Vertrag?

Der Vertrag von Lissabon ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der unter der portugiesischen EU-Rats-präsidentschaft in Lissabon unterzeichnet wurde. Durch ihn soll der gescheiterte Vertrag über eine Verfassung für Europa ersetzt werden und der Uni-on eine einheitliche Struktur und Rechtspersön-lichkeit geben. Eigentlich sollte der Lissabonner Vertrag Anfang diesen Jahres in Kraft treten.

Europäische Parlament nun den Kommissionsprä-sidenten selbst wählen. Außerdem dürfen Gesetze erst in Kraft treten, wenn die Abgeordneten ihr O.K gegeben haben, ausgenommen sind Gesetze über die Außen- und Sicherheitspolitik. Auch bei den Finanzen hat das Parlament laut Vertrag ein Wörtchen mitzureden: So entscheidet es über jeden Euro, den die EU ausgibt.

Bürgerbegehren

Wenn dem europäischen Volk eine Entscheidung der EU nicht passt, hat es das Recht, darüber einen Bürgerentscheid einzufordern. Dafür müssen eine Million Unterschriften von EU-Bürgern gesam-melt werden. Problem: Selbst wenn das geschafft wurde, ist die Kommission nicht dazu verpflichtet, dem Bürgerbegehren zuzustimmen.

Mitgliedsländer

Um Knatsch zu vermeiden, müssen die 27 Mit-gliedsländer frühzeitig über Gesetzesvorschläge informiert werden. Sie haben acht Wochen Zeit, um Einspruch einzulegen. Außerdem dürfen die Mitgliedstaaten vor dem Europäischen Gerichts-hof klagen, wenn sie das Gefühl haben, dass die EU sich zu stark in ihre Belange einmischt.

Austreten

Hat ein Mitgliedsland keine Lust mehr bei der EU mitzuspielen, hat es durch den Lissabonner Vertrag erstmals die Möglichkeit dazu.

Grundrechte

Die gescheiterte Europäische Verfassung bein-haltete eine Grundrechte-Charta. Darin sind die bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte festgehalten, die für die eu-ropäischen Bürger gelten sollten. Im damaligen Verfassungsvertrag waren diese für die EU-Mit-gliedstaaten nicht rechtsverbindlich. Im Vertrag von Lissabon wird die Grundrechte-Charta zwar nur in einem Querverweis erwähnt, erlangt aber den Status der Rechtsverbindlichkeit. Ausgenom-men sind Großbritannien und Polen.

Warum scheiterte der Lissabonner Vertrag?

„Vote No!“. Mitte letzten Jahres konnte sich kein Ire den Anti-EU-Kampagne entziehen. Sie sollten dem Vertrag von Lissabon und den damit verbundenen EU-Reformen ihre Stimme verwei-gern. 2005 scheiterte die EU-Verfassung an den Referenden in Frankreich und den Niederlanden. Um dies bei dem neuen EU-Reformvertrag von Lissabon zu verhindern, nahmen sich die Mitgliedstaaten zwei Dinge vor. Erstens: Sie heißt nicht mehr Verfassung, sondern Vertrag. Zweitens: Es sollte möglichst nirgendwo eine Volksabstimmung geben. In Irland schreibt das Gesetz jedoch ein Referendum vor. Die Gegner des Vertrages schlossen sich unter dem Dach der „No-Campaign“ zusammen und machten Stimmung gegen die neue Verfassung der EU. Sie schürten im Volk die Angst, dass durch das Vertragswerk das strenge irische Abtreibungs-verbot aufgehoben, die Stammzellenforschung

vorangetrieben und die Prostitution erleichtert würde. An vorderster Front kämpfte die Gruppe

„Libertas“. Auch sie forderte die Bevölkerung auf,mit „Nein“ zu stimmen, sprach sich aber gleichzeitig für „accountability, transparancy and democracy in Europe“ aus, also für das eigentliche Ziel des Vertrages. Mit dieser Strategie überzeugte

„Libertas“ selbst EU-Befürworter, dagegen zu stimmen. Bei der Abstimmung im Juni letzten Jahres sprachen sich schließlich 53 Prozent der Iren gegen den Vertrag von Lissabon aus, obwohl die meisten von ihnen wahrscheinlich nicht eine Seite des Vertrages gelesen hatten. Damit war der EU-Reformvertrag vorerst blockiert.

Wie geht es jetzt weiter?

Nach dem Nein von Irland wollten plötzlich auch Tschechien und Polen den Vertrag von Lissabon nicht mehr unterschreiben. Mittlerweile hat sich Irland bereiterklärt, im Herbst diesen Jahres er-neut ein Referendum abzuhalten. Im Gegenzug erhielt Irland die Zusage, dass die EU bestimmte Bereiche wie etwa die Abtreibung, unangetas-tet lässt. Außerdem wurde zugesichert, dass es weiterhin einen irischen Kommissar geben solle. Eigentlich sah der Lissabonner Vertrag vor, dass die Zahl der Kommissare ab November 2014 auf zwei Drittel der Mitgliedstaaten begrenzt wird. Polen hat seine Unterschrift von dem Ausgang der zweiten Abstimmung in Irland abhängig gemacht. Das tschechische Parlament hat dem Vertrag von Lissabon bereits zugestimmt. Allerdings müssen auch noch der Senat und der EU-kritische Präsi-dent Vaclav Klaus ihr O.K. geben.

JA! NEIN!

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grenzgänger* / Ausgabe Frühjahr 2009Innen grenzgänger* / Ausgabe Frühjahr 2009 Innen

wer wirklich was reissen will, geht weg

Hagenwerda bei Görlitz, ein Nest an der Oder und damit an der Grenze zu Polen. Dort fand im letzten Sommer zum ersten Mal das La Pampa Festival statt. Mitten in der Pampa, aber in der Mitte von Europa. „Das ist, was uns von allen anderen unterscheiden soll. Wir wollen unsere Lage als Chance sehen, den Austausch zu fördern. Ganz ungezwungen und entspannt, Party statt Politik.“, erklärt Andreas Schwarz, einer der Hauptorganisa-toren. Mit viel Mühe wurden damals Flyer und Website in vier Sprachen-deutsch, englisch, polnisch und tschechisch verfasst um auch die neuen Nachbarn hinter der Grenze anzuziehen. Und obwohl viele da waren Polarkreis 18, Intro und Leute aus Hamburg und Berlin, polnische und tschechische Gäste sind nur wenige gekommen. Das Problem: unterschiedliche Musikgeschmä-cker. „Wir haben probiert uns mit verschiedenen Portalen zu vernetzen, aber dort gibt es eine ganz andere Szene. Die Leute gehen dort zurzeit eher auf Ska ab. Und La Pampa war halt ein Indiefestival“.

Was Andreas aber wirklich traurig gemacht hat, war, dass kaum Leute aus Görlitz und Umgebung da waren. „Aber vielleicht hat das eine mit dem anderen zu tun die Musik zieht bei vielen hier nicht“, sagt der 30-Jährige Typisch Provinz? „Wir machen halt keinen Rock, fördern keine regionalen Bands so wie die anderen kleinen Feste hier in der Gegend. Unsere Line up ist eher etwas für urbanes Publikum“. Urban wie Berlin, dort lebt auch Andreas seit Jahren. Wie die meisten jungen Leute, die nach Veränderung im Leben suchen, hält ihn außer dem Festival nichts mehr zuhause. Denn kulturell fehle es dort an Publikum, wer etwas über das Theater lesen will, hat wahrscheinlich am Stück selbst mit gewirkt, neues Publikum lasse sich nur schwer erschließen.

„Wer wirklich was reißen will, geht

ist aller anfang schwer?SEIT 2004 IST POLEN MITGLIED DER EUROPÄISCHEN UNION. SEITDEM HAT SICH SO EINIGES GEÄNDERT. Von Hanne Schneider

I ch konnte nicht erwarten, dass Polen endlich der Europäischen Union beitritt. Es war

irgendwie irrational, so lange haben wir gewartet. Für mich war es ein Datum, dass noch weit entfernt schien. Fast wie Warten auf den Weihnachtsmann, erzählt Łukasz Mikołajczuk. Damals 2004, dem Jahr der Osterweiterung, ist Lukasz 20 Jahre alt und wie viele seiner Freunde voll von Erwar-tungen an die Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Er lebt seit seiner Kindheit in Łódź, der dritt-größten Stadt Polens, in der viel dafür getan wird, 2006 ein ernstzunehmender Kandidat als Europäische Kulturhauptstadt zu sein. Museen und Galerien schießen aus dem Boden, die Filmhochschule und Erasmusstudenten aus ganz Europa bringen Leben in die Stadt. Auch die polnischen Jugendlichen zieht es weg vom Land, weg von der Arbeitslosigkeit, weg von den nati-onalkatholischen Vorstellungen ihrer Eltern und Großeltern. Sie suchen Jobs in großen Städten wie Łódź und besuchen Sprachschulen, die man hier an jeder Ecke finden kann – lernen Englisch, Deutsch und Französisch.

eine neue perspektiVe

„Die Jugendlichen möchten sich vom früheren ‚Osten’ distanzieren, sich der Welt offen für Neues präsentieren. Sie erhoffen sich von der EU auch politische Unterstützung im Falle von neuen Konflikten, wie etwa dem Gasstreit mit Russland“, sagt Kasia Stachurska. Sie studierte ‚Internati-onal Relations’ und ist nun glücklich, als eine der wenigen einen Job bei der Stadtverwaltung gefunden zu haben. Sie führt Besuchergruppen

aus Städtepartnerschaften durch die Stadt. Jobs gerade im Kulturwesen sind rar. 2004 war für viele junge Menschen auf einmal der Westen da. „Von da an waren wir eben nicht mehr nur Europabürger zweiter Klasse sondern richtig da-bei“, jubelt Lukasz. Endlich seien Polen und die EU gezwungen zur Gemeinsamkeit. Von beiden Seiten sei es wichtig, miteinander zu kooperieren und Schritte aufeinander zuzugehen.

Łukasz arbeitet für eine niederländische Per-sonalagentur in Polen. Er sucht junge Menschen, die qualifiziert sind und bereit, im Ausland zu arbeiten. Er selbst wollte nach seinem Polonis-tikstudium eigentlich Lehrer werden. „Aber ich kann es mir nicht leisten.“, meint er. Von einem Lehrergehalt kann man in Polen nicht leben. So und ähnlich ergeht es vielen Jugendlichen. „Wir haben eine hohe Arbeitslosenquote bei Jugend-lichen hier, daran ändert zwar die EU nicht viel aber sie eröffnet neue Chancen. In anderen Ländern arbeiten, reisen oder studieren.“ Für die polnische Jugend ist die Entfernung zum Westen kleiner geworden, wenn auch noch nicht ganz verschwunden. „Jetzt sind wir ein Nachbarland von Deutschland, nicht nur irgendein Land im Osten. Eben nicht mehr nur ein Schatten, sondern ein Land mit einer eigenen Meinung.“

nicht alle sind gleichermassen begeistert

In den Jahren seit dem Beitritt habe sich einiges verändert, „aber Vorteile gab es fast nur für meine Generation“ erklärt Kasia. Mit der Angleichung des polnischen Wirtschaftssystems an europäische Standards sei auch die Benachteiligung für ältere Arbeitskräfte gekommen. Die Effizienz vieler Un-

DIE EU- OSTERWEITERUNG FEIERT IHR FÜNF JÄHRIGES BESTEHEN, DAS SCHENGEN ABKOMMEN IST MITTLERWEILE ÜBER EIN JAHR IN KRAFT. FÜR DIE MENSCHEN IM DREILÄNDERECK DEUTSCHLAND-POLEN-TSCHECHIEN BIETET DIES NEUE CHANCEN – WIRTSCHAFT-LICH UND KULTURELL. PRINZIPIELL – DENN WELCHEN NUTZEN SIE WIRKLICH DAVON HABEN, IST EINE ANDERE SACHE. ZWEI STIMMEN.Von Steffi Hentschke

was bleibt chen. Aber eigentlich haben sie diesen Umweg eh nie gemacht: „Keiner hat sich an die festen Übergänge gehalten und keinen hat das gestört .Ich bin in all den Jahren nicht einmal nach meinem Ausweis gefragt worden“, berichtet Herr Zacharias. Er und seine Frau sprechen fließend tsche-chisch, haben Freunde, Frisör und Optiker in Tschechien. „Für uns war die Grenzöffnung wirklich überfäl-lig“, sagt der Rentner. Schmunzelnd erzählt er wie er den Grenzstein um einem Meter verschoben hat, weil der Schneepflug ihn umgefahren hatte. „Seitdem ist Tschechien einen Meter größer.“

Doch auch für ihn und seine Frau kam mit dem Schengen-Abkommen eine kleine Veränderung: „Wir haben seitdem keinen Porsche Cayenne mehr über die Hänge sausen sehen.“ Der Rentner erzählt wie früher am Haus vorbei, Geländewagen ab 50.000 Euro aufwärts geschmug-gelt wurden. Heute nehmen die Schmuggler einfach die Autobahn.

Zum Schluss wird Herr Zacharias nochmal nachdenklich. Seit der Finanzkrise schlagen sich seine Nach-barn mit ganz anderen Problemen als er herum: Die tschechische Krone befindet sich wie der polnische Zloty im steilen Fall und zurzeit machen alle Schulden. „Ob die EU diese Belastung unverletzt übersteht, wird sich zeigen. Denn das Hauptziel der Osterweiterung ist es doch, einen europäischen Markt zu schaffen“, sagt der Rentner. Ohne gemeinsamen Markt braucht es keine Euro-Zone. Und was dann bleibt ist die Grenze.

weg“, sagt Andreas. Dabei gibt es mittlerweile so viele Programme, die für Kultur an der Grenze und über die Grenzen hinaus begeistern wol-len ein Teil davon mit EU-Geldern finanziert. Aber ob dieses Geld hilft, um mehr Interesse für die eigene Heimat zu wecken, findet Andreas fraglich. „Meistens nehmen doch nur eine Hand voll Leute an diesen Programmen teil, meine Meinung ist das auch nicht der richtige Weg.“

für uns war die grenzÖffnung wirklich überfällig

In dem sächsischen Kurort Oybin, in der Grenzstraße 10, direkt an der tschechischen Grenze, leben die Zacharias‘. In dem Haus nebenan, keine zehn Meter weiter, lebt die Familie Kundra- in Tschechien. „Of-fene Grenzen“ bedeutet hier, dass die zwei Familien nicht mehr über die grüne Grenze in 500 Meter Entfer-nung gehen müssen, um sich zu besu-

ternehmen musste verbessert, der Staatshaushalt geschont werden. Dabei fielen viele Stellen, vor allem von älteren Arbeitnehmern, weg.

Auch die Jugendlichen Polens sind bei aller Großartigkeit des Beitritts zur EU damit be-schäftigt, die neuen Möglichkeiten mit ihrem bisherigen Leben in Einklang zu bringen. Schüler und Studenten kleiden sich einerseits mit H&M-Klamotten, hören Weltmusik, besitzen Internet-zugang und sehen amerikanische Filme im Kino. Andererseits sind die meisten stark geprägt vom katholischen Hintergrund, gehen sonntags in die Kirche, verfolgen Familientraditionen und leben zwischen den Wertvorstellungen ihrer Familien und dem eigenem Wunsch auszubrechen. Sie hängen zwischen zwei Welten. Das kann einem leicht zu viel werden.

Lukasz habe durchaus einige Freunde, die der EU ablehnend gegenüber stehen und unter denen die Politikverdrossenheit groß ist. Er jedoch kann das nicht verstehen: „Gerade ihnen eröffnete die EU doch die Möglichkeit nach England zu gehen und dort zu arbeiten, wie es viele hier tun. Als Tel-lerwäscher kann man dort mehr verdienen als hier ein Akademiker bekommt.“ Die Begeisterung für die EU habe sich in den letzten fünf Jahren merk-lich verringert. „In Warschau gab es 2004 noch ein großes Straßenfestival, als klar war, dass wir für einen Beitritt gestimmt hatten“, erzählt Lukasz begeistert. Fast Dreiviertel der Polen stimmten Pro-EU. Doch noch im selben Jahr gaben gerade einmal 20 Prozent der Polen ihre Stimme bei der Europawahl ab und laut Umfragen und Progno-sen des „Eurobarometer“ werden es 2009 auch nicht viel mehr sein. Kasia wird in diesem Jahr für Europa wählen gehen. „Wenn es denn einige interessante Kandidaten gibt. Ich möchte meine Stimme niemanden geben, den ich nicht kenne oder der mich nicht überzeugt.“

„Natürlich werde ich wählen“, meint Łukasz und schreibt damit seinen nächsten Wunschzettel an den Weihnachtsmann. Wann die nächste Besche-rung ist, bleibt abzuwarten.

1918

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dabei gerät in Vergessenheit, dass keine Richtlinien oder Verord-nungen am Parlament vorbei ge-macht werden können. Sollten sich Parlament und Ministerrat nicht einig sein, wird ein Vermittlungs-ausschuss angerufen. Ohne das Parlament geht nichts.

Das Parlament ist nicht zu schwach – es ist zu schwach vom Bürger legitimiert. Die Wahlbe-teiligung bei den Europawahlen ist gering, im Wahlkampf spielen überwiegend nationale Themen eine Rolle – kurzum: Das Parlament und seine europäischen Aufgaben

interessieren den Bürger kaum. Deshalb bringt auch der häufig gemachte Vorschlag wenig, dass zur Eindämmung des Defizits das Par-lament mehr Macht erhalten solle. Wenn es mehr Macht hat, wird die Wahl nicht europäischer.

Nicht weniger häufig wird auf den Ministerrat eingeschlagen. Die Vorwürfe: Er ist nur indirekt vom Bürger durch nationale Wahlen bestimmt, er tagt meistens nicht öffentlich und außerdem arbeiten in ihm Vertreter der nationalen Exekutiven in der europäischen Legislative. Auch das stimmt alles, schlimm ist es jedoch nicht. Dass ein Legislativorgan von Mitgliedern der Exekutive besetzt ist, sollte in diesem Land nicht unbekannt sein – der Bundesrat feiert in diesem Jahr immerhin seinen Sechzigsten.

Das wirkliche Problem ist auch hier, dass der Ministerrat vor allem an mangelnder Legitimation leidet. Bisher ist noch kein Kanzlerkan-didat angetreten und hat laut mit seiner Europapolitik geworben, in keinem Fernsehduell wurde über das zukünftige Abstimmungsver-halten der Regierenden debattiert und die Bürger haben das genauso wenig gefordert. Der Ministerrat ist nicht undemokratisch – sein demokratisches Potenzial wird nur nicht genutzt.

Anders ist das bei der Kommis-sion. Die wird tatsächlich nur sehr indirekt vom Bürger bestimmt, im klassischen Sinne demokratisch ist das nicht. Das Parlament kann die Kommission jedoch abset-zen – und kontrolliert es dadurch. Darin kommt zum Ausdruck, dass es in der EU Gewaltenverschrän-kung und -teilung gibt, wie in jeder

anderen Demokratie auch. Und wie in jeder Demokratie sind nicht alle Gewalten direkter demokra-tischer Kontrolle unterworfen. Die Kommission könnte zwar bürgernä-her sein, gefährlich undemokratisch ist sie aber nicht.

Gerichte sind das klassische Beispiel für vermeintlich undemo-kratische Organe, die lebenswichtig für eine Demokratie sind. Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) wird häufig für seine sehr abenteuer-liche Rechtsprechung gescholten. Er hat europäische Grundrechte, den Vorrang und die direkte Anwendbar-keit des Vertragsrechts herbeigeur-teilt. Doch mutige Rechtsprechung ist ebenfalls kein EU-Phänomen: Auch das Bundesverfassungsgericht urteilte ein Grundrecht auf infor-melle Selbstbestimmung herbei, das nirgendwo im Grundgesetz steht. Die Rechtsprechung des EuGH steht in der Tradition der Verfas-sungsgerichte der Mitgliedstaaten.

Tatsächlich wird er sogar durch die Gerichte der Mitgliedstaaten kontrolliert: Der EuGH kann nur entscheiden, wenn ihm ein nationales Gericht ein Verfah-ren vorlegt. Keine Vorlage, keine EuGH-Entscheidung. Das ist nicht nur Theorie: In den 1980ern kam es zu einem massiven Einbruch der Vorlagen, weil die nationalen Gerichte mit der Rechtsprechung zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien nicht einverstanden waren. Die europäischen Institu-tionen sind nicht weniger demo-kratisch als die der Mitgliedstaaten, aber sie sind zu schwach legiti-miert. Deswegen sehen manche das Gespenst des Demokratiedefizits. Doch Gespenster sind und bleiben: eine Einbildung.

mehr demokratiewagen?ES IST HOCHMODISCH DER EUROPÄISCHEN UNION EIN DEMOKRATIEDEFIZIT ANZUDICHTEN. DAS LENKT ABER VON DEM WIRKLICHEN PROBLEM AB. EIN KOMMENTAR. Von Friedhelm Weinberg

wer ist eigentlich europa?DAS ZU EUROPA VOR ALLEM DIE ZUSTIMMUNG UND ANERKENNUNG JEDES EINZELNEN BÜRGERS NOTWENDIG IST, SCHEINT KLAR ZU SEIN. DOCH WAS KOMMT DANACH? Von Franka Henn

D ie Europäische Union leidet an einem Demokratiedefizit.

Die EU ist nicht transparent, dafür aber kompliziert, Bürgerbeteiligung wird klein geschrieben. Das ist eine einfache und populäre Erklärung eu-ropäischer Politik – nur leider greift sie zu kurz. Ein anderes Problem ist viel größer.

Aber der Reihe nach. Besonders häufig wird die schwache Rolle des Europäischen Parlaments angepran-gert. Es kann selbst keine Gesetzes-entwürfe einbringen und ist auf den guten Willen der Kommission angewiesen. Das stimmt. Doch

I m alten Prestigeviertel Grune-wald hat sich die Europäische

Akademie Berlin niedergelassen. Der Eingangssalon lockt mit klassischen, dunklen Ledermöbeln. Aus einem der Nebenräume dringt das leichte Brummen eines Staubsaugers. In einem anderen Raum vermischen sich die Stimmen von Sitzungsteil-nehmern.

Die Studienleiterin Andrea Des-pot erscheint pünktlich. Sie ent-schuldigt sich für das „provisorische“ Erscheinen ihres Büros, doch lockert das die Atmosphäre in dem hellen Raum mit Topfpflanzen auf.

emotional ist europa bereits fassbar

„Geeint in Vielfalt“, zitiert sie später die Präambel des EU-Ver-fassungsentwurfes, als entschei-dendes Merkmal einer europäischen Identität. Dass bisher die breite, öffentliche Partizipation fehlt, be-dauert sie, denn Europa dürfe kein Eliteprojekt bleiben. Aber Identität sei auch nichts von der Natur Ver-ordnetes, sondern Identität müsse gestiftet werden. Davon, dass die Europäische Union auf der Suche

nach einem Gründungsmythos sei, möchte sie trotzdem nicht sprechen.

„Emotional ist die Europäische Identität bereits nachvollziehbar, jedoch schwankt die Akzeptanz der EU-Bürger auch je nach Lage der nationalen Wirtschaft.“ Was die Identifikation mit Europa so schwierig mache, sei vor allem die Unklarheit über dasselbige.

Welche Rolle spielen nun Gren-zen? Eines sei klar, so Andrea Despot, dass Abgrenzung im nicht-militä-rischen Sinne Identität schafft, es bedürfe aber noch viel mehr eines positiven Bezugs. Die Grenzen Europas könne man nie ein für alle Mal festlegen, stattdessen müsste die Öffentlichkeit gemeinsam mit der Politik dieser Frage immer wieder nachgehen.

europa als soziale konstruktion

Réné Gabriëls doziert an der Niederländischen Universität Maastricht. Seine Fachbereiche sind Soziologie und Philosophie. In seinen Vorlesungen wendet er oft unkonventionelle Methoden an und auch in seiner Freizeit findet man ihn häufig in Vorlesungssälen oder

einer urigen Kneipe begleitet von diskutierenden Studenten.

In dieser hebt er dann hervor: „Europa ist keine vorgegebene Größe, sondern eine soziale Konstruktion“

,erklärt er. Die Frage sei deshalb, wer die „Definitionsmacht“ über Europa besitze. In seinen Augen versuche derzeit immer noch eine Elite „manchmal krampfhaft“ eine Europäische Identität zu schaf-fen. „Aber solange sie nicht durch die meisten europäischen Bürger getragen wird, ist sie eine Farce“, schreibt er. Er kritisiert vor allem die momentane Erarbeitung einer europäischen Identität als eine Iden-tifikation in Abgrenzung zu anderen Nationen: „Wer die Identitätsfrage stellt, sollte gleichzeitig die Diffe-renzfrage stellen, weil die Identität von jemanden oder etwas immer festgesetzt wird, indem sie von jemanden unterschieden wird“. Die Festlegung „europäischer“ Grenzen führe automatisch zur Bestim-mung des „Nicht-europäischen“. In Gabriëls Worten findet die Metapher von „Fortress Europe“ Widerhall – je größer die Mobilität im Inneren der EU, umso undurchlässiger die äußeren Grenzen. Für Gabriëls ist

die Exkludierung von Menschen von den als Europäisch proklamier-ten Werten – Freiheit, Menschen-rechte, Demokratie – absurd; er nennt sie die „Schattenseite“ der europäischen Identitätswirklichkeit.

„Wir brauchen ein kosmopolitisches Europa, das sich für Menschen-rechte und Demokratie einsetzt! Doch dann würde Europa nur eine Zwischenstation auf dem Weg zu einer gerechten Weltordnung sein. Man spürt zwischen diesen Zeilen, die Zweifel darüber, ob das den soge-nannten „Konstrukteuren“ Europas wohl ein Anliegen wäre.

Zwei Menschen- zwei Visionen. Die Fragen, die sie aufwerfen, rich-ten sich weniger auf die Inhalte einer bestehenden Europäischen Identität, sondern auf den Traum von Europa, den die Bürger in sich tragen. Ob

„Zwischen- oder Endstation Europa“- ohne öffentliche Beteiligung werden einige wenige die Entscheidung darüber treffen, wohin der Zug fährt. Und ob am Ende jeder, der eine Fahrkarte hat, mitgenommen wird, bleibt fraglich.

Réné Gabriëls Dozent an der Niederländischen Universität Maastricht

20 21

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der fanclub europaDIE LIEBE ZUM FUSSBALL ALS EUROPÄISCHE MARKE. STARS DER CHAMPIONS LEAGUE MACHEN GEMEINSAME SACHE UND BEETHOVEN WIRD AUFGEPEPPT. WIE SPORT UND MUSIK EUROPA VERBINDEN KöNNTE. Von Annika Bischof

D ie Akropolis in Athen, die endlosen Fjorde in Norwegen oder die Donauinseln in Bu-

dapest: Europa bietet für jeden etwas, doch die Wahrzeichen werden mit den Ländern, nie mit der Europäischen Union verbunden. Dem Staa-tenbund fehlt so ein Markenzeichen. Was bleibt sind Kennzeichungen wie der Euro, zwölf Sterne auf blauen Grund oder der Hymne, die mit der EU im Zusammenhang stehen. Doch will die EU als zusammenhängender Raum erkannt werden, ist ein Markenzeichen unabdinglich.

Deutlich wird dieser Mangel auch bei „Entro-pa“ dem umstrittenen Kunstwerk des Tschechen David Cerný. Die Installation zeigt 27 Klischees der EU, zu jedem Land eines. Von verbindenden Gemeinsamkeiten keine Spur. Gerne sieht man diesen künstlerischen Fingerzeig in Brüssel nicht: Die tschechische Ratspräsidentschaft musste auf Druck der anderen Mitglieder das Kunstwerk umgehend wieder entfernen lassen.

All die Dinge, die mit Europa verbunden werden, sind Wiedererkennungsmerkmale, sagt Martin Pross, Partner und Vorstand Kreation bei Scholz & Friends. „Europa muss immer wieder den Beweis antreten, dass es keine reine Kopf-geburt ist. Großereignisse, wie die Fußball-EM schaffen das. Das Werbeziel heißt hier Gemein-schaftsgefühl“, so der Experte.

Eine Europa-Mannschaft ohne passende Hym-ne auf den Platz zu stellen, macht allerdings auch keinen Sinn. Vielleicht sollte man Dieter Bohlen eine neue Hymne schreiben lassen? Genügend Ohrwürmer hat er ja bereits produziert und bekannt genug ist er auch. „Nein, das sollte man Beethoven dann doch nicht antun“, meint dazu Martin Pross. Wie wäre es dann mit Mando Diao, Amy Winehouse oder Paul Potts? Jung, populär und talentiert sind sie alle. Das passt doch zu-sammen mit dem heutigen Europa. Etwas mehr Frische kann die Hymne ruhig vertragen. Zudem spricht solch ein Europalied nicht nur die Fußball-fans an, sondern auch alle anderen. Etwas mehr Schwung spricht eben jede Generation und alle Interessen an. Eine Hymne verbindet die Men-schen, und macht sie zum Teil eines Ganzen.

„Wenn Europa zu einer Bewegung wird, die sich immer wieder interessante Themen vorknöpft und nicht nur den Abbau der Bürokratie, kann es einen Fanclub bekommen, quer durch die Bevölkerung“, prognostiziert Pross. Eine Bewegung, die durch Fußball und Musik miteinander verbunden ist, das wäre ein Anfang für die europäische Marke. Ein Fanclub dann der nächste Schritt.

Fußball als Kennzeichnung Europas. Ganz neu ist das nicht. Der Sport verbindet die Menschen, geht über Grenzen hinaus und bietet jedem die Chance überhaupt mitzumachen. Ein Teil eines Ganzens zu sein, darum geht es. Wenn alle Nati-onen auf dem grünen Rasen stehen, die Fans auf den Rängen grölen und die Zuschauer daheim die Einschaltquoten hoch treiben, dann verschmilzt Europa zu einer Nation. In diesem Fall zu einer euphorischen Fußballgemeinschaft.

Sobald jedoch die einzelnen Nationalhymnen im Stadion erklingen, ist dieses Gemeinschafts-gefühl schnell wieder weg. Es fehlt an einem einheitlichen Europalied, das die Fanmasse auf ein Ereignis einstimmt und bei dem alle mitsingen können. Die Ode an die Freude ist dafür nicht geeignet. Mangels Textsicherheit wird sie bei sol-chen Anlässen weggelassen und das obwohl darin ein europäisches Gemeinschaftsgefühl, Solidarität und Völkerverständigung besungen wird. Zudem gibt es auch noch keine Europa-Mannschaft, für die solch eine Hymne angestimmt werden kann. Zwar treffen alle Nationen bei einem Ereignis wie der EM aufeinander, zusammen in einem Team spielen sie aber nie. Die Vorstellung, dass Ballack, Rooney und Toni gemeinsam für einen Titel kämpfen, ist einfach unvorstellbar. Im europäischen Gemeinschaftsinteresse wäre das allerdings schon.

Die Aufgabe besteht nun darin, die noch leeren Felder des Eudoku mit den neun vorgegebenen europäischen Flaggen aufzufüllen. Das darf natürlich nicht beliebig getan werden, sondern es ist eine einzige einfache Regel zu beachten: In jeder Zeile, in jeder Spalte und in jedem 3x3-Unterquadrat des Sudoku darf jede Flagge nur ein einziges Mal vorkommen!

eudoku

Schau in der Übersicht auf Seite 14 und 15 nach, in welchen Ländern welche Sprache sprechen und addiere die Anzahl der entsprechenden Abgeordneten im Europäischen Parlament miteinander. Dabei soll-test du beachten, dass manche Sprachen in mehreren EU-Ländern gesprochen werden. Wenn du alles richtig gemacht hast, erhältst du eine Zahl. Das dazugehö-rige Feld kannst du dann in der entsprechenden Farbe ausmalen.

reutsel

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24

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78

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27117

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0

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DeutschDänischPolnischTürkisch

NiederländischGrichischEnglischLitauischSlowenisch

SchwedischUngarischBulgarischRumänischItalienisch

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GELB

BLAU

BLAU

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letzte rettung web 2.0WIE ABGEORDNETE DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS DEN DRAHT ZU IHREN BÜRGERN SUCHEN. Von Konrad Welzel

W arum müssen wir eigentlich am Faschings-dienstag! im Aussenhandelsausschuss

abstimmen? Am Faschingsdienstag???, fragt sich der deutsche EU-Abgeordnete der CDU, Daniel Caspary, zur Karnevalszeit im Internet. Auf twitter.com bloggt der 32-Jährige regelmä-ßig darüber, was ihn politisch, aber auch privat bewegt und versucht so die Brücke zwischen ihm als Abgeordneter im fernen Brüssel und der Europäischen Bevölkerung zu schlagen. Derartige Ausflüge europäischer Parteien und Politiker in das Internet waren bisher nur in Ausnahmefällen wahrnehmbar. Doch gerade für die anstehende Europawahl wird das world wide web auch unter den Abgeordneten als ein moderner und schneller Weg direkt zu den Bürgern genutzt.

Seit Jahrzehnten sinkt die durchschnittliche europaweite Beteiligung an der Wahl zum Europäischen Parlament und mit ihr auch die Bürgernähe. Experten befürchten, dass die 45,6 Prozent von 2004 in diesem Jahr sogar noch einmal unterboten werden. Neue Hoffnung für eine Besserung schöpfen die Europaabgeordneten nun aus dem einzigartigen Onlinewahlkampf von

Barack Obama im vergangenen Jahr. Neben den klassischen Wahlkampfmethoden setzen deshalb viele vor allem auf die neuartigen, direkten Kommunikationswege zu den Bürgern. Euro-paweit starten Politiker zur Europawahl eigene Blogs, wöchentliche Videobotschaften und legen Profile in sozialen Netzwerken wie Facebook oder StudiVZ an.

Christofer Fjellner, schwedischer Abgeordneter der Europäischen Volkspartei – Europäischen Demokraten (EVP-ED), sieht sich mit seinen 32 Jahren selbst in der Bringschuld: „Wenn Bürger nicht richtig verstehen, was ich als EU-Abgeord-neter so mache, dann bin ich es, der das besser kommunizieren muss.“ Konkret werde er in den kommenden Wochen ein ganz neuartiges Projekt starten. In seinem Internetforum können die Gäste über sein politisches Programm diskutieren und über Schwerpunkte abstimmen. „Natürlich werde ich meine grundsätzlichen Ansichten nicht komplett umschmeißen. Dennoch sei ihn sei das Internet eine perfekte Möglichkeit, „um die Poli-tik wieder näher zu ihrem Ursprung zu bringen: dem Wähler.“

Auch der twitternde Daniel Caspary plant für seinen Wahlkampf eine breite Internetkampagne. Er wolle zum Beispiel bei Facebook über sein Wahlkampfbild abstimmen lassen und live von seinen Veranstaltungen berichten. Schon jetzt liege die Rückmeldung über Facebook deutlich über den Erwartungen und wenn der Wahlkampf richtig losgeht, werde man hoffentlich nicht den Überblick verlieren, so Caspary.

Trotz der gestiegenen Präsenz der EU-Abgeord-neten im Internet, stellen Daniel Caspary und sein schwedischer Kollege Christofer Fjellner immer noch eine Minderheit im Europäischen Parlament dar. Um zu bewerten, ob deren Bemühungen beim Volk ankommen, braucht man im Internet keine Hochrechnungen oder Unfragen. Es reicht ein Blick auf die Klickzahlen und die Anzahl der Kommentare. Beides ist bei den meisten Online-auftritten noch ziemlich niedrig. Und so sprechen die Politiker auch im Internet noch vorrangig mit sich selbst, als mit ihrem Volk.

Daniel Caspary, EU-Abgeordnete der CDU

Christofer Fjellner, schwedischer Abgeordneter der Europäischen Volks-partei – Europäischen Demokraten

EU-Politik konzentrieren: „Das Problem ist, dass es keine Einigkeit zwischen den Regierungen und in der Bevölkerung gibt.“ In der Bevölkerung herrsche die Meinung vor, die Europa-Politiker hätten längst vergessen, wer sie gewählt habe: „Die EU-Bürger haben keinen Bezug zu ihren Volksver-tretern.“ Wenn sich hier nichts ändert, so Börzel, helfen auch keine neuen Verträge. Und erst recht nicht die „Vereinigten Staaten von Europa.“

stärker in ihr Leben eingreift als das jetzt schon passiert“, sagt Börzel. Politisch sei die Utopie der

„Vereinigten Staaten von Europa“ daher sogar „gefährlich“.

„Brauchen wir überhaupt mehr Einheit?“, fragt sich die Berliner Professorin. Statt den Integrati-onsprozess durch immer neuere Vertragsreformen voran zu treiben, solle man sich auf die eigentliche

D ie Idee ist gar nicht neu. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg träumten Europa-

Pioniere wie Richard Coudenhove-Kalergi von einem geeinten Kontinent – wohl ahnend, dass weitere Konflikte drohten. Grenzüberschreitende Diplomatie sollte die einzelnen Staaten damals vor der außenpolitischen Isolation bewahren – vergeb-lich. Nach dem Krieg folgte ein Neuanfang: Die europäische Integration führte in kleinen Schrit-ten zu einer Union von Nationalstaaten.Wer heute allerdings den Begriff der „Vereinigten Staaten von Europa“ in den Mund nimmt, ist selten ein visionärer EU-Freund, sagt Tanja Börzel. Sie ist Professorin für Europäische Integration an der Freien Universität Berlin und wenig angetan von der Idee eines europäischen Bundesstaates.

Tatsächlich werde der Begriff von Europa-Skep-tikern verwendet, um eine Drohkulisse aufzu-bauen. Denn schon jetzt fürchten sich viele EU-Bürger vor dem bürokratischen Schreckgespenst namens Brüssel. Eine „USE“ würde den Staaten ihre Eigenständigkeit nehmen. „Die EU wird vermutlich nie ein klassischer Bundesstaat sein“, ist sie sich daher sicher. Denn ein Bundesstaat setzt ein einheitliches Leitbild voraus, das bislang völlig fehlt: „Man bekommt einfach nicht die Interessen der 27 Mitgliedstaaten unter einen Hut.“ Gerade wegen dieser nationalen Vielfalt sollte man sich nicht zu früh festlegen, wohin die Fahrt geht: „Die Finalität der Union muss offen bleiben.“

Hinzu kommt, dass eine einheitliche, europä-ische Identität fehlt. Der Brüsseler Politik-Apparat ist unbeliebt wie selten zuvor. Professorin Börzel sieht die Sache daher pessimistisch: „Die Europäer sind nicht bereit für Europa zu sterben, und sie wollen auch nicht ihr Einkommen in größerem Umfang innereuropäisch umverteilen lassen. Da würde die europäische Bevölkerung einfach nicht mitmachen.“ Tenor: Wer sogar den Weg zur Wahlurne scheut, wird auch von einer bundes-staatlichen Vereinheitlichung nicht begeistert sein.

„Die EU-Bürger wollen nicht, dass Europa noch

europa the american waY?EUROPA IST ZUSAMMENGEWACHSEN UND NENNT SICH HEUTE „UNION“. WIR ZAHLEN IN EINER EINHEITLICHEN WÄHRUNG, BESITZEN EIN EUROPA-PARLAMENT UND DEMNÄCHST VIELLEICHT SOGAR EINE EU-VERFASSUNG. WAS LIEGT ALSO NÄHER, ALS EINEN BUNDESSTAAT ZU GRÜNDEN – DIE „VEREINIGTEN STAATEN VON EUROPA“? Von Nils Glück

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grenzgänger* / Ausgabe Frühjahr 2009Innen grenzgänger* / Ausgabe Frühjahr 2009 Innen

erasmus orgasmusAUF EINMAL IST VöLKERVERSTÄNDIGUNG SO EINFACH: ERASMUS-STUDENTEN ERZÄHLEN VON EINER ZEIT, DIE NUR DIE MILLIONEN VON INSIDERN VERSTEHEN, DIE SIE EBENFALLS ERLEBT HABEN. Von Irene Sacchi und übersetzt von Laura Daub

M an nennt es “Erasmus Effekt” oder “Eras-mus Orgasmus”. Es ruft bei denen, die

als Erasmus Studenten für eine bestimmte Zeit im Ausland waren diese Erinnerungen hervor, an Geschichten von Freundschaften und Abenteuern, aber vor allem Liebesgeschichten. Sie sind oft kurzlebig und das Ende von Erasmus bedeutet meist auch ihr Ende. Ganz zu schweigen von den vielen kurzen, intensiven Begegnungen, die in nur wenigen Stunden beginnen und genauso schnell wieder enden – und doch irgendwie Romanzen sind.

Die Erasmuszeit läuft schneller als die normale

Zeit, man lebt mindestens hundert Prozent. Wer das am eigenen Leib erfahren hat, wird bei diesen Worten vielleicht versonnen lächeln, auf jeden Fall sehr genau wissen, wovon die Rede ist. Weil man Erasmus nicht erklären kann, wenn man es nicht erlebt hat.

Noch schwieriger wird es, wenn man Erasmus-Liebe erklären soll. Man kann von jeglicher Erfahrung profitieren, sei sie schön oder schlecht – vor allem, wenn es sich um intensive Beziehungen handelt. Aber besonders die Erinne-rung an eine Erasmus-Liebe hinterlässt oft einen besonders deprimierenden Nachgeschmack. Da wird der Glaube enttäuscht, dass kulturelle und räumliche Distanzen keinen Unterschied machen. Die aufregende Illusion zerstört, man kann alles und jeden zurücklassen für ein Leben zu zweit in einem anderen Land, mit einer neuen Sprache. Man träumt mit offenen Augen und erwacht irgendwann. Am Ende steht die Trennung und die Rückkehr ins Heimatland, zu den alten Freunden, in das Alte, jetzt irgendwie nervtötend langsam ablaufende Leben.

Deshalb fühlen sich die Theoretiker auf den Plan gerufen. Studien der EU und zahlreiche Forschungen widmen sich dem Phänomen Erasmus. Diplomarbeiten mit Titeln wie “Die

Erasmus Anthropologie. Hin als Student, Leben im Überschwang, zurück als Mensch” werden eingereicht und Blogs zum Thema gepostet. Alles wird im mehr oder weniger ernst gemeinten Versuch verfasst, das Post-Erasmus Syndrom zu verstehen und in Worte zu fassen. Und vielleicht einen Ausweg aus der eigenen Post-Erasmus Krise zu finden: Wenn das alte Heim zu eng wird, die alten Freunde einen nicht mehr verstehen und man sich im ewigen Kreislauf der immer glei-chen banalen Alltagsgespräche gefangen fühlt. Das beste Heilmittel ist wohl nach wie vor die nächste Reise.

Manche haben es dennoch nicht aufgegeben, an den großen Traum zu glauben: die Enthusi-asten, die Träumer, die Leidenschaftlichen, die Romantiker. Auch wenn das Erinnern nicht immer schön oder leicht ist. Es sind jene, die Teil der neuen Generation sind, die einer Welt ohne Grenzen angehört, in der vorher unüberwindbare Unterschiede zu Kleinigkeiten schrumpfen, wo die Toleranz und das Mitgefühl oberste Maxime sind. Die neue Generation derjenigen, die Eras-mus erlebt haben.

Solche sind es auch, die sich bereit erklärt ha-ben, ihre Geschichte zu erzählen, die Magie des

Moments zu teilen. Die Magie, die mit einem Knoten im Magen beginnt. Oder einfach mit einem Lächeln. Diesem “leuchten in den Augen, das nur die Menschen haben, die gelebt haben”, wie es die Band Jovanotti in ihrem Song Buon Sangue umschreibt.

wouter aus belgien trifft spanierin erasmus in finnland

Die sechs Monate in Finnland waren die besten meines Lebens. Sie studierte Ökologie, ich Infor-

matik. Wir hatten beide eine Beziehung daheim, aber ich habe mich vom ersten Moment an in sie verliebt. Es geschah in der Gigling Marlin Bar, in Joensu, Finnland. Die Kälte und die irreale Atmosphäre des Erasmus ließen alles magisch erscheinen. Alles an ihr war neu, anders: die Art zu Leben, sich zu kleiden, zu feiern, sich zu unterhalten, Pommes mit Soße zu essen, ganz zu schweigen von der Musik: Sie liebte U2 und Blink 182 und nannte sie “U-Dos” und “Blink Ciento-ochenda-y-Dos”. Mit ihr habe ich nicht nur ein Mädchen entdeckt und lieben gelernt, sondern ein ganzes Land. Als ich wieder zu Hause war, konnte ich nicht mehr so leben wie früher. Meine Freundin verstand mich nicht mehr. Sie konnte

nicht akzeptieren, dass ich mich verändert hatte. Meine Welt war auf einmal viel zu klein.

Für meine Geliebte aus der Erasmus Zeit liefen die Dinge anders. Sie kehrte zu ihrem Ex zurück. Ich habe unter dem Ende unseres Traums sehr ge-litten. Könne ich noch einmal zurück, ich würde alles genauso machen. Dieselben Entscheidungen und dieselben Fehler. Wenn ich es so sehe, hat es sich wirklich gelohnt.

martina, italienerin trifft petros, grieche erasmus in griechenland

Ich war in Athen, vor exakt fünf Jahren. Dort bin ich meinem Schicksal begegnet. Ein Junge mit Haaren bis zu den Füßen, ein Punk, ein Freak, mit eher fragwürdigen Auffassungen von Körperhygie-ne. Sein Name, wie und was genau passiert ist und wie lang es gedauert hat, sind nicht mehr wichtig. Wesentlich ist, dass er die Art von Persönlichkeit verkörperte, zu der ich mich entwickeln würde, auch wenn ich es zu dem Zeitpunkt noch nicht

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ahnen konnte. Er stand für eine bestimmte Idee vom Leben, die ich vorher für utopisch hielt. Ich habe ihn geliebt, aber mehr noch habe ich gerade dieses Leben geliebt, die Freunde, die Energie in der Luft.

Ich bin dann nach Hause zurückgekehrt und musste mich von ihm trennen, die Energie aber blieb. Genauso wie die Freunde und diese nicht ohne Schwierigkeiten realisierbare, aber auch nicht unmögliche Idee vom Leben in der Ferne. Und wenn die Sehnsucht nach diesem Leben, diesen Menschen zu stark wird, wiederhole ich für mich die Worte eines Gedichtes, dass ich in dieser Zeit gelesen habe: “... suche mich nicht als menschliches Wesen, ich bin in deinem Blick.”

alessandra, italien trifft Jorge, aus nicaragua und belgieneramsus in portugal

Ich habe sechs Monate als Erasmusstudentin in Lissabon verbracht und mich dort in ihn und die Stadt verliebt. Wir haben uns in der Universität kennen gelernt, Zufall, da er selten genug dorthin kam. Vielleicht war es wegen der melancholischen Atmosphäre der Alfama, oder wegen der ständig wechselnden Blicke auf den Bairro Alto. Jedenfalls wurden wir nicht müde, uns unsere Lebensge-schichte zu erzählen. An unserem ersten Treffen war es unglaublich anstrengend, mit meinem

Spaghetti-Englisch das zu sagen, was ich wirklich meinte. Es war eine schöne Überraschung: jemand, der in Nicaragua geboren und in Belgien aufge-wachsen ist, konnte mir so ähnlich, auch wenn er so anders ist. Es war so unwirklich, ein Traum, der erst endete, als wir nach Hause zurückkehren mussten. Aber Erasmus war nur der Beginn un-serer Geschichte, geprägt von Entfernungen, vom Internet und vielen, unglaublich vielen Reisen.

karl, schwede, liebt mediterrane mädchenerasmus in belgien

80 Prozent der Beziehungen während meines Auslandsstudiums waren mit mediterranen Mäd-chen. Ich habe einfach eine Schwäche für sie. Sie faszinieren mich, repräsentieren etwas absolut exotisches. Ich will nicht von einer bestimmten Beziehung reden, aber über meine Erfahrungen mit kulturellen Unterschieden könnte ich ein Buch schreiben. Angefangen bei der famosen Ge-wohnheit, mich anzuklingeln und gleich wieder aufzulegen. Nach einer Weile habe ich es begriffen: Meine Anruferinnen hatten einfach kein Geld mehr fürs Telefonieren. Und ich hab jedes Mal zurückgerufen und gefragt, was los sei. Dann die Sache mit den Eltern. Sie sind in Schweden zwar Teil der Familie, aber nicht so wie hier. In Italien fand ich mich am Tisch der Eltern wieder und kam mir vor wie bei der mündlichen Prüfung. Für sie ist es ein heiliges Ritual, für mich einfach Bequemlichkeit, ihr die Schlüssel meines Appar-tements zu geben. Am Ende bleibe ich schwach und erliege diesen kleinen Unterschieden. Das Mediterrane ist einfach meine Achillesverse.

michael , deutscher trifft estin erasmus in england

Wir haben uns in London kennen gelernt. Wir studierten dort beide “Media and Communica-tion Regulation”. Sie wusste mich mit Worten zu umgarnen und ich habe mich auf den ersten Blick in sie und ihre Intelligenz verliebt, auf einer Feier zum internationalen Frauentag. Dann passierten viele seltsame Dinge: Einmal habe ich sie zu Hause in Estland besucht. Sie warnte mich, dass sie nun mit ihrem Patenonkel in die Sauna gehen und er mich daraufhin mit einem Weihnachtsbaumzweig schlagen würde. Sie meinte es ernst. Ich hatte nie von solchen Bräuchen gehört. Mit dem Pa-tenonkel meiner Freundin nackt in der Sauna zu

sitzen und schwitzend Billard zu spielen grenzte an einen Kulturschock. Unsere Beziehung hat letztlich zweieinhalb Jahre gedauert und endete, wie Beziehungen eben enden. Geographische oder kulturelle Distanz hat da keine Rolle gespielt.

miguel, portugiese trifft ViViana, italienerinerasmus in belgien

Ich habe mein Erasmusstudium in der Fakultät für Kommunikationswissenschaften in Louvain absolviert. Vivi studierte Philosophie. Zum ersten Mal sah ich sie auf einer Erasmusparty. Sie hatte es dort eigentlich auf einen Freund von mir ab-gesehen - ich dachte, ihre Blicke gelten mir. Am nächsten Tag kamen wir auf einer Exkursion nach Brügge ins Gespräch. Wir besuchten die selben Vorlesungen, unternahmen viel und hatten die selben Freunde. Eines Abends waren wir beide auf dem Weg nach Hause, ich war ziemlich schlecht drauf, weil mein Fußballclub FC Porto ein Spiel verloren hatte. Ich wollte nicht nach Hause und ging mit zu ihr, bis sieben Uhr morgens. Am selben Tag hatte ich eigentlich vor, nach Paris zu fahren und sie war für den Abend mit einem Anderen verabredet. Doch wir küssten uns zum Abschied. Viereinhalb Jahre waren wir zusammen, sahen uns in den entferntesten Ecken, je nach den Angeboten der Fluggesellschaften. Wir erlebten unvergessliche Momente und kleine Krisen miteinander - zum Beispiel, als sie bei Tisch das Messer benutzte, um Spaghetti zu schneiden. Vor kurzem haben wir uns getrennt, als Freunde. Ich hoffe, dass es so bleibt, ebenso wie die schönen Erinnerungen.

Dieser Text ist auch in der letzten Ausgabe des indigomagazine erschienen. Falls du auf den Geschmack des europäischen Lifestyles gekommen bist, gehe auf www.indigomag.eu und lade dir das gesamte Magazin runter. Wenn du allerdings gerne auf Englisch, Französisch, Plonisch, Italienisch, Niederländisch oder Spanisch liest, warten dort auch diese Sprachversionen auf dich.

Grüße, indigo

indigo magazine

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55 mm (schon mit 5mm Überlappung für die Marschine) 25 mm (schon mit 5mm Überlappung für die Marschine)

coole buttons zum selbermachen

Schneide sie an der gestrichelten Line aus, gehe zum nächsten Copyshop um die Ecke und zeige der Welt deine Meinung!

Beam mich nach Brüssel, Scotty!

Wir sind ein Volk!

BORN

IN EUROPE

Europe is

a bitch

Mutter Europa

pIn It!

bruce darnell nimmt stellung

1. EUROPA MUSS: „EIN VORBILD FÜR ANDERE SEIN — DENN EUROPA STEHT FÜR FRIEDEN UND DEMOKRATIE!“

2. EUROPA IST SExY, WEIL „SO VIELE NATIONALI-TÄTEN UND KULTUREN EINFACH DEN RICHTIGEN SPIRIT HABEN...“