15
www.ssoar.info Die Republik Moldawien: Perspektiven und Probleme Grimm, Frank-Dieter; Ungureanu, Alexandru Veröffentlichungsversion / Published Version Zeitschriftenartikel / journal article Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Grimm, F.-D., & Ungureanu, A. (1995). Die Republik Moldawien: Perspektiven und Probleme. Europa Regional, 3.1995(1), 14-27. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-48436-7 Nutzungsbedingungen: Dieser Text wird unter einer Deposit-Lizenz (Keine Weiterverbreitung - keine Bearbeitung) zur Verfügung gestellt. Gewährt wird ein nicht exklusives, nicht übertragbares, persönliches und beschränktes Recht auf Nutzung dieses Dokuments. Dieses Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt. Auf sämtlichen Kopien dieses Dokuments müssen alle Urheberrechtshinweise und sonstigen Hinweise auf gesetzlichen Schutz beibehalten werden. Sie dürfen dieses Dokument nicht in irgendeiner Weise abändern, noch dürfen Sie dieses Dokument für öffentliche oder kommerzielle Zwecke vervielfältigen, öffentlich ausstellen, aufführen, vertreiben oder anderweitig nutzen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an. Terms of use: This document is made available under Deposit Licence (No Redistribution - no modifications). We grant a non-exclusive, non- transferable, individual and limited right to using this document. This document is solely intended for your personal, non- commercial use. All of the copies of this documents must retain all copyright information and other information regarding legal protection. You are not allowed to alter this document in any way, to copy it for public or commercial purposes, to exhibit the document in public, to perform, distribute or otherwise use the document in public. By using this particular document, you accept the above-stated conditions of use.

Grimm, Frank-Dieter; Ungureanu, Alexandru Probleme Die ... · Alba, bei D. Cantemir als Tschetate Alba bezeichnet. Ihre machtvollen Überreste können noch heute besichtigt werden

  • Upload
    others

  • View
    6

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

www.ssoar.info

Die Republik Moldawien: Perspektiven undProblemeGrimm, Frank-Dieter; Ungureanu, Alexandru

Veröffentlichungsversion / Published VersionZeitschriftenartikel / journal article

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:Grimm, F.-D., & Ungureanu, A. (1995). Die Republik Moldawien: Perspektiven und Probleme. Europa Regional,3.1995(1), 14-27. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-48436-7

Nutzungsbedingungen:Dieser Text wird unter einer Deposit-Lizenz (KeineWeiterverbreitung - keine Bearbeitung) zur Verfügung gestellt.Gewährt wird ein nicht exklusives, nicht übertragbares,persönliches und beschränktes Recht auf Nutzung diesesDokuments. Dieses Dokument ist ausschließlich fürden persönlichen, nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt.Auf sämtlichen Kopien dieses Dokuments müssen alleUrheberrechtshinweise und sonstigen Hinweise auf gesetzlichenSchutz beibehalten werden. Sie dürfen dieses Dokumentnicht in irgendeiner Weise abändern, noch dürfen Siedieses Dokument für öffentliche oder kommerzielle Zweckevervielfältigen, öffentlich ausstellen, aufführen, vertreiben oderanderweitig nutzen.Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie dieNutzungsbedingungen an.

Terms of use:This document is made available under Deposit Licence (NoRedistribution - no modifications). We grant a non-exclusive, non-transferable, individual and limited right to using this document.This document is solely intended for your personal, non-commercial use. All of the copies of this documents must retainall copyright information and other information regarding legalprotection. You are not allowed to alter this document in anyway, to copy it for public or commercial purposes, to exhibit thedocument in public, to perform, distribute or otherwise use thedocument in public.By using this particular document, you accept the above-statedconditions of use.

14 EUROPA REGIONAL 3(1995)1

Moldawien

IfL 1995Kartographie: R. Bräuer

Wirtschaft

Wärmekraftwerk

Wasserkraftwerk

D

onau

Maßstab 1 : 2 500 000

0 50 100 km

Dnjestr

Pru

th

Nahrungsmittelindustrie

Leder- und Pelzindustrie

Textil- und Bekleidungsindustrie

Holzindustrie

Baumaterialien- undGlasindustrie

chemische Industrie

Maschinenbau undElektroindustrie

Eisen- und Stahlindustrie

Industriestandorte:

Gebiete landwirtschaftlicherSpezialisierung auf:

Weinanbau

Obst- und Weinanbau

Obst- undGemüseanbau

Gemüseanbau

Zuckerrübenanbau

Viehzucht

EisenbahnGasleitung

Edinet

Chiºinãu

TighinaTighinaTighina TiraspolTiraspolTiraspol

Rîbniþa

Bãlþi

CahulCahulCahul

ComratComratComrat

FRANK-DIETER GRIMM & ALEXANDRU UNGUREANU

Die Republik Moldawien – Perspektiven und Probleme

Im Jahre 1991 ist auf der Karte Europas einneuer, unabhängiger Staat erschienen, dervorwiegend von rumänischsprachiger Be-völkerung bewohnt wird: die RepublikMoldawien, rumänisch Moldova, russischMoldawija. Sie ist mit dem Zerfall derSowjetunion aus der vorherigen Moldaui-schen bzw. Moldawischen Sowjetrepu-blik hervorgegangen, deren Außengren-zen zur Ukraine und zu Rumänien nun-mehr die Staatsgrenzen der neuen molda-wischen Republik geworden sind. Die

Hauptstadt der Republik Moldawien istChiºinãu (rumän., sprich: Kischineu), imAusland bekannter unter ihrem russischenNamen Kischinjew (sprich: Kischinjow).Moldawien ist nach Fläche (33 700 km²)und Bevölkerungszahl (4,3 Mio. Ew.) ei-ner der kleinsten Nachfolgestaaten derehemaligen UdSSR, in der Größe etwavergleichbar mit Dänemark. Die geringeStaatsgröße und die begrenzten Naturres-sourcen Moldawiens engen die Möglich-keiten einer politisch und wirtschaftlich

unabhängigen Entwicklung entscheidendein, desgleichen die Existenz größerer rus-sischer und ukrainischer Bevölkerungs-gruppen neben der rumänischsprachigenMehrheitsbevölkerung, letztere dort alsMoldawier bezeichnet. Schließlich wirddie Souveränität der kleinen Republik zu-sätzlich eingeschränkt durch die Anwe-senheit russischer Truppen am Dnjestr,die dort im Jahre 1992 zur „Befriedung“eines Bürgerkrieges stationiert worden sindund seither einen Teil Moldawiens de fac-to aus der Zuständigkeit der Regierungausklammern.

Im Unterschied zu den baltischen Nach-folgestaaten der Sowjetunion bildet Mol-dawien erstmals in seiner Geschichte ei-nen eigenständigen Staat. Sein Territori-um war vorher stets Bestandteil größererStaatsgebilde gewesen: des Fürstentumsder Moldau (Moldova, s. Abb. 2), des Os-manischen Reiches, des Russischen Rei-ches, des Königreichs Rumänien undschließlich der Sowjetunion. Die kleine,meist unbeachtete und von den Machtzen-tren Europas weit entfernte Republik siehtsich vor die schwierige Aufgabe gestellt,ihre politische und territoriale Eigenstän-digkeit zu gewinnen und einen gangbarenWeg zwischen den von Rußland domi-nierten Staaten Osteuropas und dem nachWest- und Mitteleuropa tendierenden Ru-mänien zu finden. Im folgenden Beitragsoll versucht werden, mittels einiger Über-legungen und Informationen aus geogra-phischer Sicht zum Verständnis und zurBeurteilung der Situation in Moldawienbeizutragen.

Moldawiens Identität und Abgren-zungHistorisch gesehen ist das heutige Molda-wien die östliche Hälfte des einstigen Für-stentums der Moldau (Moldova, s. Abb. 2),die im Jahre 1812 dem Russischen Reichangegliedert worden war, nach dem Er-sten Weltkrieg zu Rumänien gekommenist und nach dem Zweiten Weltkrieg einBestandteil der Sowjetunion wurde.

Das zwischen den Karpaten und demDnjestr gelegene Moldaufürstentum hattesich im 14. Jahrhundert durch den Zusam-

Abb. 1: Republik Moldawien: Wirtschaft

15

menschluß mehrerer kleinerer Feudalherr-schaften (Knesate) gebildet. Seine Haupt-städte waren zunächst Baia, Siret und Su-ceava. Seit dem 16. Jahrhundert wurde daszentral gelegene Iaºi (Jassy) zum Sitz dermoldauischen Fürsten gewählt, heute eineGroßstadt in Rumänien nahe der Grenzezu Moldawien. Zur Geschichte und Geo-graphie des Moldaufürstentums liegt einefrühe, ungewöhnlich detaillierte und in-formative Beschreibung vor, verfaßt vondem moldauischen Fürsten und GelehrtenD. Cantemir. Er berichtet: „Das Land ...wurde so wohl von Ausländern, als vonden Einwohnern selbst von dem FlußMolda, die Moldau genennet“ (CANTEMIR

1771, S. 34-36). „Die meisten Erdbeschrei-ber setzen den westlichen Teil derselben,welcher an Siebenbürgen grenzt, auf 45Gr. 39 Min. und berechnen ihr östlichesEnde, wo es bey Akkerman, von den Ein-wohnern Tschetate Alba genannt, ... aufden 53 Gr., 22 Min. ... Gegen Mitternachtscheidet der Nistr (= Dnjestr; die Auto-ren), welcher bey den Türken Turla heis-set, Polen und die Otschakowischen Ta-tarn von der Moldau. ... Die Nachbaren derMoldau sind auf der westlichen Seite die

Siebenbürger und Walachen, auf der nord-lichen die Polen, auf der östlichen undsüdlichen die Türken. ... Die NogaischenTatarn allein, denen die Türken einenWohnplatz in Bessarabien angewiesen,haben so gar mitten in Friedenszeiten dieMoldau durch öftere Einfälle beunruhiget,und in die elenden Umstände versetzetworinn wir sie in unsern Zeiten noch antreffen“ (CANTEMIR S. 37-43). Die leben-dige Schilderung des Dimitrie Cantemirläßt den gemeinsamen historischen Hin-tergrund des Moldaufürstentums (Abb. 2)wiedererstehen, der durch ständig wieder-kehrende Auseinandersetzungen der seß-haften rumänischen Bauern mit den öst-lich benachbarten Steppenvölkern geprägtwar. Zu ihrer Abwehr entstanden entlangdes Dnjestr Festungsanlagen wie CetateaAlba, bei D. Cantemir als Tschetate Albabezeichnet. Ihre machtvollen Überrestekönnen noch heute besichtigt werden. Die-ser historische Hintergrund bildete denRahmen für die Vereinigung des heutigenMoldawien mit Rumänien in der Zeit zwi-schen den beiden Weltkriegen. Er wurdewieder aktuell beim Zerfall der Sowjet-union mit der Frage, ob Moldawien nun-

mehr einen eigenen staatlichen Weg ge-hen oder sich mit Rumänien zusammen-schließen solle.

Seit dem 16. Jahrhundert geriet dasmoldauische Fürstentum in zunehmendeAbhängigkeit zum Osmanischen Reich,von der es sich seit dem 18. Jahrhundertmit russischer Hilfe zu lösen versuchte.Der Widerstreit osmanischer und russi-scher Interessen führte dann 1812 zur Tei-lung des Landes. Die westliche Moldaumit der Hauptstadt Iaºi (Jassy) blieb Va-sallenstaat unter türkischer Herrschaft,konnte sich aber in den folgenden Jahr-zehnten zunehmend selbständiger machen.Sie schloß sich schließlich im Jahre 1859mit der Walachei (Bukarest) zum Fürsten-tum (1861) bzw. Königreich (1881) Ru-mänien zusammen. Die östliche Moldauzwischen Pruth und Dnjestr kam unterrussische Herrschaft und verblieb dort biszum Ende des Ersten Weltkrieges. Dierussische Administration nahm ihren Sitzin dem bis dahin unbedeutenden Städt-chen Chiºinãu und erbaute daneben eineneue Verwaltungsstadt. Zur Bekundungder Eigenständigkeit gegenüber der west-lichen Restmoldau erhielt die neue russi-

Abb. 2: (Ab)Druck der Moldau und der benachbarten Gegenden (1541)Quelle: POPESCU-SPINENI 1987

16 EUROPA REGIONAL 3(1995)1

sche Provinz den Namen Bessarabien über-tragen, der bis dahin nur das südliche Kü-stengebiet im Hinterland des SchwarzenMeeres bezeichnet hatte. Die russischeRegierung förderte die Einwanderung aus-ländischer Siedler, darunter aus Deutsch-land (Bessarabiendeutsche) in die gerin-ger bevölkerten Steppenzonen in demBestreben, sowohl die Wirtschaftskraft zuheben als auch die Dominanz der ansässi-gen rumänischen Bevölkerung zurückzu-drängen. Im Ergebnis dieser Siedlungspo-litik war Bessarabien zu Beginn des 20.Jahrhunderts auf dem flachen Lande weit-hin von rumänischsprachiger Bevölkerungbewohnt, durchsetzt von den Siedlungs-gruppen anderer Volksgruppen, unter ih-nen den Bessarabiendeutschen. Die Pro-vinzhauptstadt Kischinjew (Chiºinãu) wieseinen hohen russischen Bevölkerungsan-teil auf, in den anderen Städten warenjüdische und rumänische Bewohner vor-herrschend.

Nach der russischen Niederlage im Er-sten Weltkrieg und der Oktoberrevolutiontrennte sich im Jahre 1918 die östliche Mol-dau (Bessarabien, Moldawien) von Ruß-land und beschloß die Vereinigung mit Ru-mänien, dessen Ostgrenze nunmehr derDnjestr bildete. Wenige Jahre später (1924)wurde auf dem Territorium der Sowjetuni-on im Rahmen der Ukrainischen Unionsre-publik eine Autonome Moldauische So-wjetrepublik ausgerufen, deren Verwal-tungszentrum zunächst Balta und seit 1929Tiraspol war. Ihr Territorium hatte vorhernie zur Moldau (Moldova) gehört. Das jen-seits des Dnjestr geschaffene Territoriumbildete den Kristallisationskern für die aufder Grundlage des Hitler-Stalin-Pakts imJahre 1940 gebildete Sowjetrepublik Mol-dawien, die nach einer rumänischen Wie-derbesetzung 1941-44 nach dem ZweitenWeltkrieg endgültig der Sowjetunion ange-gliedert wurde, d.h. bis zu deren Auflösungim Jahre 1991. Die dadurch entstandeneGrenzziehung Moldawiens östlich des Dnje-str hat nunmehr auch einige Regionen ein-bezogen, die mehrheitlich von nichtrumäni-scher Bevölkerung bewohnt sind (Tiras-pol!). Dort brachen unmittelbar nach derAusrufung der von rumänischsprachiger Be-völkerung dominierten Republik Moldawi-en heftige Autonomiebestrebungen auf, diezu einem Bürgerkrieg, zur Proklamation derSeparat“republik“ Transnistrien (Tiraspol)und zu der bis zur Gegenwart fortwähren-den Stationierung russischen Militärs führ-ten.

Aus historischer Sicht könnte man dieneuentstandene Republik zwischen Pruth

und Dnjestr (rumän. Nistru) treffend als„Ostmoldau“ oder „Ostmoldova“ bezeich-nen, analog zu Begriffspaaren wie West-und Ostdeutschland oder Nord- und Süd-korea. In den letzten Jahren hat sich dem-gegenüber die Bezeichnung „Moldawien“durchgesetzt, abgeleitet aus dem russi-schen „Moldawija“, das seinerseits wie-derum eine Umformung des rumänischen„Moldova“ ist. So zeigt der Begriff Mol-dawien durchaus zutreffend sowohl dierumänische Basis als auch die russischeÜberformung an. Er ist auch darum zweck-mäßig, da er dazu beitragen kann, eineVerwechslung mit der weiterhin „Mol-dau“ (deutsch) oder „Moldova“ (rumä-nisch) genannten westlich benachbarten,zu Rumänien gehörenden Region zu ver-meiden. Im rumänischen Sprachgebrauchhilft man sich im Zweifelsfalle mit derBezeichnung „Basarabia“ (Bessarabien)für das östlich benachbarte Land. Die neueRepublik Moldawien sah sich unmittelbarnach ihrer Gründung vor die Entschei-dung gestellt, eine Vereinigung mit Ru-mänien oder eine eigenständige staatlicheEntwicklung anzustreben. Nachdem einschneller und spontaner Zusammenschlußwie im Falle der deutschen Vereinigungnicht zustandegekommen ist, sprechen alleAnzeichen dafür, daß die Republik Mol-dawien für die absehbare Zukunft eineeigenstaatliche Entwicklung nehmen wird(GABANYI 1994).

Die ethnische und demographischeStruktur der BevölkerungDie ethnische Struktur der Bevölkerung,die in den Jahrzehnten der Zugehörigkeitzu Rußland bzw. der Sowjetunion – zu-mindest in den offiziellen Darstellungen –

als weniger bedeutsam angesehen wordenwar, erweist sich seit der Unabhängig-keitserklärung Moldawiens als der Prüf-stein für den Willen der Bevölkerung zumZusammenleben in einem gemeinsamenStaat. Die ethnische Problematik konzen-triert sich auf die Fragen, ob der rumä-nischsprachigen Bevölkerung Moldawi-ens der Zusammenhalt der Republik Mol-dawien ihres Landes und die Weiterfüh-rung der umfangreichen Wirtschaftsbe-ziehungen zu Rußland und zur Ukrainewichtiger sind als eine staatliche Vereini-gung mit Rumänien und ob die nichtrumä-nische Bevölkerung Moldawiens ein even-tuelles späteres Vereinigungsbestrebenunter allen Umständen ablehnen würde,d.h. auch unter Preisgabe der territorialenEinheit Moldawiens. Auf die derzeitigeauf Wahrung des staatlichen territorialenZusammenhalts gerichtete Staatspolitikwurde bereits im ersten Abschnitt verwie-sen (siehe GABANYI 1994).

Nach den Daten der Volkszählung desJahres 1989 leben in Moldawien 2 795 000rumänischsprachige Einwohner, die miteinem Anteil von 64,5 % die absoluteMehrheit der Bevölkerung bilden (vergl.Tab. 1).

In der Zeit der russischen und sowjeti-schen Herrschaft wurden die rumänisch-sprachigen Bewohner Moldawiens alsMoldawier bezeichnet. Ihre Sprache nann-te man moldawisch bzw. moldauisch, undsie wurde mit kyrillischen Buchstabengeschrieben. Nach der Gründung der Re-publik Moldawien wurde die kyrillischedurch die in Rumänien gebräuchliche la-teinische Schreibweise des Rumänischenabgelöst, mit gewissen Ausnahmen in derSeparatregion um Tiraspol. Die Bezeich-

Anzahl in 1000 % % %

1930 1979 1989 1930 1979 1989

Moldawier/Rumänen 1.565,9 2.525,7 2.794,7 69,1 63,9 64,5

Ukrainer 147,0 560,7 600,4 5,1 14,2 13,8

Russen 205,6 505,7 562,1 9,0 12,8 12,9

Gagausen 76,7 138,0 153,5 3,4 3,5 3,5

Juden 187,1 80,1 65,8 8,2 2,0 1,5

Bulgaren 46,6 80,7 88,4 2,0 2,0 2,1

Belorussen - 13,9 19,6 - 0,4 0,4

Zigeuner 10,5 10,7 11,6 0,4 0,3 0,3

Deutsche 22,6 11,4 7,3 1,0 0,3 0,2

Polen 7,0 5,0 4,7 0,3 0,1 0,1

Andere 13,6 18,0 27,2 0,6 0,5 0,7

Gesamt 2.282,6 3.949,8 4.335,4 100,0 100,0 100,0

Tab. 1: Die ethnische Struktur der Bevölkerung MoldawiensQuelle: RAMBU 1991

17

Bessarabien (südlich der heutigenmoldawisch-ukrainischen Grenze)

Ortsnamen als Zeugnisse einstigerdeutscher Siedlungstätigkeit

0 5 10 15 km

Maßstab 1 : 350 000

Ceaga

Vedeni

Vãscãeni

Lichtental

Arcizu Nou

Friedenstal

Gnadenthal

Pavlovca

Satu NouNouNou

ArcizArcizArciz

Ferºampenuaz-MicFerºampenuaz-MicFerºampenuaz-Mic

Katzbach

Crasna

Gogîlnic

IfL 1995Kartographie: R. Bräuer

nung Moldawier bzw. Moldauer für dierumänischsprachige Bevölkerung hat sicherhalten. Sie wird zur Zeit oft demonstra-tiv von der Regierung Moldawiens ver-wendet, um die Eigenständigkeit gegen-über Rumänien zu bekunden. Die rumä-nischsprachige („moldawische“) Bevöl-kerung ist fast in allen ländlichen Berei-chen dominierend, besonders ausgeprägtin den zahlreichen alten Dörfern der ehe-maligen Waldgebiete und Waldsteppen.Rumänischsprachige Einwohner bilden dieabsolute Mehrheit in einigen Klein- undMittelstädten (z.B. Ungheni, Orhei,Floreºti) und die relative Mehrheit in meh-reren der wichtigsten Städte, darunter inder Hauptstadt Chiºinãu (49,2 %). DerAnteil der rumänischsprachigen Bevölke-rung Moldawiens war bis in die 80er Jahrerückläufig, bedingt durch die innersowje-tischen Migrationsbewegungen, er ist seit-her wieder ansteigend: von 63,9 % (1979)auf 64,5 % im Jahre 1989. Infolge derhöheren Geburtenraten der rumänischspra-chigen Bevölkerung sowie der ausblei-benden Zuwanderung bzw. sogar der Ab-wanderung nichtrumänischer Bewohnerdürfte der rumänischsprachige Anteil inden letzten Jahren weiter zugenommenhaben, doch liegen neuere Zahlen für dasGesamtterritorium Moldawiens nicht vor.

Ukrainer sind mit einem Anteil von13,8 % die zweitgrößte ethnische Gruppein Moldawien. Sie bilden die absoluteBevölkerungsmehrheit in einigen Städtenwie Rîbniþa, Briceni und Otaci sowie inzahlreichen Dörfern östlich des Dnjestrund im Hügelland des nördlichen Molda-wien. Infolge geringer natürlicher Gebur-tenraten hat der ukrainische Anteil in denletzten Jahrzehnten abgenommen (1959:14,6 %). Demgegenüber ist der Anteil derrussischen Bevölkerung im Ergebnis teilsspontaner und teils geplanter Zuwande-rung in der Zeit der russischen und sowje-tischen Herrschaft ständig angestiegen: inden zurückliegenden Jahrzehnten von10,6 % (1959) auf 13,0 % (1989). Siewohnt fast ausschließlich in Städten, wosie im Falle von Dnestrovsk die absoluteund in einigen weiteren Städten wie Tiras-pol (41 %) und Tighina die relative Mehr-heit der Einwohnerschaft bildet (vergl.Tab. 6). Die Gagausen, ein christlich-or-thodoxes, weitgehend russifiziertes Turk-volk leben im südlichen Moldawien in denStädten Comrat, Ciadîr-Lungã und Vul-cãneºti sowie in den umliegenden Dör-fern. Ihr Anteil an der Bevölkerung Mol-dawiens beträgt 3,5 %. Die kleine Ethniemachte nach der Staatsgründung politisch

auf sich aufmerksam, da sie gleich derDnjestr-Region eine eigene separate „Ga-gausenrepublik“ ausgerufen hatte. Mitt-lerweile zeichnet sich ab, daß die Gagau-sen im Staatsverband Moldawiens verblei-ben und einen eigenen Sonderstatus erhal-ten können. Weitere Bevölkerungsgrup-pen stellen die Bulgaren (1989: 2,0 %) unddie Zigeuner dar. Der Anteil der früherzahlreichen jüdischen Bevölkerung istdurch Auswanderung weiter im Rückgangbegriffen: von 3,3 % im Jahre 1959 auf1,5 % im Jahre 1989. Vergleichsweise gro-ße jüdische Bewohnerzahlen findet mannoch in Chiºinãu (35 000) und Bãlþi(9 000). Die bis zum Zweiten Weltkriegein Moldawien lebende bessarabiendeut-sche Minderheit ist nicht mehr vorhanden.An ihre Siedlungstätigkeit erinnern einigenoch erhaltene Ortsnamen wie Hoffnungs-thal, Fridensfeld, Katzbach (Abb. 3).

Die Bevölkerungszahl Moldawiens istangesichts der geringen Größe des Terri-toriums mit 4,3 Mio Ew. (1993) überra-

schend hoch, und die Bevölkerungsdichteübertrifft mit 129 Ew./km² deutlich anderevergleichbare Staaten wie die Ukraine (86,1Ew./km²), Rumänien (98,1), Bulgarien(81,1) oder Ungarn (110,7).

Der Anteil der Stadtbevölkerung ist trotzder Existenz einiger Großstädte (1993:663 400 Ew. in Chiºinãu, 185 100 Ew. inTiraspol, 157 500 Ew. in Bãlþi, 129 300Ew. in Tighina) noch moderat (vergl.Tab. 2).

Das Bild der Städte mit altstädtischenZentren und großen Neubaugebieten amStadtrand zeigt das ständige Wachstumder urbanen Bevölkerung in den letztenJahrzehnten an. Demgegenüber ist derAnteil der ländlichen Bevölkerung rück-läufig: allein in den letzten beiden Jahr-zehnten von 68 % (1970) auf 53,0 %(1993). Auffällig sind die hohen Einwoh-nerzahlen der einzelnen Dörfer, die mitDurchschnittswerten von 1440 Ew. weitüber denen des westlich benachbartenRumänien liegen. Die große Anzahl der

Tab. 2: Die Einwohnerentwicklung der Groß- und Mittelstädte Moldawiens von 1939 bis1993 (1000 Ew.)Quelle: Anuarul Statistic 1991

1939 1959 1979 1989 1993

Chiºinãu 109,8 211,8 502,8 667,1 663,4

Bãlþi 30,0 66,1 125,1 158,5 157,5

Tighina (Bendery) 30,7 43,1 101,3 130,0 129,3

Tiraspol 37,6 62,7 138,3 181,9 185,1

Abb. 3: Ortsnamen in Bessarabien als Zeugnisse einstiger deutscher SiedlungstätigkeitQuelle: Romania. Atlas turistic ºi rutier (1993)

18 EUROPA REGIONAL 3(1995)1

Jährliche Niederschlagssummen Moldawien

IfL 1995Kartographie: R. Bräuer

OtaciOtaciOtaci

SorocaSorocaSoroca

D

onau

EdinetEdinetEdinet

Chiºinãu

DubãsariUngheniUngheniUngheni

Cãlãraºi

Tighina

Tiraspol

Comrat

Cahul

Vulcãneºti

Maßstab 1 : 2 500 000

0 50 100 km

350 - 400 mm

400 - 450 mm

450 - 500 mm

500 - 550 mm

550 - 600 mm

Rîbniþa

Orhei

Bãlþi

Pruth

Dnjestr

Dnjestr

Pru

th

ländlichen Bevölkerung weist sowohl aufdie naturbegünstigte Landwirtschaft alsauch auf das weiterbestehende Abwande-rungspotential in die Städte hin. Die Be-völkerungsprobleme wurden in den vor-herigen Jahrzehnten noch verschärft durcheine hohe natürliche Geburtenrate und ei-nen erheblichen jährlichen Migrationsüber-schuß, doch ist durch drastisch zurückge-hende Geburtenzahlen und geringere Zu-wanderung in den letzten Jahren eine Sta-bilisierung der Bevölkerungsentwicklungeingetreten (vergl. Tab. 3).

Die räumliche Differenzierung der Be-völkerungsentwicklung zeigt eine Um-gruppierung zugunsten der großen Städteund zentral gelegenen Regionen an, wäh-rend in einigen abgelegenen Regionen desnördlichen und südwestlichen Moldawienselbst in den dortigen Städten ein Abwan-derungsüberschuß eingetreten ist.

Zur Beurteilung der politischen ZukunftMoldawiens erscheint es als wesentlich,daß die russische Bevölkerung fast aus-schließlich in den großen Städten konzen-triert ist und dadurch ihre Interessen un-mittelbarer als die mehr ländlichen rumä-nischsprachigen Bewohner zum Ausdruckbringen kann (GABANYI 1994). Der Graddes Fortgangs der Land-Stadt-Wanderungdürfte somit auch eine wesentliche Be-stimmungsgröße für die politische Orien-tierung Moldawiens in den kommendenJahrzehnten ergeben. Gerade hierfür sindaber angesichts der ungewissen wirtschaft-lichen Entwicklung Voraussagen nurschwer zu treffen.

Naturbedingungen und Naturpoten-tialeDie im vorigen Abschnitt genannte hoheBevölkerungsdichte im ländlichen Raumweist bereits darauf hin, daß Moldawienüber günstige Voraussetzungen für eineertragreiche Landwirtschaft verfügt. Diesgilt sowohl für die klimatischen Bedin-gungen als auch für die Böden.Das Klima Moldawiens ist kontinentalerals in Mittel- und Südosteuropa und wär-mer als im größten Teil Osteuropas, inner-

halb Moldawiens besteht eine Nord-Süd-Abstufung. Die mittlere Jahrestemperaturbeträgt zwischen 7,5° C im Norden (Brice-ni) und 10,5° C im Süden (Giurgiuleºti),die mittleren Julitemperaturen schwan-ken zwischen 19,5° C (Briceni) und 22,5°C(Unterlauf des Dnjestr) und die mittlerenJanuartemperaturen zwischen -5,2° C (Bri-ceni) und -2,5° C (Giurgiuleºti) (Abb. 4).

Spätfröste im Mai und frühzeitige Herbst-fröste engen die Vegetationsperiode auf160 bis 170 Tage im Norden und 180 bis200 Tage im Süden ein. Insgesamt sind dieTemperaturbedingungen jedoch günstigfür wärmeliebende Pflanzen, da die jährli-che Sonnenscheindauer 2 100-2 330 Stun-den erreicht. Bescheidener ist das Nieder-schlagsangebot, das weithin zwischen 400und 500 mm/Jahr liegt (Chiºinãu 476 mm),in den höheren Lagen bis zu 550 mm undim südlichen Tiefland weniger als 400 mmbetragen kann. Das Niederschlagsmaxi-mum liegt in der Regel im Juni, ein sekun-däres Maximum tritt im November auf. ImSpätsommer und Frühherbst kommt eshäufig zu Dürren, andererseits waren nichtselten verheerende Starkniederschläge(z.B. 218 mm/Tag am 8.7.1948 in Chiºi-nãu) zu verzeichnen, desgleichen folgen-

Tab. 3: Bevölkerungsbilanz Moldawiens im Zeitraum von 1975 bis 1992Quelle: nach UNGUREANU 1992

1975 1980 1985 1990 1992

Natalität 20,6 19,8 21,5 17,7 16,0

Mortalität 9,3 10,1 10,9 9,7 10,2

Geburtenüberschuß 11,3 9,7 10,6 8,0 5,8

Migrationsbilanz -1,0 1,1 -0,9 -7,6 -8,3

Bevölkerungsbilanz 10,3 10,8 9,7 0,4 -2,5

Abb. 4: Jährliche Niederschlagssumen in MoldawienQuelle: KRUPENIKOW et al. 1970

19

reiche Hagelfälle. Infolge der vergleichs-weise hohen Temperaturen und mäßigenNiederschläge ist das autochthone Gewäs-sernetz bescheiden: 0,1 bis 0,4 km/km².Größter autochthoner Fluß Moldawiensist der Rãut mit lediglich 6 m³/sec. Daherkommt besondere Bedeutung den FlüssenDnjestr (rumän. Nistru) und Pruth (rumän.Prut) zu, die den niederschlagsreichenKarpaten entstammen und aus diesen Ur-sprüngen 92 % des gesamten nutzbarenWasserangebots Moldawiens bereitstellen.Der deutlich größere Dnjestr hat ein Ein-zugsgebiet von 72 100 km² und eine mittle-re Wasserführung von 317 m³/sec, das ent-spricht der Wasserführung der Weser. Dieentsprechenden Werte des Pruth betragen27 500 km² und 76 m³/sec. Ein großer Teildes Jahresabflusses (ca. 45 %) wird durchdas Frühjahrshochwasser abgeführt (max.am Dnjestr 3 430 m³/sec), in den Winter-monaten sind die beiden Flüsse oft vereist.Der Dnjestr ist im Mittel- und Unterlaufund der Pruth im Unterlauf schiffbar.

Das Relief Moldawiens ist zum größtenTeil dem Moldauhügelland (rumän. Po-diºul Moldovei) zuzurechnen, das sichkaum von dem gleichnamigen Hügelland

in der rumänischen Moldau (Moldova)westlich des Pruth unterscheidet. Die Hö-henlagen betragen zwischen 200 und400 m, die höchste Erhebung Moldawienserreicht 429 m ü.M. (siehe unten).

Das überwiegend sedimentäre Gesteins-material ist durch viele kleine Täler undWasserläufe gegliedert und bietet weithindas Bild einer bewegten Hügellandschaft,in der man vielerorts erhebliche Boden-erosionserscheinungen beobachten kann.Das zwischen Pruth und Dnjestr gelegeneMoldauhügelland wird von moldawischenund rumänischen Geographen in die fol-genden naturräumlichen Einheiten geglie-dert (UNGUREANU 1992, S. 38):• das nordmoldawische Hügelland, das

nicht mehr als 300 m ü.M. erreicht unddessen Relief wenig gegliedert ist,

• das Dnjestr-Hügelland zwischen Rãutund Dnjestr, das etwas höher (max.347 m ü.M.) und bewegter ist und in demhäufiger Kalkgesteine anstehen,

• das dem vorigen ähnliche aber etwasniedrigere Ciuluc-Soloneþ-Hügelland,

• das zentralmoldawische Hügelland, daserheblich bewegter ist (Reliefunterschie-de bis 200 m) unweit von Calaraºi mit429 m ü.M. die höchste Erhebung ganzMoldawiens erreicht,

• die hügligen Ebenen (rumän. Cîmpiacolinarã) von Bãlþi (50-200 m), am mitt-leren Rãut, am unteren Pruth und imsüdlichen Moldawien.

Eine gesondere naturräumliche Einheitbildet das Podolische Hügelland, das vonden vorgenannten durch den Dnjestr ge-trennt wird und Höhenlagen bis zu 275 mü.M. erreicht.

Der Süden und Südwesten Moldawienswird von Tiefebenen eingenommen, beidenen man aus naturräumlicher Sicht zweiEinheiten unterscheidet:• das Bugeac-Tiefland mit einer Höhenla-

ge unter 200 m ü.M., das die großenFlachlandsgebiete zwischen den einzel-nen Flüssen einnimmt,

• die Flußterrassen des unteren Dnjestr, beidenen insgesamt 11 Terrassen unterschie-den werden können, analog in einer be-scheideneren Dimension der Terrassen-komplex des unteren Pruth.

Den größten Naturreichtum Moldawi-ens stellen die Böden dar. Weite Arealedes Landes werden von den Schwarzerde-böden der Waldsteppe eingenommen, ins-besondere die niedrigen Höhenlagen, Hän-ge, Flußterrassen usw. Diese Böden sindaußerordentlich humusreich (bis 400 t/ha)und sind gut versorgt mit Phosphor undanderen für die Entwicklung pflanzlicherKulturen wichtigen Mineralien.

In der Steppenzone sind Schwarzerde-böden ebenfalls weit verbreitet, doch sindsie weniger humusreich, und ihre Nutzungwird durch den dort bestehenden Wasser-

mangel beeinträchtigt. In der Waldzone,insbesondere im zentralmoldawischenHügelland, im Dnjestr-Hügelland und imnordmoldawischen Hügelland herrschenbraune Waldböden vor, deren Humusge-halt erheblich geringer ist (80-180 t/ha).Schließlich werden einige räumlich be-grenzte Areale in den Niederungen desDnjestr und Pruth von Auenböden be-deckt. Die Vegetation widerspiegelt dieunterschiedlichen Boden- und Klimabe-dingungen und läßt sich in nord-südlicherAbfolge in Moldawien in drei Zonen ein-teilen (natürliche Vegetation):• die Laubwaldzone (Eichen, Buchen)

nimmt die höheren und niederschlagsrei-cheren Lagen des Hügellandes ein: zen-tralmoldawisches Hügelland, nordmol-dawisches Hügelland, Dnjestr-Hügel-land; der Wald ist am besten erhalten imzentralmoldawischen Hügelland, wo erteilweise in Naturreservaten geschütztwird; der in der Vergangenheit stark re-duzierte Waldbestand konnte in den letz-ten Jahrzehnten durch umfangreiche Auf-forstungen wieder beträchtlich vergrö-ßert werden (1973: 271 000 ha, 1988:318 000 ha), der Holzeinschlag ist ge-ring, und das benötigte Holz wird haupt-sächlich aus Rußland importiert,

• die Waldsteppe ist typisch für die hügli-gen Ebenen von Bãlþi, am mittleren undunteren Pruth und im südlichen Molda-wien sowie im Podolischen Hügelland;ihre natürliche Vegetation besteht ausGräsern, Büschen und geringwüchsigenBäumen, sie ist durch Beweidung undAckerbau weitgehend in eine Agrarland-schaft umgewandelt worden,

• die natürliche Steppe war charakteristischfür das Bugeac-Tiefland und die Terras-sen des unteren Dnjestr, sie diente in derVergangenheit hauptsächlich der Wei-dewirtschaft, ihre Vegetation (Gräser,Kräuter) hat sich dem seit Jahrtausendenbetriebenen Weidebetrieb angepaßt.

Abgesehen von seinen fruchtbaren Bö-den ist Moldawien arm an Bodenschätzen.Reichlich vorhanden sind lediglich Bau-materialien, insbesondere Kalkvorkom-men bei Chiºinãu, bei Orhei, im nord-westlichen Moldawien und an den Talhän-gen des Dnjestr. Sehr zahlreich sind dieTonvorkommen, die für die Keramikindu-strie genutzt werden können, ausreichen-de Lagerstätten liefern die benötigten Roh-stoffe für die Glasherstellung. Schließlichverfügt Moldawien am Pruth (u.a. bei Cri-va, Drepcãuþi) über beträchtliche Gips-vorkommen. Völlig fehlend oder nicht ab-bauwürdig sind nahezu alle anderen benö-

Tab. 4: Erdbeben in Moldawien zwischen1790 und 1990Quelle: nach N. RAMBU u.a. 1991

Datum Erdbebenstärke

06. März 1790 7 - 8

26. Oktober 1802 7 - 8

29. September 1821 7 - 8

29. November 1821 7

23. November 1829 7 - 8

23. Januar 1838 7

27. April 1865 9

04. November 1866 7

17. August 1893 7

10. September 1893 7

04. März 1894 7

31. August 1894 7

02. September 1894 9

29. März 1934 9

22. Oktober 1940 7

10. November 1940 9

04. März 1977 7 - 8

31. August 1986 7 - 8

30. Mai 1990 5 - 7

20 EUROPA REGIONAL 3(1995)1

BodenschätzeMoldawien

Erdöl

Braunkohle

Erdgas

Kalkstein und Tonfür die Zementindustrie

Kalkstein als Werkstein(große Vorkommen)

Kreide und Mergel

Sand für die Glasindustrie

Tripel und Kieselgur

Sandstein

Gips

Lehm und Ton

Mineralquelle

Kalkstein für die Zuckerindustrie

Z

IfL 1995Kartographie: R. Bräuer

Z

ZZ

Z

Z

Z

Otaci

Soroca

BãlþiRîbniþa

Orhei

D

onau

Edineþ

Chiºinãu

DubãsariUngheni

Cãlãraºi

Tighina

Tiraspol

Comrat

Cahul

Vulcãneºti

Maßstab 1 : 2 500 000

0 50 100 km

PruthDnjestr

Dnjestr

Pru

th

tigten Bodenschätze (Kohle, Erze usw.),so daß Moldawien hierfür völlig auf denImport angewiesen ist, zum Beispiel beiKohle, deren jährlicher Bedarf bei 2,1 Miot lag (1992) und die bisher hauptsächlichaus dem Donbass bezogen worden ist(Abb. 5). Eine naturbestimmte Begrenzt-heit der Entwicklungsmöglichkeiten be-steht durch die latente Erdbebengefahr(vergl. Tab. 4).

Moldawiens Rückgrat: die Land- undNahrungsgüterwirtschaftIn der Wirtschaft der früheren Sowjetuni-on nahm Moldawien einen mittleren Platzein und lag mit einem jährlichen National-einkommen von 1789 Rubel pro Person(1988) um 32 % hinter der leistungsstärk-sten (Lettland) und um 88 % über derleistungsschwächsten (Tadschikistan)Unionsrepublik. Von dieser Mittelstellung

hob sich die moldawische Agrarprodukt-ion jedoch deutlich ab. Die landwirtschaft-liche Produktion pro Einwohner überstiegdas Mittel der Sowjetunion um 53 % undwurde nur von den baltischen Sowjetrepu-bliken und Belorußland übertroffen, wäh-rend die Industrieproduktion um 13 %unter dem sowjetischen Mittelwert lag.Schließlich ist anzumerken, daß auch dieWachstumsraten der Volkswirtschaft Mol-dawiens über den sowjetischen Mittelwer-ten lagen: 20,9 % in Moldawien, 17,1 % inder UdSSR insgesamt im Zeitraum 1986 -89. Folgerichtig zählt Moldawien auch zudenjenigen Nachfolgestaaten der früherenSowjetunion, in denen die Marktwirtschaftam schnellsten Fuß fassen konnte, wie essich anhand der uns vorliegenden Infor-mationen zum Wachstum des Dienstlei-stungssektors und zur Gründung von pri-vaten Genossenschaften entnehmen läßt.

Infolge der mit dem Übergang von derPlan- zur Marktwirtschaft verbundenenUmstellungsschwierigkeiten setzte aller-dings ein unverzüglicher Rückgang desNationaleinkommens ein: 1990 um 2 %,1991 um 19 % und 1992 um 22 %.

Der wichtigste Sektor der Volkswirt-schaft Moldawiens sind die Landwirtschaftund die darauf aufbauende Nahrungsgü-terwirtschaft, in denen 54 % des gesamtenNationaleinkommens geschaffen wird. DieNahrungsgüterwirtschaft ist auch der wich-tigste Industriezweig Moldawiens insge-samt, sie erzeugt 44 % der moldawischenIndustrieproduktion. Der Bodenfonds desLandes betrug zum Zeitpunkt der Grün-dung der Republik Moldawien 2,6 Mio ha,von denen etwa die Hälfte (1,3 Mio ha)durch Kolchosen (Produktionsgenossen-schaften) und ein Drittel (0,8 Mio ha)durch Sowchosen (Staatsgüter) bewirt-schaftet wurden. Die Landwirtschaft wieseinen hohen Mechanisierungsgrad auf, imUnterschied beispielsweise zu Polen undRumänien waren die früher verwendetenZugtiere völlig von Traktoren und Last-kraftwagen abgelöst worden. Pro 44 Hek-tar war ein Traktor verfügbar, und für dieGetreideernte standen in Moldawien 4900Mähdrescher bereit. Die moldawischeLandwirtschaft war infolge der günstigenBoden- und Klimabedingungen hoch spe-zialisiert und an den Bedürfnissen des so-wjetischen Wirtschaftsraumes orientiert.Die Landwirtschaft konzentrierte sich aufden Anbau von Wein, Obst, Tabak, Zuk-kerrüben und Gemüse sowie auf die Vieh-zucht. Wirtschaftlich am bedeutsamstengemessen am Produktionswert ist derWeinbau, der eine Fläche von 193 000 haeinnimmt, d.h. 7,5 % der gesamten land-wirtschaftlichen Nutzfläche Moldawiens.Die intensivsten Anbaugebiete (Abb. 6)befinden sich in den zentralen und süd-westlichen Regionen des Landes. Erzeugtwerden Weintrauben und Wein. Hinsicht-lich des Angebots an Weintrauben für denMarkt nahm Moldawien in der früherenSowjetunion den zweiten Platz hinter Aser-beidschan ein. Die traditionsreiche mol-dawische Weinproduktion verfügt überzahlreiche Keltereien in den Anbauortenselbst sowie über Großkeltereien u.a. inChiºinãu, Ialoveni und Cãuºani. Haupt-abnehmerländer der umfangreichen mol-dawischen Wein- und Traubenerzeugungsind die Ukraine und Rußland.

Der Obstanbau nimmt in Moldawieneine noch größere Fläche ein (224 000 ha),doch steht sein wirtschaftlicher Wert hin-ter dem Weinbau zurück. Wegen der et-

Abb. 5: Bodenschätze in MoldawienQuelle: KRUPENIKOW et al. 1970

21

LandwirtschaftMoldawien

IfL 1995Kartographie: R. Bräuer

nördliche Zone - technische Kulturen (Zuckerrübe, Sonnen-blume, Tabak), Getreide, Vieh-zucht (Fleisch und Milch)

mittlere Zone - Weinbau, Obst-bau, technische Kulturen (Sonnen-blume, Tabak), Milchwirtschaft

südliche Zone - Weinbau, Getrei-deanbau, Sonnenblumen, Milch-wirtschaft

südöstliche Zone - Obstbau, Weinbau, Gemüse, Milch-wirtschaft

Landwirtschaftliche Zonen

Verbreitung der technischen Kulturen

Tabak

Arzneipflanzen,pflanzliche Öle

Maßstab 1 : 2 500 000

0 50 100 km

OtaciOtaciOtaci

SorocaSorocaSoroca

D

onau

EdinetEdinetEdinet

Chiºinãu

DubãsariUngheni

Cãlãraºi

Tighina

Tiraspol

Comrat

Cahul

Vulcãneºti

RîbniþaBãlþi

Orhei

PruthDnjestr

Dnjestr

Pru

th

was geringeren Standortansprüche sind diegroßen Obstanlagen gleichmäßiger als dieWeinbauareale über das moldawischeStaatsterritorium verteilt, mit etwas höhe-ren Anteilen im Südwesten. Angebautwerden Äpfel, Pfirsiche, Aprikosen, Pflau-men, Kirschen. Ein großer Teil der molda-wischen Obst- wie auch der Gemüseerntewird in den großen Konservenfabrikenverarbeitet, die in den letzten Jahrzehntenin Tiraspol, Cahul, Calaraºi und vielenweiteren Städten entstanden sind.

Weit verbreitet in Moldawien ist derTabakanbau, der etwa 5 % der landwirt-schaftlichen Nutzfläche einnimmt und vorallem im Dnjestr-Hügelland konzentriertist. Zentrum der Fermentierung ist Orhei,während die darauf aufbauende Zigaret-tenindustrie in Chiºinãu lokalisiert ist.Zuckerrüben werden vor allem im nord-westlichen Moldawien angebaut und in

zahlreichen älteren (Bãlþi, Rîbniþa) undneueren Zuckerfabriken (Drochia, Briceniu.a.) verarbeitet. Die Zuckerproduktionbelief sich im Jahre 1992 auf 208 000 t.Der Gemüseproduktion dienen vor allemgroße bewässerte Areale in den Talniede-rungen des Dnjestr und des Pruth, diemoldawische Gesamtproduktion erreich-te im Jahre 1992 0,79 Mio t. Ebenso wie inden Nachbarstaaten Ukraine und Rumäni-en werden in Moldawien außerdem großeFlächen für den Anbau von Sonnenblu-men genutzt, deren Erträge in Moldawienhöher als bei den genannten Nachbarnliegen. Die moldawische Sonnenölproduk-tion betrug im Jahre 1992 58 000 t. Dergrößte Teil der landwirtschaftlichen Nutz-fläche dient dennoch auch in Moldawiendem Getreideanbau, der 43 % der gesam-ten Fläche einnimmt. Dabei lagen diemoldawischen Ernteerträge stets erheb-

lich über dem ehemaligen sowjetischenDurchschnitt: 34 dt/ha in Moldawien ge-genüber 19,9 dt/ha in der gesamten UdSSRim Jahre 1990. Angebaut werden auf je-weils etwa 15 % der Gesamtfläche Weizenund Mais, auf den übrigen Flächen produ-ziert man Gerste, Hafer, Roggen usw.

Die Viehwirtschaft basiert vor allemauf dem Anbau von Futterpflanzen (Lu-zerne, Raps, Klee; insgesamt 546 000 ha),während das bloße Weideland auf ver-gleichsweise wenige geringwertige Flä-chen beschränkt bleibt. Bemerkenswert istder hohe Besatz an Rindern: 47,0 pro 100 haAckerland, Wiesen und Weiden. Mit einerjährlichen Milchproduktion von 3 972 lpro Kuh wurden in Moldawien doppelt sohohe Ergebnisse wie in der übrigen UdSSRerzielt, lediglich in Estland waren dieMilcherträge höher. Im Vergleich zur be-deutenden Rinderzucht sind die anderenBereiche der Viehzucht zweitrangig: Scha-fe, Pferde, Schweine.

Zur Verarbeitung der Produkte derViehwirtschaft ist in Moldawien eine Viel-zahl großer und – zumindest im Vergleichzu anderen GUS-Staaten – leistungsfähi-ger Betriebe entstanden: Molkereien(0,25 Mio. t pro Jahr) u.a. in Bãlþi,Chiºinãu, Rîbniþa, Ungheni, Schlachthö-fe (1992: 234 000 t) und Konservenfabri-ken für Fleischprodukte in Chiºinãu, Bãlþi,Ciadîr-Lungã, Tighina u.v.a. (zur räumli-chen Differenzierung der Landwirtschaft,s. Abb. 6).

Die letzten Jahre haben der Land- undNahrungsgüterwirtschaft Moldawiens be-trächtliche Umstellungsschwierigkeitengebracht. Sie begannen mit der den Wein-bau beeinträchtigenden Anti-Alkohol-Kampagne Gorbatschows und setzten sichmit der innenpolitischen Krise Moldawiens1991/92, den Umstellungsproblemen vonder Plan- zur Marktwirtschaft und dempolitisch und wirtschaftlich bedingtenRückgang des Handelsaustausches mit denNachfolgestaaten der UdSSR fort. Zu be-obachten ist eine gewisse Tendenz desRückgangs von Spezialproduktionen zu-gunsten von Elementen der Subsistenz-wirtschaft, andererseits wurden erste Ex-porterfolge auf dem westlichen Agrarmarkterricht. Die zeitweise auf den Handelsaus-tausch mit Rumänien gesetzten Hoffnun-gen haben sich nur teilweise erfüllt, daletzteres ebenfalls auf den Export vonAgrarprodukten mit einer der moldawi-schen sehr ähnlichen Angebotspalette an-gewiesen ist. Da auch der westeuropäischeAgrarmarkt schon jetzt ein Überangebotan solchen Produkten aufweist, fällt es

Abb. 6: Moldawien: LandwirtschaftQuelle: KRUPENIKOW et al. 1970

22 EUROPA REGIONAL 3(1995)1

schwer, der ertragreichen moldawischenLand- und Nahrungsgüterwirtschaft eineAlternative zur traditionellen Orientierungauf den großen russisch-ukrainischen Wirt-schaftsraum aufzuzeigen. Es verbliebe dasProblem, eine solche einseitige Wirt-schaftsorientierung mit der Beibehaltungder politischen Unabhängigkeit und ggf.einer politisch-kulturellen Annäherung inRumänien in Übereinstimmung zu brin-gen.

ChiºinãuChiºinãuChiºinãuChiºinãuChiºinãu, die großstädtische Landes-hauptstadtDie Entstehung neuer Staaten im Gefolgedes Zerfalls des Ostblocks und der Sowjet-union hat eine Reihe bisheriger Provinz-hauptstädte in den Rang von Hauptstädten

politisch selbständiger Staaten erhoben,wobei diese Rolle meist an historisch zu-rückliegende Hauptstadtfunktionen an-knüpfen konnte. Die moldawische Haupt-stadt Chiºinãu zählt neben Ljubljana (Lai-bach) und Minsk zu den wenigen Ausnah-men, da sie nicht auf solche TraditionenBezug nehmen kann. Chiºinãu ist erst-mals in seiner Geschichte die politisch-administrative Hauptstadt eines selbstän-digen Staates geworden.

Traditionelle Hauptstadt und Herr-schaftssitz des bis 1812 ungeteilten Für-stentums der Moldau war Iaºi (Jassy), dasbis heute das kulturelle, wissenschaftlicheund wirtschaftliche Zentrum der bei Ru-mänien verbliebenen Moldauregion (Mol-dova) ist. Demgegenüber blieb Chiºinãubis zum Beginn des 19. Jahrhunderts ein

unbedeutendes Städtchen, das sich kaumvon einem größeren Dorf unterschied (nachKRUPENIKOW u.a., 1970). Der eingangs zi-tierte Bericht D. CANTEMIRs erwähnte esmit lediglich zwei Zeilen als „Kischau, amFluß Bicul, ein Städtchen von wenigerErheblichkeit“ (CANTEMIR 1771, S. 61).

Durch die Teilung der Moldau (Moldo-va) im Jahre 1812 und die Angliederungihrer Osthälfte geriet das bisher eher peri-phere Chiºinãu in eine zentrale Lage indem neu abgegrenzten Territorium. DieBildung der Provinz Bessarabien durchden russischen Zaren Alexander I. und dieErhebung Chiºinãus (russ. Kischinjew)zur Provinzhauptstadt markierte somit denBeginn der bis zur Gegenwart führendenhauptstädtischen Entwicklung des vorher

bedeutungslosen Ortes. Die neue Provinz-zentrale zog zahlreiche Gäste und neueBewohner an. A. Weltmann (zit. bei KRU-PENIKOW et al., S. 168) berichtet für die Zeitum 1830 über eine russische und rumäni-sche Bevölkerungsmehrheit und darüberhinaus über armenische, griechische, tür-

kische, jüdische, deutsche, französischeund italienische Bewohner in Chiºinãu.Die Einwohnerzahl stieg von 7 000 Einw.(vor 1812) auf 93 000 Einw. (1861) und133 000 Einw. (1922) (nach KRUPENIKOW

et al. 1970).Die russische Verwaltung legte in hoch-

wassersicherer Lage südwestlich der klei-nen, am Flusse Bâc gelegenen Altstadteine neue Stadt mit geraden, sich recht-winklig kreuzenden Straßen an, derenRaster noch heute die räumliche Strukturdes Stadtzentrums von Chiºinãu bestimmt(Abb. 7). Das rasche Wachstum der Ein-wohnerzahl und die konzentrierte städte-bauliche Entwicklung führten zur Gestal-tung einer für osteuropäische Verhältnis-se recht ansehnlichen Stadt, die wie ganzMoldawien (Bessarabien) bis zum ErstenWeltkrieg zu Rußland und dann zwischenden beiden Weltkriegen zu Rumänien ge-hörte. Ihr Zustand wird von H. WACHNER

(1931, S. 94) anschaulich beschrieben:„Auf der Hochfläche über der sumpfigenBacultalung erwuchs die Zentrale Bessa-rabiens Chiºinãu (Kischinef) mit 150 000Einwohnern, die zweitgrößte Stadt Ru-mäniens. Es ist eine Schöpfung der russi-schen Regierung. Über dem von jüdi-schen Händlern bewohnten Marktflecken,der jetzt die Unterstadt bildet, legten dieRussen eine Beamten- und Militärstadtmit schnurgeraden, breiten Boulevards,stattlichen, palastartigen Amtsgebäuden,gepflegten Parkanlagen, eleganten Kauf-läden, luxuriösen Hotels und bequemenWohnhäusern in von Steinmauern umzo-genen Gärten mit hohen Schattenbäu-men an. Elegant und luxuriös mit glän-zendem Korso und asphaltierten Stra-ßen ist Chiºinãu ein Unikum in demsonst recht primitiven Bessarabien....Die Industrie von Chiºinãu ist unbe-deutend: einige Mühlen, Ölpressen, Spi-ritus- und Seifenfabriken“.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setztedann auch in Chiºinãu eine lebhafte Indu-strieentwicklung ein, und es entstandengroße Betriebe der Nahrungsgüterindu-

1930 1959 1970 1979 1989

Moldawier/Rumänen 48,8 70,7 132,5 209,3 325,3

Russen 19,6 69,6 109,3 149,7 174,6

Ukrainer 0,6 26,0 50,5 74,6 94,3

Gagausen - 1,5 2,7 3,8 5,8

Juden 41,1 42,9 49,9 42,3 35,5

Bulgaren 0,5 1,8 3,8 6,0 8,8

Tab. 5: Die ethnische Differenzierung von Chisinau zwischen 1930 und 1989 (in 1000 Ew.)Quelle: RAMBU et al.1991

Abb. 7: Schematischer Plan des Stadtzentrums von ChisinauQuelle: Atlas Moldavskoj SSR 1990

ChisinauSchematische Planskizzedes Stadtzentrums

IfL 1995Kartographie: R. Bräuer

23

strie (u.a. große Weinkeltereien), des Ma-schinenbaus, der Elektrotechnik, der Che-mie und der Bekleidungsindustrie, ausge-richtet in Größenordnung und Spezialisie-rung auf den sowjetischen Binnenmarkt.Die Einwohnerzahlen stiegen seit 1959auf das 2,3-fache an bis zum Jahre 1979, indem Chiºinãu die Halbmillionengrenzeüberschritt. Bis zum Jahre 1990 erreichteChiºinãu eine Einwohnerzahl von 675 500Einw., einschließlich der Vororte 753 500Einw. Seither stagniert die Einwohnerzahlbzw. sie ist sogar leicht rückläufig (1993:663 400 Einw.). Das Einwohnerwachstumberuhte sowohl auf einer beträchtlichenZuwanderung als auch auf hohen natürli-chen Geburtenraten in der Stadt selbst.

Die Veränderung der letzten Jahre istsowohl durch geringere Zuwanderung alsauch durch sinkende Geburtenzahlen be-dingt. Im Ergebnis der zurückliegendenBevölkerungsentwicklung ist die Einwoh-nerschaft Chiºinãus heute beträchtlich jün-ger als im übrigen Moldawien (86,9 % derBewohner sind jünger als 55 Jahre, gegen-über 82,6 % in der gesamten RepublikMoldawien). Die wichtigsten ethnischenGruppen der Bewohner Chiºinãus sinddie rumänischsprachigen Einwohner(„Moldawier“) mit 49,2 %, gefolgt vonRussen (26,4 %), Ukrainern (14,3 %) undJuden (5,4 %) (vergl. Tab. 6).

Die bauliche Entwicklung der Stadt galtnach dem Zweiten Weltkrieg zunächst derBehebung der Kriegsschäden, wobei dasStraßennetz der verwinkelten Altstadt ver-einfacht und der angrenzenden Neustadtetwas angepaßt wurde. Zur Aufnahme desfolgenden Bevölkerungszuwachses ent-standen dann wie in allen Großstädten dessozialistischen Typs große monotoneStadtteile mit den üblichen Wohnblocksund einer standardisierten Grundversor-gung: Botanica, Rîºcanovca, Buîucani,Petricani, Budeºti. Im Stadtzentrum wur-den in dieser Periode neue moderne Ver-waltungsbauten geschaffen und die Park-anlagen weiterentwickelt. Schließlichwurden eine Reihe verstädterter Nachbar-gemeinden in die Stadt selbst einbezogen– Vadu-lui-Vodã, Vatra, Durleºti, Codru,Sîngera –, so daß Chiºinãu nunmehr einadministratives Stadtterritorium von an-nähernd 300 km² umfaßt.

Im Verhältnis zur übrigen RepublikMoldawien nimmt die Hauptstadt Chiºi-nãu die in Wirtschaft, Verkehr, Kultur undWissenschaft eine überragende Stellungein. Sie ist das größte Industriezentrumdes Landes, der Sitz der MoldawischenAkademie der Wissenschaften und einer

Universität sowie nahezu aller bedeuten-den Forschungseinrichtungen, Theater undMuseen Moldawiens. Chiºinãu verfügtüber den einzigen leistungsfähigen inter-nationalen Flughafen des Landes. Die zahl-reichen Fluglinien führten bis zur Unab-hängigkeit Moldawiens ausschließlich zuZielorten innerhalb der damaligen Sowjet-union, d.h. sie erreichten Murmansk, Sibi-rien und Mittelasien, nicht aber Bukarestoder Warschau. Auch heute überwiegenbei weitem die Flugverbindungen mit denGUS-Staaten. Mit der Konzentration von17 % der Staatsbevölkerung in der Haupt-stadt dürfte Chiºinãu schon an der Ober-grenze einer sinnvollen Proportionalitätliegen (zum Vergleich: Bratislava 8,3 %,Sofia 13,5 %, Vilnius 15,6 %), doch ist einweiteres Wachstum zumindest mittelfri-stig keineswegs auszuschließen. Die aktu-ellen Entwicklungsprobleme der Haupt-stadt sind weitgehend identisch mit denendes ganzen Landes: wirtschaftliche Stabi-lisierung bei der Umstellung zur Markt-wirtschaft, politische Stabilisierung ein-schließlich Sicherung der territorialen In-tegrität Moldawiens, Herstellung bzw.Wiederherstellung tragfähiger Außenwirt-schaftsbeziehungen. Abgeleitet von derBewältigung dieser Aufgaben sind mehre-re verschiedenartige Varianten für die künf-tige Entwicklung der moldauischen Haupt-stadt Chiºinãu vorstellbar, deren genaue-re Vorhersage derzeit noch verfrüht wäre.

Das Tal des Dnjestr und die „Repu-blik“ TransnistrienDer Dnjestr (rumän. Nistru) ist sowohl dieHauptader als auch teilweise der Grenz-fluß Moldawiens. Er entspringt in denOstbeskiden, entwässert einige Regionender westlichen Ukraine mit den StädtenLwiw (Lwow, Lemberg) und Tscherniw-zy (Tschernowitz), durchfließt die nördli-chen und östlichen Randgebiete Moldawi-ens und mündet schließlich auf ukraini-schem Territorium in das Schwarze Meer.Sein Abfluß wird im wesentlichen von denZuflüssen des Oberlaufes gespeist. DieWasserführung des Dnjestr von mehr als300 m³/s, d.h. etwa 1 Mrd. m³ pro Jahrstellt zwei Drittel des gesamten in Molda-wien verfügbaren Angebots an Oberflä-chenwasser dar.

Das Tal des Dnjestr ist im Mittellauf bisTighina (Bendery) um 200 bis 250 m in dieumgebenden Platten und Hügelländer ein-gesenkt. Unterhalb von Tighina durch-fließt der Dnjestr die ebene Steppe desTieflandes und erreicht bei Dnestrovskden Mündungsbereich mit dem Delta und

dem Dnjestr-Liman. Im moldawischenAbschnitt östlich von Chiºinãu wurde derFluß zum Stausee von Dubãsari aufge-staut. Das Tal des Dnjestr unterscheidetsich klimatisch und hydrologisch markantvon der umgebenden Waldsteppe und Step-pe und bietet zu ihr vor allem in der trok-kenen Spätsommer- und Herbstperiodeeinen auffälligen Kontrast. Mit den vor-handenen reichen Bewässerungsmöglich-keiten hebt sich die Dnjestrniederung ge-genüber der Umgebung durch eine beson-ders intensiv betriebene Landwirtschaftab.

Im Mittelalter hatte der Dnjestr Bedeu-tung als Verkehrsweg zwischen Polen,d.h. der heutigen Westukraine mit Lwiw(Lwow, Lemberg), dem Moldaufürsten-tum und dem Schwarzmeerraum. Es istbezeichnend für die Intensität dieser Ver-bindungen, daß die ersten deutschen Han-delsleute und Siedler nach der Moldaunicht über Siebenbürgen, sondern überPolen und vor allem über Lemberg einge-wandert waren (WECZERKA 1960). DemSchutze des Handels auf dem Dnjestr undder Ostgrenze des Moldaufürstentumsdienten die Festungen in Hotin, Soroca,Tighina (Bendery) und Cetatea Alba (Ak-kerman), deren eindrucksvolle Reste nochheute erhalten sind. Der bis zum ErstenWeltkrieg einigermaßen bedeutende, wennauch durch winterliche Vereisung undmehrmonatiges Niedrigwasser einge-schränkte Schiffsverkehr auf dem Dnjestrist durch die seitherigen Grenzziehungen,durch den Bau des Staudamms von Dubã-sari, der keine Schleusen hat, und durchdas Vordringen von Eisenbahn und Kraft-verkehr sehr zurückgegangen.

Obwohl der Dnjestr wie die meistenFlüsse eine eher integrierende Rolle fürden gesamten Talzug spielt und obwohlöstlich des Flusses noch mehrere 100 000rumänischsprachige Bewohner ansässigsind, bildete der Dnjestr in den letztenJahrhunderten meist eine Staatsgrenze(Moldaufürstentum, Königreich Rumä-nien) oder zumindest eine Provinzgrenze(Russisches Reich). Die ethnische Grenzehingegen verlief niemals eindeutig, dennfast überall dominiert in den Dörfern dierumänischsprachige Bevölkerung, wäh-rend in den Städten der nichtrumänischeAnteil vorherschend ist (Russen, Ukrai-ner), besonders auffällig in Dnestrovskund Tiraspol (Abb. 8; Tab. 6). Die heu-tigen Staatsgrenzen wurden im Jahre 1940ausgehend von der außerhalb der histori-schen Grenzen der Moldau (Moldova) ge-schaffenen Moldau-Sowjetrepublik nach

24 EUROPA REGIONAL 3(1995)1

Ethnische Struktur der Bevölkerung Rumänen (Moldawier)

Russen

Ukrainer

Region um Tiraspol

andere

Einwohner in Tausend<0,50,5-1

1-22-3 3-5 5-10

10-20 20-100

Stadt

ländliche Siedlung

0 10 20 km

Maßstab 1 : 500 000

100-150

IfL 1995Kartographie: R. Bräuer

Slobozia

KrasnoeDnestrovsk

TIRASPOL

Tighina

Cãusani’

Dnjestr

der Angliederung Moldawiens (Bessara-biens) an die Sowjetunion als Grenzen derMoldawischen Sowjetrepublik festgelegt.Sie schließen nunmehr auch Territorienjenseits des Dnjestr ein: Transnistrien. Indiesen östlichen Gebieten setzten im Au-gust 1989 Konflikte ein, veranlaßt durchdie Einführung des Rumänischen alsStaatssprache und der lateinischen anstel-le der kyrillischen Schreibweise der rumä-nischen Sprache. Sie führten zu dem bis

heute bestehenden Zustand der Existenzeiner von Rußland gestützten separatenDnjestr-“Republik“ Transnistrien, derenHauptstadt Tiraspol ist.

Die am östlichen Ufer des Dnjestr gele-gene Stadt Tiraspol nimmt sowohl nachder Zahl ihrer Bewohner als auch nachdem Umfang der industriellen Produktiondie zweite Stelle in der moldawischen Städ-tehierarchie ein, wenn auch mit erhebli-chem Abstand zur Hauptstadt Chiºinãu.

Sie war im Jahre 1792 als russische Fe-stung am Standort eines älteren rumäni-schen Dorfes gegründet worden und hattezunächst vor allem militärische Bedeu-tung. Ihr wirtschaftlicher Aufschwungbegann in den 60er Jahren des vorigenJahrhunderts mit dem Bau der Eisenbahn-linien nach Odessa (100 km), Chiºinãu(75 km) und Reni (Donauhafen). Einenweiteren Bedeutungszuwachs erhielt Ti-raspol 1929 durch die Lokalisierung desVerwaltungssitzes der innerhalb der so-wjetischen Ukraine gegründeten Molda-wischen Autonomen Sowjetrepublik. DieStadt Tiraspol hat gegenwärtig 185 000Ew. und ein Territorium von 92 km² undbildet zusammen mit dem westlich desDnjestr in 8 km Entfernung gelegenenTighina ein zusammenhängendes Wirt-schaftsgebiet. Die wirtschaftliche Grund-lage der Stadt wird durch eine Reihe gro-ßer Industriebetriebe der Nahrungsgüter-(Wein- und Weinbrandherstellung, Groß-molkerei), Textil- (Baumwollverarbei-tung), Elektro- und Fahrzeugindustrie ge-bildet. Die Stadt besitzt eine Universität(5000 Studenten), ein Theater, Museenund Büchereien und stellt das nach derHauptstadt Chiºinãu wichtigste kulturelleund wissenschaftliche Zentrum der Repu-blik Moldawien dar. Politisch bedeutsamist vor allem die Anwesenheit der Zentraleder vorher in Odessa stationierten frühersowjetischen und heute russischen XIV.Armee, deren Haltung auf die Zukunft derRegion sowie ganz Moldawiens entschei-denden Einfluß hat.

Die Beschreibung des Dnjestr und sei-ner Region sowie insbesondere der StadtTiraspol macht deutlich, daß die künftigeZugehörigkeit oder Abspaltung diesesRaumes für die Republik Moldawien vonmaßgeblicher, wenn nicht sogar von aus-schlaggebender Bedeutung sein könnte.Eine um das Dnjestr-Gebiet reduzierteRepublik Moldawien hätte wohl nur nochbedingte Existenzchancen, und die Haupt-stadt Chiºinãu wäre für dieses Restmolda-wien vermutlich deutlich überdimensio-niert. Andererseits ist die Tiraspoler „Re-publik“ schon heute nur mit russischerHilfe überlebensfähig. Bei einer an ethni-schen Kriterien orientierten Selbständig-keit wäre zudem zu bedenken, daß dasrussisch dominierte Territorium nur sehrklein ist und im Osten nach wenigen Kilo-metern an die Ukraine grenzt, in der eineukrainische, von rumänischsprachigenBewohnern durchsetzte Landbevölkerungansässig ist. Die Zukunft des zwar befrie-deten aber noch keineswegs gelösten Kon-

Abb. 8: Die ethnischen Strukturen in der Dnjestr-Region bei TiraspolQuelle: Atlas Moldavskoj SSR 1978

25

abhängiger Staaten (GUS), Aufhebung desBarter-Systems im Handel mit Rumänien,Erlaß zur Abfassung offizieller Dokumen-te in rumänisch und russisch, Vorberei-tung zur Schaffung einer neuen Staats-hymne, erneute Errichtung eines Stachel-drahtzaunes an der Grenze zu Rumänien,verstärkte Bemühungen um den VerbleibTransnistriens und der „Gagausenrepu-blik“ im moldawischen Staatsverband mitAngeboten betreffs Sonderstatus (A.I.GABANYI 1994). Die vorzugsweise Ostori-entierung Moldawiens scheint zumindestfür die überschaubare Zukunft festzuste-hen, zumal ein Abzug der um Tiraspolstationierten russischen Truppen von denmeisten politischen Beobachtern als eherunwahrscheinlich angesehen wird undMoldawien in den großräumigen politi-schen Überlegungen des europäischenWestens offensichtlich nur eine unterge-ordnete Rolle spielt. Die Randlage Molda-wiens sowohl zu Osteuropa als erst rechtzum Westen scheint zur Zeit unveränder-lich zu sein.

Modifizierter stellt sich die Situationdes heute von der Republik Moldawieneingenommenen Raumes dar, wenn manversucht, sie in größere historische Zu-sammenhänge einzuordnen. Aus einer sol-chen Sicht befand sich das heutige Molda-wien keineswegs immer in einer Randlage– und es muß es demzufolge auch nicht füralle Zukunft bleiben. Ein bis zur Antikezurückreichender historischer Vergleich,der hier nicht weiter ausgeführt werdenkann, verweist im Rückblick vor allem aufdie Verbundenheit und AbhängigkeitMoldawiens von den Entwicklungen imSchwarzmeer- und Mittelmeerraum.

Das seitherige jahrhundertelange Zu-rückbleiben Moldawiens wie auch ande-rer Regionen Osteuropas ist nach allge-meiner Auffassung vor allem den zahlrei-chen Einfällen östlicher Steppenvölkergeschuldet. Die wechselvolle Geschichtedes südlichen Osteuropa einschließlichMoldawiens fand ihren Niederschlag indem Verbleib zahlreicher kleiner, oft aufwenige Dörfer begrenzter Volksgruppenim Hinterland des Schwarzen Meeres, fürdie die Ethnie der Gagausen mit ihrenspezifischen aktuellen Problemen nur ei-nes von vielen Beispielen bildet und woauch für die Zukunft ethnisch motivierteKonflikte keineswegs auszuschließen sind.

Die Epoche der ständigen Unsicherhei-ten und Rückschläge ebbte im späten Mit-telalter ab, als mit den vom rumänischenKarpatenvorland ausgehenden Staatenbil-dungen und mit der Festigung der sich

flikts um die separate „Republik“ bleibtdaher bis auf weiteres ungewiß. Eine Lö-sung zeichnet sich demgegenüber für dieebenfalls als „selbständig“ ausgerufeneGagausen“republik“ im Süden Molda-wiens ab, deren wirtschaftliche und mili-tärische Bedeutung deutlich geringer istund für die ein Autonomiestatus bei Ver-bleib in der Republik Moldawien ange-strebt wird.

Moldawiens Gegenwart und Zukunftzwischen Osteuropa und dem WestenDie aus dem Zerfall der Sowjetunion re-sultierende Gründung der selbständigenRepublik Moldawien hatte zunächst zueiner Welle rumänisch-moldawischenZusammengehörigkeitsgefühls geführt,das sich durch die deutsche Wiederverei-nigung ermutigt sah und in der Erhebungdes Rumänischen zur alleinigen Staats-sprache, in der Wiedereinführung der la-teinischen Schreibweise des Rumänischensowie in der Übernahme der Melodie derrumänischen Nationalhymne und im we-sentlichen auch der rumänischen Natio-nalflagge seinen deutlichen Ausdruck fand.In den Wahlen zu der noch immer Ober-ster Sowjet genannten höchsten Volksver-tretung Moldawiens im Jahre 1990 erziel-te dann auch die für eine rumänienorien-tierte nationale Erneuerung eintretendeMoldawische Volksfront die Mehrheit derStimmen (GABANYI 1993 1994). Der Wi-derstand nichtrumänischer Bevölkerungs-schichten, der Bürgerkrieg wegen derAbspaltungsbestrebungen Transnistriensim Verein mit politischem, militärischemund wirtschaftlichem Druck Moskaus so-wie Fehlentwicklungen beim Übergang

von der Plan- zur Marktwirtschaft führtenaber bald zu einem Meinungsumschwungselbst bei der rumänischsprachigen Be-völkerung, zumal es den für ein selbstän-diges, mit Rußland verbundenes Molda-wien plädierenden Kräften gelang, ähn-lich wie in mehreren anderen mittel- undosteuropäischen Staaten die Schuld an deraugenblicklichen Wirtschaftsmisere denReformparteien anzulasten.

Die Ergebnisse der Parlamentswahlenvom 27.2.1994 brachten das veränderteMeinungsbild deutlich zum Ausdruck (GA-BANYI 1994).Wahlsieger wurden die De-mokratische Agrarierpartei Moldawiens(Partidul Democrat Agrar din Moldova)mit 43,2 % – eine „Partei der alten undneuen Wirtschaftsnomenklatura“ – und dervon der russischen Bevölkerung getrage-ne Block Sozialistische Partei und Bewe-gung „Unitate-Edinstwo“ (Blocul Parti-dul ºi Miscarea ‘Unitate-Edinstvo’) mit22,0 % der abgegebenen Stimmen (GABA-NYI 1994). Selbst wenn man die moldawi-schen Wahlen nicht ohne weiteres mitWahlen in traditionellen Demokratiengleichsetzen kann, so stellen ihre Ergeb-nisse doch offensichtlich das mehrheitli-che Votum der politisch aktiven Bevölke-rung Moldawiens dar. „Nach den Wahlendriftet Moldawien nach Osten“, faßte A.U.GABANYI (1994) die politische Kehrtwen-dung Moldawiens zusammen. Das Wahl-ergebnis und ein eine Woche später abge-haltenes Referendum bildeten die Grund-lagen für die seitherige auf verstärkte Ost-orientierung und zunehmende Distanz zuRumänien gerichtete Politik der moldawi-schen Staatsführung: Ratifizierung derBeitrittserklärung zur Gemeinschaft Un-

Tiraspol

1959 1970 1979 1989

Moldawier/Rumänen 5,5 12,2 17,3 31,1

Russen 26,9 45,9 60,7 74,7

Ukrainer 21,6 35,2 47,2 59,6

Gagausen 0,2 0,4 1,0 1,9

Juden 6,3 7,1 6,9 6,3

Bulgaren 0,5 0,9 1,5 2,3

Tighina

Moldawier/Rumänen 5,0 12,2 22,7 37,4

Russen 24,2 37,6 48,7 55,0

Ukrainer 6,2 12,3 18,5 24,0

Gagausen 0,1 0,4 1,0 1,6

Juden 6,0 6,5 5,4 4,6

Bulgaren 0,5 1,4 2,3 3,6

Tab. 6: Die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung in Tiraspol und Tighina(in 1 000 Ew.)Quelle: RAMBU et al. 1991

26 EUROPA REGIONAL 3(1995)1

zwischen Polen (heute: Westukraine undPolen) und dem Schwarzmeerraum her-ausbildenden Handelswege eine Stabili-sierung einsetzte, bis dann im 16. bis19. Jahrhundert der gesamte Raum unterosmanische Lehnherrschaft kam. Währenddie türkische Herrschaft übereinstimmendals lähmend bezeichnet wird und nur ge-ringe Spuren hinterlassen konnte, hat dieim 19. und 20. Jahrhundert erfolgte russi-sche Dominanz eine bis heute andauerndekontroverse Wertung erfahren. Unbestrit-ten ist, daß sie zu einer engen und zumin-dest kurzfristig schwer lösbaren wirtschaft-lichen Verflechtung Moldawiens mit demrussisch dominierten Osteuropa geführthat, wie es der bis heute andauernde über-wältigende Anteil Rußlands am moldawi-schen Außenhandel nachdrücklichst an-zeigt. Da in unserer Zeit der „Süden“ poli-tisch und wirtschaftlich vergleichsweiseweniger gewichtig bleibt, betreffen die

Überlegungen zur aktuellen und künftigenEntwicklungen Moldawiens vor allem sei-ne Beziehungen zum „Osten“ und zum„Westen“. Aus der west- und mitteleuro-päischen EU-Sicht wird bereits Rumänienals peripher empfunden, natürlich nochmehr das östlich von ihm benachbarteMoldawien.Da die kleine Republik in ih-rer Leistungspalette vor allem die dank derbeteiligten Mittelmeerstaaten in der EUreichlich vorhandenen südeuropäischenAgrarprodukte anzubieten hat und daMoldawien an keinem der für den europäi-schen Westen bedeutsamen transeuropäi-schen Verkehrskorridore gelegen ist, sinddie Chancen künftiger engerer Wirtschafts-beziehungen Moldawiens zu den heutigenEU-Staaten eher als bescheiden zu be-zeichnen, wobei auch der wegen der gro-

ßen Entfernung erhebliche Verkehrsauf-wand erschwerend hinzukommen würde.Schwer abschätzen läßt sich, welchen Stel-lenwert in den künftigen Jahrzehnten dasVerbundenheitsgefühl der rumänischenBevölkerung westlich und östlich der Gren-ze am Pruth haben wird.

Die sowohl verkehrsmäßige als auchmentale Distanz zu West- und Mitteleuro-pa läßt es als naheliegend erscheinen, daßsich Moldawien hauptsächlich auf einenwirtschaftlichen Austausch mit den rus-sisch dominierten GUS-Staaten ausrichtetund die bestehenden Beziehungen fort-führt und ausbaut, sofern diese Partnerpolitisch und wirtschaftlich ausreichendstabil sind. Der nahezu unermeßliche Be-darf des europäischen Rußland und Sibi-riens würde für eine solche eindeutigeOrientierung sprechen. Unter diesemAspekt sind wohl auch die gegenwärtigenaußen- und wirtschaftspolitischen Ent-

wicklungen in Moldawien zu sehen. Be-denkenswert ist allerdings auch hier, daßMoldawien am äußersten Rand dieses Wirt-schaftsraumes gelegen ist (Tab. 7) und daßdie in der früheren Sowjetunion bishermassiv subventionierten Transportkostenkünftig zweifellos mehr ins Gewicht fal-len werden.

Es verbleibt als andere Möglichkeit eineengere wirtschaftliche Verbindung mit dennäheren Nachbarn Moldawiens, wobeiangesichts des hohen Anteils der Agrar-produktion an der Wirtschaft Moldawiensvor allem die Nachbarländer mit andersar-tigen Naturbedingungen gute Vorausset-zungen bieten könnten: Polen, Beloruß-land und die westliche Ukraine für Gemü-se, Obst, Wein und Tabak, die Länder derSchwarzmeerregion für Getreide, Zucker

und Milchprodukte. Ökonomische Wech-selbeziehungen mit dem benachbarten Ru-mänien könnten für Moldawien u.a. Pro-dukte der Ölraffinerien, chemische Dün-gemittel und Aluminiumprodukte bereit-stellen. Historisch bestehende, derzeitzweitrangige Relationen ließen sich mögli-cherweise aktivieren. Eine besondere Rol-le könnte der Wiederbelebung der durchden Dnjestr vorgezeichneten Handelsrou-te vom östlichen Mitteleuropa zum Schwar-zen Meer zukommen, wobei sich eine Part-nerschaft mit der rumänischen Moldaure-gion wegen der ethnischen Gemeinschaftund der gleichartigen Interessenlage an-böte.

Angesichts der Entlegenheit Moldawi-ens und seiner Nachbarregionen sowohlzu den großen Zentren des westlichen alsauch des östlichen Europa wäre eine sol-che stärkere Eigenentwicklung zweifelloswünschenswert, zumal sie die vorher erör-terten Ausrichtungen keineswegs aus-schließt. Ihre Realisierung dürfte aber vorallem von den politischen und wirtschaft-lichen Strukturen und Konstellationen immittel-, ost- und südosteuropäischen Raumbestimmt werden, für die aus geographi-scher Sicht lediglich einige Überlegungenund Anregungen beigesteuert werden kön-nen.

LiteraturAnuarul statistic al Romaniei 1993 (1994):

(Statistisches Jahrbuch von Rumänien).Bukarest.

Anuarul statistic (1992): Economia nationalã aRepublicii Moldova . (Statistisches Jahr-buch 1992. Die Volkswirtschaft der Repu-blik Moldawien). Chiºinãu.

Atlas Moldavskoj SSR (1978). (Atlas derMoldauischen SSR). Moskau.

Atlas Moldavskoj SSR (1990). (Atlas derMoldauischen SSR). Moskau

BADEA, L. u.a. (Hrsg.) (1983, 1984, 1987, 1993):Geografia Romaniei I-IV. (Geographie Ru-mäniens). Bukarest.

CANTEMIR, D. (1771): Demetrii Kantemirs hi-storisch-, geographisch- und politische Be-schreibung der Moldau. Frankfurt, Leipzig.

CIOBANU, S. (1992): Basarabia. Populaþia, isto-ria, cultura. (Bessarabien. Bevölkerung,Geschichte, Kultur). Bukarest.

COCIU, M. (Hrsg.) (1992, 1993): Spaþiul istoricsi etnic romanesc I-III. (Der rumänischehistorische und ethnische Raum). Bukarest.

FRIEDLEIN, G. (1993): Regionen in der Ukraine.In: Europa Regional, H. 1, S. 25-30.

GABANYI, A. U. (1993): Die Moldaurepublikzwischen Wende und Rückwendung. In:Südosteuropa 42, H. 3-4, S. 153-207.

Europäische Union (EU) Rußland und Gemeinschaft

und assoziierte Staaten Unabhängiger Staaten (GUS)

Iaºi (Jassy) 90 Odessa 150

Bukarest 350 Kiew 400

Warschau 780 Charkiw (Charkow) 620

Wien 910 Minsk 760

Athen 1.080 Moskau 1.130

Berlin 1.200 Wolgograd 1.130

Köln/Bonn 1.570 St. Petersburg 1.440

Paris 1.850 Baku 1.770

London 2.030 Murmansk 2.440

Lissabon 3.050 Nowosibirsk 4.000

Irkutsk 5.200

Wladiwostok 7.500

Tab. 7: Die Entfernungen (in km Luftlinie) von Chisinau zu einigen Haupt- undMillionenstädten

27

GABANYI, A. U. (1994): Die Parlamentswahlenin Moldova vom 27.2.1994. In: Südosteuro-pa 43, S. 453-477.

Geografitschna enziklopedija Ukraine (Geo-graficna enciklopedia Ukrajne) (1989-93).(Geographische Enzyklopädie der Ukrai-ne). Kiew

GRIMM, F. (1993): Rumänien und seine Regio-nen. Zwischen Mitteleuropa und dem Osten.In: Europa Regional, H. 2, S. 12-21.

GRIMM, F., et al. (1994): Zentrensysteme alsTräger der Raumentwicklung in Mittel- undOsteuropa. Beiträge zur Regionalen Geo-graphie, Bd. 37.

GROTHUSEN, K, (Hrsg.) (1977): Südosteuropa-Handbuch, Bd. II, Rumänien, Göttingen.

HOFBAUER, H., ROMAN, V. (1993): Bukowina,Bessarabien, Moldawien. Wien.

JACHOMOWSKI, D. (1984): Die Umsiedlung derBessarabien-, Bukowina- und Dobrudscha-deutschen. München.

KRUPENIKOW, I.A., (Krupenikov, I.A.) et al.

(1970): Moldavija. (Moldawien). Moskau.LEHMANN, F.W.P. (1917): Bessarabien. In Pe-

term. Geogr. Mitteil. (Gotha).NISTOR, I. (1991): Istoria Basarabiei. (Geschich-

te Bessarabiens). Bukarest.POPESCU-SPINENI, M. (1987): Rumänien in sei-

nen geographischen und kartographischenQuellen. Wiesbaden.

RAMBU, N., MATCU, M., & V. SECARA (1991):Geografia Republicii Moldova. (Geogra-phie der Republik Moldawien) Chiºinãu.

Romania. Atlas turistic ºi rutier (1993): (Ru-mänien. Touristik- und Straßenatlas). Bu-karest.

UNGUREANU, A. (1980): Oraºele din Moldova –studiu de geografie economicã. (Die Städteder Moldau. Ökonomische Geographie).Bukarest.

UNGUREANU, A. (1992): Republica Moldova –scurtã prezentare geograficã. (Die RepublikMoldawien. Kurze geographische Darstel-lung). In: Terra (Bukarest), H. 1/2, S. 35-47.

WACHNER, H. (1931): Rumänien. In KLUTE, F.(Hrsg.): Handbuch der geographischen Wis-senschaft. Bd. Südost- und Südeuropa, S. 42-103. Potsdam.

WECZERKA, H. (1960): Das mittelalterliche undfrühneuzeitliche Deutschtum im FürstentumMoldau. Buchreihe der SüdostdeutschenHistorischen Kommission, Bd. 4, München.

Autoren:Dr. FRANK-DIETER GRIMM,Institut für Länderkunde,D-04107 Leipzig.

Prof. Dr. ALEXANDRU UNGUREANU,Universität A.I. Cuza,Fakultät für Geographie und Geologie,RO-6600 Iasi (Jassy).