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Grondin Jean, Von Heidegger Zu Gadamer. Unterwegwegs Zur Hermeneutik

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Jean Grondin

Von Heidegger zu Gadamer

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Jean Grondin

Von Heidegger zu Gadam.er

Unterwegs zur Hermeneutik

Wissenschaftliche Buchgesellschaft

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Einbandgestaltung: Neil McBeath, Stuttgart.

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ISBN 3-534-15618-8

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INHALT

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I. Die Hermeneutik und die rhetorische Tradition 17

11. Heideggers Wiedererweckung der Seinsfrage auf dem Weg einer phänomenologisch-hermeneutischen Destruk-tion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 46

111. Heidegger und Augustin zur hermeneutischen Wahrheit 71

IV. Zur Ortsbestimmung der Hermeneutik Gadamers von Heidegger her . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

V. Was heißt verstehen? Von Heidegger zu Gadamer 93

VI. Was heißt "Sein, das verstanden werden kann, ist Spra-che"? ............ . 100

VII. Die Weisheit des Stammelns 106

VIII. Gadamers anti-ästhetische Wiedergewinnung der Wahr-heit der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 112

IX. Spiel, Fest und Ritual. Zum Motiv des Unvordenklichen beim späten Gadamer ................... 118

X. Das innere Ohr in Gadamers Ästhetik. Distanz und Selbstreflexion in der Hermeneutik . . . . . . . . 126

XI. Hans-Georg Gadamer und die französische Welt 136

Anmerkungen 145

Quellennachweise 163

Personenregister . 165

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EINLEITUNG

Im 20. Jahrhundert ist die Hermeneutik weitgehend die Sache von Heidegger und Gadamer gewesen. Die beiden sind aber weder selbst ins Gespräch getreten, noch recht ins Gespräch gebracht wor­den. Der im Falle Heideggers fortgeschrittene und im Falle Gada­mers so gut wie abgeschlossene Stand der Gesamtausgabe macht diese Konfrontation nicht nur möglich, sondern auch geboten: Das komplexe, vielfältige Verhältnis Gadamers zu seinem Lehrer blieb nämlich in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode (1960), wohl aus persönlichen Rücksichten, eher unentfaltet und damit schwer zu bestimmen. War das Werk eine Fortsetzung des heideggerschen Un­ternehmens mit anderen Mitteln oder gar ein Gegenentwurf? Die spätere Edition der Gesammelten Werke Gadamers, die seit dem Jahre 2000 in einer Taschenbuchausgabe vorliegen (die man sich für das Werk Heideggers wünscht, das ansonsten uferlos und für die jüngeren Generationen abschreckend zu werden droht), gestattet es gleichsam zum ersten Mal, Wahrheit und Methode als eine geschlos­sene Antwort auf Heidegger zu verstehen, die völlig neue Akzente setzt.

Heidegger reagierte seinerseits sehr zögernd auf Gadamers Opus, obwohl er lange vorher Gadamer als einen seiner besten Schüler er­kannt hatte, was wir aber erst seit kurzem wissen'! Er hatte selber in den 70er-Jahren in einem oft zitierten Brief an Otto Pöggeler die Hermeneutik als "die Sache von Gadamer" charakterisiert und damit von sich abgewiesen.2 Damit verband sich zweifelsohne ein gewisser Abschied von der eigenen "hermeneutischen" Vergangen­heit, hatte doch der jüngere Heidegger sein philosophisches Pro­gramm unter dem verheißungsvollen Titel einer "Hermeneutik der Faktizität" vorgetragen. Bereits in Sein und Zeit hatte dieses Pro­gramm einer Fundamentalontologie Platz gemacht, die sich der Seinsfrage entschiedener zukehrte. Diese Fundamentalontologie wurde selber alsbald als ein "Holzweg" verlassen, als sich Heidegger zunehmend einem "seinsgeschichtlichen" Denken hingab, das im Grunde eine Auseinandersetzung mit der Metaphysik wurde. Die theoretische Basis seiner neuen Vision erarbeitete er in den 1936-1938 konzipierten, aber erst seit 1989 zugänglichen Beiträgen zur

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8 Einleitung

Philosophie. Der Umstand, dass er sie zeit seines Lebens nicht für publikationsreif hielt, sollte uns vor der Versuchung hüten, in ihnen ein neues Hauptwerk oder Lehrgebäude zu sehen.

Gadamer schloss sich gewiss an Heidegger an, als er von Herme­neutik sprach. Heidegger blieb aber für ihn ein so überragender und bewunderter Lehrer, dass er sich scheute, in seinem Hauptwerk das direkte Gespräch mit ihm aufzunehmen. Von der "hermeneutischen Erfahrung" und damit vom Verstehen war da auf jeder Seite die Rede, aber es war nicht immer leicht, sie mit Heidegger in Verbin­dung zu bringen, obwohl sein Schatten überall zu spüren war. Aber nur sein Schatten. Gadamer sprach zwar im ersten Teil seines Wer­kes vom Wahrheitsgehalt und von der ontologischen Valenz der Kunst, aber ohne die leiseste Anspielung auf die Ausführungen Hei­deggers in seinem bekannten Text über den Ursprung des Kunst­werkes, den Gadamer bereits 1935 gehört hatte und der 1950 den Sammelband "Holzwege" und damit die zweite gigantische Heideg­ger-Rezeption einleitete. Im letzten Teil von Gadamers Opus war heideggerisch genug von einer ontologischen Wende der Herme­neutik die Rede, die am Leitfaden der Sprache erfolgen sollte, aber erneut ohne einschlägigen Bezug auf Heideggers Bemühungen "un­terwegs zur Sprache" als "Haus des Seins". Allein im zweiten Teil des Werkes bezog sich Gadamer an entscheidender Stelle auf seinen Lehrer, und zwar auf die wichtige Konzeption vom Zirkel des Ver­stehens in Sein und Zeit, aber Gadamer tat so, als ob die dort entfal­tete Verstehensproblematik von selbst auf die Geisteswissenschaf­ten zugeschnitten sei, während Heidegger doch offenbar in erster Linie das Seins- und damit das Selbstverstehen des um sich selbst besorgten Daseins im Auge hatte.3 Nicht nur versäumte es Gada­mer, diese Seinsfrage als solche wieder aufzunehmen, er tendiert später dazu, in ihr eine Heideggers grundlegenden Einsichten zu­tiefst fremde Anlehnung an der aristotelischen Tradition und der Transzendentalphilosophie zu sehen. Gadamer witterte wohl in ihr eine entfernte Affinität zur katholischen Scholastik, die ihm als Pro­testanten auch fern lag. Der späte Gadamer hat immer wieder auf das religiöse Motiv bei seinem Lehrer hingewiesen. Heidegger hätte zwar erkannt, dass der aristotelisch-scholastische Rahmen fragwür­dig geworden und damit zu destruieren sei. Aber von Destruktion konnte Heidegger nur sprechen, weil er immer noch nach einer an­gemesseneren Sprache für die religiöse Bedrängnis des Menschen suchte. In Hölderlin erst hätte er diesen Propheten des abwesenden und just in dieser Abwesenheit kommenden Gottes gefunden, mit

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Einleitung 9

dem er den Bereich einer Antwort auf Nietzsches epochale Prokla­mation des Nihilismus eröffnen wollte. Gadamer hielt seinerseits immer daran fest, dass "die Rolle des Propheten, des Warnherrn, des Predigers" dem Philosophen schlecht stünde.4 Während Heideg­ger hoch gespannte eschatologische und zuweilen auch politische Hoffnungen hegte, beharrte Gadamer seinerseits - sicherlich durch Heideggers Irrgänge belehrt - auf der "politischen Inkompetenz der Philosophie".5 Einen grundlegenden Unterschied zu Heidegger darf man somit in dem Bekenntnis sehen, das auf den Verzicht auf jeg­liches philosophische Prophetenturn folgt: "Wessen es für den Men­schen bedarf, ist nicht allein das unbeirrte Stellen der letzten Fra­gen, sondern ebenso der Sinn für das Tunliche, das Mögliche, das Richtige hier und jetzt. "6 Es ließe sich nicht sagen, dass dieser gut aristotelische Sinn für das Tunliche Heideggers Stärke gewesen sei, in dem er nur eine unbeholfene Halbheit sah. In seinem Abschied von den Halbheiten dieser Welt blieb Heidegger platonischer als der Aristoteliker Gadamer. Im Herzen der Hermeneutik und damit des Gespräches zwischen Heidegger und Gadamer klaffen somit zwei Grundmöglichkeiten der Philosophie: einerseits die platonisch­utopische, die uns vom tobenden Gerede dieser Welt abwenden und den Menschen an seine letzten Fragen erinnern will, andererseits die aristotelisch-realistische, die eine andere Welt für irreal hält und den Sinn für das Machbare und Verständigungsfähige anmahnt.

Auch wenn sie von derselben Tradition der Hermeneutik herkom­men, sind die tatsächlichen Quellen von Gadamer und Heidegger oft sehr verschieden. Während Heidegger für seine Destruktion der Sicherheiten des neuzeitlichen Bewusstseins die Seinsfrage der aristotelischen Metaphysik neu aufrollt, schließt sich Gadamer viel lieber - frühe Impulse von Heidegger aufarbeitend - an die aristote­lische Ethik an, weil sie eine ganz andere Art von Wissen vor Augen führt, die der praktischen Wahrheit. Dabei beruft sich Gadamer, und zwar zu Beginn seines Hauptwerkes, ausgerechnet auf die Tradition des Humanismus, den Heidegger in seinem berühmten "Brief über den Humanismus hinaus" (wie der Titel beinahe lauten sollte) hin­ter sich zu lassen versprach. Hofft Heideggers hermeneutische De­konstruktion der abendländischen Metaphysik auf einen völlig neuen, aber doch unwahrscheinlichen Anfang unserer Geschichte, setzt Gadamer auf die in unserer Tradition nie ganz eingeschlum­merten Motive der humanistischen Bildung. So kann sich Gadamer stillschweigend von Heideggers Bruch mit dem Humanismus tren­nen, um in der Tradition der Rhetorik einen Widerstand gegen die

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10 Einleitung

Monopolstellung der wissenschaftlichen Wahrheit zu erblicken und zu erneuern. Durch diese Wiedergewinnung weist seine Hermeneu­tik einen eigenen Weg über die Ausweglosigkeit unserer verwissen­schaftlichten Welt hinaus und gewinnt Anschluss an die ältere, ja die älteste Tradition der Philosophie, die auf die Orientierungsbedürf­tigkeit des Menschen antwortet. Aber diese Orientierung gilt für Gadamer nur für diese Welt, wie sie nun einmal ist, mit all ihrem Gerede und ihren Halbheiten. Das hatte bereits Jürgen Habermas - darin Platoniker und Heideggerianer - zum verständlichen Wider­stand herausgefordert: Durch seine Sprachhermeneutik lehre uns doch Gadamer, dass es möglich sei, über die Begrenztheit der jewei­ligen Horizonte und die eventuell nur scheinhafte Verständigung hinauszusehen! Aber dies sei nur möglich, konterte der Aristote­liker Gadamer, wenn man wiederum einen neuen Sprachhorizont bezieht, den man nicht von der Warte eines desinkarnierten Den­kens und idealisierten Sprechens aus restlos hinterfragen kann. Der Horizont der Sprache und der jeweils hergestammelten Sprache lässt sich nicht transzendieren. Sein, das verstanden werden kann, bleibt auf Sprache und das Gespräch angewiesen.

Die Unterschiede zwischen Gadamers und Heideggers Unterneh­men sind also unverkennbar, aber für die Entfaltung des hermeneu­tischen Problem bewusstseins eher fruchtbar. Ein philosophisches Gespräch setzt ja nicht nur einen gemeinsamen Boden, sondern auch den Unterschied der Denkansätze voraus. Sowohl die Konse­quenz des hermeneutischen Weges als auch die Akzentverschiebun­gen auf dem spannenden Wege von Heidegger zu Gadamer wollen beachtet werden. Denn man braucht im Grunde beides: sowohl die in ihrer unüberbietbaren Radikalität durchgeführte geschichtlich­ontologische Destruktion Heideggers, weil sie uns über die Grund­lagen und die Herkunft unserer begrifflichen Mittel aufklärt und an die Grundfragen des Daseins und damit der Philosophie erinnert, als auch die spezifisch gadamersche Wiedergewinnung des Sinnes für das Tunliehe und des Verständigungsfähigen. Es ist Gadamers Überzeugung, dass der herrschende Nihilismus, d. h. die u. a. den zeitgenössischen Postmodernismus bestimmende Lehre, dass es keinen verbindlichen Halt mehr gebe, an einem fundamentalisti­schen Begriff von Wahrheit (und Halt) orientiert bleibt, der von der modernen Wissenschaft stillschweigend genährt bleibt.? Stimmt es wirklich, dass nur das schlechthin Gewisse, d. h. das von der metho­dischen Wissenschaft Gesicherte sich als Wahrheit behaupten kann? Dann wäre in der Tat der Nihilismus die unabweisbare Konsequenz.

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Einleitung 11

Deshalb liegt der spezifisch gadamerschen Hermeneutikkonzeption alles daran, Wahrheitserfahrungen zurückzuerlangen, die von un­serer verwissenschaftlichten Kultur teils verdeckt, teils verdrängt worden sind. Bildet die Wissenschaft den einzigen Ort und Hort der Verbindlichkeit in unserer modernen Welt? Gibt es nicht auch eine Wahrheit des Dabeiseins, die den Verstehenden impliziert und die sich vom herrschenden Paradigma der methodischen Distanzierung nicht fassen lässt? Um diese Wahrheit des beteiligten Verstehens zurückzugewinnen, bezieht sich Gadamer am liebsten auf die ge­heimnisvolle Erfahrung der Kunst: Wer sich von einem Gedicht, einem Gemälde oder einem Bühnenstück hinreißen lässt, wird von einer Wahrheit ergriffen und in ein Spiel einbezogen, das sich seiner Kontrolle entzieht. Einem werden dabei die Augen aufgemacht, so dass man auch hier von Erkenntnis sprechen darf. Trotz eines hart­näckigen Vorurteils erweist sich diese Wahrheit ferner von dauer­hafterem Wert als die wissenschaftliche, die sehr bald und ständig durch neue Ergebnisse überholt und ersetzt wird. Nichts ist ver­gänglicher als die wissenschaftliche Wahrheit. Aber wann wurde die Wahrheit von Sophokles, Leonardo oder Mozart je überholt? Sie hat nichts mit methodischer Distanz und Kontrolle zu tun, da man sie nur erfährt, wenn man "dabei ist" und sich mitnehmen lässt. Wahrheit beruht also nicht nur auf objektivierender Regelbefol­gung, sondern auch auf Anteilnahme. Diese Wahrheit ist nach Gada­mer auch die des sprachlich Ausgesagten. Das sprachlich oder rheto­risch Treffende manifestiert eine Verbindlichkeit, die nicht die der Wissenschaft ist. Beruht aber nicht die Verbindlichkeit, der Halt und damit die Solidarität zwischen Menschen auf der verbindenden Kraft der Rhetorik und der Sprache? In der Erfahrung der Kunst, der Rhetorik und der ihr Erbe verwaltenden Geisteswissenschaften bemüht sich also Gadamers Hermeneutik, eine Wahrheits erfahrung zurückzuerobern, die nicht die der Wissenschaft, aber auch nicht die der heideggerschen Aletheia ist.

Im Vordergrund unserer der Profilierung beider Ansätze dienen­den Rekonstruktion werden somit ebenso Heideggers hermeneuti­sche Wiederentdeckung der Seinsfrage im Namen einer kompro­misslosen Destruktion der abendländischen Metaphysik wie die gadamersche Transformation des hermeneutischen Programms, die sich am Leitfaden der Kunst und der Rhetorik vollzieht, stehen. Die Literatur zur Hermeneutik ist immens, aber gerade ihr Bezug zur Rhetorik wurde selten richtig erkannt, weil die rhetorische Tradition von der neuzeitlichen Wissenschaft so erfolgreich zurückgedrängt

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wurde, dass es sich kaum noch um eine lebendige Tradition handelt. Deshalb steht am Anfang unserer profilierenden Rekonstruktion ein Kapitel über "Die Hermeneutik und die rhetorische Tradition", das an die entscheidende Solidarität der Hermeneutik mit der Tradi­tion, in der sie bis einschließlich Schleiermacher gepflegt wurde, er­innert. Es ergänzt eine frühere Skizze der Hermeneutikgeschichte8,

in der diese rhetorischen Bezüge unterbelichtet blieben. Die folgen­den Studien zu Heidegger versuchen von zwei sehr verschiedenen Gesichtspunkten aus, nämlich vom provozierenden Vorrang der Seinsfrage in Sein und Zeit und von Augustin her, das hermeneuti­sche Motiv hinter Heideggers Destruktion der abendländischen On­tologie zu erkennen. Von der Seinsfrage und Augustin her lässt sich nämlich zeigen, dass es der heideggerschen Destruktion darum geht, das "verfallende" Selbst- und Seinsverständnis des Menschen auf­zurütteln und die es tragende Tradition zu erschüttern, um ein ganz anderes Seins- und Daseinsverhältnis vorzubereiten. Diese beiden Ausgangspunkte machen den Schritt zu Gadamer natürlich umso schwieriger, lassen dafür seinen hermeneutischen Ansatz in seiner Spezifizität umso deutlicher hervortreten. Deshalb bemüht sich das 4. Kapitel ("Zur Ortsbestimmung der Hermeneutik Gadamers von Heidegger her"), die Fragwürdigkeit der Anlehnung Gadamers an Heideggers Hermeneutik-Konzeption herauszustellen. Bei allem of­fenbar Verbindenden, das die Hermeneutiker und Kritiker immer schon erkannten, wird sich erweisen, wie problematisch es erscheint, Gadamer mit der Hermeneutik-Konzeption Heideggers zu verbin­den. Der Klarheit halber werden drei Hermeneutik-Konzepte bei Heidegger unterschieden: die frühe Hermeneutik der Faktizität, die fundamentalontologische Hermeneutik von Sein und Zeit und die spätere Hermeneutik der Seinsgeschichte. Mit keinem dieser Pro­jekte hat sich Gadamer recht solidarisiert.

Der Anschluss an Heidegger wird anhand des Verstehensbegriffs wieder hergestellt, aber zunächst um den Preis seiner verkürzenden Anwendung auf die Problematik der Geisteswissenschaften. Es han­delte sich im Grunde um eine Rückgewinnung, da ja das "herme­neutische" Problem des Verstehens urs!,rünglich in der Fragestel­lung der Geisteswissenschaften beheimatet war. Heidegger hatte sich freilich von diesem diltheyschen Horizont verabschiedet, als er das hermeneutische Verstehen für die radikalere Problematik des Seins- und Selbstverständnisses in Anspruch nahm. Er entfernte sich erst recht von Diltheys Forderung, eine Allgemeingültigkeit des geisteswissenschaftlichen Verstehens epistemologisch zu fundieren,

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Einleitung 13

die vom Standort des Verstehenden unabhängig sei. Sein und Zeit führte nämlich beredt vor Augen, aus welchen Wesens gründen das Dasein immer schon in dem impliziert ist, was es versteht: Verstehen ist nun einmal Sich-Verstehen. In diesem Lichte erschien es völlig witzlos, die Objektivität des Verstehens unabhängig von einem Sach- und Daseinsbezug sicherstellen zu wollen. Es lage nahe, diese umwälzende Einsicht auf die brachliegende Problematik der Geis­teswissenschaften anzuwenden. In dieser Rückanwendung erblickt man des öfteren Gadamers grundlegende Leistung. Den Boden dafür hatte aber bereits der Theologe Rudolf Bultmann vorbereitet, als er den heideggerschen Verstehensbegriff für das hermeneutische Problem der Theologie fruchtbar gemacht hatte. Heideggers Ver­stehensbegriff ließ sich ja nur zu gut mit der Mahnung der dialekti­schen Theologie von Karl Barth in Einklang bringen, nach der sich das Verstehen der Bibel immer auf die mich unmittelbar betreffen­de Sache der Schrift bezieht. Damit wurde das objektivierend­distanzierende Verstehen der liberalen Theologie ad absurdum geführt. Es hat keinen Sinn, von Gott als einem Gegenstand zu spre­chen; man kann nur von einem Gott reden, der mich unmittelbar anredet: "Will man von Gott reden, so muss man offenbar von sich selbst reden. "9 Bultmanns Heidegger-Rezeption war natürlich theo­logisch bestimmt. Ihm war es aber gelungen, Heideggers Verste­henskonzeption auf das klassische Gebiet der Schriftauslegung zurückzubeziehen. Ein Weg von der heideggerschen Existenzherme­neutik zur Texthermeneutik zurück war damit gewiesen, den das gadamersche Projekt einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik nur radikalisieren würde. Bultmann hatte nicht zuletzt die gadamer­sche Kritik an der Einseitigkeit der epistemologischen Fragestellung von Dilthey vorweggenommen. Das zeigt sich am deutlichsten in seinem Aufsatz von 1950 über "Das Problem der Hermeneutik",1° Geht es wirklich im Verstehen, macht Bultmann gegen Dilthey gel­tend, um den "Nachvollzug der seelischen Vorgänge, die sich im Autor vollzogen haben", oder um die "Versetzung in den inneren schöpferischen Vorgang, in dem sie entstanden sind"?l1 Diese nach Bultmann einseitige Fassung des hermeneutischen Problems sieht von zweierlei ab: 1. vom Sachbezug des Verstehens, d.h. vom Um­stand, dass das Verstehen der Sache und nicht dem Autor bzw. sei­nen redaktionellen Umständen gilt, und 2. von der Tatsache, dass dieses Sachverstehen in ein Vorverständnis des Interpreten ein­gebettet ist. Die Grundvoraussetzung des Verstehens bildet also "das Lebensverhältnis des Interpreten zur Sache [ ... ], die im Text

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14 Einleitung

[ ... ] zu Worte kommt".12 Diese neue Sicht des hermeneutischen Problems sei erst durch Heideggers Bestimmung des Verstehens möglich geworden: "Zu entscheidender Klarheit ist das Problem des Verstehens durch Heideggers Aufweis des Verstehens als eines Exis­tentials gebracht worden und durch seine Analyse der Auslegung als der Ausbildung des Verstehens. "13

Mit verblüffend ähnlichen Worten wird sich Gadamer auf Hei­deggers Bestimmung des Verstehens als eines Existentials in Wahr­heit und Methode berufen.14 Richard Palmer hatte seinerzeit die in der Sache völlig richtige Vermutung geäußert,15 Gadamer habe in Wahrheit und Methode das Motiv der Selbstbetroffenheit, das Bult­mann aus nahe liegenden Gründen für die Theologie herausgearbei­tet hatte, auf alle Geisteswissenschaften ausgeweitet. Gadamers Ver­stehensbegriff setzt jedoch neue, seine Hermeneutik auszeichnende Akzente: Während die Auffassung des Verstehens als Selbstver­stehen und damit als Anwendung in der direkten Kontinuität von Heidegger und Bultmann steht, liegt Gadamers wirkliche Origina­lität in der Auffassung des Sich-Verstehens vom Leitgedanken der Verständigung her. Zweierlei wird damit in die Wege geleitet: zum einen die Hervorhebung der Sprachlichkeit eines jeden Verstehens, die der älteren Hermeneutik nicht völlig unbekannt war, aber im ur­sprünglichen Ansatz von Heidegger und Bultmann weitgehend un­terbetont, wenn nicht völlig absent war, zum anderen die Fassung dieses wesentlich sprachlichen Verstehens von der Erfahrung des Gesprächs her. Oft und gern wird diese dialogische Natur des Ver­stehens im Sinne einer (natürlich auch für unheideggerisch erach­teten) Kommunikationsphilosophie aufgefasst, und so wurde sie gelegentlich vom späten Gadamer selber geschildert. Ein anderes Moment schien aber bei der Betonung des Gesprächscharakters in Wahrheit und Methode ausschlaggebend, nämlich die Erfahrung, dass die Gesprächführenden in Wahrheit weniger die Führenden als die Geführten sind. Dies ist für Gadamer wichtig, weil sein ganzes Buch darauf abzielt, das Verstehen weniger als eine Handlung der selbstbewussten und sich selbst beherrschenden Subjektivität als ein Geschehen der Wirkungsgeschichte darzuSotellen. Im Gespräch, wie in jedem Verstehen und jeder Sprachhandlung, "geschieht" etwas mit uns, über das wir nicht Herr sind. "Verstehen und Geschehen" sollte deswegen der ursprüngliche und treffendere Titel von Wahr­heit und Methode lauten.16

Diesen Geschehenscharakter des Verstehens und seine Verbind­lichkeit arbeitet Gadamer vorzugsweise und originell an der Erfah-

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rung der Kunst heraus: In ihr wird uns eine Wahrheit zuteil, weist Gadamer nach, die auf anderem Wege unerreichbar wäre, weil wir durch sie verwandelt werden. Gadamer spricht gern in diesem Zu­sammenhang vom medialen Charakter des Verstehens. Gemeint ist die mediale Verbform im Griechischen, die zwischen einem aktiven und einem rein passiven Vorgang die Mitte hält. Das nicht mehr als autonome Handlung der Subjektivität zu konzipierende Verstehen ist dafür nicht als reine Passivität zu deuten: Die Verstehenden wer­den anders und können sich über das, was ihnen geschieht, ausspre­chen und austauschen. Die Sprache wird ihrerseits "medial" gefasst, d.h. als ein Geschehen, das die Sache und die Verstehenden glei­chermaßen involviert. Gadamers Hermeneutik ist der Versuch, das Geschehen des Verstehens zu verstehen und Geschehen sein zu las­sen. Im Unterschied zu Heideggers früher Hermeneutik der Fakti­zität, die der Selbstentfremdung des Daseins den Kampf ansagt, und der späteren, auf einen neuen Anfang setzenden Hermeneutik der Metaphysikgeschichte lässt sich das gadamersche Werk als eine Phä­nomenologie des Verstehensgeschehens charakterisieren. Seine krit­sche Pointe liegt in der Warnung vor allen Formen der heute gängi­gen Auffassung des Verstehens als eines Beherrschens, wo man erst dann eine Sache zu begreifen meint, wenn man sie in der Hand hat oder auf einen Schirm bekommt. Im Verstehen sind wir weniger die Begreifenden als die Ergriffenen. Das Wesentliche, unser Sein, be­herrscht man nie.

Von verschiedenen Horizonten und Hintergründen herkommend, sehr verschiedene hermeneutische Wege beschreitend, treffen sich Heidegger und Gadamer schließlich im Wesentlichen. Indem sie sokratisch vor der Selbstentfremdung des Daseins und der Illusion des Alles-machen-Könnens warnt, erinnert ihre Philosophie an das schier Unverfügliche, dass wir sind und verstehen.

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I. DIE HERMENEUTIK UND DIE RHETORISCHE TRADITION

Als Kunst der Auslegung bezog sich die klassische Hermeneutik ursprünglich auf die Interpretation religiöser Texte und Sinngebilde. Die gilt sowohl für die griechische Orakel- und Homer-Interpreta­tion wie für die Bibelinterpretation im rabbinischen Judentum (bei Philo) , in der Patristik (Origenes, Augustin) und der frühprotestanti­schen Hermeneutik (Luther, Melanchthon, Flacius). Das originelle Tätigkeitsfeld der Hermeneutik liegt damit in der Exegese im wei­ten Sinne (griech. exegesis; lat. enarratio, die ursprünglich ein Be­standteil der alten Rhetorik war17). Die Hermeneutik ist aber nicht identisch mit der Exegese; sie beschäftigt sich vielmehr mit den kunstgerechten Regeln ihres Tuns. Als Hilfswissenschaft trat sie vor allem in Erscheinung bei der Interpretation dunkler Stellen (ambi­gua). Später entwickelten andere Wissenschaften, die es mit der In­terpretation von halbwegs kanonischen Texten zu tun haben, ihre spezifischen Hermeneutiken. Das gilt seit der Renaissance für das Recht (hermeneutica juris) und die Philologie (hermeneutica prQja­na) und im 19. Jh. für die Geschichtswissenschaft. Da schließlich alle Wissenschaften eine Interpretationsleistung vollziehen, wurde ihnen die Notwendigkeit einer hermeneutischen Grundbesinnung immer bewusster. So ist etwa das Interesse an der Hermeneutik in der ge­genwärtigen Literaturwissenschaft beträchtlich. Der Gedanke, dass Interpretation und Verstehen allen Auslegungwissenschaften zu­grunde liegen, führte Dilthey am Ende des 19.Jh. zu der Hypothese, die Hermeneutik könne als eine allgemeine Methodologie der Geis­teswissenschaften fungieren. Er ließ sich von der Idee leiten, eine hermeneutische Methodologie könnte den sonst angezweifelten wissenschaftlichen Status dieser Disziplinen sichern helfen. Auch wo das angeblich szientistische Ideal einer solchen Methodologie preisgegeben wurde, wird Hermeneutik heute oft als Grundlagen­reflexion über die Geisteswissenschaften praktiziert. Eine Wendung ins Philosophische und damit ins Universale nahm die Hermeneutik erst im 20.Jh., als Verstehen und Auslegung zu Wesenszügen des ge­schichtlichen Menschen erhoben wurden. Anzeichen davon lassen sich zwar in der Lebensphilosophie des späten Dilthey, aber auch in

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18 Die Hermeneutik und die rhetorische Tradition

Nietzsches Potenzialisierung des Interpretationsbegriffes ("es gibt keine Fakten, sondern nur Interpretationen") finden. 18 In diesem Sinne bewusst befördert wurde jedoch der Hermeneutikbegriff erst bei Heidegger und Gadamer. Während die Hermeneutik bei Hei­degger eine Philosophie anzeigen soll, die auf das Selbstverständnis des faktischen Menschen abhebt, setzt Gadamer bei den Geisteswis­senschaften an, um die Geschichtlichkeit und Sprachlichkeit unserer Welterfahrung hervorzukehren. Auch wo Gadamer nicht maßge­bend ist, werden heute allgemeine Philosophien der Auslegung als Hermeneutik vertreten bzw. bezeichnet. Die Identifikation der Her­meneutik mit einem gewissen sprachlichen und geschichtlichen Re­lativismus ließ sie auch neuerdings in die Nähe des sog. Postmoder­nismus (Vattirno, Rorty) und ins Gespräch mit der französischen Strömung der Dekonstruktion treten.19 Negativ gewendet: Jede phi­losophische Theorie, die die Möglichkeit einer übergeschichtlichen Wahrheit verteidigt, muss sich mit der universalen Hermeneutik auseinander setzen bzw. vor ihrem Hintergrund profilieren.

Wenngleich sie vor kurzem als solche wenig diskutiert wurden, haben sich thematisch und historisch mehrfache Beziehungen zwi­schen der Hermeneutik und der Rhetorik verknüpft. Das liegt zunächst in der Ähnlichkeit ihres Gegenstandes begründet. Beide haben es nämlich mit der Sinnvermittlung zu tun, wobei die Rheto­rik um die Vermittlung des intendierten Sinns auf den überreden­den Ausdruck bemüht ist und die Hermeneutik vom Ausdruck auf den intendierten Sinn zurückgeht. Es empfiehlt sich also, zwischen der rhetorischen und der hermeneutischen Sinnvermittlung zu unter­scheiden: Während die erste ad extra geht, verläuft die andere um­gekehrt vom Ausdruck auf seinen "inneren" Gehalt hin, oder - um psychologistische Verengung zu vermeiden - auf das, was ein Aus­druck zu sagen hat (Gehaltsinn). Es springt zweitens ins Auge, dass manche hermeneutische Regeln direkt der Rhetorik entlehnt wur­den, u. a. die Tropenlehre und der sog. hermeneutische Zirkel, wo­nach das Einzelne aus dem Ganzen zu verstehen sei. Die wich­tigsten Vermittler waren dabei Augustin und..Melanchthon, die die Auslegekunst am Vorbild des reicheren Rhetorikcorpus orien­tierten. Diese Anleihen verdanken sich auch dem Umstand, dass Rhetorik und Hermeneutik auf aristotelische Termini und Traktake gleichen Namens - die Rhetorike und den Peri hermeneias (dt. oft: "Hermeneutik", obgleich der Titel nicht von Aristoteles stammt)­zurückgehen, was im Laufe der Geschichte zu gewissen Parallelisie­rungen verlocken musste. Ferner hatten Rhetorik und Hermeneutik

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Die Hermeneutik und die rhetorische Tradition 19

denselben Kampf gegen einen einseitigen, methodenorientierten Wissenschaftsbegriff zu bestreiten, wenn auch aus verschiedenen Anlässen (Isokrates gegen den Platonismus, Vico gegen den Carte­sianismus, Dilthey gegen den Positivismus, Heidegger und Lipps gegen die Herrschaft der Aussagelogik, Gadamer gegen das Metho­denparadigma in den Geisteswissenschaften). Aus diesem Grund finden sie sich auch bis heute denselben Vorwürfen ausgesetzt, näm­lich dass sie sinn- oder effekt- anstatt wahrheitsorientiert seien. Die­ser Vorwurf gegen die Rhetorik geht bekanntlich auf Platon zurück. Dazu kommt, dass der platonische Corpus, bei dem das Wort her­meneutike erstmals belegt ist, auch von Hermeneutik in diesem Sinne spricht (Epinomis 975 c, die wohl nicht von Platon selber stammt): Sie könne ermitteln, was gemeint, aber nicht, ob es wahr sei. Rhetorik und Hermeneutik haben fernerhin eine ähnliche Ent­wicklung ihres Selbstverständnisses erleben müssen. Zunächst als technische Regelwissenschaften konzipiert, die gleichsam Rezepte vermitteln sollten, um zu einem Ergebnis (Überredung bzw. Verste­hen) zu gelangen, sind sie zunehmend von diesem eng normativen Selbstverständnis abgekommen. Obwohl gewisse Berufe sie noch als technische Wissenschaften brauchen und unterhalten, verstehen sie sich theoretisch zunehmend als Reflexionen über eine schon geübte Praxis und vertreten einen verwandten Universalitätsan­spruch.2o Schließlich kann man auf einen stillschweigenden ge­schichtlichen Ablösungsprozess von Rhetorik und Hermeneutik hinweisen. Ausgewiesene Rhetorikkenner sprechen von einem Tod der Rhetorik um das Jahr 1750,21 um ihren allmählichen Autoritäts­verlust als Wissenschaft und Lehrgegenstand seit der Aufklärung zu kennzeichnen. Die Beförderung der Hermeneutik als Disziplin, die bis dahin als Hilfwissenschaft nach außen hin wenig sichtbar geblie­ben war, folgte unmittelbar auf diese relative Entthronung der Rhe­torik, als ob die Hermeneutik in ihrem Widerstand gegen den Ex­klusivitätsanspruch des Methodendenkens das Erbe der Rhetorik in der Anwaltschaft des menschenmöglichen Wissens angetreten hätte. Auf diese Ablösung bzw. Nachfolge hat Gadamer selbst angespielt: Indem "die Hermeneutik, statt sich der 'Logik' unterzuordnen, auf die ältere Tradition der Rhetorik zurückorientieren musste, mit der sie ehedem [ ... ] eng verknüpft war, [ ... ] nimmt sie einen Faden wie­der auf, der im 18. Jahrhundert abgebrochen war"22. Erst aus der jüngsten Hochkonjunktur der universalisierten Hermeneutik heraus ließen sich in neuerer Zeit für das allgemeine Bewusstsein das ver­gessene, von der neuzeitlichen Rationalität unterdrückte Gedan-

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kengut und die Aktualität der Rhetorik wieder entdecken, als ob die Hermeneutik auf diese Weise ihre alte Schuld der Rhetorik gegen­über beglichen hätte.

Dass es in der Antike eine Hermeneutik im Sinne einer Kunst der Auslegung gegeben hat, ist alles andere als evident. Namhafte His­toriker der Hermeneutik (darunter Dilthey) sehen erst im Frühpro­testantismus das Geburtsdatum der Hermeneutik.23 Die lateinische Wortbildung hermeneutica begegnet zwar erst im 17. Jh. bei J. C. Dannhauer. Dennoch lassen sich zwei Anhaltspunkte in der Antike für eine Rückbesinnung der Hermeneutik auf ihre eigene Vorge­schichte ausmachen.24 Der erste ist sakraler Art und verbindet sich mit der Aufgabe der allegorischen Mytheninterpretation. Der zwei­te ist profaner Art und knüpft an den Traktat Perl hermeneias von Aristoteles an. In seiner sakralen Bedeutung tritt das Wort herme­neutike zum ersten Mal im platonischen Corpus (Politikos 260 d, Epinomis 975 c) auf. Was Platon darunter versteht, ist nicht unmit­telbar zu eruieren, weil Hermeneutik jeweils im Zuge einer Wissen­schaftsaufzählung erscheint. An beiden Stellen wird sie jedoch neben der mantike oder Wahrsagekunst erwähnt. Sind beide Termini gleichbedeutend, wie oft angenommen wird? Schwerlich, wenn Pla­ton dafür zwei distinkte Begriffe verwendet. Platons Ansicht von der Wahrsagekunst ist vom Timaios (71-72) her gut dokumentiert. Dem Wahrsager wohnt ein Wahnsinn (mania), ein Außersichsein inne, der es ihm verwehrt, über den Sinn seiner Erfahrung klar zu werden. Nach dem Timaios ist es die Aufgabe des Propheten (pro­phetes), den Sinn der manischen Erfahrung zu erklären. Als Deuter des im Wahnsinn Gesehenen wird der Prophet auch Hermeneut (hermeneutes) genannt. So legt sich der Schluss nahe, dass die her­meneutike die Wahrsagekunst ergänzen soll, indem sie über den Sinn des Erfahrenen befindet. Der Hermeneut funktioniert also als Sinn­vermittler. So bezeichnet Platon im Ion (534 e) die Dichter als her­meneutes ton theon, als Interpreten der Götter. Diese Verbindung hat bereits in der Antike dazu geführt, die vermittelnde Aufgabe des Hermeneuten etymologisch mit dem Götterboten Hermes in Ver­bindung zu bringen. So einleuchtend sie klingen mag, gilt heute diese Etymologie als unhaltbar.

Die Aufgabe der Sinnvermittlung bedingt auch die "profanere" oder rein sprachliche Bedeutung von Hermeneutik, die sich vor allem an den Begriff hermeneia anlehnt. Obwohl hermeneia im aristotelischen Perl hermeneias nicht vorkommt, war der Terminus Aristoteles und Platon sehr vertraut, um den ausgesprochenen

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Logos (den "Satz") zu bezeichnen. Dabei wird vorausgesetzt, dass die hermeneia nichts anderes ist als die Veräußerlichung eines Inner­lichen, der pathemata der Seele, wie sich Aristoteles im Perl herme­neias (16 a 4) ausdrückt. So wurde hermeneia im Lateinischen durchweg mit interpretatio übersetzt. Die Aussage ist insoweit eine "Interpretation", als sie Gedachtes in Worte zu übersetzen versucht. In De interpretatione ist freilich nicht von Interpretation im moder­nen Sinne die Rede. Gleichwohl erkennt man, dass es Aufgabe einer jeden Interpretation sein muss, zu dem hinter oder mit den Worten (oder Aussagen) Gedachten vorzustoßen. Die interpretierende Tätigkeit ist damit die Umkehrung des Aussagevollzugs, der vom Gedachten zum Wort ging. Diesem Grundbestand verliehen die Stoiker Prägnanz mit ihrer Unterscheidung zwischen dem 16gos proforik6s und dem 16gos endüithetos, dem inneren und äußeren Logos: Hinter jeder sprachlichen Veräußerlichung gilt es, den inten­dierten Sinn nachzuvollziehen.

So waren es die Stoiker, die wohl als Erste25 eine allegorische In­terpretation der anstößig gewordenen Mythentradition ausarbeite­ten. Der Ausdruck allegoria stammt ursprünglich aus der Rhetorik und wurde von einem Grammatiker, dem Pseudo-Herakleitos (1. Jh. n.Chr.), geprägt. Er definierte die Allegorie als einen rhetori­schen Tropos, der es ermöglicht, etwas zu sagen und gleichzeitig auf etwas anderes hinzuzeigen.26 Mit dem öffentlich oder buchstäblich Geäußerten kann ein zunächst Verborgeneres gemeint sein. Wenn ein buchstäblicher Sinn anstößig erscheint, kann ein allegorischer Sinn vermutet werden. Für die allegorische Deutung sakraler Doku­mente wurde dies sogar zu einer Regel erhoben: Da ein vom Gött­lichen handelnder oder gar direkt inspirierter Text keinen Unsinn erzählen könne, muss buchstäblicher Widersinn allegorisch gedeutet werden. So bezeichnet die Allegorese (im Unterschied zur Allegorie als rhetorischer Redefigur) den Interpretationsvorgang, der vom geäußerten Wort auf ein Verborgenes hingeht. Den Stoikern ging es dabei um den rationalen bzw. moralischen Kern des Mythos. Zwie­lichtige Stellen sind allegorisch umzudeuten, um die Vernünftigkeit des Göttlichen zu retten.

Die allegorische Praxis der Stoa fand einen fruchtbaren Nähr­boden im Werk von Philo von Alexandrien (ca. 25 v. bis 40 n. Chr.), der sie auf den Kanon der jüdischen Bibel anwendete. Auch Philo ging es wohl zunächst um eine rationale Deutung der hebräischen Texte. Er wurde jedoch von der griechischen Mystagogentradition stark geprägt, als er in den hl. Schriften die Offenbarung von esote-

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rischen Mysterien zu finden unternahm. Die Allegorese ging damit nicht mehr auf den rationalen Kern anstößiger Texte, wie bei der Stoa, sondern auf einen Eingeweihten vorbehaltenen Sinn, der den bornierten Verstand der Menge übersteigt. Diese gnostischen Züge machten indessen Philo in seiner eigenen palästinensischen Tradi­tion verdächtig, zumal die Allegorese dem Primat der biblischen Li­teralinterpretation zuwiderlief.

Umso nachhaltiger wirkte dafür die philonische Allegorese im Christentum. Die Weichen dafür hatte bereits das Auftreten Christi gestellt. Er hatte eine zwiespältige Haltung der Bibel gegenüber ein­genommen, die damit für die Christen zum "Alten Testament" wurde. Einerseits hatte sich Christus gelegentlich über den Buchsta­ben der Tora hinweggesetzt ("der Sabbat ist da für den Menschen, nicht umgekehrt"), andererseits hatte er sich auf die Prophetentra­dition berufen und sie nach dem Zeugnis seiner Jünger auf sich selbst bezogen: "Durchforscht die Schriften [ ... ], sie sind es, die Zeugnis von mir geben" (Joh 5,39). Jesus galt schließlich als die Er­füllung der messianischen Erwartung der alten Bibel. Dass dies der Fall war, war von der hebräischen Tradition her alles andere als ein­leuchtend. In seiner Relativierung der Tora erschien Jesus eher als Gotteslästerer. Von messianischer Erfüllung der Schrift im wört­lichen Sinne konnte angesichts des Kreuzestodes Jesu auch nicht die Rede sein. Um die Beziehung zu den hl. Schriften aufrechtzuer­halten und vor allem die messianische Erfüllung glaubwürdig zu machen, musste eine allegorische Deutung mithilfe des hermeneuti­schen Schlüssels, den die Person Jesu lieferte, aufgebaut werden. Diese allegorisierende Deutung des auf Jesus bezogenen Alten Testamentes erhielt später - und erst im 19. Jh. - den Namen der Typologie. Sie bestand darin, im Alten Testament "Typoi", d.h. Vor­prägungen der Gestalt Christi ausfindig zu machen, die vor der Er­scheinung Jesu als solche unkenntlich bleiben mussten: Das Opfer von Isaak durch Abraham sollte z. B. den Opfertod Christi durch seinen Vater, die drei von Jona im Fisch verbrachten Tage den Zeit­raum zwischen Tod und Auferstehung Christi vorausspiegeln. Diese typologische Lesart der Bibel, die Jesus selbst empfohlen haben soll (Joh 5,39), nannte sich damals dem Zeitgeist entsprechend "allego­risch". Der Erste, der hier von Allegorie sprach, war sogar Paulus in seinem Brief an die Galater (4,21-24). Dort erarbeitet er eine "typo­logische" Interpretation der Geschichte von den zwei Söhnen Abra­hams, den von der Sklavin (Hagar) und den von der Freien (Sara). Dies, erklärt Paulus, sei allegorisch gesagt worden (allegoroumena).

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Denn der von der Sklavin geborene Sohn meint das jetzige Jerusa­lern, das sich in der Sklaverei, d. h. unter dem Gesetz befindet. Der von der Freien geborene hingegen ist nicht Sklave des Gesetzes (oder des Fleisches), sondern frei, weil er Erbe des Geistes ist. Damit wurde das gesamte Alte Testament zu einer Allegorie des Neuen.

Die allegorische Interpretation erwies sich auf diese Weise als ein unentbehrliches Instrument für die messianische Legitimierung des Frühchristenturns. So spielte sie bei den Kirchenvätern eine her­vorragende Rolle. Ihr wohl bedeutendster und eifrigster Praktiker wurde Origenes (ca. 185-254). Im vierten Buch seines Traktates Über die Prinzipien entwickelt er in Anlehnung an Phil027 seine berühmte Lehre von den drei Sinnschichten der Heiligen Schrift: dem körperlichen, seelischen und geistlichen Sinn. Diese Dreitei­lung entspricht der philonischen Dreiteilung des Menschen in Kör­per, Seele und Geist.28 Origenes legt Wert auf die geistige Progres­sion, die diese Lehre markiert. Der körperliche oder buchstäbliche Sinn (auch somatisch oder historisch genannt) ist da für die ein­fachen Menschen. Der seelische Sinn richtet sich an die Adresse derer, die im Glauben schon fortgeschrittener sind. Nur den Voll­kommenen erschließt sich der geistliche Sinn, der die allerletzten Mysterien der göttlichen Weisheit, die im Buchstaben verborgen liegen, offenbaren soll.

Die drei Schichten des Bibelsinnes seien so von Gott gewollt, um den Christen einen Fortschritt vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, vom Körperlichen zum Intelligiblen zu ermöglichen. So hat der Hei­lige Geist (der als Verfasser der Schrift gilt) gezielt Unstimmigkei­ten und Diskordanzen in seiner N arration verstreut, um den Geist des würdigen Lesers auf die Notwendigkeit einer Überschreitung des Buchstaben aufmerksam zu machen. Die Allegorese war zwar für die Etablierung des Christentums wichtig, doch sie geriet aus zwei Gründen in Verruf. Erstens schien sie der Willkür bei der Be­stimmung des über buchstäblichen Sinnes Tür und Tor zu öffnen. Durch die mystagogisch geprägte Gewagtheit ihrer Einzelinterpre­tationen haben Philo und Origenes diesem Verdacht auch Vorschub geleistet. Gegen die Allegorese sprach zweitens der Umstand, dass die Bibel im Prinzip allgemein zugänglich sein wollte. Gott wollte sich gerade durch seine Offenbarung den Menschen verständlich machen. So rief die allegorisierende Deutung der "alexandrinischen Schule" (wo Philo und Origenes wirkten) den Widerstand der An­tiochenischen Auslegungsschule hervor, die auf dem feststellbaren

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grammatisch-historischen Sinn der Schrift bestand.29 So schrieb der Antiochener Theodor von Mopsuestia (ca. 350-428) fünf Bücher Contra allegorieos. Ihre Praxis der krisis im Sinne der Textkritik konnte sich auch auf die empirisch gesinnten Anweisungen des Arztes und Hippokrates-Exegeten Claudius Galenus (ca. 131-201) berufen. In der Renaissance wird Galen weiterhin als ein Vorfahr der wieder erweckten ars critica Anerkennung finden.3D

Das Erbe der allegorischen Schule wirkte in der Lehre vom vier­fachen Schriftsinn nach, die zu einem bleibenden Instrument mittel­alterlicher Exegese wurde.31 Sie ist zunächst bei Johannes Cassianus im 4. Jh. greifbar. Die Schrift enthält ihr zufolge einen literarischen, einen allegorischen, einen tropologischen oder moralischen sowie einen anagogischen Sinn. Im späteren Mittelalter wurde diese Lehre von Augustinus von Dakien auf den berühmten Merkvers gebracht: Littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quo ten­das anagogia (der wörtliche Sinn lehrt, was geschehen ist; der allego­rische, was du glauben, der moralische, was du tun sollst, und der anagogische, wohin du hinstrebst). Wie aus Thomas von Aquins Dis­kussion dieser Theorie hervorgeht,32 operierte man faktisch mit zwei Sinnmöglichkeiten, der literarischen und der geistlichen, welche ih­rerseits drei Horizonte haben konnte. Der anagogische Sinn, er­läutert Thomas, hat es mit der ewigen Herrlichkeit (quae sunt in aeterna gloria) und der moralische (oder tropologische) mit Han­deinsanweisungen zu tun. Der allegorische Sinn drängt sich auf, wenn das mosaische Gesetz eine typologische Vorahnung des Evan­geliums enthält (wo etwa Jerusalem, die heilige Stadt der Juden, die ewige Kirche versinnbildlichen soll). Der sensus tropologicus ver­weist direkt auf die rhetorisch-affektivistische Tradition zurück.33

Dass die Rede eine Wirkung auf den Affekt und den Lebenswandel haben soll, ist ja eine Grundeinsicht der Rhetorik. In seiner kriti­schen Aneignung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn gab später Luther der Tropologie den Vorrang vor der Allegorie,34 was der Rhetorik eine zentrale Funktion in der frühprotestantischen Her­meneutik (insb. bei Melanchthon) zuwies.

Eine profunde Anlehnung der Auslegungskunst an die Rhetorik lässt sich aber bereits in Augustins De doctrina christiana nachwei­sen, von der mit Recht behauptet wurde, es sei "das geschichtlich wirksamste Werk der Hermeneutik"35 gewesen. Zweck des Werkes ist es, Anweisungen (praecepta) für die Interpretation der Schrift an­zugeben. Das Licht zur Schriftdeutung soll in erster Linie von Gott selbst kommen (1,38). So gelten Glaube, Hoffnung und Liebe als

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die drei Säulen dieser Kunst. Das vereinigende Prinzip ist aber die Liebe (caritas): Wer die Schrift auslegen will, muss zunächst alle ka­nonischen Bücher lesen und dunkle Stellen durch klarere Parallel­stellen zu erklären versuchen. Damit werden die Grundlagen einer immanenten Deutung der Schrift aus ihr selbst (sola scriptura avant la lettre) gelegt. Die Schrift will nämlich allgemein verständlich sein. Die Zweideutigkeiten, die sich in der Schrift finden, rühren meist aus einer Verwechselung zwischen dem eigentlichen (propria) und dem übertragenen (translata) Sinne her. Für die Deutung dieser dunklen Stellen entnimmt Augustin praktische Anweisungen aus der Rhetorik, die ihm als Rhetorikprofessor gut vertraut war. Er hebt insbesondere die Bedeutung der Tropenlehre (Metapher, Ka­tachrese, Ironie usw.) hervor. Augustin übernimmt auch sieben her­meneutische Regeln aus dem Liber regularum des Donatisten Tyco­nius (t um 400), was umso merkwürdiger ist, als Augustin sonst den Donatismus bekämpfte. Seine Doctrina christiana wurde zum Lehr­buch der gesamten mittelalterlichen Exegese.

In der Reformation wurde die Hermeneutik erneut zum Schlüssel für eine theologische Neuorientierung, wie es schon die paulinische Allegorese als Fundierung der eigenen Legitimität des Christen­tums gegenüber dem Alten Testament bewirkt hattte. Luther erneu­erte im Zeit~lter der Renaissance die augustinische Forderung nach einer immanenten Schriftauslegung (sola scriptura) , was man als Af­front gegen die Autorität der Tradition und des kirchlichen Lehr­amts empfand. Einziger Maßstab der Schriftauslegung ist die Schrift selbst, sie ist ihr eigener Interpret (sui ipsius interpres). Dabei legt Luther den Akzent auf den sensus litteralis. Er verwirft zwar allmäh­lich die scholastische Lehre vom vierfachen Schriftsinn, ist jedoch darauf bedacht, wie bereits gesagt, dem aus der Rhetorik stammen­den tropologischen Sinn, der Wirkung der Schrift auf die Seele, be­sondere Bedeutung zuzumessen. Angesichts seiner Verwerfung des scholastischen Lehrkanons und menschlicher (Wissens-)Leistungen überhaupt bezeugt sich hier Luthers relative Hochschätzung der Rhetorik bei der Schriftauslegung. In einem Brief aus dem Jahr 1518 fordert er, nicht mehr Aristoteles solle gelehrt werden, sondern Pli­nius, die Mathematiker und Quintilian.36 Die Allegorese lehnt auch er entschieden ab, verwendet sie jedoch weiterhin als Mittel der applicatio37 , also wiederum in rhetorischer Absicht.

Philipp Melanchthon (1497-1560) kommt bei der Ausarbeitung der frühprotestantischen Hermeneutik eine zentrale Funktion ZU.38

Geschult in der humanistischen Rhetoriktradition während seiner

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Heidelberger und Tübinger Studienzeit, also vor seiner Begegnung mit Luther, entwickelte er von früh an einen Sinn für die Bedeutung der artes liberales. Er verteidigte ihre Unentbehrlichkeit in seiner Wittenberger Antrittsvorlesung (1519) in Anwesenheit von Luther (De corrigendis adolescentiae studiis). Der Verfall biblischer Stu­dien, führt er dort aus, hängt auch mit einem Verfall liberaler Stu­dien zusammen. Es ist nicht nur so, dass die scholastischen Künste den Intellekt schärfen helfen und damit bei der Häresiebekämpfung eine wichtige Rolle spielen können,39 die heiligen Bücher selbst seien nach den Maßstäben der Rhetorik verfasst. Rhetorik wird sich also bei der Deutung der Schrift als unabdingbar erweisen. Diese hermeneutische Akzentuierung tritt bereits in der Zwecksetzung von Melanchthons eigenen Lehrbüchern der Rhetorik (1519,1521, 1531) sehr klar zutage: Die rhetorischen Lehren sollen "junge Leute weniger zur eigenen korrekten Ausdrucksweise als vielmehr zum klugen Verständnis von Texten anderer anleiten (non tarn ad recte dicendum, quam ad prudenter intelligenda aliena scripta)"40. Rheto­rik wird vermittelt, "um junge Leute bei der Lektüre guter Autoren zu unterstützen (ut adolescentes adiuvent in bonis autoris legendis), die sie ansonsten nicht wirklich verstehen könnten"41. Damit erfolgt eine Wendung der Rhetorik von der (aktiven) Erzeugung überzeu­gender Reden zur (passiven) Lektüre oder Deutung von Texten. Die ars bene dicendi wird zur ars bene legendi: "Die Beschäftigung mit der rhetorischen Theorie dient nicht dazu, Beredsamkeit zu er­zeugen, sondern für die auszubildende Jugend ein methodisches Rüstzeug bereitzustellen, um elaborierte Texte kompetent zu beur­teilen. "42

Wie bereits Dilthey feststellte, war diese Rhetorik "gewisser­maßen auf dem Weg zur Hermeneutik"43.In einer wichtigen Studie von 1976 über "Rhetorik und Hermeneutik" hat H.-G. Gadamer Melanchthon an den Beginn der neuzeitlichen Hermeneutikge­schichte gestellt.44 Die "Umwendung der rhetorischen Tradition auf das Lesen klassischer Texte"45 hat er dort damit erklärt, dass die Re­dekunst "seit dem Ende der römischen Republik ihre politische Zentralstellung verloren" hatte. Melanchthons humanistisch gepräg­te Erneuerung der Rhetorik kam auch "mit zwei folgenschweren Dingen zusammen, der Erfindung der Buchdruckerkunst und, im Gefolge der Reformation, der gewaltigen Ausbreitung des Lesens und Schreibens, die mit der Lehre von dem allgemeinen Priestertum verknüpft war"46.

Dem hergebrachten Trivium von Grammatik, Dialektik und Rhe-

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torik gemäß entfaltet sich Melanchthons Rhetorik in enger Wechsel­wirkung mit der Dialektik, die als die Kunst der richtigen Beweis­führung galt. War für Melanchthon die Rhetorik ursprünglich Teil der Dialektik, errang sie immer mehr Selbstständigkeit47: Während die Dialektik die Sachverhalte sozusagen nackt vorstelle, füge die Rhetorik mit der sprachlichen Gestaltung das Gewand hinzu.48 Da sich aber Sachverhalte nur sprachlich ausdrücken lassen, kann von einer zunehmenden Verschmelzung rhetorischer und dialektischer Gesichtspunkte bei Melanchthon gesprochen werden.

Die Anwendung der Rhetorik auf das Lesen von Texten zeigt sich zum ersten Male in Melanchthons Behandlung der Exegese (de enarratio genere) und des Kommentars (de commentandi ratione) in seiner Rhetorica von 1519.49 Dort erhebt sich Melanchthon gegen die allegorisierende Deutungsmethode zugunsten des sensus lit­teralis. Es sei verfehlt, Geschichten, die uns moralisch anstößig er­scheinen, allegorisch wegzuerklären. Die Bibel wollte gerade das menschlich Anstößige schildern, um uns an die Sündenhaftigkeit und Eitelkeit unserer Natur zu erinnern. Melanchthon legt in die­sem Sinne die Geschichte vom Opfer Isaaks durch seinen Vater Ab­raham aus. Diese Geschichte sei gar nicht gemein (ignobilis). Aus Abrahams Gehorsam Gott gegenüber könnten wir vielmehr morali­sche Lehren ziehen (die Läuterung der Affekte des Fleisches und ihre notwendige Vernichtung). Gegen die Lehre vom vierfachen Schriftsinn macht Melanchthon geltend, dass ein Text ungewiss wird, wenn man ihm einen derart vielfachen Inhalt zuschreibt. 50

Diese künstliche Teilung zeuge von einem Mangel an rhetorischer Bildung. Melanchthon hebt insbesondere auf die seiner Ansicht nach verfehlte Auffassung des "tropologischen" Sinnes ab. Unter Tropologie werde irrigerweise eine Übertragung auf die Moral ver­standen. Der Begriff tropologia bedeute ursprünglich keine Be­schäftigung mit Moral, sondern etwas Rhetorisches, nämlich figura­tiv Ausgedrücktes.51

An Melanchthons hermeneutischer Praxis fällt indessen auf, wie sehr ihm doch an einer moralischen Ausdeutung des sensus litteralis liegt. In der Hl. Schrift sieht er überall einen Unterricht über die heilsnotwendigen loei communes, die in seiner Theologie überhaupt eine hervorragende Rolle spielen und denen er 1521 ein eigenstän­diges Werk gewidmet hat. Loei communes ("Gemeinplätze") sind universal gültige Lehren über die Hauptanliegen des Menschen (Tu­gend, Sünde, Gnade usw.). Didaktischer Zweck der Hl. Schrift ist es demnach, Beispiele (exempla) von loei communes für unsere Erbau-

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ung vorzuführen. Die loei fungieren damit als hermeneutischer Schlüssel der Bibel. Melanchthon übernimmt dabei die hermeneuti­sche Scopus-Regel der Aristoteles-Kommentatoren, insbesondere des Simplicius,52 indem er besonderen \Vert auf den scopus der Hl. Schrift legt: Jede einzelne Stelle muss hermeneutisch auf die Hauptabsicht der Bibel zurückgeführt werden, die im Grunde in der Vermittlung der loei über Gesetz, Sünde und Gnade besteht. 53 Es fällt dabei auf, dass die lutherische Rechtfertigungslehre den inter­pretatorischen Rahmen der Scopus-Lehre abgibt. Ob dabei ein theologisches Vorurteil das Schriftverständnis nicht zirkulär vorher­bestimmt und damit die schlechthinnige Geltung des Sola-scriptura­Prinzips in Frage stellt, wie von katholischer Seite vorgeworfen wer­den wird, wird von Melanchthon nicht eigens bedacht.54 In der rhe­torisch-didaktisch geprägten Rückbeziehung des Bibelsinnes auf den allgemeineren Scopus der Schrift gelangt Melanchthon indessen zu Vorahnungen des hermeneutischen Zirkels von Teil und Gan­zem: "Da Unerfahrene keine ausführlichen und komplizierten Ab­handlungen verstehen können, wenn sie den Text nur oberflächlich zur Kenntnis nehmen, ist es nötig, ihnen das Ganze des Textes (uni­versum) und seine Bestandteile (regiones) zu zeigen, so dass sie fähig werden, die einzelnen Elemente in den Blick zu nehmen und zu prüfen, inwieweit Übereinstimmung herrscht. "55 In dieser noch rein didaktisch gehaltenen Schilderung der hermeneutischen Zirku­larität kommt ein Bewusstsein ihrer erkenntnistheoretischen Frag­würdigkeit offenbar nicht auf. Erst im 19. Jh. wird hier aus einem positivistisch überspitzten Kartesianismus heraus ein zu vermeiden­der Kurzschluss vermutet.

Melanchthons Rhetorik war eine enorme, hier nicht nachzuzeich­nende Wirkungsgeschichte beschieden (zu seinen Lebzeiten allein kamen die verschiedenen Versionen seiner Rhetorik in achtzig Ein­zeldruckausgaben heraus56). Sie ermöglichte u. a. eine Versöhnung zwischen der Reformationsbewegung und der antiken Bildungs­tradition, die der protestantischen Hermeneutik von Flacius bis Schleiermacher und darüber hinaus den Weg wies.

Die sichtbarste Frucht dieser rhetorisch fundierten Hermeneutik findet sich im Werk des Melanchthon-Schülers Matthias Flacius Illy­ricus (1520-1575). Seine Clavis scripturae sacrae von 1567 entstand als Antwort auf die Angriffe des Tridentiner Konzils, das die Un­zulänglichkeit des Sola-scriptura-Prinzips bei der Entzifferung dunkler (ambigua) Stellen bekräftigte. Die Dunkelheit der Schrift, erwiderte Flacius, läge nicht an ihr, sondern an den mangelnden

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Grammatik- und Sprachkenntnissen, die sich die damalige katholi­sche Kirche hatte zuschulden kommen lassen. Damit wurde auch in der Nachfolge Melanchthons das Gewicht rhetorisch-sprachlicher Kenntnisse für die protestantische Hermeneutik unterstrichen. Der erste Teil der Clavis wird ein reines Bibellexikon sein, das eine aus­führliche Konkordanz der Parallelstellen bietet. Gegen die rein grammatikalische Schwierigkeit der Schrift schlägt Flacius im 2. Teil eine Reihe von Heilmitteln (remedia) vor. Flacius schwebt damit eine strikt immanente Deutung der Schrift, nämlich durch das He­ranziehen von Parallelstellen vor, gleichsam als Konkretion der lu­therischen Einsicht, dass die Schrift sui ipsius interpres sei. Wie die meisten Anweisungen, die Flacius gibt, findet sich das Prinzip der Parallelstellen bereits bei Augustinus. Flacius beruft sich im Übrigen häufig auf die Autorität des Augustinus und anderer Kirchenväter, wohl aus dem ihn kennzeichnenden57 Bestreben heraus, das Neue des Protestantismus durch Aufweis von Vorgängern als alt und damit als wohlbegründet nachzuweisen. Von Melanchthon über­nimmt er auch die aus der alten Rhetorik stammende Scopus-Lehre. Dabei verwendet er oft die platonische Metapher des Textes als eines organischen Körpers: "Es ist nämlich unmöglich, dass irgend­etwas vernünftig geschrieben ist, was nicht einen sicheren Gesichts­punkt und eine gewisse Körperlichkeit (um es so auszudrücken) aufweist und bestimmte Teile oder Glieder in sich umfasst, die nach gewisser Ordnungsweise und gleichsam Proportion sowohl unter­einander als auch mit dem ganzen Körper, und zumal mit ihrem Ge­sichtspunkt, verbunden sind. "58 Obwohl es als der erste wirkliche Hermeneutik-Traktat des Protestantismus gelten darf, zeigt das Lehrbuch von Flacius doch Kompendiumcharakter. Die Nützlich­keit seines Bibellexikons und seine glückliche Zusammenstellung hermeneutischer Regeln aus vielen Traditionen der Patristik und des Luthertums ließen es zum Grundbuch der altprotestantischen Hermeneutik bis hin zum späten 18. Jh. werden.59

Im Sog dieser Tradition konnte das Auftauchen des Begriffs her­meneutica nicht mehr lange auf sich warten lassen. Er begegnet zum ersten Mal bei dem Straßburger Theologen J. C. Dannhauer, der mit seiner Hermeneutica sacra von 1654 auch als Erster ein Buch unter dem Titel "Hermeneutik" verfasste. Den Neologismus hermeneutica hatte er jedoch viel früher, und zwar erstmals in seinen Rhetorik­Vorlesungen von 1629 verwendet.60 Aufgabe der Hermeneutik, wie er 1630 in seiner Programmschrift Idea boni interpretis ausführte, ist es, bei dunklen, aber einsehbaren Stellen den wahren vom falschen

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Sinn zu scheiden. In der Hermeneutik geht es allein um den inten­dierten Sinn, nicht um die sachliche Wahrheit selber, mit der sich die Logik beschäftigt. Die Notwendigkeit einer Hermeneutik, die den sensus des Ausgedrückten zu bestimmen hat, erläutert Dannhauer durch einen ausdrücklichen Hinweis auf die Erfindung der Typogra­phie und die damit einhergehende Verbreitung des schriftlich fixier­ten Deutbaren.61 Wie die Logik gehört eine solche Wissenschaft in die Propädeutik allen Wissens. Das bedeutet, dass sie in allen höhe­ren Fakultäten (Theologie, Recht, Medizin) Anwendung wird finden können. Damit erlangt die Hermeneutik eine der Logik und der Grammatik vergleichbare Allgemeinheit. 62 Dies verdient eigens hervorgehoben zu werden, denn oft wird Schleiermacher das Ver­dienst zugesprochen, als Erster eine allgemeine Hermeneutik ent­faltet zu haben, die aller speziellen Hermeneutik voranstünde. Die­ser Sicht hat Schleiermacher selber das Wort geredet, als er gleich zu Beginn seiner Notizen zur Hermeneutik glaubte bemerken zu müs­sen: "Die Hermeneutik als Kunst des Verstehens existiert noch nicht allgemein, sondern nur mehrere spezielle Hermeneutiken. "63 Origi­nell ist bei Schleiermacher, wie wir sehen werden, eine neue Wen­dung in der Selbstreflexion des Verstehens, nicht jedoch die Trans­zendierung der speziellen Hermeneutiken auf eine allgemeine Hermeneutik hin.

Eine weitere brisante Frage ist, inwiefern man in Dannhauers Konzept die Krönung der Idee der Hermeneutik erblicken darf. Für diese Sicht der Dinge hat insbesondere H.-E. Hasso Jaeger in sei­nem äußerst gelehrten, aber stark polemischen Aufsatz von 1974 plädiert. Das Geschäft einer streng wissenschaftlichen Hermeneutik würde allein in der Sinnerschließung des Gedachten unabhängig von dessen sachlichen Wahrheits anspruch bestehen. Hasso Jaeger hat einen solchen eng gefassten, gleichwohl Allgemeinheit heischen­den Hermeneutik-Begriff gegen modernere, seiner Ansicht nach verschwommene und relativistische Hermeneutik-Konzeptionen auszuspielen versucht. In zwei wichtigen Erwiderunen von 1976 hat Gadamer64 Hasso Jaeger eine mangelnde Berücksichtigung der Rhetorik vorgeworfen.65 Dies führt Gadamer zur Frage, ob man einen Sinn erschließen könne, ohne seinen Wahrheits anspruch auf uns mit in Rechnung zu stellen: "Es ist in Wahrheit eine verkürzen­de Perspektive, wenn man die Aufgabe der Interpretation von Tex­ten unter das Vorurteil der Theorie der modernen Wissenschaft und unter den Maßstab der Wissenschaftlichkeit stellt. Die Aufgabe des Interpreten ist in concreto niemals eine bloße logisch~teCchnische Er-

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mittlung des Sinnes beliebiger Rede, bei der von der Frage der Wahrheit des Gesagten ganz abgesehen würde. "66

Ein weiterer moderner Hermeneut, Odo Marquard, hat neuer­dings Dannhauers Erfindung des Wortes hermeneutica in den Kontext des Dreißigjährigen Krieges gestellt.67 Dieser Krieg sei ein "Bürgerkrieg um den absoluten Text" gewesen, der zwei hart­näckige, Recht haben wollende Hermeneutiken entgegengesetzt habe. Grundannahme der Krieg führenden Hermeneutiken sei es, dass der hl. Text nur einen Sinn haben könne. In beiden Fällen habe man es mit einer "singularisierenden" Hermeneutik zu tun. Dann­hauers Einführung des Begriffs hermeneutica nach diesem frucht­losen Bürgerkrieg um den einen Sinn der Hl. Schrift würde das Aufkommen einer anderen, pluralisierenden Hermeneutik signali­sieren: "Der Augenblick, in dem die singularisierende in die plurali­sierende Hermeneutik umkippte, kam erst dort, wo dieser herme­neutische Streit blutig wurde, und zwar generationenwierig: im konfessionellen Bürgerkrieg, der - zumindest auch - ein hermeneu­tischer Krieg war: ein Bürgerkrieg um den absoluten Text. "68 Anstatt Blut zu vergießen über die Einheitlichkeit des Sinnes ("Die Recht­haberei des Wahrheits anspruches der eindeutigen Auslegung des absoluten Textes kann tödlich sein"69), trete eine unter dem Prinzip hermeneutica initiierte Denkweise für die Annahme der Pluralität der Sinnesdeutung. Marquards Suggestion ist freilich eine Moderni­sierung, denn Dannhauer vertrat wie wohl seine meisten Zeitgenos­sen und unmittelbaren Nachfolger eine "singularisierende" Herme­neutik. Dennoch weist Marquard mit Recht darauf hin, dass das "Prinzip Hermeneutik", wie es wohl erst im 20. Jahrhundert zum Durchbruch kam, einen gelasseneren, toleranten Umgang mit der Pluralität der Auslegungen zur Konsequenz hat.

Dannhauers Entwurf einer allgemeinen Hermeneutik fand zahl­reiche Nachfolger im Rationalismus, etwa bei J. Clauberg und G. F. Meier. Die wichtigste allgemeine Hermeneutik der Aufklärung wurde die von J. M. Chladenius (1710-1759) verfasste Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften (1742). Die all­gemeine Hermeneutik wird weiterhin parallel zur Logik als der andere große Bereich menschlicher Wissensleistung angesetzt. Die Tätigkeiten der Gelehrten lassen sich nämlich in zwei Grundsparten einteilen: Zum Teil vermehren sie die Erkenntnis durch Selbstden­ken und ihre eigenen Erfindungen, zum anderen aber sind sie mit dem beschäftigt, "was andere vor uns nützliches oder anmuthiges gedacht haben, [ ... ] und geben Anleitung, derselben Schriften und

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Denkmale zu verstehen, das ist, sie legen aus"70. Für beide Möglich­keiten des Wissens, die ihre eigenen Verdienste und Abwege haben, gibt es zwei Arten wissenschaftlicher Regeln. Die ersten lehren uns, richtig zu denken und machen die "Vernunftlehre" aus, während die Regeln, die uns richtig auszulegen helfen, die allgemeine Auslege­Kunst, die Chladenius auch "philosophische Hermeneutick" nennt, beschäftigen. Bei der Auslegung geht es vornehmlich darum, die zum richtigen Verständnis notwendigen Hintergrundkenntnisse her­beizuschaffen: "Auslegen ist daher nichts anderes, als diejenigen Be­griffe beybringen, welche zum vollkommenen Verstand einer Stelle nöthig sind." Dabei weist Chladenius mit Nachdruck auf die Bedeu­tung des "Sehe-Punktes" hin, den er ausdrücklich Leibniz' Perspek­tivenlehre entlehnt. Von der Sache her erinnert dieser Begriff offen­bar an die ältere Scopus-Lehre der Rhetorik und der Hermeneutik. Dennoch weist er zunehmend subjektivische Konturen auf: "Die­jenigen Umstände unserer Seele, unseres Leibes und unserer ganzen Person, welche machen oder Ursache sind, dass wir uns eine Sache so und nicht anders vorstellen, wollen wir den Sehe-Punckt nennen."

Die subjektiven Zustände der Seele spielen auch in den pietisti­schen Hermeneutiken des 18. Jh. eine wichtige Rolle. Gegen die lo­gisch-scholastische Ausrichtung der protestantischen Orthodoxie will der Pietismus der affektiven Dimension der Interpretation zu ihrem Eigenrecht verhelfen. Er konnte sich dabei auf die rhetori­sche Affektenlehre berufen. Jede Rede, so lehrt 1. 1. Rambach in sei­nen einflussreichen Institutiones hermeneuticae sacrae von 1723, ist die Übertragung eines Affektes. Man kann "unmöglich die Worte eines scriptoris gründlich einsehen und erklären [ ... ], wenn man nicht weiß, was für Affekte in seinem Gemüt damit verbunden ge­wesen, da er diese Worte gesprochen"71. Der Affekt ist dabei nicht eine Begleiterscheinung, sondern auch "anima sermonis cc

, die Seele der Rede,72 Wer etwa die Hl. Schrift richtig verstehen will, muss auf dieses Affektive hin zielen. Diese rhetorisch-affektive Dimension der Hermeneutik ist in der pietistischen Applicatio-Lehre sehr klar zu erkennen. Die Aufgabe der Hermeneutik ging traditionell in der doppelten Ausübung des intelligere (Verstehen) und explicare (Er­klären) auf. Das 18. Jh. sprach hier von einer subtilitas intelligendi et explicandi. Ein Interpret muss seinen Text zunächt verstehen und dann erklären können. Das war dem Pietismus nicht genug oder noch zu intellektuell. Dem Interpreten muss es auch um die applica­tio des Verstandenen gehen. Dem Pietismus war die rhetorische

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Herkunft dieser applicatio bewusst. Eine erfolgreiche Interpretation muss auch die Hörer durch unmittelbare Anwendung für sich ge­winnen, d.h. überzeugen. Diese Applicatio-Lehre fand ein bedeut­sames Echo in einem zentralen Kapitel von Gadamers Wahrheit und Methode (1960), das anhand der Anwendung, wie sie von der pie­tistischen Hermeneutik thematisiert wurde, das hermeneutische Grundproblem wiederzugewinnen versuchte,73 Bei Gadamer ist freilich die Applikation "nicht eine bloße Anwendung des Verste­hens, sondern dessen wahrer Kern"74. Jedes gelungene Verstehen ist von Hause aus ein auf uns angewendetes. Gadamer folgt dabei Hei­degger, dem zufolge Verstehen stets ein Sich-Verstehen impliziert.

Die reflexive Dimension des Verstehens wird auch in der Epoche machenden Hermeneutik von Friedrich Schleiermacher (1768-1834) ein zentrales Moment sein. Wie gesehen, lässt sich dessen ori­gineller Beitrag zur Hermeneutik nicht allein darin erblicken, den partikulären Hermeneutiken eine allgemeine Hermeneutik voran­zustellen. Schleiermachers Originalität liegt vielmehr in der spezifi­schen Ansetzung dieser Hermeneutik als einer "Kunstlehre des Ver­stehens". Er trifft eine folgenreiche Unterscheidung zwischen einer laxeren und einer strengeren Praxis der Interpretation. Die laxere (in der bisherigen Hermeneutikgeschichte übliche) Praxis geht davon aus, "dass sich das Verstehen von selbst ergibt, und drückt das Ziel negativ aus: Missverstand soll vermieden werden". Schleiermacher spielt hierbei auf die herkömmliche Stellenhermeneutik an, die An­leitungen zum Verständnis von dunklen Stellen (ambigua, obscura) vermitteln wollte. Schleiermacher selbst zielt hingegen auf eine strengere Praxis ab, die eher davon auszugehen hätte, "dass sich das Missverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muss gewollt und gesucht werden"75. Was hier "laxere" Praxis ge­nannt wird, wird mit einem kunstlosen Verfahren gleichgesetzt,76 Die Hermeneutik als Kunstlehre hat die Aufgabe, kunstgemäße Re­geln zu entwickeln, um das vom Missverständnis ständig bedrohte Verstehen möglichst sicherzustellen: "Das Geschäft der Hermeneu­tik darf nicht erst da anfangen, wo das Verständniss unsicher wird, sondern vom ersten Anfang des Unternehmens an, eine Rede ver­stehn zu wollen. "77 So verlangt Schleiermacher: "Die hermeneuti­schen Regeln müssen mehr Methode sein. "78 In diesem "mehr Me­thode" liegt nahezu der Wahlspruch der modernen Hermeneutik, die Schleiermacher einführt. Damit gewinnt die Kunst des Verste­hens eine betont rekonstruktive Funktion. Um eine Rede richtig zu verstehen, muss ich sie möglichst von Grund auf in ihrer eigenen

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Konsistenz rekonstruieren. Daher kommt Schleiermachers berühm­tes Diktum (von dem es verschiedene Fassungen gibt), wonach es gelte, "die Rede zuerst ebenso gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber"79. Schleiermacher-Kritiker wie Gadamer haben in solchen Formulierungen den Einfluss des neuzeitlichen Methoden­denkens gewittert. So unbestreitbar das erscheinen mag, so darf die rhetorische Herkunft und Tragweite derartiger Formeln nicht in Vergessenheit geraten. In der Rhetorik und lange vor der Methodik der Neuzeit ging es immer darum, eine Rede zu konstruieren (dispo­sitio). Schleiermacher ist sich über diese Zusammenhänge völlig im Klaren, wie er ausdrücklich feststellt: "Die Zusammengehörigkeit der Hermeneutik und Rhetorik besteht darin, dass jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, indem in das Bewusstsein kommen muss, welches Denken der Rede zum Grunde gelegen. "80 Insofern ist "die Auslegungskunst von der Komposition abhängig".81 Schleiermacher erweist sich damit weniger als ein Sohn neuzeitlicher Wissenschaftlichkeit als ein (bewusster) Erbe antiker Rhetorik.

So kann es nicht verwundern, dass Schleiermacher auf den Zirkel­verlauf des Verstehens zu sprechen kommt. Dies geschieht in seinen Berliner Akademiereden von 1829, "Über den Begriff der Herme­neutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch", allerdings seiner einzigen öffentlichen Stellungnahme zur Herme­neutik (die Notizen aus seinen Heften und Vorlesungen zur Her­meneutik wurden postum veröffentlicht). Friedrich Ast hatte in seinen Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik (Lands­hut 1808) diese Zirkularität, deren rhetorischer Charakter schon bei Melanchthon und Flacius erkannt war, zu einem Grundprinzip der Hermeneutik erhoben: "Das Grundgesetz alles Verstehens und Er­kennens ist, aus dem Einzelnen den Geist des Ganzen zu finden und durch das Ganze das Einzelne zu begreifen. "82 Der Schelling­Schüler Ast hatte jedoch diesem Zirkel eine idealistische Wendung gegeben. Das Ganze, aus dem sich das Einzelne begreifen lasse, sei ein idealistischer Geist, der sich durch alle Epochen der Menschheit hindurch erstreckte. So lasse sich ein griechisches Werk aus dem Ganzen des antiken Geistes und dieses wiederum aus dem allumfas­senden Geist heraus verstehen. Diese idealistische Potenzierung dessen, was später hermeneutischer Zirkel genannt wird, ist Schlei­ermacher zu überschwänglich. So bemüht er sich, die Zirkelbewe­gung nach zwei Endrichtungen, nämlich nach der objektiven Seite der Literaturgattung und der subjektiven Seite der schaffenden In-

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dividualität hin zu begrenzen: "Es ist leicht zu sehen, dass jedes Werk in zweifacher Hinsicht ein solches Einzelnes ist. Jedes ist ein Einzelnes in dem Gebiet der Literatur, dem es angehört, und bildet mit andern gleichen Gehaltes zusammen ein Ganzes, aus dem es also zu verstehen ist in der einen Beziehung, nämlich der sprach­lichen. Jedes ist aber auch ein Einzelnes als Tat seines Urhebers und bildet mit seinen anderen Taten zusammen das Ganze seines Le­bens, und ist also nur aus der Gesamtheit seiner Taten [ ... ] zu ver­stehen. "83 Es ist schwer zu sagen, inwieweit Schleiermacher in dieser Zirkularität bereits ein gravierendes epistemologisches Problem er­kennt. Auch bei ihm scheint die Zirkelstruktur noch rein deskriptiv gehalten zu sein. Sie beschreibt das ständige Hin und Her des zir­kulär verfahrenden Verstehens, das Schleiermacher konsequent als eine "unendliche Aufgabe" hinstellt. Dass er jedoch von "Aufgabe" spricht, zeugt von einem aufkeimenden epistemologischen Problem­bewusstsein, das noch ungelöst bestehen bleibt: "Jede Lösung der Aufgabe erscheint uns hier immer nur als eine Annäherung. "84

Diese zweifache Ausrichtung des Zirkels nach der sprachlichen und individuellen Seite hin entspricht übrigens der thematischen Einteilung der Hermeneutik Schleiermachers in eine grammatikali­sche und eine psychologische. Während sich die erste um den Ge­samtzusammenhang der sprachlichen Gattung kümmert, geht es der psychologischen Interpretation um das Verständnis der individuel­len Seele. Als Mittel der Interpretation nennt Schleiermacher die komparative Methode,85 die in der sprachlich-grammatikalischen Deutung maßgebend ist, und die "divinatorische", die bei der psy­chologischen Interpretation überwiegen muss. Dass Schleiermacher an dieser psychologischen Interpretation besonders lag, lehrt seine späte Definition der hermeneutischen Tätigkeit: "Die Aufgabe der Hermeneutik [besteht] darin, den ganzen inneren Verlauf der kom­ponierenden Tätigkeit des Schriftstellers auf das Vollkommenste nachzubilden. "86 Selbst wenn neuere Interpreten (insbesondere M. Frank87) zu Recht an das Eigengewicht der grammatikalischen Interpretation erinnert haben, ist es die psychologische Orientie­rung der Hermeneutik Schleiermachers, die am stärksten auf die Nachwelt (positiv bei Dilthey, negativ bei Gadamer) gewirkt hat.

In der unmittelbaren Nachfolge von Schleiermacher steht das Werk seines Schülers August Boeckh (1785-1867), der Altertums­wissenschaftler war. In seinen Vorlesungen zur Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften entwickelte er eine einflussreiche "Theorie der Hermeneutik". Ihr Ertrag war es,

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der Hermeneutik (neben der Kritik) methodologische Grundlagen­funktion bei der Selbstbesinnung der philologischen Wissenschaften zuzuerkennen. Von da aus wird es nur noch ein leichter Schritt sein, ihre methodologische Kompetenz auf die Historie (der Sache nach bei Droysen) und schließlich alle Geisteswissenschaften (bei Dil­they) auszudehnen. Es ist nämlich fraglich, ob Schleiermacher, der gleichwohl die begrifflichen Grundlagen dafür gelegt hatte, eine derartige methodologische Funktion der Hermeneutik im Auge hatte, zumal für ihn die Problematik der im 19. Jh. entstandenen Geisteswissenschaften und ihrer Beziehung zu den Naturwissen­schaften kein Thema war. Erst bei Boeckh wird ein solches erkennt­nistheoretisches Bedürfnis nach "geisteswissenschaftlicher" Me­thodologie richtig spürbar. In der Tradition humanistischer Al­tertumswissenschaft geschult, ist Boeckh die von Schleiermacher herausgestellte Zusammengehörigkeit von Rhetorik und Herme­neutik noch sehr präsent. Sie lässt sich unmissverständlich heraus­hören aus seiner berühmten Definition des philologischen Verste­hens als eines "Erkennens des vom menschlichen Geist Producier­ten, d.h. des Erkannten"88. Das Verstehen ist die Wiederaneignung des in schriftlich fixierten Denkmälern niedergelegten Geistes, also die Umkehrung des Aktes der Elokution.89 Auch für Boeckh lässt sich der hermeneutische Zirkel "nie vollständig vermeiden"90. Da­raus ergibt sich nur, dass der Auslegung "Grenzen gesteckt"91 sind, die damit zusammenhängen, dass das Erkennen des Erkannten stets approximativ bleiben muss.

1. G. Droysen (1808-1884) folgt dem Muster seines Lehrers Boeckh, wenn er seine Vorlesungen zur Enzyklopädie und Metho­dologie der Geschichte hält, die später in einem Grundriss unter dem Titel Historik erscheinen werden. Dennoch spielt überraschen­derweise bei ihm der Begriff der Hermeneutik so gut wie keine Rolle. Seine "Theorie der Interpretation" bildet auch nur ein ent­legenes Kapitel in seiner Historik. Dafür verwendet er den Begriff des Verstehens häufig und in einer neuartigen Weise, indem er es dem "Erklären" der Naturwissenschaften entgegenstellt. Neu ist vor allem diese Entgegensetzung. Früher, etwa in der oben gesehenen Lehre von den subtilitates, gestalte sich das Verhältnis des Verste­hens (intelligere) und des Erklärens (explicare) als ein komple­mentäres: Das Verständnis muss auch in der Lage sein, das Verstan­dene zu erklären. Bei Droysen hingegen bezeichnen Verstehen und Erklären die jeweiligen und spezifischen Verfahren der Geistes- und der Naturwissenschaften. Erklärt wird eine gegebene Tatsache

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durch Rückführung auf ein allgemeines Gesetz. Verstanden wird un­terdessen ein Sinn, der aber nicht unmittelbar gegeben ist und sich nur in Ausdrücken zu erraten gibt. Das Verstehen hat es also über­haupt nicht mit Tatsachen, sondern mit dem, was hinter den Tatsa­chen liegt, zu tun: "Es heißt die Natur der Dinge, mit denen unsere Wissenschaft beschäftigt ist, verkennen, wenn man meint, es da mit objektiven Tatsachen zu tun zu haben. Die objektiven Tatsachen lie­gen in ihrer Realität unserer Forschung gar nicht vor. "92 Historisches Verstehen ist "forschendes Verstehen" in dem präzisen Sinne, dass es stets hinter das Gegebene, etwa die erhaltenen Zeugnisse der Ver­gangenheit, zurückbohren muss, um zu einem Sinn vorzudringen, der sich aber nie dinghaft geben lässt. So ist der verstehende Forscher an der Gestaltung seines eigenen Gegenstandes mit beteiligt.

Die recht tastenden methodologischen Bemühungen des 19.Jh., in denen wohlgemerkt die Hermeneutik meist eine sekundäre Rolle als Hilfsdisziplin der Philologie (neben der Grammatik und der Kri­tik) spielt, münden in das Werk von Wilhelm Dilthey (1833-1911) ein. Seine Lebensaufgabe war die einer Methodologie der Geistes­wissenschaften, die er unter dem Leitstern einer "Kritik der histori­schen Wissenschaften" heraufbeschwor. Prüft man die vorhandenen Quellen seines verstreuten Werkes genau darauf hin, ist es schwierig auszumachen, ob, inwiefern und ab welchem Zeitpunkt die Herme­neutik einen Beitrag zu dieser Methodologie leisten soll. Die Her­meneutik wird z. B. kein einziges Mal im ersten historischen Band seiner "Einleitung in die Geisteswissenschaften" von 1883 (den zweiten, systematischeren Band befördert er nie zum Druck) er­wähnt. Die Grundlage der Geisteswissenschaften scheint Dilthey in dieser mittleren Periode seines Denkens eher in einer (allerdings "verstehenden") Psychologie zu sehen. Die Beschäftigung mit der Hermeneutik liegt vielmehr am Anfang und am Ende seines Denk­weges. Seine Dissertation und seine ersten Forschungen waren Schleiermacher gewidmet. Seine von der Schleiermacher-Stiftung geförderte, auch nach heutigen Maßstäben erstaunlich gelehrte Ju­gendarbeit über "Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen Her­meneutik" (1860) ließ er unveröffentlicht. Er plante damals eine Schleiermacher-Biographie, von der nur der 1. Band erschien. Den angekündigten zweiten, systematisch angelegten Band veröffentlichte er nie. Erst am Ende seines Lebens kam er auf Schleiermacher und die Hermeneutik zurück: zunächst in seinem wichtigen Vortrag von 1900 "Über die Entstehung der Hermeneutik"93 und in seinem letz-

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ten programmatisch-fragmentarisch gelassenen Werk: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (191094). Hauptsächlich aus diesen zwei Quellen ergeben sich zwei distinkte Hermeneutik-Konzepte beim späten Dilthey, soweit man von ausge­arbeiteten Entwürfen sprechen darf: Hermeneutik steht erstens - im Vortrag von 1900 - für den Entwurf einer wissenschaftlichen Me­thodologie der Geisteswissenschaften und zweitens - in den im Band VII seiner Gesamten Schriften versammelten Studien über den Aufbau der geschichtlichen Welt - für eine allgemeine Philoso­phie des geschichtlichen Lebens, von dem die Geisteswissenschaften lediglich der beredtste Ausdruck sind. Es steht aber so gut wie fest, dass Dilthey selber diese allgemeine Lebensphilosophie nie Herme­neutik genannt oder als hermeneutisch qualifiziert hat. Unzweifel­haft ist freilich, dass Dilthey in seiner Schule so gewirkt hat. Sein Schüler Georg Misch war es vor allem, der die Arbeiten des späten Dilthey als Vorbereitungen einer hermeneutischen Philosophie aus­gab. So wurde in den 20er-Jahren Hermeneutik zu einem Mode­wort für eine Philosophie der Geschichtlichkeit, an die ein Autor wie Heidegger sich anlehnen konnte. In Diltheys Texten überwiegt indes ein noch rein technisches Verständnis von Hermeneutik (meist erörtert als philologische Grunddisziplin neben der Kritik). Im Zeitalter des Historismus wächst natürlich einer normativen Disziplin wie der Hermeneutik "eine neue bedeutsame Aufgabe" zu, die Dilthey darin sah, "die Sicherheit des Verstehens gegenüber der historischen Skepsis und der subjektiven Willkür" zu verteidi­gen.95 So formulierte Dilthey das Programm, das an sein Vorhaben einer Methodologie der Geisteswissenschaften gemahnt: "Gegen­wärtig muss die Hermeneutik ein Verhältnis zu der allgemeinen er­kenntnistheoretischen Aufgabe aufsuchen, die Möglichkeit des Wis­sens vom Zusammenhang der geschichtlichen Welt darzutun und die Mittel zu seiner Verwirklichung aufzufinden. "96 Dilthey geht von Schleiermachers Ansetzung des Verstehens als eines "Vorganges, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen" aus und definiert die Hermeneutik als eine "Kunstlehre des Verstehens schriftlich fixierter Lebensäußerun­gen"97. Sie könnte für alle Geisteswissenschaften Relevanz erlan­gen, sofern allen dieselbe "Richtung auf die Selbstbesinnung" hinter den fixierten Ausdrücken gemeinsam ist: In allen Verstehensakten - somit in allen Geisteswissenschaften - geht es darum, hinter dem Ausgedrückten das innere Gespräch der Seele, wie Platon das Den­ken nannte, zu erreichen. Dilthey hat selber eine Kunstlehre solchen

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Verstehens nicht herausgearbeitet, und es mochte vielen seiner Nachfolger fraglich erscheinen, ob es so etwas gibt. - Eine späte Verwirklichung fand jedoch sein Programm im Werk des italie­nischen Juristen Emilio Betti (1890-1968) unter dem diltheyschen Titel "Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswis­senschaften"98. Für den unmittelbaren Fortgang der Hermeneutik wurde unter Vernachlässigung des ursprünglich methodologischen Vorhabens die radikalisierte Richtung auf die "Selbstbesinnung" zum wesentlichsten Erbe Diltheys.

An Dilthey konnte der junge Heidegger anknüpfen in seinen frühen Vorlesungen um die "Hermeneutik der Faktizität", die die Selbstauslegung des faktischen Menschen zum Thema hatten. Hei­deggers Grundeinsicht ist dabei, dass uns die Welt stets und primär im Modus der Bedeutsamkeit begegnet. In diesem Sinne spricht er von "hermeneutischer Intuition" - dies ist wohl das erste Vorkom­men des Begriffs Hermeneutik in seinem Frühwerk.99 Die Deutun­gen kommen nicht zu den Dingen hinzu, sondern gehören ihnen ur­sprünglich an. So erfährt jedenfalls ein um sein eigenes Sein besorg­tes Dasein meist und zumeist seine "Lebenswelt" . In der langen Vorbereitungsphase seines Hauptwerkes Sein und Zeit (1927) ver­folgte Heidegger das Programm einer dieser sorgenden Bedeutsam­keit nachgehenden Hermeneutik der Faktizität in enger Anlehnung an die alte Rhetorik. So hielt Heidegger im Sommersemester 1924 eine demnächst erscheinende (GA 18) Vorlesung über die Rhetorik des Aristoteles. Eine Erinnerung an diese rhetorische Herkunft der Hermeneutik Heideggers erhält sich noch in Sein und Zeit: "Aristo­teles untersucht die pathe im zweiten Buch seiner ,Rhetorik'. Diese muss - entgegen der traditionellen Orientierung des Begriffs der Rhetorik an so etwas wie einem ,Lehrfach' - als die erste systemati­sche Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins aufge­fasst werden. "100 Damit stellt Heidegger seine Hermeneutik in die direkte Nachfolge der aristotelischen Rhetorik. In Anlehnung an Kants berühmtes Urteil über die formale Logik bemerkt auch Heidegger, dass "die grundsätzliche ontologische Interpretation des Affektiven überhaupt seit Aristoteles kaum einen nennenswerten Schritt vorwärts hat tun können"101.

So wird das Affektive (1927 unter dem Sammelbegriff "Befind­lichkeit" gefasst) zu einem grundlegenden Merkmal, d.h. zum "Existenzial" in der Konstitution des Daseins erhoben. Da "Befind­lichkeit je ihr Verständnis [hat], wenn auch nur so, dass sie es nieder­hält", wird das Verstehen zum zweiten grundlegenden Existenzial

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des Daseins. Der aus den methodologischen Diskussionen des 19.Jh. bekannte Terminus des Verstehens wird damit seines rein ko­gnitiven Charakters entkleidet: "Verstehen ist immer gestimm­tes."102 Wie in der umgänglichen Formel "sich auf etwas verstehen" bedeutet ferner Verstehen ein Können "in der Bedeutung von 'einer Sache vorstehen können', 'ihr gewachsen sein'''103. Im Verstehen geht es vordringlich um ein mögliches Seinkönnen des Daseins: Ver­stehend entwirft sich das Dasein auf Möglichkeiten seiner selbst hin. Da sie aber immer schon faktisch vollzogen werden, bleiben diese Verstehenshorizonte meist unthematisch. Das sich auf Mög­lichkeiten entwerfende Verstehen kann sich aber selbst "ausbilden". Diese Selbstaufklärung des Verstehens nennt Heidegger "Aus­legung"104. Dieser selbstkritische Auslegungsbegriff führt unmittel­bar zur Problematik des sog. hermeneutischen Zirkels, denn: "Alle Auslegung, die Verständnis beistellen soll, muss schon das Auszu­legende verstanden haben. "105 Dieser circulus sei nicht vitiosus, führt Heidegger aus, weil es die ursprüngliche Aufgabe allen ernst­haften Erkennens sei, sich über die eigenen Voraussetzungen (nach Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff) klar zu werden: "Das Entscheiden­de ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen. "106 Heidegger geht es unverkennbar um eine Sicherung der Verstehensentwürfe "von den Sachen her", wie er sich betont phänomenologisch ausdrückt.107

Die Schwierigkeit einer solchen Aufhellung verbirgt sich jedoch bereits in der Ansetzung des Verstehens als eines Entwerfens. Findet sich nicht das faktische Dasein in Möglichkeiten seiner selbst ge­worfen, über die es nicht ganz Herr werden kann? Diese Einsicht wird infolge einer Kehre im Denken des späten Heidegger zu einer Radikalisierung der geworfenen Endlichkeit des Daseins führen. 108

Nunmehr wird eine epochale "Seinsgeschichte" zum Ursprung aller Verstehensentwürfe. Heidegger wird dabei konsequent sein herme­neutisches Programm fallen lassen, weil es zu sehr um das mensch­liche Dasein zu kreisen schien und damit den neuzeitlichen Sub­jektivismus zu befestigen drohte. Selbst wenn Heideggers spätes Seinsdenken manchen abstrus oder unnachvollziehbar vorkommen mag, lassen sich doch hermeneutische Lehren aus seiner Radikali­sierung der geschichtlichen Geworfenheit und ihrer Überwindung des modernen Subjektivismus ziehen. Bei Heidegger selber sind sie in der Hinwendung zum Selbstgespräch der Sprache (Unterwegs zur Sprache, 1959) und zur Kunst als "Ins-Werk-Setzen der Wahrheit" (Vom Ursprung des Kunstwerkes, 1935) bereits augenfällig.

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Die rhetorisch gestimmte Hermeneutik von Sein und Zeit fand eine erste Fortpflanzung in den Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik (1936) des Göttinger Phänomenologen Hans Lipps (1889-1941). Aufgabe dieser hermeneutischen Logik ist es, eine pragma­tische Typik der wirklich gesprochenen Rede anstatt eine starre Mor­phologie des Urteils zu entwickeln. Die klassische Logik hätte näm­lich immer vernachlässigt, dass eine jede Rede dazu da ist, um "je­mandem etwas zu erkennen zu geben". Die Wahrheit einer Rede haftet also nicht an der Aussage selber,109 sondern an der Situation, in der eine Bemerkung für jemanden aufschlussreich wirkt. "Lipps will den Anderen, dem ich etwas zu erkennen gebe, von Anfang an in die Bestimmung des Logos mit hineinnehmen. "110 In dieser hermeneu­tischen Logik wird allgemein eine Antizipation der Sprechakttheorie von Searle und Austin gepriesen. Ihre Destruktion der herkömm­lichen Logik im Namen eines situationsbezogenen pragmatischen Wahrheitsbegriffs lässt sich aber ursprünglicher noch aus dem bis Heidegger verdrängten Erbe der Rhetorik heraus verstehen.

Hans-Georg Gadamer wird die Einsichten des späten Heidegger in die geschichtliche Geworfenheit des Daseins mit ihrem herme­neutischen Ausgangspunkt zurückzubinden versuchen. In seiner bahnbrechenden Synthese der Hermeneutik-Tradition nimmt er aber auch den Faden der von Dilthey entfachten Diskussionen um die hermeneutisch-methodologische Eigenart der Geisteswissen­schaften wieder auf. Seit dem 19.Jh. in eine defizitäre und defensive Position gegenüber den Naturwissenschaften gedrängt, hatten die Geisteswissenschaften ihre wissenschaftliche Respektabilität durch eine Methodenreflexion zu erringen gehofft. Dagegen macht Gada­mer geltend, "dass der Begriff der Methode als Legitimationsinstanz der Geisteswissenschaften unangemessen ist. Es geht hier nicht um die Behandlung eines Gegenstandsgebietes durch unser Verhalten. Die Geisteswissenschaften, für die ich eine Lanze breche, indem ich ihnen eine angemessenere theoretische Rechtfertigung anbiete, gehören vielmehr selber in den Erbgang der Philosophie. Sie unter­scheiden sich von den Naturwissenschaften nicht nur durch ihre Verfahrensweisen, sondern auch durch ihre vorgängige Beziehung zu den Sachen, durch die Teilhabe an der Überlieferung, die sie immer wieder neu für uns zum Sprechen bringen. "111 Bis Kant konnten sich die Wissenschaften vom Menschen (oder humaniora) noch aus den Grundanliegen des rhetorischen Humanismus heraus verstehen. In ihnen ging es in der Tat um die Bildung des Menschen, die Kultivierung des Geschmacks, der Urteilskraft und des sensus

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communis, die ebenso viele Wissensmöglichkeiten darstellen, die sich aber keinesfalls methodisieren lassen. Nach Gadamer hat je­doch Kant diesen Instanzen einen Wahrheits anspruch abgespro­chen, weil sie den strengeren Standards der exakten Wissenschaften nicht genügen. Was diesen Kritierien nicht standhält, genießt nur noch eine rein subjektive Geltung. So standen die Geisteswissen­schaften vor der fatalen Alternative zwischen der ästhetischen Tri­vialisierung und der Anlehnung an die methodischen Wissenschaf­ten. Um dieser falschen Alternative entgegenzuwirken, versucht Gadamer eine den Geisteswissenschaften gerecht werdende Her­meneutik auszuarbeiten. Gegen das methodische Ideal der Selbst­auslöschung des Interpreten wird Gadamer mit Heidegger die posi­tive Bedeutung der Geschichtlichkeit und gar der Vorurteils struktur des Verstehens hervorheben. Er erhebt sich gegen die von der Auf­klärung propagierte Diskreditierung der Vorurteile als eine weitere, vom Methodenbewusstsein nahe gelegte Abstraktion. Ein totaler Neuanfang steht unserer geschichtlichen Vernunft nicht zu. Die Ge­schichtlichkeit bildet kein Hindernis, sondern vielmehr eine Bedin­gung des Verstehens. Die Zugehörigkeit zu einer in uns wirkenden Geschichte ermöglicht es ferner, wahre von falschen Vorurteilen zu scheiden. Das vom 19.Jh. stolz entwickelte "historische Bewusstsein" ist nicht derart ein Novum, dass es diese Wirkungs geschichte unter­brechen würde. Es ist durch ein "wirkungsgeschichtliches Bewusst­sein" zu ergänzen, das sich als Ergebnis einer mitzureflektierenden, aber nie in eine volle Transparenz zu überführenden Geschichte weiß. Das individuelle Verstehen "ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungs geschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegen­wart beständig vermitteln"112. Die scheinbare Passivität dieses Ver­stehensbegriffs schränkt Gadamer daduch ein, dass er eine kon­trollierte Vollstreckung dieser Verschmelzung von Gegenwart und Vergangenheit anmahnt. Den kontrollierten Vollzug der Horizont­verschmelzung, kraft dessen man sich der eigenen Fragesituation be­wusst wird, bezeichnet Gadamer als "die Wachheit des wirkungs ge­schichtlichen Bewusstseins"l13. Die den Geisteswissenschaften ange­messene Hermeneutik ist folglich nicht von einer szientistischen oder historistischen Methodologie, sondern aus einer Logik von Frage und Antwort zu erwarten: Aus der Zugehörigkeit zu einer Tra­dition, einer historischen Situation und einer Fragestellung heraus ergeben sich die Wahrheits ansprüche, die in den Geistswissenschaf­ten debattiert werden. Die Dialektik von Frage und Antwort ist

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gleichwohl nicht als ein autonomes Spiel des forschenden Subjektes zu missdeuten. Es wird gezielt vom platonischen und hegeischen Mo­dell aus als ein Geschehen gedacht, an dem wir nur teilhaben,114

Gadamers Dialogik von Frage und Antwort wird eine Universa­lisierung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache in die Wege leiten. Dass jede Wahrheit eine Antwort auf eine situierte Frage ver­körpert, ist nicht bloß eine Besonderheit der Geisteswissenschaften. Es ist vielmehr ein Proprium unserer sprachlichen Welterfahrung überhaupt. Es gilt aber, auch hier eine szientistisch motivierte Ab­straktion zu vermeiden: den Vorrang der Aussage, die sich einer me­thodischen, isolierenden Behandlung unterwerfen lässt. Gadamers Hermeneutik der Sprachlichkeit weiß sich in einem "äußersten Ge­gensatz"1l5 zu diesem Begriff der Aussage, der insofern abstrakt ist, als er das Gesagte von seinem Motivationshorizont, d. h. von der Frage oder der Situation, auf die es die Antwort ist, abzukoppeln droht. So bemüht sie sich, Sprache von ihrem dialogischen Boden aus zu thematisieren. Eine Ahnung davon hat sich vor allem in der augustinischen Verbumslehre gerettet, die das geäußerte Wort als die prozessuale Verlautbarung eines inneren Wortes zu hören ver­stand. Diese universale Dimension unserer Sprachlichkeit, ihr Rück­verweis auf Vorhergehendes und Darüberhinausgehendes, nennt Gadamer auch "spekulativ". Das Wort leitet sich aus der Spiegelme­tapher (lat. speculum) her: Im Gesagten spiegelt sich immer eine Unendlichkeit von Sinn wider, die dialogisch mitgehört und -voll­zogen werden will. Dieses Element der Sprache betrifft auch einen universalen Aspekt der Philosophie, wie Gadamer am Ende seines Werkes andeuten wird. Eine Philosophie, die sich aus einem vorgän­gigen Dialog und einer sie möglich machenden Frage oder Unruhe heraus versteht, wird sich auch anders reflektieren müssen, als dies vom herrschenden Methodenparadigma suggeriert wird. Sie wird hermeneutisch sein müssen.

Für diese hermeneutische Selbstbesinnung der Philosophie konn­te sich Gadamer auf das Erbe der Rhetorik berufen: "Woran sonst sollte auch die theoretische Besinnung auf das Verstehen an­schließen als an die Rhetorik, die von ältester Tradition her der ein­zige Anwalt eines Wahrheits anspruches ist, der das Wahrscheinliche, das eik6s (verisimile) , und das der gemeinen Vernunft Einleuchten­de gegen den Beweis- und Gewissheitsanspruch der Wissenschaft verteidigt?"1l6 Es ist freilich nötig, wie Gadamer 1993 schreibt, "der Rhetorik ihre weitreichende Geltung wieder zurück[zu]geben, aus der sie in der beginnenden Neuzeit von der mathematischen Natur-

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wissenschaft und Methodenlehre vertrieben worden ist. Rhetorik meint das Ganze des sprachlich verfassten und in einer Sprach­gemeinschaft ausgelegen Weltwissens."117 Lässt sich Hermeneutik "geradezu als die Kunst definieren, Gesagtes oder Geschriebenes erneut zum Sprechen zu bringen"118, so geht ihr Allgemeinheits­anspruch mit der Universalität der Rhetorik einher,119

Jürgen Habermas knüpfte positiv an Gadamers Begriff der Ver­ständigung bei seiner Ausarbeitung einer linguistisch fundierten So­zialwissenschaft an,120 glaubte jedoch den Universalitätsanspruch der Hermeneutik und dessen zu starke Anlehnung an die Rhetorik ein­grenzen zu müssen. Auf diese Weise spielte die Rhetorik eine zentra­le Rolle in der berühmten Debatte zwischen Hermeneutik und Ideo­logiekritik. So hieß Gadamers erste Erwiderung auf Habermas "Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik" (1967),121 wobei wohl auch Habermas' entflammte Rhetorik der gesellschaftlichen Eman­zipation gemeint war. In seiner Diskussion des hermeneutischen' Standpunktes hat Habermas zur Geltung gebracht, dass "ein schein­bar 'vernünftig' eingespielter Konsensus sehr wohl auch das Ergeb­nis von Pseudokommunikation sein kann"122. Das dialogische Ein­verständnis könne nämlich aus einer ideologisch verschleierten Herrschaftsstruktur resultieren. Kommunikatives, d. h. reflexiv einge­sehenes Einverständnis müsste von einem rein rhetorischen oder strategischen (d. h. manipulativ erzielten) Konsens unterschieden werden. Die Einsicht, dass "jeder Konsensus, in dem Sinnverstehen terminiert, grundsätzlich unter dem Verdacht [steht], pseudokommu­nikativ erzwungen zu sein"123, ist nach Habermas die einer Meta­oder Tiefenhermeneutik, die "Verstehen an das Prinzip vernünftiger Rede, demzufolge Wahrheit nur durch den Konsensus verbürgt sein würde, der unter den idealisierten Bedingungen unbeschränkter und herrschaftsfreier Kommunikation erzielt worden wäre"124, bindet. Damit wird Hermeneutik in Ideologiekritik überführt.

Dagegen konterte Gadamer in einer Replik von 1970: "Ich finde es erschreckend unwirklich, wenn man - wie Habermas - der Rhe­torik einen Zwangscharakter zuschreibt, den man zugunsten des zwangsfreien rationalen Gesprächs hinter sich lassen müsse. Man unterschätzt damit nicht nur die Gefahr der beredten Manipulation und Entmündigung der Vernunft, sondern auch die Chance beredter Verständigung, auf der gesellschaftliches Leben beruht. Alle soziale Praxis - und wahrlich auch die revolutionäre - ist ohne die Funktion der Rhetorik undenkbar."125 Es ist zu bemerken, dass Habermas in seinen letzteren Arbeiten vom rhetorischen Paradigma einer als ge-

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sellschaftlich erweiterten Psychoanalyse gefassten Ideologiekritik etwas Abstand genommen hat. Seit 1981 bemüht er sich um die Ent­wicklung einer Theorie des kommunikativen Handeins und einer daraus zu entwickelnden Diskursethik und Rechtstheorie,126 die immer mehr Anschluss an das in der faktischen Sittlichkeit ein­gespielte Verständigungsmodell sucht. Darin liegt unverkennbar eine Annäherung an die Position der Hermeneutik, die ihm ein Weggefährte wie K.-O. Apel in einem Versuch, "mit Habermas gegen Habermas zu denken", glaubte vorwerfen zu müssen,127

Kritisierte Habermas bei Gadamer eine zu große Anlehnung an die Rhetorik, so monierte die von 1. Derrida ausgegangene Dekon­struktion fast das Gegenteil, nämlich eine Unterschätzung der rhe­torischen Sprachrnacht und die mit ihr einhergehende Untermi­nierung des Wahrheitsbegriffs. Derrida nahm zunächst Anstoß an Gadamers Rede von einem "guten Willen" bei der Verständigungs­suche,128 Liegt nicht darin, so fragte Derrida, ein metaphysischer Rest, nämlich eine Fortsetzung der Metaphysik des Willens? Der weitreichende Vorwurf hat mindestens zwei Implikationen: Es wird gefragt, ob sich dahinter erstens nicht ein totalitärer Aneignungs­wille der Andersheit gegenüber und zweitens ein zu großes Ver­trauen in den prätendierten Sachbezug von Sprache verstecke. Über Heidegger (Metaphysik des Willens) hinaus ist Derrida in dieser Hinsicht Nietzsches und Paul de Mans rhetorischem Sprachver­ständnis verpflichtet. Destruiert wird die Vorstellung, dass Sprache je einen Bezug zu einer feststellbaren Sachlichkeit sichern könne. Kann Sprache überhaupt etwas anderes oder mehr sein als ein rhe­torisches Spiel? In ihrem Beharren auf einem Willen zum Verstehen hätte also die Hermeneutik die Tragweite der von der Destruktion thematisierten Panrhetorik unterschätzt.

Postmoderne Theoretiker wie R. Rorty129 und G. Vattimo130 vertre­ten die Ansicht, dass auch die von Heidegger und Gadamer ausge­gangene Hermeneutik einem solchen Panrhetorismus huldigen müss­te. Von der philosophischen Hermeneutik aus lässt sich jedoch in der relativistischen Verabschiedung eines sachbezogenen Wahrheits­begriffs vielmehr eine stillschweigende Nachwirkung des Historismus und ihres fundamentalistischen Wissenskonzepts wieder erkennen. Sofern die postmoderne Hermeneutik, wenngleich auf negative Weise, dabei allein den kartesianischen, wissenschaflichen Wahrheits­begriff gelten lässt, könnte ihr Panrhetorismus unversehens ein schwer wiegendes Missverständnis der rhetorischen Tradition und ihres Wahrheitsverständnisses für die Hermeneutik verraten.

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11. HEIDEGGERS WIEDERERWECKUNG DER SEINSFRAGE AUF DEM WEG

EINER PHÄNOMENOLOGISCH-HERMENEUTISCHEN DESTRUKTION

,y./ir nehmen 'Sein und Zeit' als den Namen für eine Besinnung, deren Notwendigkeit weit hinaus­liegt über das Tun eines Einzelnen, der dieses Not­wendige nicht 'erfinden', aber auch nicht bewälti­gen kann. Wir unterscheiden daher die mit dem Namen 'Sein und Zeit' bezeichnete Notwendigkeit und das so betitelte 'Buch'. ('Sein und Zeit' als Name für ein Ereignis im Seyn selbst. 'Sein und Zeit' als Formel für eine Besinnung innerhalb der Geschichte des Denkens. 'Sein und Zeit' als Titel einer Abhandlung, die einen Vollzug dieses Den­kens versucht.)"131

Literarisch hat Heidegger sein hermeneutisches Programm allein in der Einleitung zu seinem Hauptwerk Sein und Zeit dargestellt. Diese Einleitung ist aber die Einführung in ein Werk, das wir nicht kennen. Sie versteht sich tatsächlich als die Einführung zu einem Buchprojekt, von dem "nur" zwei Sechstel vorliegen. Zeitgenossen, wenn nicht Heidegger selbst, erwarteten lange die versprochenen Teile, aber das Werk behielt hartnäckig - gleichsam als Dokument eines lehrreichen Scheiterns - seinen "fragmentarischen" Charak­ter. Gewiss kann man versuchen, und es wurde nicht selten getan, die Intentionen der fehlenden Teile zu rekonstruieren,132 Aber das Buch ist - trotz seiner faszinierenden 437 Seiten, die es zu einem der Hauptwerke der philosophischen Literatur des 20. Jahrhunderts werden ließen - faktisch ein Torso geblieben. In die Werkstatt des Werkes bietet allein die Einleitung einen Einblick. Als solche ist sie bereits der erste Kommentar zum faktisch vorhandenen Werk.

In ihr treten auch Schwerpunkte in Erscheinung, die im gedruck­ten Werk eher unterbelichtet erscheinen; Das gilt ganz besonders für die Seinsfrage. Das veröffentlichte Werk (d. h. die Fundamental­analyse des Daseins) wollte sie gewiss vorbereiten, ließ sie aber un­entfaltet. Das verblüffte bereits viele Zeitgenossen: Das Buch schien

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viel mehr vom menschlichen Dasein als vom Sein selbst zu handeln, sei also mehr "Existenzphilosophie" als Ontologie. Heidegger beeil­te sich, darin ein Missverständnis und eine Verkürzung zu sehen, war aber meist redlich genug, einzusehen, dass er bzw. das "frag­mentarisch" gelassene Werk daran schuld war. So mochte er be­dauert haben, den geschriebenen 3. Teil trotz seiner Mängel nicht doch veröffentlicht zu haben, um wenigstens die von ihm angestreb­te Richtung anzuzeigen (vgl. GA 66,414). Dieses Bedauern wird man jedoch relativieren dürfen: Wenn die vierzig Seiten der Ein­leitung es nicht vermocht hatten, die erwünschte Richtung anzu­mahnen, wäre schwerlich eine völlig andere Perspektive in einem fehlenden Teil zu Tage getreten. Es sieht beinahe so aus, als wäre sich Heidegger erst während der Niederschrift an seinem Werk des vollen Gewichtes der Seinsfrage, die seine Lebensfrage werden soll­te, bewusst geworden. Auch wenn sie sich als Beiträge zu einer "Ge­schichte der Ontologie und Logik" verstanden, hielten Heideggers programmatische Phänomenologische Interpretationen zu Aristote­les von 1922 noch fest: "Der Gegenstand der philosophischen For­schung ist das menschliche Dasein als von ihr befragt auf seinen Seinscharakter."133 Der Seinscharakter des Daseins, also nicht unbe­dingt das Sein als solches, stand 1922 im Mittelpunkt. Die Einleitung von 1927 wird zuweilen denselben Eindruck vermitteln, aber den Akzent doch stärker auf die Seinsfrage und ihre Vergessenheit legen. Diese Akzentuierung werden die späteren Arbeiten und die Uminterpretationen von Sein und Zeit noch verschärfen. Sein und Zeit - und selbst dieser Titel entstand, als die Arbeit beendet war -markiert damit eine Wegscheide. Das gilt erst recht für die Einlei­tung. Sie ist emblematisch für Heideggers Denkweg, insofern sie sich unterwegs zur Seinsfrage weiß, ohne je an ein Ende gekommen zu sein, als sei hier das Unterwegssein das Entscheidende.

Dafür ist die Einleitung sehr systematisch angelegt. Heidegger ist vielleicht nirgendwo anders so systematisch gewesen wie in ihr. Ein erstes Kapitel verteidigt eindrucksvoll, aber zugleich provokativ die "Notwendigkeit, Struktur und [den] Vorrang der Seinsfrage" (§ 1 bis 4). Aus der Evidenz dieser wiedergewonnenen Frage heraus ent­wickelt ein zweites Kapitel die Doppelaufgabe des Werkes, die einer "ontologischen Analytik des Daseins" (§ 5) und einer "Destruktion der Geschichte der Ontologie" (§ 6), die die Zweiteilung des Wer­kes nach sich zieht. Aus dieser Doppelaufgabe fließt auch die phä­nomenologische (und hermeneutische) Methode (§ 7) des Werkes und dessen Plan (§ 8). Kein Zweifel: Die Einleitung bietet eine kon-

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densierte Fassung des gesamten Konzeptes von Sein und Zeit. Es ist aber die einzige Spur eines Werkes, das es als solches nicht gibt. Die Einleitung ist Sein und Zeit bereits in nuce, aber in vielem weg­weisender als das Werk selbst. Wir folgen der Zweiteilung der Ein­leitung, indem wir zunächst den Sinn der Seinsfrage und alsdann die vielfache Aufgabe des Werkes aufrollen.

1. Der Sinn der Seinsfrage

Die Seinsfrage ist heute in Vergessenheit geraten, proklamiert die erste Zeile von Sein und Zeit. Es ist 1927 vielleicht nicht ganz klar, ob dieses Vergessen ein Versehen oder, wie der späte Heidegger be­tonen wird, eine Notwendigkeit darstellt (in diese Richtung weisen jedoch bereits Andeutungen der Einleitung - SZ 6, 36 -, auf die wir zurückkommen). Der späte Heidegger wird nämlich die Seinsfrage zunehmend als eine solche charakterisieren, die das abendländische Denken nicht bzw. nicht zureichend gestellt hat oder stellen konnte, sodass das Versäumnis der Seinsfrage zur Signatur der abendländi­schen Ontologie werden wird. Auch wenn es gegen diese Vergessen­heit anrennt, malt Sein und Zeit ein etwas weniger düsteres Bild aus. Die Frage, behauptet er, habe nämlich bereits "das Forschen von Plato und Aristoteles in Atem gehalten", um erst von da an zu ver­stummen (SZ 2). Dass diese Frage das antike Philosophieren, wie es auch heißt, "in die Unruhe trieb", ist übrigens eine historisch disku­table Sache. Daraus geht jedenfalls hervor, dass es Heidegger in der Einleitung doch um die Wiedergewinnung einer verstummten Frage geht. Auch wenn das Buch und die Einleitung historisch ansetzen, mit Platon und Aristoteles, werden sie im Allgemeinen mit histori­schen Nachweisen eher zurückhaltend sein (die zweifelsohne im zweiten, historisch destruierenden Teil breiter ausgeführt worden wären). Die Einleitung will zunächst in systematischer Absicht die Notwendigkeit der Seinsfrage aufzeigen. Wie argumentiert Heideg­ger?

Der erste Absatz, der diese Notwendigkeit nahe legen will, muss als ein erster Anlauf betrachtet werden, über dessen Grenzen sich Heidegger auch bewusst war (da er sie wenige Seiten später auch vermerkte). In Wahrheit soll diese "Notwendigkeit" allein aus dem später erörterten Vorrang der Seinsfrage, ja aus dem Ganzen von Sein und Zeit, wenn nicht aus Heideggers gesamtem Opus hervor­gehen. Es ist überhaupt schwer, eine solche Notwendigkeit auf we-

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nigen einleitenden Seiten darzutun. Deshalb genießen diese ersten Seiten nur eine "protreptische", d. h. eine zur Frage anleitende Funktion. Denn Heidegger begnügt sich dort weitgehend damit, gängige, in dieselbe Richtung gehende Vorurteile über die "Un­nötigkeit" der Seinsfrage namhaft zu machen, wobei er sich - ob iro­nisch oder mit vollem Ernst, ist nicht immer auszumachen - an der herkömmlichen Definitionslogik, aber auch an der ihm näher lie­genden ontologischen Tradition von Aristoteles bis Thomas von Aquin orientiert: 1) Das Sein sei der allgemeinste Begriff (und folg­lich der Erörterung unbedürftig). 2) Es sei zudem (aber als Konse­quenz vom ersten Vorurteil) undefinierbar. 3) Es sei schließlich auch der selbstverständlichste Begriff, verstehe ihn doch jeder ohne weiteres. Alle drei Vorurteile sollen von einer ausdrücklichen The­matisierung der Seinsfrage abhalten. So einfach ist das nicht, sugge­riert nur Heidegger, ohne wohlgemerkt die Gültigkeit der Vorur­teile entschieden in Abrede zu stellen. Die Allgemeinheit, macht er erstens geltend, schließe nicht ein, dass der Seinsbegriff "der klarste und aller weiteren Erörterung unbedürftig" (5) sei. Das stimmt, aber es demonstriert allein nicht die Notwendigkeit einer solchen Erörterung. Zweitens dispensiere die Undefinierbarkeit nicht von der Frage nach dem Sinn des Seins, sondern fordere sie gerade he­raus. Dies mag auch sehr wohl sein, aber Heidegger weicht damit der Frage aus, inwiefern eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Seins, die die Einleitung in Aussicht stellt, auf keinen Fall doch so etwas wie eine "Definition" im weiten Sinne wäre. Die dritte Er­widerung wird die Diskussion wenig später weiterbringen: Ein selbstverständlicher Begriff könne doch Indiz eines nur selbstver­ständlich gewordenen Tatbestandes sein, das es kritisch zu hinter­fragen gilt. Unvermeidlich wird man dabei an Hegels berühmtes Wort in der Phänomenologie des Geistes denken: "Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt."

Ist aber damit die "Notwendigkeit" der Seinsfrage - im starken Sinne - wirklich erwiesen? Der Schluss, den Heidegger aus seiner knappen Diskussion zieht, geht wohl zu weit: "Dass wir je schon in einem Seinsverständnis leben und der Sinn von Sein zugleich in Dunkel gehüllt ist, beweist die grundsätzliche Notwendigkeit, die Frage nach dem Sinn von 'Sein' zu wiederholen" (4). Das geht zu weit, weil das doch von sehr vielen, wenn nicht von allen Begriffen gilt: Wir leben doch alle in einem gewissen Verständnis von Kunst, vom Guten, vom Gerechten, von Liebe, von Vaterschaft usw., dessen Sinn auch etwas dunkel ist, ohne dass damit die absolute Dring-

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lichkeit einer philosophischen Frage nach ihnen demonstriert wor­den wäre. Wieso ausgerechnet das Sein? Bislang spricht für ihre Notwendigkeit allein, wie Heidegger später auch zugeben wird (8), die "Ehrwürdigkeit ihrer Herkunft" und das "Fehlen einer be­stimmten Antwort". Die Notwendigkeit der Seinsfrage wird damit nicht mehr als suggeriert, zumal die Ehrwürdigkeit einer Tradition, wie man später in Erfahrung bringen wird, einer Destruktion unter­zogen werden kann! Die weiteren Erörterungen über die Struktur und vor allem den Vorrang der Seinsfrage werden diese Notwendig­keit auch einsichtiger zu machen helfen.

Die Reflexionen über deren Struktur (§ 2) packen die Seinsfrage zunächst auch nicht direkt an, da sie sich von der Struktur einer jeden Frage her legitimieren lassen. Heidegger greift hier auf Erör­terungen über die Struktur des Fragens zurück, die er gelegentlich in seinen Vorlesungen vorgetragen hatte.134 Diese Struktur hat den Vorteil, die bislang etwas unspezifisch erscheinende Seinsfrage und damit den Gang der heideggerschen Untersuchung zu strukturieren. Heideggers Erörterungen werden auch besonders viel Wert auf die hier zu gewinnende Durchsichtigkeit legen.

Im Fragevollzug lassen sich nach Heidegger ein Gefragtes (wo­nach im Allgemeinen gefragt wird), ein Befragtes (bei wem ange­fragt wird) und ein Erfragtes (das Intendierte) unterscheiden. Ge­fragt wird ganz allgemein nach dem Sein. Das Sein, führt Heidegger aus, ist aber das Sein vom Seienden, muss also vom Seienden unter­schieden werden. Damit "praktiziert" Heidegger die "ontologische Differenz" von Sein und Seiendem, die als solche erst in den Schrif­ten unmittelbar nach Sein und Zeit thematisch und zentral werden wird. Sie ist aber bereits in den ersten Seiten von Sein und Zeit prä­sent - und noch bevor das Dasein als solches eingeführt wird. Diese Unterscheidung impliziert vor allem für Heidegger, dass sich das Sein nicht nach der auf das Seiende zugeschnittenen Begrifflichkeit fassen lässt. Das Sein fordert nämlich "eine eigene Aufweisungsart, die sich von der Entdeckung des Seienden wesenhaft unterschei­det", "verlangt" also "eine eigene Begrifflichkeit" (6). Lässt sich die Begrifflichkeit für und das gängige Sprechen über das Seiende ter­minologisch als "ontisch" bezeichnen, wird die Rede vom Sein rein "ontologisch" sein müssen. Die programmatische Trennung zwi­schen der ontologischen und der ontischen Ebene, die sehr wohl ältere philosophische Entgegensetzungen wie die von Apriori und Aposteriori, von Fundamentalem und Abgeleitetem anklingen lässt, lässt sich nicht als die von zwei strikt voneinander geschiedenen Re-

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gionen fassen, weil dies wiederum zu "ontisch" gedacht wäre. Trotz ihres unmittelbar einleuchtenden Charakters birgt die von Heideg­ger praktizierte ontologische Differenz enorme Rätsel in sich. Hei­degger wird sich nämlich bis zum Ende seines Denkweges fragen, ob es eine solche "ontologische" Redeweise überhaupt gibt, und immer neue Möglichkeiten erproben, darunter die der Dichtung und des Schweigens, um das Sein hörbar werden zu lassen. Diese Rätsel wohnen aber bereits der Einleitung zum Hauptwerk inne. Denn die dort konstruierte Seinsfrage bleibt auf das "Seiende" auf zweifache Weise angewiesen: Zum einen besagt Sein immer Sein vom Seienden (später wird Heidegger gelegentlich das Sein noch schärfer vom Seienden unterschieden wissen wollen135), zum ande­ren wendet sich die Frage nach dem Sein an ein spezifisches Seien­des. Dieses Seiende, das das "Befragte" in der Fragestruktur buch­stäblich verkörpert, ist nämlich das Seiende, das wir sind und das Heidegger terminologisch als Dasein fixiert. Damit fällt Heideggers wohl wichtigster und berühmtester Terminus für die Weise, in der er den Menschen anspricht. Unter Dasein soll man also zunächst gleichsam nur so viel hören wie: "Da [ist das] Sein". Da Sein "da" und nur da ist, wird dieses Dasein auf sein Sein hin (ab )befragt wer­den müssen. Die Frage nach dem Sein wird also den "Umweg" bzw. den Königsweg einer Herausstellung des Seins des Daseins ein­schlagen müssen.

Wie ist aber Sein "da" im Dasein? In einem gewissen "Seinsver­ständnis", antwortet konsequent Heidegger. "Wir bewegen uns immer schon in einem Seinsverständnis" (5). Diese allgemeine, aber vage Seinsorientierung oder -vertrautheit wird Heideggers Leit­faden und das eigentliche "Befragte" seiner Fragestellung werden. Das Ziel seiner Untersuchung (das Erfragte also) wird es somit sein, den Sinn dieses so verstandenen (und gekannten) Seins zu ermit­teln, um gleichsam dieses Verständnis zu einem besseren Verständ­nis seiner selbst zu bringen. Heideggers Ausführungen machen auch völlig klar, was dabei angestrebt ist. Es geht bei der Frage nach dem Sinn von Sein nicht etwa um den "Sinn des Lebens" (so sehr dies auch mitanklingen mag), sondern um die begriffliche Herausstel­lung des Sinnes dessen, was unter "Sein" vage und durchschnittlich verstanden wird. Darauf wird in diesem Abschnitt, es sei wiederholt, sehr viel Wert gelegt. Das unter Sein Verstandene soll zur Transpa­renz, zur begrifflichen "Durchsichtigkeit", zur "Aufklärung" ge­bracht werden. "Aus der Helle des Begriffs" (6) sollen schließlich, verkündet Heidegger, die Weisen des durchschnittlichen Seinsver-

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ständnisses und die seiner Verdunkelung (womit angedeutet ist, dass das Versäumnis der Seinsfrage alles andere als ein zu berichtigendes Versehen ist) erklärt werden. Damit scheint das Ziel der Fragestel­lung Heideggers deutlich abgesteckt zu sein: die Aufhellung des Sin­nes von "Sein". Der Eindruck kann also entstehen, es ginge Heideg­ger dabei um eine analytische Worterklärung dessen, was allgemein, aber vage unter "Sein" verstanden werden darf. Heidegger würde sich hier nahezu wie ein analytischer Philosoph ausnehmen. Wenn er das nicht ganz ist, liegt es an der eigentümlichen Struktur der Seinsfrage selber, die mit immer mehr Deutlichkeit hervortreten wird. Denn diese Frage ist nicht irgendeine, die nach lexikalischer Klarheit schreit, sondern eine solche, bei der das Sein dessen, das von ihr betroffen wird, auf dem Spiel steht: "Die wesenhafte Betrof­fenheit des Fragens von seinem Gefragten gehört zum eigensten Sinn der Seinsfrage" (8, vgl. GA 20,200). Damit wird angedeutet, dass die Seinsfrage die dringlichste Frage eines jeden Daseins ist, dem es doch ständig um das eigene Sein geht. Damit wird übrigens die "Notwendigkeit" der Seinsfrage näher begründet. Sie liegt an der Unausweichlichkeit der Seinssorge für das Dasein. Was sich hier langsam "meldet" (8), ist ein Vorrang des Daseins für die Seinsfrage, den Heidegger im § 4 als "den ontischen Vorrang der Seinsfrage" auszeichnen wird. Diese sich aufdringende Thematik nahezu ver­tagend, wird Heidegger aber vorher den "ontologischen" Vorrang der Seinsfrage (§ 3) herausstellen, gleichsam um die ontologische Zielrichtung seiner Fragestellung vor die rein daseinsontische zu stellen.

Wiederum wird die Problematik des Seinsverständnisses die des ontologischen Vorranges bestimmen, der sich vor allem im Hinblick auf die Wissenschaften festmachen lassen soll. Die Analyse von Hei­degger nimmt dabei eine nahezu wissenschaftstheoretische, trans­zendentale Wende, die sich im neukantischen Kontext seiner Zeit einer gewissen Evidenz erfreute, die Heidegger jedoch geschickt ins Ontologische zurückbiegt. Der Neukantianismus, so wie ihn Heideg­ger zumindest verstand, ging vom Faktum der Wissenschaft aus und bemühte sich, die logischen Bedingungen ihrer Möglichkeit zu re­konstruieren. Eine sehr ähnliche Argumentation führt bei Heideg­ger zum Vorrang der ontologischen Frage: Jede Wissenschaft hat es nämlich mit einem bestimmten Bereich des Seienden zu tun. Sie be­handelt ihn mithilfe von Grundbegriffen, die meist aus der vorwis­senschaftlichen Erfahrung gespeist sind. Diese Grundbegriffe oder Hinsichten auf das Seiende sind aber selber nichts Seiendes, nichts

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Ontisches. Sie beireffen nämlich das Sein des jeweils behandelten Gebietes. Grundbegriffe der Mathematik, der Physik oder der Geis­teswissenschaften gründen also in einer "vorgängigen Durchfor­schung des Sachgebiets" (10), die nur ontologischer Natur sein kann: "Sofern aber jedes dieser Gebiete aus dem Bezirk des Seien­den selbst gewonnen wird, bedeutet solche vorgängige und Grund­begriffe schöpfende Forschung nichts anderes als Auslegung dieses Seienden auf die Grundverfassung seines Seins" (10). Es ist aber nicht Aufgabe der (nur ontischen) Wissenschaften selber, diese on­tologische Klärung vorzunehmen, sondern die der Philosophie. Als "produktive Logik" muss sie "den positiven Wissenschaften voraus­laufen", versichert Heidegger. Als Beweis dafür, dass dies möglich ist, weist er wieder auf Platon und Aristoteles hin,136 Damit wird so etwas wie ein ontologischer - und zudem sehr anspruchsvoller -Vorrang der Philosophie behauptet. Er liegt darin, dass die Philoso­phie die spezifischen Ontologien auszuarbeiten hat, in denen die Wissenschaften jeweils stehen. Es geht aber Heidegger darüber hi­naus um den ontologischen Vorrang der Seinsfrage selber, noch vor diesen Ontologien (Husserl sprach hier von "regionalen" Ontolo­gien). Dieser Vorrang der Seinsfrage rührt daher, dass jede ontolo­gische Explikation, die die Philosophie zu Diensten der Wissen­schaft zu leisten hat, zuvor die grundsätzliche Frage nach dem Sinn von Sein geklärt haben muss. Eine sich als fundamental und damit ontologisch verstehende Philosophie wird darin ihre Frage par excellence erkennen müssen: "Ontologisches Fragen ist zwar ge­genüber den ontischen Fragen der positiven Wissenschaften ur­sprünglicher. Es bleibt aber selbst naiv und undurchsichtig, wenn seine Nachforschungen nach dem Sein des Seienden den Sinn von Sein unerörtert lassen. [ ... ] Die Seinsfrage zielt daher auf eine apri­orische Bedingung der Möglichkeit nicht nur der Wissenschaften, die Seiendes als so und so Seiendes durchforschen und sich dabei je schon in einem Seinsverständnis bewegen, sondern auf die Bedin­gung der Möglichkeit der vor den ontischen Wissenschaften liegen­den und sie fundierenden Ontologien selbst" (11). Bei aller Ableh­nung einer deduktiven Genealogie scheint Heidegger den ontologi­schen Vorrang doch auf dem Weg einer Reduktion auf elementarere Fragestufen zu etablieren: Vor den ontischen Wissenschaften liegen die sie fundierenden Ontologien, die die Philosophie als produktive Logik zu erarbeiten hat, und vor ihnen liegt die noch grundsätz­lichere Frage nach dem Sinn von Sein, wobei erneut präzisiert wird, dass es um eine begriffliche Vorverständigung geht: "Und gerade

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die ontologische Aufgabe einer nicht deduktiv konstruierenden Ge­nealogie der möglichen Weisen von Sein bedarf einer Vorverstän­dingung über das, 'was wir denn eigentlich mit diesem Ausdruck >Sein< meinen'" (11).

Wirkte Heidegger wie ein analytischer Philosoph, als er mit sol­chen Wendungen im § 2 nach dem Sinn von Sein fragte, so entpuppt er sich nahezu im § 3 als ein transzendentaler Philosoph, wenn er den ontologischen Vorrang der Seinsfrage darin erblickt, dass die Seinsfrage auf die Bedingungen der Möglichkeit einer jeden gegen­ständlichen und wissenschaftlichen Thematisierung abzielt. Die als­dann einsetzenden Ausführungen über den ontischen Vorrang der Seinsfrage (§ 4) werden indes zeigen, dass Heideggers Grundfaktum nicht das der Wissenschaft, sondern das des um sein Sein besorgtes Daseins ist.

Wissenschaften werden ja selber von Menschen betrieben. Die Menschen zeichnen sich nicht allein durch ihre Wissenschaftskapa­zität, sondern durch ihren intimen Bezug zum Sein aus. In einer der rhetorisch gelungensten Passagen des Werkes legt Heidegger eine Quasidefinition des Daseins vor: "Es ist [ ... ] dadurch ontisch ausge­zeichnet, dass es diesem Seienden um dieses Sein selbst geht" (12). Heidegger verwendete die Formel auch sehr häufig, um die Unab­dingbarkeit der Seinsfrage nahe zu bringen.137 Sie meint offenbar die Sorge um das eigene Sein, die das Dasein nicht nur charakteri­siert, sondern auch plagt, so sehr, dass das Dasein, wie Heidegger auch magistral ausführen wird, nicht zuletzt darum bestrebt ist, der Last dieser bohrenden Frage auszuweichen. Dieses Ausweichen er­weist sich aber als eine Flucht vor sich selbst, wenn sich das Dasein tatsächlich dadurch definiert, dass es vor dieser Frage nun einmal steht. "Dasein" heißt also auch für Heidegger: vor diese Frage ge­stellt zu sein, auch wenn man von ihr wegläuft. Denn auch wenn man ihr ausweicht, bleibt man da, nämlich im Modus der Flucht vor sich selbst, d. h. vor dem Dasein. In späteren Texten wird Heidegger das Dasein, das sich so von sich selbst ablenken lässt, genial als "Wegsein" kennzeichnen. Das Wegsein darf als der eigentliche Ge­genbegriff zum Dasein gelten, wobei das "weg" eine Weise, viel­leicht die primäre, jedenfalls die "gewöhnliche" Weise des "da" indi­ziert. 138

So plastisch und dramatisch sich diese Frage nach dem "eigenen Sein" ausnimmt, so darf man sich fragen, was sie mit der bisher erör­terten Seinsfrage verbindet. Bislang ging es anscheinend nur um die Worterklärung dessen, was wir unter "Sein" verstehen, gar um die

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ontologischen Vorbedingungen der wissenschaftlichen ThemensteI­lung. Auf einen Nenner gebracht: Darf die Frage nach dem eigenen Sein mit der allgemeinen Frage nach dem Sinn von Sein vermengt werden? Handelt es sich um dieselbe Frage? Die Frage stellt sich umso mehr, als der späte Heidegger dazu tendieren wird, das Ge­wicht der Frage "um das eigene Sein" zugunsten der reinen Seins­frage abzuschwächen. Das Dasein, wird er beispielsweise im Brief über den Humanismus von 1946 ausführen, zeichne sich durch die "Sorge für das Sein" schlechthin aus. Vom späten Heidegger aus wirkt die Sorge um das eigene Sein eher wie ein Anthropozentris­mus, zu dem das seins geschichtliche Denken immer mehr auf Dis­tanz gehen will. Sein und Zeit redet hier aber eine klare Sprache: Dem Dasein geht es um das eigene Sein, und damit ist das "Sein­können" gemeint, für das sich das Dasein zu entscheiden hat. Worin besteht in Sein und Zeit das Band139 zwischen der allgemeinen Seinsfrage und der nach dem eigenen Sein? Man findet es vielleicht nirgends mit letzter Klarheit ausgesprochen, aber es gibt wohl keinen Zweifel über die allgemeine Ausrichtung der heidegger­sehen Intuitionen: Der primäre Tatbestand ist der der grundsätz­lichen Sorge um das eigene Sein, das eigene Selbst. Dieses Sein ist nun einmal vom Tode gezeichnet (nicht cogito sum, sondern sum moribundus ist die Grundgewissheit des Daseins, sagte Heidegger am Ende einer Vorlesung vom Sommersemester 1925, GA 20, 437). Wir sind "da", aber nur für eine Zeit (diese Intuition fasst auch der Titel "Sein und Zeit" zusammen). Das Dasein bleibt so von seinem Sein-zum-Tode beschattet, der ihm natürlich eine wahre Angst ein­flößt, da es kein Entrinnen vor dem Entrinnen gibt. Wenn sich die Sorge um das eigene Sein von daher gut nachvollziehen lässt, wel­chen Bezug hat diese Sorge zur Seinsfrage im Allgemeinen? Diesen: Das gesamte Seinsverständnis des Daseins wird sich nämlich von dieser Sorge (und der Flucht vor ihr) aus bestimmen lassen. Spre­chendstes Indiz dafür ist die Tendenz des Daseins, das Sein "zeit­los", d. h. als permanente Gegenwart zu deuten. Sein ist das, was besteht und immer Bestand hat und haben wird. Geschichtliche Stu­dien von Heidegger werden auf brillante Weise ausführen, wie sehr sich diese Deutung des Seins als stete Gegenwart durch die ganze Geschichte der Ontologie hindurch erhalten hat. Woher aber dieses Bestehen auf Permanenz und Bestand, wenn nicht aus einer Ver­drängung der eigenen Zeitlichkeit? Das temporale Seinsverständnis ist also auf seine Quelle im Dasein hin zurückzuverfolgen. Die "Stellung" des Daseins zu seinem eigenen Sein diktiert nämlich das

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allgemeine Seinsverständnis und damit den Sinn von Sein über­haupt. Heidegger wird hier insbesondere die eigentliche von der un­eigentlichen Zeitlichkeit (und damit die entsprechende Stellung zum Sein) unterscheiden. Die eigentliche versteht sich aus dem radi­kal ergriffenen Dasein in seiner unüberbietbaren Zeitlichkeit, die uneigentliche als Flucht vor dieser Zeitlichkeit in die Beruhigung des permanenten Immer-so-weiter. Am Leitfaden dieser Ergriffen­heit von der eigenen zeitlichen Existenz wird sich das Programm der Destruktion der Geschichte der Ontologie orientieren. Von der Frage nach dem eigenen Sein zur allgemeinen Seinsfrage lässt sich also durchaus eine Brücke schlagen, auch wenn es die Einleitung zu Sein und Zeit meist bei sehr formalen Anzeigen belässt. Aber die formale Anzeige, die jedes Dasein mit Inhalt zu füllen berufen ist, ist nun einmal nach Heidegger eine Grundeigenschaft jeder philoso­phischen Begrifflichkeit (vgl. GA 29/30, 421-431).

Kehren wir also zu den Anweisungen des § 4 über die Sorge um das eigene Sein zurück. Das Sein, um das es dem Dasein geht, fasst Heidegger terminologisch als Existenz auf. Das Dasein lässt sich also nicht durch eine Wesensdefinition bestimmen, sondern da­durch, dass es "je sein Sein als seiniges zu sein hat" (12). Das Dasein ist aber immer schon in Existenzmöglichkeiten geraten, die der Auf­hellung über sich selbst bedürfen. Diese Möglichkeiten, sofern sie konkrete Existenzvollzüge meinen, lassen sich als existentiell cha­rakterisieren. Sie sind von der sich als rein "existential" verstehen wollenden Analyse Heideggers zu unterscheiden. Ihr geht es näm­lich nicht um spezifische, "ontische" Existenzvollzüge, sondern - neutraler - um die Strukturen, die die Existenz als solche konstitu­ieren. Die Daseinsanalyse wird also - im technischen Sprachge­brauch, der die Einleitung charakterisiert (den Heidegger aber kurz nach Sein und Zeit fallen lassen wird) - die Form einer Analytik der Existenzialität der Existenz nehmen.

Zu diesen Strukturen gehört zweifelsohne die prinzipielle Unter­scheidung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Existenz: "Die Existenz wird in der Weise des Ergreifens oder Versäumens nur vom jeweiligen Dasein selbst entschieden" (12). Der konkret ge­wählte Vollzug bleibt zwar dem jeweiligen Dasein ("existenziell") überlassen, aber dass er vor einer Entscheidung steht, ist nun einmal ein Existential, das es im Hinblick auf seine Bedeutung für die ge­samte Seinsproblematik hin zu befragen gilt. Sicherlich kann man sich mit Autoren wie Jaspers und Löwith fragen, ob sich diese Tren­nung des Existentialen und des Existentiellen so streng durchhalten

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lässt. Gewiss nicht, aber sie hat einen beträchtlichen methodologi­schen Sinn, an dem sich Heideggers Analysen auch kritisch messen lassen dürfen. Heidegger gibt zwar zu, dass seine existentiale Ana­lytik selber ontisch verwurzelt ist (13), aber dies will vor allem un­terstreichen, dass die Ergreifung der philosophischen Seinsfrage lediglich die "Radikalisierung einer zum Dasein selbst gehörigen SeinstendeJ).z" (15) vollzieht. Damit wird in der Tat, nach Heideg­gers Analyse, das Seinsverständnis, das das Dasein von Hause aus praktiziert, zu sich selbst gebracht, d. h. über sich selbst aufgeklärt. Die Klärung des Seinsverständnisses des Daseins drängt sich hier als die fundamentale Aufgabe von Sein und Zeit auf. Als Fundamen­talaufgabe war oben (§ 3) die Klärung des "Sinnes von Sein" nahm­haft gemacht. Beide Aufgaben scheinen in der Einleitung zu Sein und Zeit ineinander verschmolzen zu sein.

Heidegger wird zwar später mit Recht den vorbereitenden Cha­rakter der Daseinsanalyse im Hinblick auf die Seinsfrage hervor­heben. Aber das Verhältnis der Fundamentalontologie zur Daseins­analytik weist eine erstaunliche Schwankungsbreite in der Ein­leitung auf. Diese Vielfalt dokumentiert sich in drei wichtigen Passagen des § 4, die sich beinahe auf derselben Seite finden:

1. Es wird zunächst als Konsequenz des ontologischen Vorranges der Seinsfrage (§ 3) unterstrichen, dass "auch die Möglichkeit einer Durchführung der Analytik des Daseins an der vorgängigen Aus­arbeitung der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt [hängt]" (13). Die Fundamentalfrage (11) nach dem Sinn von Sein müsste demnach der Daseinsanalyse voranstehen, wie sie ja jeder Ontologie vorgeordnet ist.

2. Wenige Zeilen später erfährt man indes, dass "die Fundamen­talontologie, aus der alle andern erst entspringen können, in der existenzialen Analytik des Daseins gesucht werden [muss]" (13).

3. Am Ende des Paragraphen wird sich nun zeigen, "dass die ontologische Analytik des Daseins überhaupt die Fundamental­ontologie ausmacht" (14).

Die Vielfalt ist in der Tat unerhört,140 Einerseits soll die vorgängi­ge Ausarbeitung der Fundamentalfrage nach dem Sinn von Sein (also die Fundamentalontologie ) vor der Daseinsanalyse erfolgen, andererseits soll sie sich in ihr vorfinden bzw. sie sogar ausmachen. Wie ist aus dieser Vielfalt kluger Sinn zu machen? Friedrich-Wil­helm von Herrmann, der auch vom "nicht ohne weiteres einseh­baren Übergang" von einer Bestimmung zur anderen sprach,141 hat eine elegante Lösung vorgeschlagen: Die vorgängige Ausarbeitung

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der Seinsfrage vor der Daseinsanalytik, die in 1) angedeutet war, sei von Heidegger als unmöglich anerkannt, da sich der Sinn von Sein allein von einer Ontologie des Daseins her verstehen lasse.142 Sach­lich trifft das vielleicht zu, aber Heidegger hat diese Unmöglichkeit der direkten Ausarbeitung der Seinsfrage in Sein und Zeit nicht sel­ber hervorgehoben. Als von dem ontologischen Vorrang der Seins­frage (§ 3) die Rede war, schien sich diese direkte Ausarbeitung, der der spätere Heidegger ohne den Rahmen der Daseinsanalytik auch konsequent nachgehen wird, von selbst aufzudrängen. An ihr "hing" ja selbst (13) die Analytik des Daseins.

Man muss also feststellen, dass der Textbefund zur Bestimmung der Fundamentalontologie in sich undeutlich ist. Aber so ist es nicht selten, wenn Philosophen ihren grundsätzlichen Projekt präsentie­ren (erinnert sei etwa an die knappen, aber ebenso verwirrenden Bestimmungen der Idee des Guten bei Platon, der prima philoso­phia bei Aristoteles, der transzendentalen Kritik bei Kant, der Wis­senschaftslehre bei Fichte, der Phänomenologie des Geistes bei Hegel oder der phänomenologischen Reduktion bei Husserl). Es ist schwer zu erklären, aber es ist so: Selten scheinen die Philosophen selber über klare Begriffe zu verfügen, um das Licht, unter das sie ihren Entwurf stellen, zu beleuchten. Vielleicht liegt das in der Sache begründet: Wie kann eine Philosophie das Licht, aus dem der Denkentwurf seine Strahlkraft gewinnt, selber beleuchten? Ange­sichts des Wesentlichen stammelt man vielleicht immer. Denn wich­tiger als die Projektbestimmung ist dessen Grundrichtung. Die der Fundamentalontologie ist in dieser Hinsicht deutlich genug und wurde von F.-W. von Herrmann sachlich zutreffend dargestellt: Soll die fundamentale Frage nach dem Sinn von Sein neu entfacht wer­den, so ist sie an dem Seienden zu entwickeln (und zu wecken), das dem Seinsproblem ständig ausgesetzt ist: dem Dasein. In der Onto­logie des Daseins scheint somit die Grundaufgabe der Philosophie beschlossen.

Heidegger warnte zwar davor, dies subjektivistisch misszudeuten (freilich ohne Erfolg, weshalb er später die direkte Ausarbeitung der Seinsfage, die die Einleitung nur erwog, doch vorzog). Aber er leis­tet diesem Missverständnis selber Vorschub, als er sich im selben Atemzug an den Ausspruch des Aristoteles in De anima positiv an­lehnte, wonach die Seele, d.h. das Sein (I) des Menschen, alles sei.143

Im Dasein bzw. in dessen Seinsverständnis schien nunmehr das Sein eines jeden Seienden seinen Grund und Boden zu finden. Die Onto­logie des Daseins nahm sich so wie eine Art philosophia perennis

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aus. Ein so hoch gesteckter Anspruch war jedenfalls seit Hegel der Philosophie nicht mehr zugemutet worden.

Fassen wir die Vielfalt der Seinsfrage zusammen, wie sie uns im ersten Kapitel der Einleitung begegnet, so lässt sich stichwortartig folgender Eindruck gewinnen: Im § 1 tritt ein Philosoph auf, der sich selbstbewusst in die Kontinuität der aristotelisch-thomasischen Tra­dition stellt, um provokativ und protreptisch die Wiedererweckung der Seinsfrage anzumahnen; im § 2 begegnet alsdann ein quasi-ana­lytischer Philosoph, der sich die Aufklärung dessen, was wir unter "Sein" allgemein verstehen, zum Ziele macht; im § 3 erscheint plötz­lich ein transzendentaler Philosoph, der im Seinsverständnis die apriorische Bedingung jeder wissenschaftlichen Erschließung von Seiendem festnageln will, während der § 4 einen "Existenzphiloso­phen" in Erscheinung treten lässt, der in seinem Programm bei allem Festhalten an dem rein ontologischen und existentialen Cha­rakter seiner Untersuchung eine Radikalisierung der zum Dasein gehörenden Seinstendenz durchführt. Was diese Vielfalt zusammen­hält, ist allein die "Einheit" der Seinsfrage. Diese findet sich im Seinsverständnis des um sein Sein besorgten Daseins verankert, aus dem sich das Seinsverständnis überhaupt - in seinen originären und abkünftigen Spielweisen - bestimmen lassen soll.

2. Die phänomenologische Hermeneutik des Daseins auf dem Weg einer Destruktion der abendländischen Ontologie

Das erste Kapitel der Einleitung zu Sein und Zeit ließ bereits so verschiedenartige Facetten der Seinsfrage in Erscheinung treten, dass Heidegger in einem zweiten Kapitel einen neuen Anlauf nimmt, um seine Aufgabenstellung und Methode straffer zu ge­stalten. Sehr vieles von diesen Aufgaben wurde aber bereits vorweg­genommen: dass die Ontologie des Daseins (Aufgabe 1 nach § 5) den Königsweg zur Seinsfrage bildet, wurde nämlich bereits im ers­ten Kapitel nahe gelegt, aber ebenfalls die Tatsache, dass sie eine Destruktion der bisherigen Ontologie nach sich ziehen muss (Auf­gabe 2 nach § 6). Die im Grunde einheitliche Doppelaufgabe des Werkes wird also die einer "ontologischen Analytik des Daseins" und einer "Destruktion der Geschichte der Ontologie" werden und konsequent die geplante Zweiteilung des Werkes gebieten, das es als solches aber nicht gibt. Ihnen werden sich - nahezu ex post -Erörterungen über die phänomenologische Methode der Unter­suchung (§ 7) hinzugesellen.

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Allen Themenkomplexen des 2. Kapitels ist eine Sorge gemein­sam, die der rechten Zugangs art zum Phänomen des Daseins. Die bisherigen Ausführungen mochten nämlich den Eindruck hervor­gerufen haben, das Dasein "müsse auch das ontisch-ontologisch primär gegebene sein" (15). Dem ist nicht so, stellt nun Heidegger fest. Das Dasein ist sich selbst vielleicht das Fernste. Dies liegt an nichts anderem als dem, was wir mithilfe der späteren, aber sehr glücklichen Begrifflichkeit das "Wegsein" des Daseins genannt haben: Anstatt seinem Dasein voll gewachsen zu sein, schreckt das durchschnittliche Dasein gleichsam vor sich zurück, ist also "da" im Modus des "möglichst-davon-weg". Dieses Wegsein nimmt eine cha­rakteristische Gestalt in den ersten Paragraphen von Sein und Zeit an: Das Dasein, das von sich "fällt", "fällt" nämlich in die Welt und versteht sich aus dieser. Dieses Fallen (von sich und in die Welt) ist freilich in Heideggers Augen ein "Verfallen", so natürlich es auch sein mag. Es besitzt aber nicht nur eine "negative" Seite. Denn aus dieser Weltverfallenheit des Daseins geht hervor - und dies wird für den weiteren Lauf der heideggerschen Untersuchung von Bedeu­tung werden -, dass das Dasein als In-der-Welt-Sein begegnet und sich aus diesem zu verstehen hat. Die Weltverfallenheit ist also nicht als ein "gnostischer" Abfall zu deuten. Diese Bedeutung schwingt nichtsdestoweniger mit, sofern das Dasein dazu verführt wird, sich nur aus der Welt und das heißt rein "dinghaft" zu verstehen. So kommt das Dasein dazu, sich als ein vorhandenes Seiendes, als Substanz oder Subjekt mit Eigenschaften und Relationen zu von ihm unabhängigen Objekten zu denken. Diese "Kategorien", wie man sie gut aristotelisch und kantisch nennen kann, sind nach Hei­degger auf die ontische Welt zugeschnitten, dem Dasein als Dasein aber höchst unangemessen. Warum? Weil sie den Existenzcharakter des Daseins verfehlen, nämlich die Aufgabe, die Sorge, den jeweili­gen Vollzug, der das Dasein für sich selber immer ist. Etwas plakativ ausgedrückt: Im Dasein liegt die Tendenz, sich rückstrahlend aus der Welt zu verstehen, anstatt die Welt aus dem Dasein zu begreifen: "Das Dasein hat [ ... ] gemäß einer zu ihm gehörigen Seinsart die Tendenz, das eigene Sein aus dem Seienden her zu verstehen, zu dem es sich wesenhaft ständig und zunächst verhält, aus der 'Welt'. Im Dasein selbst und damit in seinem eigenen Seinsverständnis liegt das, was wir als die ontologische Rückstrahlung des Weltverständ­nisses auf die Daseinsauslegung aufweisen werden" (16). Die "Welt­lichkeit" des Daseins erscheint also auf doppelte Weise besetzt bei Heidegger: Einerseits gehört sie unabdingbar zum faktischen Da-

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sein, andererseits verleitet sie es dazu, sich dinghaft und damit in­adäquat zu konzipieren. So wird es eine der vordringlichsten Be­mühungen der Ontologie des Daseins sein, eine rein auf das Dasein zugeschnittene Begrifflichkeit zu entfalten, die die Kategorien des dinghaften Seienden tunlichst vermeidet und sie sogar aus dem Da­seinsvollzug heraus ableitet, wenn sich die These bewahrheiten lassen soll, wonach alles Seinsverständnis im Dasein gründet.

Diese Ontologie des Daseins wird dabei nicht zufällig auf die das Dasein konstituierende Zeitlichkeit zusteuern. Die "Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit hin" bildet somit die erste Aufgabe dieser Ontologie. Sie umfasst auch die veröffentlichten zwei Drittel des Buchkonzeptes. Dem Programm nach war sie aber kein Zweck an sich, da sie in einem dritten Teil (geplant unter dem Titel "Zeit und Sein", das man nicht mit der Abhandlung gleichen Titels aus dem Jahre 1962 verwechseln wird) eine "Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sein" vorbe­reiten wollte. Dazu kam es literarisch nicht. Ein erneuter Anlauf zum damals zwar niedergeschriebenen, aber anscheinend sofort ver­brannten 3. Teil wurde in der Vorlesung vom Sommersemester 1927 über Grundbegriffe der Phänomenologie unternommen. Sie gewährt Einblick in die damalige Werkstatt Heideggers, aber der § 5 ließ be­reits keinen Zweifel über den springenden Punkt des heidegger­schen Programms. Er greift auf früher Erörtertes zurück sowie in die historische Aufgabe der Destruktion vor. Die im Hinblick auf die Seinsfrage konzipierte Analytik des Daseins setzte sich zum vor­läufigen Ziel, alle Strukturen des Daseins als Modi seiner Zeitlich­keit herauszustellen - gemäß den Spielarten der eigentlichen und der uneigentlichen Zeitlichkeit. Aus dieser Zeitlichkeit heraus wer­de nämlich das Sein verstanden. In Heideggers Worten, die das Be­weisziel von Sein und Zeit auch bündig zusammenfassen, sollte also gezeigt werden, "dass das, von wo aus Dasein überhaupt so etwas wie Sein unausdrücklich versteht und auslegt, die Zeit ist" (17). Wie ist aber hier "die Zeit" zu verstehen? Eine komplexe Frage, da diese Zeit selber von einem gewissen Existenzvollzug abhängt. Das "posi­tive" Zeitverständnis, auf das Heidegger aus ist, wird von einem "vulgären" Zeitverständnis abgekoppelt. "Vulgär" meint hier nicht etwas Unziemendes, sondern einfach das gängige, übliche, aber dingliche Verständnis der Zeit als reine Abfolge von Jetztmomen­ten, die sich ewig wiederholen und fortsetzen. Die philosophische Basis für dieses "vulgäre" Zeitverständnis hätte Aristoteles in seiner Physik erbracht, die seitdem die gesamte Geschichte der Ontologie

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durchherrscht habe. Das Zeitverständnis, das Heidegger dem vul­gären entgegensetzt, bleibt etwas im Dunklen, aber man vermutet unschwer, dass es eine Zeit wäre, die die (übrigens in der Einleitung nicht namentlich auftretende) Endlichkeit ernst nehmen würde. Die Zeit würde sich nicht mehr als endlose Reihe von Jetztpunkten, son­dern aus der radikal gefassten Sterblichkeit heraus verstehen lassen. Man kann auch unschwer erraten, warum in dieser Konzeption die vulgäre Zeit als "abgeleitet" gilt: Um seine intime, radikale Zeitlich­keit zu verdrängen, vergegenständlicht das Dasein eine Zeit, die sich ewig fortsetzt. Aber so eine Zeit ist ja keine Zeit mehr, sondern nahezu ihr Gegenteil. Diese Ableitung scheint aber Heidegger in diesem Kontext weniger zu interessieren als die daraus zu ziehende ontologische Konsequenz.

Heidegger trennt nämlich mit mehr oder weniger Künstlichkeit zwei Schritte in seiner Ausarbeitung der Zeitlichkeit des Daseins als des Horizontes, aus dem her Sein aufgefasst werden soll. Die Pro­blematik der Zeitlichkeit, erfährt man nun, bleibe auf das Dasein "beschränkt". Herausgehoben wird aber darüber hinaus die Zeit­lichkeit des Seins selber. Um sie von der Zeitlichkeit des Daseins getrennt zu halten, bezeichnet Heidegger diese rein ontologische Problematik mit einem lateinischen Terminus als die der Tempora­lität des Seins. Handelt es sich aber sachlich um eine andere Thema­tik, wenn anders das Sein nur im Seinsverständnis des Daseins begegnet? Bleibt es doch nicht bei Zeitlichkeit des Daseins als des Horizontes eines jeden Seinsverständnisses? Es ist schwer zu sagen, inwiefern sich die Aufrollung der Temporalitätsproblematik von der Zeitlichkeitsanalyse wirklich abgehoben hätte, da der der Tempora­lität gewidmete 3. Abschnitt ("Zeit und Sein") unveröffentlicht blieb. Man findet zwar Überlegungen zur Temporalität des Seins in der als Fortsetzung zu SZ gemeinten Vorlesung vom Sommerse­mester 1927 (GA 24), aber sie sind offensichtlich von einem kanti­schen Schematismus der Zeithorizonte stark geprägt, von dem sich Heidegger sehr bald distanzierte (und der übrigens die Abhängig­keit der Temporalitäts- von der Zeitlichkeitsproblematik eklatant bestätigt). Hätte der 3. Teil eine anschaulichere Entfaltung der Tem­poralitätsproblematik geboten? Das Ausbleiben seiner Veröffent­lichung bezeugt eher ein Scheitern in dieser Hinsicht,144 Die Nicht­veröffentlichung ist aber umso bedauerlicher, als Heidegger explizit versprochen hatte, just in der Exposition der Problematik dieser Temporalität "allererst die konkrete Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Seins" (19) zu geben. Insofern man Sein und Zeit an

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seiner präzisen Frage und deren Antwort misst, wie sie übrigens in der allerletzten Zeile des Buches noch einmal anklingen, darf man an dieser Stelle von einem gewissen "Scheitern" des Unternehmens sprechen. Es handelt sich aber eher um ein literarisches Versagen vor dem, was Heidegger ausführen wollte und nur andeuten konnte. In aller Gerechtigkeit muss man in der Tat anerkennen, dass Hei­degger, als er die Einleitung niederschrieb, nicht wissen konnte, dass der ihm damals vorschwebende 3. Abschnitt nie zur Veröffent­lichung gelangen würde. Deshalb ist es eine historische Aufgabe der Heidegger-Forschung, sein damaliges Vorhaben zu rekonstruieren, denn die Grundzüge dazu liegen sehr wohl vor. Philosophisch be­deutete aber die Preisgabe des horizontschematischen Konzepts des 3. Abschnitts nicht unbedingt ein Scheitern, denn sie führte Heideg­ger vielleicht besser zu seiner eigenen Frage. Das Scheitern machte damit die Kehre möglich.145

Das "Scheitern" der "konkreten Antwort" von "Zeit und Sein" im Jahre 1927 mochte auch damit zusammenhängen, dass Heideg­gers Stärke weniger in der systematischen Konstruktion als in der historisch-phänomenologischen Destruktion lag, die er vor und nach Sein und Zeit mit sicherem Instinkt praktizierte. Die im § 6 dargelegte Aufgabe der Destruktion bezeichnete ferner wohl auch Heideggers ursprünglichste Forschungsaufgabe, ehe sich die Auf­gabe einer Ontologie des Daseins vor sie schaltete. Die Entwürfe zu einer Geschichte der Ontologie, als die sich die Phänomenologi­schen Interpretationen zu Aristoteles von 1922 empfahlen, beschrie­ben sich ja ursprünglich als eine destruktive Hermeneutik, d.h. eine Auslegung der ontologischen Tradition auf ihre verborgenen Motive hin. Großartig hieß es dort: "Die phänomenologische Hermeneutik der Faktizität sieht sich demnach, sofern sie der heutigen Situation durch die Auslegung zu einer radikalen Aneignungsmöglichkeit ver­helfen will - und das in der Weise des konkrete Kategorien vor­gebenden Aufmerksammachens -, darauf verwiesen, die über­kommene und herrschende Ausgelegtheit nach ihren verdeckten Motiven, unausdrücklichen Tendenzen und Auslegungswegen auf­zulockern und im abbauenden Rückgang zu den ursprünglichen Motivquellen der Explikation vorzudringen. Die Hermeneutik be­werkstelligt ihre Aufgabe nur auf dem Wege der Destruktion. "146

Diese damals Heidegger offenbar voll in Anspruch nehmende Auf­gabe der Destruktion wird 1927 zur zweiten, nach der Analytik. Die Konzeption von Sein und Zeit ist insofern reifer, als sie in einer eigens ausgebildeten Ontologie des Daseins auf die Zeitlichkeit hin

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den Leitfaden festgemacht hat, an den sich eine solche hermeneuti­sche Destruktion allererst zu halten hat.

Die Destruktion lässt sich nicht als eine rein historische Aufgabe beschreiben, die der Daseinsanalytik von außen aufgeschraubt wor­den wäre, als diente sie lediglich der geschichtlichen Veranschau­lichung. Denn das Dasein zeichnet sich nun einmal durch seine Zeit­lichkeit aus. Zu ihr gehört eine wesentliche Geschichtlichkeit. Mit diesem Thema der Geschichtlichkeit knüpft Heidegger natürlich an ein Grundkonzept von Dilthey (der in diesem Zusammenhang aber nicht namentlich erwähnt wird) an, das sich auch einer großen Wir­kungsgeschichte in Gadamers Hermeneutik erfreuen wird. Hei­deggers Problematik der Geschichtlichkeit bleibt aber - im Unter­schied zu Dilthey und Gadamer - strikt im Hinblick auf die Seins­problematik hin konzipiert: Die Seinsfrage ist selbst durch eine Ge­schichtlichkeit charakterisiert (20), wobei Heidegger die Grundein­sicht seiner späteren Seinsgeschichte vorwegnimmt. Konzentrierte sich Heidegger früher auf die "Weltverfallenheit" des Daseins, so wird ihn in diesem Zusammenhang vor allem die "Traditions ver­fallenheit" des Daseins interessieren: "Das Dasein hat nicht nur die Geneigtheit, an seine Welt, in der es ist, zu verfallen und sich relu­zent aus ihr her sich auszulegen, Dasein verfällt in eins damit auch seiner mehr oder minder ausdrücklich ergriffenen Tradition" (21). Vielleicht ist diese Traditionsverfallenheit phänomenologisch sogar einleuchtender als die Weltverfallenheit, sofern das Dasein immer schon einer tradierten Daseinsauslegung (20) oder Welterschlie­ßung verfällt, die sich etwa in den Vorurteilen (Gadamer) oder in Ideologien niederschlägt.

Heideggers Akzent liegt hier durchaus auf der ontologischen Tra­dition. In ihr hat sich nämlich eine Seins auslegung durchgesetzt, deren Herkunft vergessen und verdeckt bleibt. Die Destruktion zielt just auf diese Verdeckung: "Soll für die Seinsfrage selbst die Durchsichtigkeit ihrer eigenen Geschichte gewonnen werden, dann bedarf es der Auflockerung der verhärteten Tradition und der Ab­lösung der durch sie gezeitigten Verdeckungen. Diese Aufgabe ver­stehen wir als die am Leitfaden der Seinsfrage sich vollziehende Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie auf die ursprünglichsten Erfahrungen, in denen die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen wurden" (22).

Und diese Destruktion trifft nicht primär die Vergangenheit als solche, dies wäre ja nur historisch, sondern das "Heute" (22), den ontologischen Schlummer der Gegenwart. Ja, es gilt, die Kräfte der

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Vergangenheit und der Tradition für das Heute neu freizulegen, um den Sinn für die Seinsfrage erneut zu wecken. Insofern ist die Ab­sicht der Destruktion "positiv". Sie versteht sich als Abbau von Verdeckungen um einer neuen Freilegung willen. Es lässt sich gleichwohl nicht in Abrede stellen, dass Heidegger sehr wohl die Aufmerksamkeit auf Grundentscheidungen in der Geschichte der abendländischen Ontologie richten möchte, die die Seinsthematik auf verhängnisvolle Weise verdeckt haben (der Gedanke einer ab­fallenden Seinsgeschichte wird auch damit antizipiert). Welche Ent­scheidungen gemeint sind, wird in der Einleitung nur angedeutet. Heidegger hat sich aber in seinen frühen Vorlesungen so sehr mit ihnen beschäftigt, dass ihm vollkommen bewusst ist, dass er hier über einen Umriss (den die Gesamtausgabe inzwischen mit reichem Inhalt füllen hilft) nicht hinauskommt. Er lenkt jedoch die Aufmerk­samkeit auf den ihm wichtigsten Punkt: das Verständnis des Seins aus der Zeit heraus. Denn auch die abendländische Ontologie ver­stand das Sein aus der Zeit. Sie tat es aber unausdrücklich, d. i. ohne sich ihres Leitfadens bewusst zu werden. So wird es eine der vor­dringlichsten und überzeugendsten Aufgaben der Destruktion wer­den, die abendländische Ontologie über ihren eigenen stillschwei­genden Leitfaden aufzuklären, der in der griechischen Auslegung des Seins als Gegenwart gründet: "Diese griechische Seinsauslegung vollzieht sich jedoch ohne jedes ausdrückliche Wissen um den dabei fungierenden Leitfaden, ohne Kenntnis oder gar Verständnis der fundamentalen ontologischen Funktion der Zeit, ohne Einblick in den Grund der Möglichkeit dieser Funktion" (26). Allein Kant hätte sich diesem Bezug zwischen dem Sein und der Zeit genähert, ohne ihn angemessen zu stellen, da er der gängigen, kartesianischen On­tologie des Subjekts verfiel, anstatt eine Ontologie des Daseins aus­zuarbeiten und von da aus die Seinsfrage neu aufzurollen. Diese Debatte mit Kant wird in Heidegger nächstem großen Buch, Kant und das Problem der Metaphysik (1929) fortgesetzt.

Der Anspruch der heideggerschen Destruktion ist also nicht ge­rade bescheiden (und bescheidene Philosophien sind auch selten): Erstmals in ihrer Geschichte soll die Ontologie über ihren Leitfaden aufgeklärt werden. Er wird durch einen noch weitergehenden über­boten: Erstmals wird in Heideggers Buch auch versucht, dieses fundamentale Verhältnis zwischen Sein und Zeit auf den rechten Boden zu stellen. Sosehr Heidegger auf einer Rückkehr zu den Ur­erfahrungen der griechischen Ontologie bestehen mag, er gibt auch sehr klar zu erkennen, dass die griechische Erfahrung selber auf

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einer wenn nicht unangemessenen, so doch sehr einseitigen Seins­auslegung beruht, nämlich der Fixierung auf die Gegenwart und die permanente Anwesenheit (ousfa), die die Grundausstattung der Substanz ausmacht. Dieser Permanenzobsession will Heidegger einen Schreck einflößen, wenn er verspricht, die Zeit nicht mehr von der Gegenwart, sondern von der (endlichen) Zukunft her, also von der radikalen Zeitlichkeit her anzugehen. Zusammenfassend: Die Destruktion, die dem ontologischen Schlummer der Gegenwart gilt, klärt nicht nur die Geschichte der Ontologie über ihren verborgenen Leitfaden auf, sie will es endlich möglich machen, die grundsätzliche Frage nach dem Verständnis des Seins aus der Zeit her zu stellen. "Sein und Zeit" ist gleichsam das verborgene Thema der gesamten Geschichte der Ontologie, ja der Menschheit, auf das die abendlän­dische Philosophie zusteuert, das aber zum ersten Mal in Heideggers Buch sichtbar geworden und gestellt worden sei,147 Es nimmt also nicht Wunder, dass die Destruktion, die Heidegger in seiner späteren Auseinandersetzung mit der Metaphysik nur radikalisierte, die primä­re und originäre Aufgabe seiner Untersuchungen war.

In den frühen Vorlesungen konnte es indes so scheinen, als sei die Destruktion Heideggers eigentliche "Methode". In Sein und Zeit wird sie nunmehr als "Aufgabe" gefasst, da sie die eigentliche Ziel­richtung seines Unternehmens anzeigt. Die Methode seiner Unter­suchung stellt Heidegger lieber unter den Titel der Phänomenologie (§ 7). Damit reiht er sich offenbar in die Denkrichtung seines "Leh­rers" Edmund Husserl ein (sein eigentlicher "Lehrer" war er aber nicht, da Husserl erst 1916, nach Heideggers Habilitation bei Rickert, nach Freiburg kam). Man könnte vielleicht bedauern, dass Heidegger dabei keinen direkten oder genaueren Bezug auf Hus­serls eigene Methode (weder die Reduktion noch die Intentionalität werden in der Einleitung genannt) oder Schriften nimmt. Er belässt es nämlich bei einer allgemeinen Danksagung an Husserl, der ihn "während seiner Freiburger Lehrjahre durch eindringliche persön­liche Leitung und durch freieste Überlassung unveröffentlichter Untersuchungen mit den verschiedensten Gebieten der phänome­nologischen Forschung vertraut machte" (38). Heidegger zieht es offenbar vor, seinen phänomenologischen Ansatz eigenständig zu entwickeln. Es wäre aber voreilig, darin einen Affront Husserl ge­genüber zu erblicken. Denn ein derartiges, direkt auf die Sachen zugehendes Vorgehen war durchaus auch im Sinne Husserls. Der Affront liegt vielleicht anderswo, wie wir sehen werden.

Heideggers Phänomenologiebegriff soll sich also von den Sachen

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selbst her entwickeln lassen. Tatsächlich führt Heidegger seinen Phänomenologiebegriff aber zunächst mithilfe von etymologischen Auslegungen der griechischen Termini phain6menon und 16gos ein. Damit exerziert Heidegger eine "Methode" der begrifflichen Aus­legung antiker Termini vor, mit der er die Zuhörer seiner Vorlesun­gen bezauberte. Diese Deutungsmethode erhob er zu einer wahren Kunst, sowohl in seiner Lehrtätigkeit als auch in seinen Schriften. Gemessen an diesen hohen Maßstäben lässt sich vielleicht nicht be­haupten, dass die Ausführungen von Sein und Zeit über die Her­kunft des Phänomenologiebegriffs zu den Meisterstücken dieser Kunst gehören. So imposant sie an sich sein mögen, gelangen sie kaum über Tautologisches hinaus: Phain6menon, erfährt man näm­lich, heißt "das Sich-an-ihm-selbst-Zeigende"148, während 16gos als apophafnesthai so viel heißt wie Sehenlassen von den Sachen her. Die Zusammensetzung in der Phänomenologie ergibt nicht viel mehr als die folgende, sehr wohl in Kauf genommene Tautologie: "Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen" (34).

Ebenso tautologisch fällt die rein deskriptive Anlehnung an eine Maxime, die Husserl nur en passant formuliert hatte, aus: "Zu den Sachen!",149 auch wenn Heidegger den rein prohibitiven Methoden­sinn einer "Fernhaltung alles nichtausweisenden Bestimmens" (47) betont. Sofern jede Wissenschaft von den Sachen selbst zu sprechen vorgibt, sind nämlich Versicherungen darüber, dass sich die Phäno­menologie an die Sachen selbst zu halten hat, wie Heidegger selber notiert, "reichlich selbstverständlich" (28). Vermutlich versteckt sich darin sogar ein Seitenhieb gegen die "Naivität" der husserlschen Phänomenologiekonzeption.

Viel spannender wird es, wenn Heidegger sich zu bestimmen an­schickt, was die Phänomenologie primär zu beschäftigen habe. Es ist schön und gut, die Sachen, wie sie von sich aus sind und sich von sich aus zeigen, auch zeigen zu wollen, aber was soll denn die Phä­nomenologie sichtbar machen? Was muss Thema einer ausdrück­lichen phänomenologischen Ausweisu~g werden? Heideggers Ant­wort ist von verblüffender Kühnheit: "Offenbar solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, dass es seinen Sinn und Grund ausmacht" (35).

Ausdrückliches Thema der Phänomenologie soll also das sein, was sich nicht (!) zeigt (eine Konzeption, die Husserl natürlich vor den

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Kopf stieß), was aber dennoch danach schreit, offenbar zu werden, da es den Grund von allem ausmacht. Das Phänomen, das Heideg­ger hier im Auge hat, ist offenbar das Sein. Es zeigt sich ja nicht, wird ja sogar als Thema verdrängt, aber die Erörterungen über das Seinsverständnis haben gerade erweisen wollen, dass allem Verste­hen und Verhalten zu Seiendem ein solches Verständnis zugrunde liegt. Als Methode bildet also die Phänomenologie die Zugangsart zum Thema der Ontologie (35). Wie soll aber die Phänomenologie die Zugangs art zum Sein freilegen? Eine vertrackte, aber notwen­dige Frage: Wie lässt sich denn das, was sich nicht zeigt, überhaupt zeigen? Es liegt auf der Hand, dass die Phänomenologie ihre zu­gangserschließende Aufgabe nur erfüllen kann, wenn sie sich als Hermeneutik versteht. Daher erklärt sich Heideggers leider allzu knappe Bezugnahme auf die Hermeneutik am Ende seiner langen Ausführungen über die Phänomenologie.

Wie ist sie des Genaueren zu verstehen? In der Heidegger-Litera­tur gibt es eine allgemeine Erklärung, um diese hermeneutische Wende der Phänomenologie verständlich zu machen. Die Phänome­nologie sei etwa hermeneutisch, weil die "Sachen", mit denen sie es zu tun habe, interpretatorischer Natur seien. Es gebe somit keine Sachen an sich, sondern nur interpretierte. Sachlich mag das sinnvoll sein, aber diese Deutung findet keinen direkten Anhalt im Text von Heidegger. Nirgends sagt er nämlich, dass die hermeneutische Aus­richtung der Phänomenologie so zu fassen sei. Einschlägiger noch: Nirgends sagt er, dass es keinen Zugang zu den Sachen selbst gibt. Er behauptet geradezu das Gegenteil in der Einleitung, aber auch im zu Recht berühmten § 31 von Sein und Zeit über "Verstehen und Auslegung", dem hermeneutischen Zentrum des Werkes, wo er ex­pressis verbis von der Auslegung schreibt, dass ihre "erste, ständige und letzte Aufgabe bleibt, sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vor­griff nicht durch Einfälle und Volksbegriffe vorgeben zu lassen, son­dern in deren Ausarbeitung aus den Sachen selbst her das wissen­schaftliche Thema zu sichern" (153). Heidegger hält durchaus an einer Ausweisung "aus den Sachen selbst" fest. Es ist also verfehlt, die hermeneutische Orientierung der Phänomenologie allein aus dem interpretatorischen Charakter der Phänomene erklären zu wol­len (was die Einleitung auch nicht tut).

Der hermeneutische Charakter der Phänomenologie erklärt sich auch besser und einsichtiger aus dem Kontext der Einleitung, wo er explizit gefordert wird.150 Bei der Einführung des Grundproblems der Phänomenologie wird nämlich mehrfach darauf hingewiesen,

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dass ihr Thema "verborgen" sei. Heidegger sagt auch vielfach, es sei "versteckt", "verstellt", "verdeckt", "vergessen", "verschüttet" usw. Just gegen diese Verdeckung, die eigentlich eine Verdrängung ist, er­hebt sich die Phänomenologie: "Und gerade deshalb, weil die Phä­nomene zunächst und zumeist nicht gegeben sind, bedarf es der Phänomenologie. Verdecktheit ist der Gegenbegriff zu ,Phänomen'" (36; vgl. GA 20, 119: "Das Verdecktsein ist der Gegenbegriff zu Phä­nomen, und die Verdeckungen sind es gerade, die das nächste Thema der phänomenologischen Betrachtung sind"). Um diese feh­lende Phänomenologizität aber namhaft zu machen als das, was sie ist, d. h. als Verdeckung, bedarf es der Auslegung, d. h. der Herme­neutik. Aus der hermeneutisch gewordenen Phänomenologie sollen nämlich die Motive dieser Verdeckung aufgeklärt, ja destruiert wer­den. In diesem Sinne sprach ja der oben angeführte Natorp-Bericht von 1922 von den "verdeckten Motiven", denen die phänomenolo­gische Hermeneutik nachzugehen habe. Dieser kritische Hermeneu­tikbegriff, der sich übrigens bestens in die Kontinuität der herme­neutischen Tradition stellt, die stets nach dem Motiv (scopus ) hinter dem Buchstaben fragte, bildet somit die notwendige Ergänzung einer jeden Phänomenologie. Wiederum zeigt sich hier, wie 1922, dass die Hermeneutik mit der Destruktion Hand in Hand geht. Es soll nämlich erklärt werden, warum das Dasein bzw. die Philosophie das doch dringliche Seinsthema in der Verborgenheit (bzw. Verges­senheit) hält. Darin versteckt sich nämlich eine Flucht der Philoso­phie und des Daseins vor ihrer primären Sorge, dem Sein.

Diese Flucht ist wiederum in der Konstitution des Daseins be­gründet, nämlich in dessen Hang zum Wegsein, d. h. seiner Tendenz, seiner dringlichsten Frage, d. h. - augustinisch gesprochen - der Frage, die es doch für sich selber ist151 , auszuweichen. Dies hat eine beträchtliche systematische Folge. Die phänomenologische Herme­neutik der Seinsvergessenheit ist in die Hermeneutik des Daseins zurückzuverfolgen. Die Verschüttung der Seinsfrage ist eigentlich die Tat des von sich selbst fallenden Daseins. Die Hermeneutik will somit das Dasein aus seiner eigenen Verfallstendenz erschüttern. Just in dieser Erschütterung und in einem zu erweckenden Wachsein des Daseins über sich selbst sah die frühe Vorlesung vom Sommersemester 1923 (GA 63, 15) die Grundaufgabe der Herme­neutik: "Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine

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Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein. [ ... ] Thema der hermeneutischen Untersuchung ist je eigenes Da­sein, und zwar als hermeneutisch befragt auf seinen Seinscharakter im Absehen darauf, eine wurzelhafte Wachheit seiner selbst auszu­bilden. "152

Die elliptischen und gedrängteren Formulierungen von Sein und Zeit zur Hermeneutik fallen wohl etwas weniger dramatisch aus und beziehen sich zweifelsohne betonter auf die Seinsfrage. Aber der Einführung des Hermeneutikkonzeptes (37ff.) gingen unmittelbar Überlegungen (36) über das Verstecken, die Verstellung, Verschüt­tung und Verdeckung der Seinsfrage aus. Sie gründen offenbar in einer Selbstverstellung des Daseins. Die Seinsvergessenheit geht nämlich mit einer Daseinsvergessenheit einher. Aufgabe der Her­meneutik des Daseins, die sich jetzt auch als Ontologie des Daseins bezeichnen lässt, ist es, das Dasein für sich selbst und das Sein für die Philosophie zurückzugewinnen. Allein eine solche destruierende Hermeneutik kann also das Sein und das Dasein phänomenologisch sichtbar werden lassen. Wer sehen, d. h. Phänomenologie treiben will, muss zunächst die das Sehen verhindernden Verdeckungen kraft eines hermeneutischen Rückganges auf die verborgenen Moti­ve der Verschüttung destruieren. Die eigentliche Methode der her­meneutischen Phänomenologie bleibt also die der Destruktion (die stillschweigend die husserlsche Reduktion ablöst). Deshalb wird die Hermeneutik des Daseins die Basis bilden, von der her die phäno­menologische Ontologie ihren Anlauf nehmen wird. Dies ist der bündige Sinn der geschlossenen Philosophie konzeption, mit der Heidegger seine einleitenden Überlegungen faktisch beschließt: "Philosophie ist universale phänomenologische Ontologie, aus­gehend von der Hermeneutik des Daseins, die als Analytik der Exis­tenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt" (38). So formelhaft die Titel Ontologie und Phänomenologie klingen mögen, ihre hermeneutische Inanspruchnahme und das Zurück­schlagen auf die Existenz deuten unmissverständlich auf die ethi­sche Dimension des heideggerschen Unternehmens hin.

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III. HEIDEGGER UND AUGUSTIN ZUR HERMENEUTISCHEN WAHRHEIT

Was ist hermeneutische Wahrheit? In aller Kürze ist es die Wahr­heit des Verstehens. Die Wahrheit des Verstehens meint sicherlich im Sinne des genitivus obiectivus die Angemessenheit, die Adäquat­heit des Verstehens. Aber die Wahrheit des Verstehens ist auch hier als genitivus subiectivus zu hören, d. h. als die Wahrheit, die dem Verstehen als solchem eignet. Es ist für die Wahrheit des Verstehens konstitutiv, dass der Verstehende zu dem gehört, was er versteht. Dieses Verstehen der Wahrheit ist von einem Wahrheitsverständnis abzuheben, das Wahrheit im Gegenteil als etwas von mir Unabhän­giges konstruiert, in dem Sinne etwa, wie man sagen kann, dass ein mathematischer Satz wahr ist, auch wenn und gerade weil dessen Geltung von mir unabhängig bleibt. Dies kann man ruhig eine "ob­jektive" Wahrheit nennen, und die hermeneutische Wahrheit wollte sie nie in Abrede stellen.

Zur hermeneutischen Wahrheit gehört indes, das sie sich nur im Vollzug erfahren lässt. Dies muss aber nicht im Sinne des Pragmatis­mus eine Wahrheit sein, die mir "passt" oder die mir nützlich ist. Denn die sog. "schmerzliche Wahrheit" - die ja für unser endliches Dasein keine entlegene Erfahrung ist - gehört auch und erst recht zur hermeneutischen Erfahrung. Sie ist eine Wahrheit, die mich betrifft und vielleicht direkter und objektiver als jede von mir unab­hängige Wahrheit, auch wenn sie von keinem anderen nachvoll­zogen werden kann. Man kann sich etwa vorstellen, dass jemand durch eine Anspielung in einem Vortrag oder in einem Gespräch etwas sagt, was mich trifft, was mir nahe geht und mir dadurch etwas erschließt: Schmerzliches, Erfreuliches, was auch immer, aber ein Wahres, wobei es sehr wohl möglich ist, dass ich der Einzige im Saal bin, der diese Wahrheit erfährt, dem die Augen dabei aufgehen. Nichtsdestoweniger darf man auch für diese Wahrheit von Adäquat­heit, von Richtigkeit sprechen: Was mir da mitgeteilt, erschlossen wird, entspricht dem, was da ist, lässt mich erfahren, wie es mit der Sache steht - auch wenn es mir nicht passt und gerade dann, wenn es mir nicht in den Kram passt. Diese Erfahrung machen wir stän­dig, sind wir doch selbstbekümmerte Wesen, die sich selbst fraglich

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sind und dadurch von Wahrheits erfahrungen betroffen, die uns nahe gehen, die unsere Fraglichkeit mit in die Erschließung der Wahrheit hineinziehen, ja die diese Fraglichkeit selber erschließen.

Diese Erfahrung ist die der hermeneutischen \\'ahrheit. Diese Wahrheit, die zum Sinn des Daseins gehört, ist eine, die Heidegger mit Augustin teilt. Diese hermeneutische Wahrheit ließe sich auch als eine augustinische bezeichnen. Die Motivation für Augustin ist gewiss religiös: Die mich betreffende Wahrheit ist die, die den Sinn meines Lebens angeht und d. h. die, die mich sogar rettet, auch wenn ich vor ihr nicht bestehen kann. Ihren Vollzug hat Augustin deshalb in seinen Confessiones, in einem Selbstgespräch vor Gott zur Aus­führung gebracht.

Wenn ich behaupte, dass Augustin und Heidegger diese Wahrheit teilen, so ist das nicht nach der Richtung zu banalisieren, dass Hei­degger etwa diese Wahrheit von Augustin "übernommen" hätte oder dass Augustin ihn historisch "beeinflusst" hätte. Das kann man nicht so genau wissen, auch wenn vieles dafür sprechen mag. Es ist wichtiger, die philosophische Entsprechung beider Denker zu sehen, denn sie bürgt auch für ein Philosophieverständnis, aber auch eine Praxis der Philosophie, die mit einem Daseinsverständnis zu­sammenhängen, das Heidegger und Augustin engstens verbindet. Denn man konnte lange die Vermutung hegen, dass Heideggers berühmte Umschreibung des Daseins in Sein und Zeit als des Seien­den, dem es "in seinem Sein um dieses Sein geht", eine augustini­sche Quelle hatte. Hannah Arendt hatte seit langem auf die augusti­nische Formel, dass ich für mich selbst eine offene Frage bin (quaes­tio mihi factus sum), hingewiesen, als sie selber konsequent den Weg von Heidegger zu Augustin zurückging. Die berühmte Formel taucht nun so oft in der neuerdings veröffentlichten Augustin-Vor­lesung vom Sommersemester 1921 auf, dass man vor der Konse­quenz nicht zurückschrecken darf, dass das heideggersche Daseins­verständnis nichts anderes tut, als ein augustinisches Zitat auf den Begriff zu bringen. Dies wird umso deutlicher, wenn man bedenkT, dass Sein und Zeit der oben genannten "Definition" des Daseins eine auch sonst in den Vorlesungen traktierte Erörterung über die Struktur des "Fragens" vorangehen lässt, aus der hervorgeht, dass das in Frage Stehende immer und primär das Dasein ist. Dieses Seiende, das "die Seinsmöglichkeit des Fragens" hat, fasst Heideg­ger terminologisch als Dasein. In letzter Radikalität ist es das Seien­de, das für sich selbst eine Frage ist, wie es Augustin fasste: Quaestio mihi factus sum, wobei "factus" bereits eine schöne Vorwegnahme

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der "Faktizität" indiziert, die in den früheren Vorlesungen Heideg­gers so überragend ist und in Sein und Zeit etwas zurückzutreten scheint, und zwar zugunsten der "Seinsfrage" .

So mochte es für manche verblüffend erscheinen, dass in Sein und Zeit diese radikale Fraglichkeit dem Sein zugesprochen wurde, als Heidegger etwa behauptete, dass "das Seiende vom Charakter des Daseins zur Seinsfrage selbst einen - vielleicht sogar ausgezeichne­ten - Bezug hat" (SZ, 8). Gemeint ist aber hier nicht das Sein der aristotelischen Metaphysik oder die semantische Frage nach dem einheitlichen Sinn des Verbs "sein", sondern die Frage nach dem Sein, das für sich selbst fraglich ist, d. h. nach dem Seienden, dem es in seinem Sein um dieses Sein geht, d. h. die Frage nach unserem Seinkönnen oder nach dem, was Heidegger in seinen frühesten Vor­lesungen das "Wie" der Faktizität nennt. Dieses Wie, dieses Sein­können lässt sich nur als Vollzug ansprechen, denn es geht nicht um eine feststellbare Tatsache, um ein "Objekt", das mir gegenüber­stünde, sondern um eine Aufgabe, die ich aufzunehmen habe, die ich aber auch verfehlen kann, indem ich mich von anderen Beschäfti­gungen ablenken lasse, ab-lenken nämlich von der zentralen Frage, die ich für mich selbst bin. Da-sein, erläuterte Heidegger in seinen frühen Vorlesungen, heißt gerade "Nichtweglaufen",153 sondern die­ses Dasein in einem gewissen "Wie" zu vollziehen.

Erst recht in Augustin konnte Heidegger einen Gewährsmann für eine solche Wahrheits erfahrung finden, die sich gerade darin be­zeugt, dass sie sich meist verfehlt. In der Vorlesung vom Sommer­semester 1921 schließt sich Heidegger daher kongenial an die augus­tinische Redeweise von der defluxio, von der Zerstreuung des Lebens an: "Denn in multa defluximus, wir zerfließen in Mannigfal­tiges und gehen in der Zerstreutheit auf. "154 Sehr gen au wird auch Heidegger die verschiedenen Richtungen der "Defluxionsmöglich­keit" des Daseins verfolgen, deren es drei gibt: die concupiscentia carnis, die concupiscentia oculorum und die ambitio saeculi. AbE;r Heidegger geht es nicht um die Klassifizierung der concupiscentia

, als solche, denn nur "von außen gesehen sieht es so aus, als gäbe Augustin eine bequeme Klassifikation der verschiedenen Richtun­gen der concupiscentia"155 oder "Begierlichkeit". Es geht Heidegger nicht um eine moralisch-religiöse Verurteilung der tentatio, sondern um die Zwiespältigkeit des Lebens selber, die Augustin mit so hellen Augen gesehen hat. Denn es gehört auch zu dieser Zerrissenheit, dass man nicht einmal weiß, ob man sein Wie, sein Da eigentlich oder uneigentlich vollzieht, weil dem Dasein eine letzte Sicherheit

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abgeht. Es ist nach Heidegger gerade Augustins ungeheures Ver­dienst, diese radikale Unsicherheit und Zerrissenheit gesehen zu haben, auch wenn es auch bei ihm die unleugbare Tendenz gab, sie durch den Bezug zu Gott zu überwinden. In dieser beschwichtigen­den Tendenz sieht Heidegger - phänomenologisch vielleicht nicht zu Unrecht - einen "Abfall" von dem Ansatz bei der Frage, die ich für mich selbst bin. Denn: "Mit dem ,quaestio mihi factus sum' steigert sich der Abstand von Gott" (GA 60,283). So verspricht Heidegger sozusagen augustinischer als Augustin zu sein und bei der radikalen Fraglichkeit, die das Dasein für sich selbst ist, auszuharren: "So ist der Erfahrungsvollzug für sich selber immer in Unsicherheit. Es gibt gar keinen medius [ocus im Erfahrungszusammenhang, wo nicht die Ge­genmöglichkeiten mit da wären, sodass Augustin sagen muss: ex qua parte stet victoria nescio" (wohin das eigene Leben schließlich aus­schlägt [weiß ich nicht]). Es ist eine teuflische Zerrissenheit im Erfah­ren als solchem aufgedeckt" (GA 60,209).

Diese faktische, also unentrinnbare Verunsicherung ist gerade die phänomenologische Dimension, die Heidegger an der Erfahrung des Urchristentums wiederzugewinnen strebt. Sein erster Gewährs­mann ist hier Paulus, weil er sehr wohl erkannte, dass dem Christen die Sicherheit über das neue Kommen des Herrn vollkommen ent­gleitet. Das zeitigt auch Konsequenzen für das Zeitverständnis, das Heidegger aus der Erfahrung des Urchristentums herauszugewin­nen trachtet, dieses alles überragende Thema der Zeit, dem Heideg­ger und Augustin ihre prägnantesten Seiten gewidmet haben: Die Hoffnung, die Erwartung auf das Kommen des Herrn ist nach Hei­degger nicht ein Warten auf ein kommendes, künftiges, punktuelles Ereignis, sondern deutet auf ein Wie der Existenz, das uns auf uns selbst und unsere radikale faktische Unsicherheit zurückweist.156

Was Heidegger an dieser Zeitlichkeit fasziniert, ist, dass es - ent­gegen der traditionellen Auffassung der Zeit als eines Kalküls des Geschehens - eine Zeit ist, mit der man gerade nicht "rechnen" kann. Das geläufige Rechnen mit der Zeit ist deshalb für Heidegger uneigentlich, weil es eine abstrakte, unendliche und lineare Zeit konstruierte, die sozusagen die grundlegendere Unberechenbarkeit der Zeit verdecken will. Diese Erfahrung der Zeitlichkeit, des Seins in der rechnungspottenden Zeit, fand Heidegger im Urchristentum. Für den Christen ginge es allein um dieses neue "Wie" des fakti­schen Lebens, nicht um einen festen Halt, vielmehr um das gerade Gegenteil: "Für das christliche Leben gibt es keine Sicherheit; die ständige Unsicherheit ist auch das Charakteristische für die Grund-

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bedeutendheiten des faktischen Lebens. Das Unsichere ist nicht zu­fällig, sondern notwendig" (GA 60, 105). Dies mag übrigens dazu beitragen, ein Licht auf Heideggers teilweise sehr scharfe Polemik - damals schon, aber auch später - gegen die katholische Welt­anschauung und ihre Institutionen157 zu werfen, die er geradezu eines Verrats an ihrer Sache zieh, weil sie gerade die christliche Ur­erfahrung der radikalen Unsicherheit in ihr Gegenteil, nämlich in ein System der Heilssicherung verkehrt habe. So behauptet Heideg­ger: "Der Christ findet nicht in Gott seinen 'Halt' (vgl. Jaspers ). Das ist eine Blasphemie! Gott ist nie ein 'Halt'" (GA 60, 122). Man könnte noch weiter gehen und darin den wahren Grund für Heideg­gers komplexe "Entfremdung" vom Christentum, zumindest vom offiziellen, dogmatisch-kirchlichen Christentum erblicken: Indem er sich gegen das kirchliche System der Heilssicherung wandte, glaubte er vielleicht selber noch "christlicher" zu sein als die offizielle Theo­logie. Dass er in Paulus, Augustin und Luther Stützen für seine Ab­kehr von jeder rationalisierenden Theologie - im Namen einer theo­logia crucis, die bei Heidegger wohl fehlt, aber deren Stelle durch eine hölderlinsche und nietzschesche Theologie des Fehls Gottes ge­füllt wird - finden konnte, leuchtet sachlich und historisch ein.

Aber diesen theologischen Faden werden wir hier leider nicht weiterverfolgen. Uns interessiert hier primär Heideggers phänome­nologische Rezeption Augustins, die darauf aus ist, philosophische Konsequenzen aus der von Augustin gesehenen radikalen Unsicher­heit des Verstehens für das Daseinsverständnis zu ziehen. Die her­meneutische Wahrheit, die daraus resultiert, wird selber eine in sich selbst zerrissene bleiben, eine für sich selbst fragliche. Das zeigt sich exemplarisch an Heideggers zentralem Verstehensbegriff. Der aus den methodologischen Diskussionen des 19.Jh. bekannte Terminus des Verstehens wird bei Heidegger seines rein kognitiven Charak­ters entkleidet. Wie in der umgänglichen Formel "sich auf etwas verstehen" zeigt Verstehen ein Können an, "in der Bedeutung von 'einer Sache vorstehen können', 'ihr gewachsen sein'''.158 Etwas ver­stehen heißt nicht in erster Linie etwas theoretisch erkennen, son­dern damit fertig werden, damit zu Rande kommen. Aber die Pointe dieses Verstehens ist eben, dass dieses Verstehen, das ein Können unserer selbst indiziert, immer zugleich ein Nichtverstehen, ein Nichtkönnen ist. Wir sind auf das Verstehen und das Können aus, weil sie uns auf grundsätzlichem Niveau geradezu fehlen. Einer Sache gewachsen sein bedeutet ja, dass man ihr gerade und nur "ge­wachsen" ist und dass dieses Können stets auch in ein Nichtkönnen

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umzuschlagen droht. Diesen Umstand drückt auf schlagartige Weise der in Sein und Zeit eingeführte159 Begriff der Geworfenheit aus: Wir finden uns in den Fluss der Existenz geworfen, wo uns jeder ab­solute Halt abgeht, so sehr wir uns mit der Illusion eines solchen trösten mögen. Nur eines ist sicher: der Tod. In den laufen wir vor, schreibt plastisch Heidegger, um den unaufhaltsamen Gang des bit­teren Endes zu betonen, das nicht nur irgendwann mal auf uns zu­kommt, sondern uns stets beherrscht. Wir suchen zu verstehen, weil wir in diesem Vorlaufen nichts verstehen und nur vorläufig ver­stehen. Nie verstehen wir etwas ganz, nie kommen wir mit dieser Welt ganz zu Rande, jede Wahrheit ist stets nur eine halbe Wahrheit, alle Versicherungen sind provisorisch, aber in dieser Zwielichtigkeit ereignet sich nun einmal alles menschliche Verstehen. Verstehen ist sozusagen ein flackerndes Wachsein in der Nacht, die umgreifender ist als jede Helle. Zwischen diesen zwei Polen des Wachseins und der Nacht schwebt das gesamte Denken Heideggers. Vielleicht hat er in seinen düstersten Momenten das Dunkle betont. In seinen jün­geren Jahren, zu denen die Hermeneutik der Faktizität von 1923 natürlich gehörte, insistierte er dafür mehr auf der Helle, auf der aufklärerischen Dimension des Verstehens, auf der "Anzeige des möglichen Wachseins"16o, die in jedem faktischen Dasein lauerte. "Hermeneutik" war dafür kein schlechtes Wort. Denn darin hört man auch den Götternamen Hermes und damit auch das Herme­tische dessen, was nach Verstehen drängt: Was man zu verstehen sucht und tatsächlich auch versteht, bleibt zugleich verschlossen. Gegenüber dieser unentrinnbaren Verstrickung von Verschlossen­heit und Erschlossenheit ist die ehrlichste Haltung eben die des Wachseins, des "Wachseins des Daseins für sich selbst"161. Nur das, aber zugleich nichts weniger als das.

Es gibt etwas augustinisches in der Art und Weise, wie Heidegger Wahrheit und Irre zusammensieht.162 Jedes Entdecken des Seienden ist zugleich ein Verdecken. Ja, das Motiv der Eitelkeit oder der vanitas, das bei Augustin so zentral ist, ist gar nicht so fern von dieser Aletheia-Konzeption Heideggers: Es ist ein Wahn zu meinen, das Entdecken sei nicht zugleich ein Verbergen. Schließlich wird Heidegger in gut augustinischer Nachfolge nahezu die gesamte Wis­senschaft, ja jeden Versuch, das Seiende zu erklären, der Seinsver­gessenheit verdächtigen. Sein Abschied von der Metaphysik oder, bescheidener gesagt, sein Versuch, von der Metaphysik Abstand zu nehmen, lässt sich durchaus als eine Kritik an der vanitas des Wis­sen- und Beherrschenwollens verstehen. Das Daseinsverständnis,

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das Heidegger dagegen aufrichtet, ist ein Dasein, das auf diese Sicherheit verzichtet und eine Wachsamkeit gegenüber der tentatio des Beherrschenwollens ausbildet.

Daher erklärt sich Heideggers lebhaftes Interesse für die Proble­matik der tentatio bei Augustin. Denn die größte tentatio ist nämlich die, dass sich das Dasein selbst versteckt. Das Dasein geht nur allzu gern in der Defluxion, in der Selbstzerstreuung auf, um seiner radi­kalen Unsicherheit auszuweichen. Das Motiv des "Man" findet sich hier bereits vorgebildet, erst recht das des "Geredes", das uns die Last unseres Daseins abnimmt. In der Herrschaft des "Redens" sieht der Heidegger der Augustin-Vorlesung geradezu den Herd der von ihm ins Philosophische gewendeten, d. h. zum Existenzial er­hobenen tentatio: "Die Charakterisierung der Sprache, genauer des Redens, des Sichmitteilens und Vernehmens als Herd dieser Weise von tentatio [im amari velle], führt den mitweltlichen Erfahrungs­zusammenhang auf die entscheidende Weise des Vollzugs mitwelt­lichen Erfahrens zu.rück. Zugleich ist damit angedeutet, wie gerade in dieser Vollzugsweise ihrem eigensten Sinne nach die Möglichkei­ten des Sichversteckens, Spielens usf. besonders groß sind" (GA 60, 229).

Dies ist die letzte Solidarität zwischen Heidegger und Augustin, die ich hier noch zur Sprache bringen möchte: ihre platonische Zurückhaltung gegenüber den umlaufenden Reden, d. h. dem Gere­de als einer das Dasein überwältigenden Zerstreuungsmöglichkeit. Sie begründet selbstverständlich die bedächtige Distanz, die Augus­tin und Heidegger gegenüber jeder Öffentlichkeit (die "alles ver­dunkelt"), ja gegenüber der Politik selbst einnehmen, als wäre die Selbstwelt in der verflachenden Öffentlichkeit des Politischen sich selbst entfremdet und nur in der civitas Dei heimisch. Dieses Civita­te-Dei-Motiv nährt bei beiden einen großen, kritisch zu nennenden Verdacht gegenüber den gängigen Mitteilungsformen, der scheinba­ren Kommunikation, ja gegenüber der Sprachlicheit als solcher, die Heidegger im Umkreis von Sein und Zeit sogar dazu führt, die Spra­che vom Horizont des Geredes aus zu betrachten und dadurch deren "Sekundarität" zu erweisen.163

Es ging aber dabei nicht um die Sekundarität der Sprache als sol­cher, sondern vielmehr um die Anfälligkeit des allzu menschlichen Verstehens für das Gerede, für das nur Nachgeredete, für das nicht wirklich Nachvollzogene. Die Destruktion ist just dagegen gerichtet. Es geht dabei Heidegger sozusagen um eine selbstkritische Sprach­lichkeit, die sich ihrer eigenen Mittel stets versichert und sich nicht

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von den umlaufenden Sprach- und Kommunikationsformen beirren lässt. Das Modell dieser Sprachlichkeit ist vielleicht weniger der Dialog als der Selbstdialog, das Selbstgespräch der Seele mit sich selbst. Es wird Heidegger ja oft vorgeworfen, dass er das Dialogi­sche verkannte, dass er kein Mensch des Dialogs gewesen sei usf. Wie es auch damit stehen mag, so glaube ich, dass Heidegger viel­leicht deswegen kein Mensch der "Kommunikation" war (soweit das stimmen mag), weil er erkannt hatte, dass vor jedem öffentli­chen und damit einebnenden Dialog das Dasein ein Dialog mit sich selbst war, eine Frage für sich selbst. Ja, jeder Weltbezug, jede Be­schäftigung mit umweltlichen, vorkommenden Dingen hatte für Heidegger in Sein und Zeit etwas von einer Flucht an sich, einer Flucht des Daseins vor sich selbst, wie er es in seiner ersten Marbur­ger Vorlesung einhämmerte,164 Der sehr schöne Begriff des "Weg­seins" als Gegenbegriff zum Dasein zeigt ja, dass sich eine gewisse Untreue in der Hingabe an die Welt versteckt, und damit meint Hei­degger in erster Linie die üblichen Formen des Umgangs und der öffentlichen Ausgelegtheit, die er zu Recht als durch die Herrschaft des Man und des Geredes gekennzeichnet sieht. Ich betone: zu Recht. Denn es steht zu befürchten, dass die Herrschaft des Geredes nur im Wachsen sein kann in einer Gesellschaft, die die Möglichkei­ten der Kommunikation scheinbar ins Unendliche potenziert hat, wo man alles zu jeder Zeit wissen kann und wissen muss, wo man mit jedem und d. h. mit niemandem kommunizieren kann. Aber ist das wirkliche Kommunikation, ist das wirklicher Dialog? Dieses Ge­rede bedroht nicht zuletzt die Philosophie, wo das Fehlen von ein­deutigen Antworten und festen Anhaltspunkten die Gefahr beson­ders steigert, dass man sich auch hier auf die Selbstsicherheit des Geredes ein- und verlässt.

Gerade weil er diese Zusammenhänge erkannt hat, hat sich Hei­degger von diesen Formen der Öffentlichkeit zurückgezogen. Nicht weil er die Kommunikation verabscheute, sondern im Gegenteil, weil er einer zu hohen Idee von ihr huldigte, um sie in der Form des Geredes zu praktizieren. Auch darin zeigt sich das augustinische Element an Heidegger: Unter der Herrschaft des Geredes bleibt jeder echte Dialog ein Gespräch mit Gott, ein confiteri. Natürlich meine ich das hier nicht in einem religiösen Sinne. Das Gespräch mit Gott, das jeder Mensch führt, ist das Gespräch mit der Instanz, die über die Herrschaft des Geredes erhaben ist und die es uns ge­stattet, das Gerede für das auszugeben, was es ist, d. h. leeres Ge­schwätz. Wenn das Sprachspiel nicht von einer anderen philosophi-

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schen Schule bereits besetzt worden wäre, könnte man sagen, dass dieses Gespräch mit Gott, das wir als Dasein sind, die kontrafakti­sche Präsupposition einer jeden idealen oder realen Kommunika­tionsgemeinschaft ist. Denn Kommunikation hat etwas von Kom­munion und Vereinigung an sich. Kommunikation gibt es nicht, wo man nicht miteinander kommt. Nur mit Gott gibt es dieses Ge­spräch (auch wenn es ihn nicht gibt).

Dass Philosophie sich in der Form von confessiones zu vollziehen hat, ist eine Einsicht, die Heidegger bei Augustin fasziniert hat. 165

Sie findet ihre Entsprechung im philosophischen Werk des großen Gott-Suchers unseres Jahrhunderts, Martin Heideggers, wie ihn Bernhard Welte und Gadamer genannt haben.166 Wie ein langes Selbstgespräch vor Gott, ein confiteri, nimmt sich auch das ganze Werk und Suchen Martin Heideggers aus. Nicht Werke hat er hin­terlassen, sondern Wege. Heidegger ist ein Denker, der Fragen stellt, der laut dachte und es in Kauf nahm, dass er dabei nur missverstan­den werden konnte. 167 Dass Heidegger in seinen Schriften und Vor­lesungen mit sich selbst zu Rate geht, ist auf allen Seiten erkennbar und findet meines Erachtens keine rechte Entsprechung in der ganzen Reihe der Klassiker des philosophischen Denkens bis auf die Ausnahme von Augustins soliloquia. Diese mit sich selbst sehr kritisch umgehende Offenheit des confiteor manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass Heidegger nach 1929 seine meisten Schriften zurückhielt. Es ist auch kein Geheimnis, dass die spätere Entwick­lung seines Denkens aufs Engste mit dem Motiv der Selbstinterpre­tation und dem augustinisch anmutenden Terminus der Kehre ein­hergeht. Schon sehr früh hatte Friedrich-Wilhelm von Herrmann auf die zentrale Bedeutung der Selbstinterpretation für das Denken Heideggers hingewiesen.168 Darin liegt kein Narzissmus169 oder ir­gendwe1che Selbstverherrlichung, die manche auch irritiert hat, son­dern das gerade Gegenteil: eine radikale Selbstunsicherheit und Of­fenheit des Fragens. In ihr bekundet sich die Wiederaufnahme des augustinischen Motivs des Selbstgespräches, das für Heideggers Phi­losophie- und Daseinsverständnis wegweisend zu sein scheint. Auch Heideggers "systematisches Hauptwerk", Sein und Zeit also, muss so gelesen werden. Es endet ja mit einer offenen Frage, die nahezu das ganze Unternehmen des Buches in Frage stellt: "Gibt es einen Weg zwischen Sein und Zeit?" Mit ähnlichen, das ganze Unterfan­gen in Zweifel stellenden Fragen pflegte auch Augustin seine Schrif­ten zu beenden.170 Sich selbst sicher war Heidegger nie. So ist es kein Zufall, wenn Heidegger so sehr an der Veröffentlichung seiner

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80 Heidegger und Augustin zur hermeneutischen Wahrheit

Vorlesungen lag. Denn die Vorlesungssituation ist die eines öffent­lichen Fragens, wo man es sich leisten kann, nicht auf alles eine Ant­wort parat zu haben.

Es gibt also einen wesentlichen Zug des heideggerschen Denkens, den man das Augustinische nennen könnte. Er liegt im Ernstneh­men dieser Frage, die ich für mich bin, der quaestio mihi tactus sum, die ja in Heideggers Grundbestimmung des Daseins eingeht. Ein für sich selbst fragliches Wesen muss sich jeder Sicherheit entledigen und seine eigene Zerrissenheit als Selbstgespräch erfahren. Als Heidegger am 30. November 1920 seine Religionsvorlesung unter­brach, um zur Explikation konkreter Phänomene überzugehen, tat er es, bekannte er seinen Zuhörern, "allerdings für mich unter der Voraussetzung, dass Sie die ganze Betrachtung vom Anfang bis zum Ende missverstehen"l71. So drängt sich hier die - zugestandener­maßen etwas banausische - Frage auf: Wer konnte denn Heidegger verstehen? Etwa Gott? Wie lauten noch die bedrängten Fragen des Feldweges? "Spricht die Seele? Spricht die Welt? Spricht Gott?"l72 In der Bedrängnis dieser Frage weiß sich Heideggers lebenslanges Selbstgespräch mit Augustin verbunden.

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IV. ZUR ORTSBESTIMMUNG DER HERMENEUTIK GADAMERS

VON HEIDEGGER HER

Es ist nicht sehr leicht, Gadamers Ort in der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu bestimmen. Es steht natürlich außer Zweifel, dass man Gadamer nur im Verhältnis zur Geschichte der Herme­neutik verstehen kann. Er hat sich selber so verstanden und in Wahrheit und Methode auch so dargestellt. In der Regel wurde er zudem so rezipiert. Aber das Verhältnis Gadamers zur Geschichte der Hermeneutik ist selber ein schwer zu bestimmendes. Gewiss, die Grundlinien sind bekannt: Gadamer hebt sich polemisch von den hermeneutischen Entwürfen von Schleiermacher und Dilthey ab: Sie hätten zu Unrecht - oder zu einseitig - die Hermeneutik rein methodologisch verstanden. Aber selbst diese überaus bekannte Kritik wirft bei genauerem Zusehen einige Fragen auf. Es ist so, dass Gadamer sowohl im Falle Schleiermachers als auch im Falle Dil­theys von einer romantischen Hermeneutik spricht, aber er tut es, um an ihr eine zu einseitige Orientierung auf die Methodenidee der neuzeitlichen Wissenschaft auszusetzen. Aber diese Charakterisie­rung ist bereits etwas merkwürdig: Kann man zugleich Romantiker und Methodenfanatiker sein? Verstand sich nicht die Romantik im Gegensatz zur methodenbesessenen Aufklärung?

Der Sinn der polemischen Distanznahme Gadamers gegenüber Dilthey und Schleiermacher steht indes außer Zweifel: Es geht bei Gadamer um eine andere Idee von Hermeneutik, also nicht um eine Methodologie, wie bei Schleiermacher und Dilthey. Aber kann man es Schleiermacher und Dilthey so verübeln, dass sie die Hermeneu­tik so verstanden, hatten sie doch die gesamte Tradition der regel­orientierten .Hermeneutik hinter sich? Das onus probandi der neuen Idee der Hermeneutik liegt also bei ihr. Ihr obliegt es, ihre eigene Glaubwürdigkeit zu verteidigen. Woher kommt jedoch diese neue Idee der Hermeneutik?

Gadamer beruft sich dabei vorzugsweise auf Heidegger. Darin wurde er auch von der Rezeption gefolgt. Es ist ja usus geworden, die goldene Linie nachzuzeichnen, die von Schleiermacher über Dilthey bis hin zu Heidegger und Gadamer hinführen soll. Aber je

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anhaltender man hinsieht, desto schwieriger wird es, diese Linie nachzuvollziehen. Gadamers Berufung auf Heidegger mag auch im Allgemeinen sehr einsichtig sein, aber es muss doch auffallen, dass sich Gadamer, in Wahrheit und Methode zumindest, sehr wenig mit Heideggers Konzeption der Hermeneutik auseinander setzt und je­denfalls nicht sehr kritisch (sehr im Unterschied zu seiner Beschäfti­gung mit Schleiermacher und Dilthey). So muss man Gadamers Ver­hältnis zu Heideggers "Hermeneutik" sozusagen auf eigene Faust zu bestimmen versuchen. Dies ist aber keine leichte Aufgabe und in meinen Augen noch ein Desiderat des N achdenkens.

Heideggers eigene Hermeneutikkonzeption ist ihrerseits eine sehr komplexe Sache - und eine umso komplexere, je anhaltender man sich mit ihr beschäftigt, wie dies durch die Veröffentlichung seiner früheren Vorlesungen und Texte immer besser möglich und zugleich stärker gefordert wird. Es lassen sich bei Heidegger drei relativ geschlossene (aber sehr wohl miteinander zusammenhängen­de) Hermeneutikkonzepte unterscheiden:

1. die frühe Hermeneutik der Faktizität (1923), 2. die Hermeneutik des Daseins in Sein und Zeit, 3. die spätere "Hermeneutik" der Geschichte der Metaphysik. Diese Unterscheidung beansprucht keinerlei Originalität, sie will

lediglich verständlicher machen, wie sich die Problematik der Her­meneutik bei Heidegger gestaltet und entfaltet. Man mag sich höchstens darüber wundern, dass für den späten Heidegger der Titel "Hermeneutik" beibehalten wird. Sicherlich nicht ohne Recht: Der späte Heidegger hat sich - bis auf kleine, allerdings nicht unwichtige Ausnahmen - in der Tat vom Terminus der Hermeneutik verab­schiedet. Nichtsdestoweniger lässt sich ohne allzu große interpreta­torische Gewalt Heideggers spätere Auseinandersetzung mit der abendländischen Tradition sehr wohl als eine Hermeneutik der Seins- bzw. der Metaphysikgeschichte bezeichnen. Man muss es nicht tun, aber man versteht doch einiges besser, wenn man dort weiterhin von Hermeneutik spricht. Aber darin liegt nicht die Poin­te dieser dreifachen Unterscheidung. Sie möchte in erster Linie, und nur im Modus des Fragens, auf die Schwierigkeit aufmerksam ma­chen, Gadamer einer von diesen drei Hermeneutikkonzeptionen zuzuordnen. Um dies zu verdeutlichen, seien kurz die jeweiligen Projekte Heideggers in Erinnerung gerufen. Man mag sich dabei mit allgemeinen, nicht polemisch intendierten Charakterisierungen begnügen, um den Boden für eine sachgemäße Ortsbestimmung der Hermeneutik Gadamers vorzubereiten.

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1. Die frühe Hermeneutik der Faktizität. In Unterwegs zur Sprache (1959), aber auch in Sein und Zeit hatte sich Heidegger bekanntlich, wenn auch geheimnisvoll auf den Titel der "Hermeneutik der Fakti­zität" berufen, um die Richtung seiner früheren Denkversuche zu kennzeichnen. Es handelte sich also in beiden Fällen um ein Selbst­zitat, das man aber - im Unterschied zu den üblichen Selbstzitie­rungsweisen - nicht recht nachvollziehen konnte, da so wenig, ja gar nichts von dieser früheren Hermeneutik publiziert war. Die Gerüch­te kursierten aber umso lebhafter, sodass diese frühe Vorlesung (die Gadamer auch gelegentlich erwähnte, beispielsweise in seinen Löwener Vorträgen von 1957 über "Das Problem des geschicht­lichen Bewusstseins") von einer großen Fama umgeben war. Sie ist seit 1988 veröffentlicht, mitsamt zahlreichen weiteren Vorlesungen des frühen Heidegger, die uns ein viel besseres und in der Tat sehr anregendes Bild der frühen Hermeneutik der Faktizität vermitteln helfen. Die Grundlinien der Faktizitätsproblematik beim frühen Heidegger sind bekannt, obgleich nicht immer sehr leicht nachzu­vollziehen, da Heideggers (natürlich in erster Linie mündliche) Aus­führungen zuweilen sehr stichwortartig bleiben. Dies gilt erst recht für die allgemeine Schilderung der Faktizität173 in der Vorlesung vom Sommersemester 1923 (GA 63,7):

"Faktizität ist die Bezeichnung für den Seinscharakter 'unseres' 'eigenen' Daseins. Genauer bedeutet der Ausdruck: jeweilig dieses Dasein (Phänomen der 'Jeweiligkeit'; vgl. Verweilen, Nichtweglau­fen, Da-bei-, Da-sein), sofern es seinsmäßig in seinem Seinscharak­ter 'da' ist. Seinsmäßig da sein besagt: nicht und nie primär als Gegenstand der Anschauung und anschaulicher Bestimmung, der bloßen Kenntnisnahme und Kenntnishabe von ihm, sondern Dasein ist ihm selbst da im Wie seines eigensten Seins. Das Wie des Seins öffnet und umgrenzt das jeweils mögliche 'da'. Sein - transitiv: das faktische Leben sein! Sein selbst nie möglicher Gegenstand eines Habens, sofern es auf es selbst, das Sein, ankommt."

Ein inzwischen wohl bekannter Text. Er ist alles andere als leicht, und man tut gewiss Recht daran, ihn durch Parallelstellen in den weiteren Vorlesungen zu erläutern. Aufgrund dieses Textbefundes allein kann man jedenfalls die sechs folgenden Momente der Fakti­zität herausstellen:

1) Die Faktizität bezeichnet zunächst unser bzw. 'unser' 'eigenes' Dasein, also etwas, was mir zu Eigen ist. Es fällt auf, dass Heidegger dabei Anführungsstriche verwendet (ob sie von Heidegger oder vom Herausgeber stammen, ist nicht auszumachen). Die Termini

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sind also mit Vorsicht zu gebrauchen. Die Anführungsstriche sind vermutlich so zu deuten, dass mit ihnen eine allgemeine Wesens aus­sage über die Faktizität intendiert ist, die aber selber nur individuell gegeben ist: Allgemeine Merkmale der Faktizität gibt es wohl nicht, außer eben der Tatsache, daß sie 'unser' 'eigenes' Sein indizieren;

2) Heidegger präzisiert alsdann, dass der Ausdruck "genauer" meine: "jeweilig dieses Dasein". Ob das so viel "genauer" ist, mag da­hingestellt sein, da Heidegger bereits gesagt hatte, dass die Faktizität unser eigenes Dasein bezeichne. Neu, oder "genauer" ,ist indes der Umstand, dass dieses "jeweilige" Dasein im Sinne einer "Weile" ver­deutlicht wird. Heidegger charakterisiert es tatsächlich durch drei Wörter desselben Stammes: jeweilig, Jeweiligkeit, Verweilen. Dieses "Verweilen" scheint also hier zu meinen, dass man in der Faktizität steckt, indem man in ihr verweilt. So ist es zum Beispiel, falls dieses Beispiel hier hilft, wenn man krank ist: Ich bin "jeweilig" krank, also nicht mein Nachbar ist es, aber so, dass diese "Jeweiligkeit" auch ein Verweilen in ihr einschließt: Wenn ich krank bin, stecke ich so sehr in der Krankheit, dass ich nicht von ihr weglaufen kann. Die Jeweilig­keit (jeder steht für sich) ist also ein Darinstecken, ein Im-Prozess­Sein, ein Vollzug. - Aber die Krankheit ist auch insofern ein schlech­tes Beispiel, als man sie überwinden kann: Man kann nachher von sich sagen, ich hatte Fieber, jetzt aber nicht mehr. Das wird man aber vom eigenen Dasein nie sagen können: Man steckt immer darin und kann nicht von ihm loskommen, wie man etwa von einer Krankheit oder einem schlechten Referat erlöst werden kann. Aber die zwei neuen Momente sind festzuhalten: die jeweilige Individualität des Daseins und sein "weilender", einnehmender Charakter.

3) Wohl deshalb sagt Heidegger danach, dass diese Faktizität bzw. dieses Dasein besagt: "nicht und nie primär als Gegenstand (der Anschauung und anschaulicher Bestimmung, der bloßen Kenntnis­nahme)". Ich stehe also nie "vor" meinem Dasein wie vor einem Gegenstand. Jede Vergegenständlichung der Faktizität würde ihr Gewalt antun, sofern sie eben nur "gelebt" werden kann. Das bleibt aber eine negative Charakterisierung. Ich bin nicht da als Gegen­stand für mich, sondern

4) "Dasein ist ihm selbst da im Wie seines eigensten Seins". Dies ist vielleicht die schwerste Charakterisierung, und zwar aus dem fol­genden Grunde: Auch wenn Heidegger (oder hier wiederum der Herausgeber?) den Akzent auf das "da" legt, würden wir wahr­scheinlich - im Sinne des 2. und 3. Momentes - den Akzent eher auf das "Wie" setzen: Ich bin nicht ein Gegenstand für mich, sondern

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nur da in einem gewissen Wie, in einem Vollzug. Die Opposition scheint also die von Vollzug und Gegenständlichkeit zu sein. Aber der Satz gewinnt einen neuen Sinn, wenn man den Akzent auf das Adjektiv "eigenstes" legen würde. Es ist auch sprachlich möglich und im Sinne des Superlativs sogar geboten, auf die Gefahr hin, dass der Satz dann befremdender wird. Er würde dann so viel besagen wie: Dasein ist ihm selbst da, indem (im "Wie") sein eigenstes Sein, d. h. seine mögliche Eigentlichkeit, wie es in Sein und Zeit heißen wird, offenbar wird. Es mag befremdend, weil sehr unvermittelt er­scheinen, aber es ließen sich zweifellos Parallelen bei Heidegger fin­den für diese Idee, dass das Dasein im Vollzug sein ureigenstes Sein (gar sein besseres Sein) zu gewahren bekommt (aber nicht als Ge­genstand). In Sein und Zeit wird diese Idee des eigensten Daseins oder der "Wahrheit der Existenz" nicht selten wiederkehren.

5) Eine "Öffnung" dieser Art kennzeichnet den weiteren Gang unseres Passus: "Das Wie des Seins öffnet und umgrenzt das jeweils mögliche 'da'. Sein - transitiv: das faktische Leben sein!" Dieser Textabschnitt scheint zunächst etwas einzuhämmern, was wir bereits wissen: Meine Faktizität ist nie Gegenstand, sondern "transitiv" nachzuvollziehen. Aber ein neuer Akzent ist doch hinzugekommen: Was das "Wie" eigentlich öffnet, ist "das jeweils mögliche da". Das klingt sehr ethisch: Im Wie meines Daseins öffnet sich der jeweils mögliche Spielraum meines "da", was ich also mit mir bzw. aus mir machen kann. Ein Imperativ ist also schwer überhörbar in dem Gebot mit Ausrufezeichen: "das faktische Leben sein!" Hier lässt sich sehr wohl eine et,hische Komponente (ich würde sogar sagen: Grundlage) an die Faktizitätsproblematik anschließen. Da das Sein des Daseins eines der Sorge ist, bedarf diese Sorge einer besonderen Sorge. Der Imperativ lautet hier ungefähr: Sorge dich um dich selbst, du, (vergessene) Selbstsorge, die du bist!

6) Die letzte Charakterisierung unseres Abschnittes betrifft auch diese Selbstsorge. Sie wird auch die Aufgabe der Hermeneutik nach sich ziehen. Heidegger schreibt: "Sein selbst nie möglicher Gegen­stand eines Habens, sofern es auf es selbst, das Sein, ankommt." Dass das Dasein nicht gegenständlich zu fassen ist, wissen wir be­reits (obgleich Heidegger de facto - aber nolens volens - nichts an­deres tut, als die Faktizität gegenständlich bzw. theoretisch fassen zu wollen). Aber es ist so, sagt Heidegger, weil oder "sofern es auf es selbst, das Sein" ankommt (Heidegger schreibt "das" Sein, meint aber offenbar "sein" Sein). Das führt am weitesten, weil diese Cha­rakterisierung die alles bestimmende des Daseins in Sein und Zeit

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werden wird: das Sein, dem es in seinem Sein um sein eigenes Sein geht. Und der Sinn ist klar: Ich bin nie da als gleichgültiger Be­obachter, sondern im Modus des Sorgens, der Bekümmertheit, ja der Selbstbekümmertheit.

Warum fordert aber diese Faktizität eine Hermeneutik? Wie ist dieser Titel zu fassen? Heideggers erste Antwort ist zunächst pau­schal und sehr allgemein: "Der Ausdruck Hermeneutik soll die ein­heitliche Weise des Einsatzes, Ansatzes, Zugehens, Befragens und Explizierens der Faktizität anzeigen" (GA 63, 9). Man könnte auch hier lange Ausführungen über die Bedeutung des Einsatzes, An­satzes, Zugehens, Befragens und Explizierens anstellen, aber ge­wichtiger ist zweifelsohne das Verb "anzeigen", auch wenn es im Duktus des Satzes eher unterbetont erscheinen mag. Die Herme­neutik will die Faktizität "anzeigen" (und den Nebensinn von An­zeige als "öffentlicher Denunziation" soll man m.E. hier nicht ganz aus dem Auge verlieren, auch wenn er in der Forschung so gut wie nie hervorgehoben wird). Warum wird aber hier ausgerechnet der Titel "Hermeneutik" gewählt? Die einheitliche Weise des Auslegens der Faktizität bleibt ja eine etwas vage Bezeichnung. Heidegger gibt aber wesentliche Winke. Das Wort Hermeneutik wurde in der ur­sprünglichen Bedeutung von "Auslegung" gewählt, sagt Heidegger, "weil es - wenngleich grundsätzlich ungenügend - doch anzeigen­derweise einige Momente betont, die in der Durchforschung der Faktizität wirksam sind" (GA 63, 15). Welche Momente? Heidegger erläutert sie sogleich und mit großem Nachdruck: "Im Hinblick auf ihren 'Gegenstand' [mit Anführungszeichen, da wir inzwischen gut wissen, dass das Dasein nie primär als Gegenstand zu fassen ist] zeigt die Hermeneutik als dessen prätendierte [die Vorsicht dieses Wortes sei hervorgehoben] Zugangsweise an, dass dieser sein Sein hat als [1] auslegungsfähiger und [2] -bedürftiger, dass es zu dessen Sein gehört, irgendwie [3] in Ausgelegtheit zu sein" (15). Ein wie­derum geladener Satz, der aber den Vorgang der hermeneutischen Thematisierung der Faktizität in ihrem "Gegenstand" begründet sein lässt: Die Zugangsweise zur Faktizität ist eine hermeneutische, weil ihr Gegenstand von Hause aus ein hermeneutisches, ein ens hermeneuticum ist. Man wird vielleicht entgegnen, dass das eine nicht unbedingt aus dem anderen folge: aus dem Umstand nämlich, dass der Gegenstand "hermeneutisch" sei, folgt ja nicht unbedingt, dass die "beste" Zugangsweise auch "hermeneutisch" sein müsse. Aber Heidegger ist davon überzeugt und wird wohl darin eine der Pointen seiner Hermeneutik der Faktizität gesehen haben: Die (phi-

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losophierende) Zugangsweise geht selber vom Dasein aus, sie ist selber eine (Selbst-)Auslegung der Faktizität. Aber die wahre Pointe der Hermeneutik liegt darin, dass sie nicht nur vom Dasein ausgeht, sie soll auch für es entwickelt werden: Die Hermeneutik geht nicht nur aus dem Dasein aus, sie ist auch da um des Daseins willen. Sie will zum Dasein allererst führen. Das macht ihren "kämpferischen" oder junghegelianischen Geist aus, den Heidegger auch mit starken, dramatischen Worten zu Gehör bringt: "Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Da­sein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfrem­dung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Her­meneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein" (GA 63, 15).

In seinem lehrreichen Hermeneutikbuch hat Ben Vedder neuer­dings ausgeführt, dass Heidegger dabei drei wichtige Momente für die Bedeutung der Hermeneutik herausstellt: das Zugänglichma­chen, das Mitteilen und das Erforschen der Selbstentfremdung174•

Man könnte aber die Trias auch im Sinne einer Erläuterung lesen: Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein diesem Da­sein selbst zugänglich zu machen, das heißt: ihm mitzuteilen und das heißt: der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzujagen. Die Frage möchte ich nicht entscheiden (das "Mit­teilen" und das "Zugänglichmachen" hören sich jedenfalls sehr ähn­lich an). Sicher ist auf jeden Fall, dass diese Hermeneutik Angriffs­charakter hat. Sie möchte die Faktizität erschüttern,ja wachrufen. In der Hermeneutik bilde sich ja nach Heidegger "für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein" (ebd.). Ihr Telos bezeichnet sie auch bekanntlich als ein Wachsein des Daseins und, es ist zu betonen, des je eigenen Daseins, über sich selbst: "Thema der hermeneutischen Untersuchung ist je eigenes Dasein, und zwar hermeneutisch gefragt auf seinen Seinscharakter im Absehen darauf, eine wurzelhafte Wachheit seiner selbst aus­zubilden" (GA 63, 16).

Heidegger setzt dabei voraus, dass sich das Dasein meist verfehlt, wenn es den beruhigenden hergebrachten Interpretationen folgt. Dieses Selbstverfehlen, dieses "SichausdemWegegehen"175, kurzum dieses "Wegsein" des Daseins möchte die Hermeneutik der Fak­tizität "anzeigen" (wobei "anzeigen" sehr wohl seinen im Deut­schen üblichen Sinn von "öffentlicher Bekanntmachung eines Un­rechts" zurück gewinnen mag). Die Auslegungen, denen das Dasein dabei verfällt, sind schlichtweg zu destruieren, sagt kämpferisch

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Heidegger, sodass die Aufgabe der Hermeneutik nur als Destrukti­on nachzuvollziehen sei, wie es im Natorp-Bericht von 1922 heißt: "Die phänomenologische Hermeneutik der Faktizität sieht sich demnach, sofern sie der heutigen Situation durch die Auslegung zu einer radikalen Aneignungsmöglichkeit verhelfen will- und das in der Weise des konkrete Kategorien vorgebenden Aufmerksam­machens -, darauf verwiesen, die überkommene und herrschende Ausgelegtheit nach ihren verdeckten Motiven, unausdrücklichen Tendenzen und Auslegungswegen aufzulockern und im abbauenden Rückgang zu den ursprünglichen Motivquellen der Explikation vor­zudringen. Die Hermeneutik bewerkstelligt ihre Aufgabe nur auf dem Wege der Destruktion. "176

So viel zur Hermeneutik der Faktizität. Wir halten also fest, dass diese Hermeneutik "das je eigene Dasein" zum Thema hat, um es ihm selbst zugänglich zu machen, damit es für sich selbst verstehend werde und so ein wurzelhaftes Wachsein entwickle. Kommen wir jetzt zur "zweiten" Hermeneutik Heideggers:

2. Die Hermeneutik des Daseins in "Sein und Zeit". Diese Herme­neutik ist im Prinzip die bekannteste, oder die bekanntere, sodass man sich hier vielleicht kürzer fassen kann. Sie stellt sich selbst in die Kontinuität der Hermeneutik der Faktizität, die damals (1927) freilich nicht greifbar war. Aber diese Kontinuität ist nicht reibungs­los. Die Hermeneutik von Sein und Zeit - und gemeint ist hier die Hermeneutik, wie sie sich in SZ vorstellt, und dies vor allem in der (späteren) Einleitung zum Werk - charakterisiert sich nämlich durch zwei wesentliche, aber neue Momente im Vergleich zur Her­meneutik der Faktizität, aus der sie immer noch herkommt. Diese Differenzen sind also nicht überzubetonen, aber sie sind m. E. un­verkennbar: 1) Während die frühere Hermeneutik des Dasein un­missverständlich "das je eigene Dasein" bzw. "je eigenes Dasein" zum Thema hatte (GA 63, 15, 16), also noch durchaus existentiell akzentuiert war177, scheint die Hermeneutik von Sein und Zeit eher das Dasein im Allgemeinen, in "existentialerer" Hinsicht anvisieren zu wollen. Wir werden es sogleich zu beobachten Anlass haben. 2) In Sein und Zeit wird ferner die Hermeneutik viel stärker Ga aller­erst) auf die Seinsfrage vereidigt, was in der frühen Vorlesung (trotz ihres Nebentitels "Ontologie") nicht recht zu bemerken war. Die Unterschiede sind hier fein, aber dennoch mit Entschiedenheit zu ziehen. Vom Sein war zwar in der frühen Vorlesung die Rede. Hei­degger sagte ja, es sei Aufgabe der Hermeneutik, das je eigene Sein in seinem Seinscharakter zugänglich zu machen. Gemeint war aber

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das Sein des Daseins, das es als Vollzug (bzw. als Wie bzw. als mög­liches Wachsein) zu bestimmen galt. Da war noch nicht die Rede davon, dass die Seinsfrage als solche, d. h. die (aristotelische) Frage nach dem Sinn von "Sein" für die Hermeneutik von entscheidender Bedeutung sei. In Sein und Zeit ist es aber so weit.

Dieser Doppelwandel der Hermeneutik springt in die Augen bei der ersten Kennzeichnung der Hermeneutik in Sein und Zeit (37): "Der logos der Phänomenologie des Daseins hat den Charakter des hermeneuein, durch das dem zum Dasein selbst gehörigen Seinsver­ständnis [1] der eigentliche Sinn von Sein und [2] die Grundstruktu­ren seines eigenen Seins kundgegeben werden. Phänomenologie des Daseins ist Hermeneutik in der ursprünglichen Bedeutung des Wor­tes, wonach es das Geschäft der Auslegung bezeichnet. Sofern nun aber durch die Aufdeckung [1] des Sinnes des Seins und [2] der Grundstrukturen des Daseins überhaupt der Horizont heraus­gestellt wird für jede weitere ontologische Erforschung des nicht daseinsmäßigen Seienden, wird diese Hermeneutik zugleich 'Her­meneutik' im Sinne der Ausarbeitung der Bedingungen der Mög­lichkeit jeder ontologischen Untersuchung."

Dieser Passus ist der gedrängten Seite entnommen, wo Heidegger bekanntlich vier Grundbedeutungen des Terminus "Hermeneutik" unterscheidet. Die erste sagt aber bereits alles: Die Hermeneutik kennzeichnet den l6gos der Phänomenologie, kraft dessen (oder deren) dem Dasein zweierlei "kundgegeben" wird: der eigentliche Sinn von Sein und die Grundstrukturen seines Daseins. War in der früheren Hermeneutik die Rede davon, dass dem Dasein "der" eigentliche Sinn von Sein beigebracht werden sollte? Offenbar nicht. Bei der zweiten Charakterisierung möchte man vorsichtiger sein: Die frühere Hermeneutik interessierte sich sehr wohl für die "Grundstrukturen des Daseins", aber ihr Interesse galt doch ent­schiedener dem "je eigenen Dasein", als dies 1927 der Fall zu sein scheint.

Diese neue Doppelrichtung der Hermeneutik in Sein und Zeit wird durch die zwei weiteren Grundbedeutungen des Terminus "Hermeneutik" unterstrichen. In ihrem 2. Sinne sei "Hermeneutik im Sinne einer Ausarbeitung der Bedingungen der Möglichkeit jeder ontologischen Untersuchung" zu fassen. In ihrem dritten Sinne habe die Hermeneutik den "philosophisch verstanden[,] primären Sinn einer Analytik der Existenzialität der Existenz" (SZ, 38). Der primäre philosophische Sinn der Hermeneutik sei der einer "Analytik der Existenzialität der Existenz" - eine schwerfällige,

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obzwar sehr zutreffende und wichtige Formulierung für SZ. Den Ter­minus "Analytik" hatte Heidegger früher m.W. so gut wie nicht ver­wendet, und er wird ihn auch bald nicht mehr verwenden. Vermutlich wurde er gewählt, weil er in der kantischen, aber auch in der aristote­lischen Tradition so ehrenvoll war: Die Analytik war jeweils die grundsätzliche Lehre von der Wahrheit, von der aus die Logik der Unwahrheit zu bestimmen war. Bei Heidegger meint aber der offen­bar im letzten Augenblick aufgenommene Terminus nicht viel mehr als eine Analyse der Existenzialität (der Zusatz "der Existenz" wirkt hier redundant). Was leistet diese Analyse? Sie soll in der Tat die Grundstrukturen der Existenz herausstellen, aber im Hinblick auf die später zu entfaltende Seinsfrage. Wie aber Heidegger die Seins­frage mit dieser Herausstellung der Grundstrukturen des Daseins verbinden wollte, ist eine äußerst schwierige Frage, zumal Heidegger den dritten Abschnitt von Sein und Zeit zurückhielt, wo diese Ver­bindung vermutlich zur Erörterung gekommen wäre. Diese Verbin­dung ist jedoch für die Aufgabenstellung der Hermeneutik von Sein und Zeit, wie sie sich jedenfalls von der früheren Hermeneutik der Faktizität unterscheidet, ausschlaggebend.

3. Als dritte Hermeneutikkonzeption empfiehlt sich die Her­meneutik der Geschichte der Metaphysik, die ab den 30er Jahren immer mehr in den Vordergrund rückt. Der spätere Heidegger spricht zwar nicht mehr von Hermeneutik, aber seine Auseinander­setzung mit der Metaphysik stellt sich sehr wohl in die Kontinuität der früher skizzierten Hermeneutikkonzeption. Nur der in Kauf ge­nommene Bruch mit dem Entwurf von Sein und Zeit ließ diese Kon­tinuität eine Zeit lang schwer sichtbar werden. Aber sie ist unver­kennbar. Man kann sie auch an dem allerersten Satz von Sein und Zeit ablesen. Heidegger hatte doch festgestellt, dass die Seinsfrage "heute in Vergessenheit gekommen" sei, "obzwar unsere Zeit sich als Fortschritt anrechnet, die 'Metaphysik' wieder zu bejahen" (SZ, 2). Die hier in Anführungsstrichen auftretende Metaphysik meinte wohl die populäre Weltanschauungsphilosophie, die sich nach dem Weltkrieg verbreitete und von der sich Heidegger noch distanzieren wollte.178 Entgegen dieser Populärmetaphysik wollte er die Seinsfrage viel entschiedener, und zwar vom Boden der Grund­strukturen des Daseins aus erneuern, ja wieder erwecken. So ent­stand die Hermeneutik von Sein und Zeit als Analytik der Existen­zialität des Daseins. Sie zielte unmissverständlich darauf ab, die Seinsvergessenheit in der uneigentlichen Zeitlichkeit des Daseins zu verankern. Es galt also, die Seinsfrage im Dasein selber wachzu-

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rufen. Der spätere Heidegger entdeckt aber sehr bald, dass die Seinsvergessenheit viel vertrackter mit der Geschichte, ja mit der Verfassung der Metaphysik selbst zusammenhängt. Es ist die Meta­physik und damit unsere ganze abendländische Geschichte, die sich durch eine Seinsvergessenheit charakterisiere. Sie zeichnet sich ins­besondere durch eine bestimmte Auffassung des Seins als beständi­ge Anwesenheit aus, die den Boden für eine Auffassung des Seien­den als pure Verfügbarkeit bereitstelle. Diese "technische" Auf­fassung des Seienden bildet sozusagen den (hermeneutischen) Vorgriff der gesamten Metaphysik. Die Hermeneutik der Geschich­te der Metaphysik möchte diesen Vorgriff zuallererst sichtbar ma­chen und womöglich überwinden (bzw., wie es später heißt, verwin­den, bzw., wie es noch später heißt, sich selbst überlassen). In dieser hermeneutischen Auseinandersetzung geht es tatsächlich um eine groß angelegte Auslegung der Geschichte der Metaphysik am Leit­faden der Seinsvergessenheit.

Wie lässt sich von da aus der Ort der gadamerschen Hermeneutik bestimmen? Sie beruft sich zwar unmissverständlich auf "Heideg­ger", aber lehnt sie sich eher an die frühere Hermeneutik der Fakti­zität, an die Hermeneutik von Sein und Zeit oder an die spätere Hermeneutik der Geschichte der Metaphysik an? Eine schwer zu beantwortende Frage. Gewiss: Keiner der Hermeneutikentwürfe Heideggers ist an Gadamer spurlos vorbeigegangen: Gadamer spricht auch emphatisch von einer Hermeneutik der Faktizität, wie der frühe Heidegger; er spricht auch vom Zirkel des Verstehens, wie der Verfasser von Sein und Zeit; und seine Einsichten über die Ge­schichtlichkeit, die Kunstwahrheit und die Sprache gemahnen nicht selten an den späteren Heidegger. Nichtsdestoweniger erscheint es sehr gewagt, um nicht zu sagen: unmöglich, Gadamers Hermeneu­tikkonzeption mit einem der heideggerschen Konzepte genau zu verbinden. Nicht nur das: Auch wenn sie in Wahrheit und Methode noch sehr leise zum Klingen kam, liegt in Gadamers Hermeneu­tikkonzeption eine gewisse Abstandnahme von den hermeneuti­schen Entwürfen seines Lehrers. Wie ist nun ihr Ort im Hinblick auf Heidegger zu bestimmen?

1. Gadamer distanziert sich zunächst unmissverständlich von Hei­deggers Hermeneutik der Metaphysik - bzw. der Seins geschichte. Seit seinem Aufsatz von 1968 über "Heidegger und die Sprache der Metaphysik" (jetzt in GW 3,229-237 unter dem einfacheren Titel "Die Sprache der Metaphysik") hat er entschieden in Abrede ge-

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92 Zur Ortsbestimmung der Hermeneutik Gadamers von Heidegger her

stellt, dass es so etwas wie eine Sprache der Metaphysik gebe. Damit stellt er auch in Frage, dass es ein Jenseits der Metaphysik geben könne. Negativ also: Sosehr man etliche Einsichten Gadamers auf den späten Heidegger zurückführen darf, so abwegig erscheint es, in Gadamers Hermeneutikkonzeption eine Hermeneutik der Ge­schichte der Metaphysik am Werke zu sehen, die im Hinblick auf einen neuen Anfang der Geschichte entwickelt wäre.

2) Von der Hermeneutikkonzeption von Sein und Zeit hat sich Gadamer aber auch distanziert, obgleich er sich auf die Lehre vom hermeneutischen Zirkel berief. Das zeigt sich besonders daran, dass Gadamer die heideggersche Seinsfrage nicht recht wieder aufge­nommen hat (obwohl er selber einer ontologischen Wendung der Hermeneutik das Wort redete, die aber offenbar anders gemeint war). In der Hermeneutik Gadamers sollen also weder "der eigent­liche Sinn von Sein" (SZ, 37) noch die "Grundstrukturen des Da­seins" kundgegeben werden. Es kann auch nicht die Rede davon sein, dass Gadamer die Hermeneutik im Sinne "einer Analytik der Existentialität der Existenz" (SZ, 38) verstehe und praktiziere. In­zwischen ist ferner gut bezeugt, dass Gadamer in diesen Redewen­dungen eine zu einseitige Orientierung an Husserl und dem Sprach­gebrauch der transzendentalen Philosophie bemängelte)79

3) Beruft sich dann Gadamer auf die frühere Hermeneutik der Faktizität? Das scheint der einzige übrig gebliebene Kandidat zu sein. Diese Kandidatur erhielt ja durch Gadamers spätere, aber auch frühere Berufung auf die Hermeneutik der Faktizität Rückenstär­kung. Aber auch hier scheint Vorsicht geboten, erst recht, wenn man die AufgabensteIlung der früheren Faktizitätshermeneutik in Erwä­gung zieht. "Thema der hermeneutischen Untersuchung", schrieb der junge Heidegger, "ist je eigenes Dasein, und zwar hermeneutisch gefragt auf seinen Seinscharakter im Absehen darauf, eine wurzel­hafte Wachheit seiner selbst auszubilden" (GA 63, 16). Geht es der gadamerschen Hermeneutik um das "je eigene Dasein" in Hinsicht darauf, eine Wachheit seiner selbst zu entwickeln? Ist diese Rede­weise Gadamer nicht zu existentiell? Hat ferner die Hermeneutik Gadamers "die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscha­rakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzu­gehen" (GA 63, 15)? Diese nahezu ideologiekritische Charakterisie­rung passt auch nicht recht zur Hermeneutikkonzeption von Wahr­heit und Methode. Bei Gadamer geht es offenbar um eine andere Idee von Hermeneutik als bei Heidegger, über die das Nachdenken allererst beginnen kann.

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V. WAS HEISSTVERSTEHEN? VON HEIDEGGER ZU GADAMER

Wir haben gesehen, dass es problematisch erscheint, Gadamer mit Heideggers Hermeneutikkonzeption zu identifizieren. Tatsächlich beruft sich Gadamer weniger auf Heideggers Hermeneutik- als auf seine Verstehenskonzeption. Aber auch hier wird Gadamer bei aller Nachfolge andere Akzente setzen als sein Lehrer. Gadamers Beru­fung auf Heidegger ist auch relativ vage: Heidegger soll gezeigt haben, dass das Verstehen "die ursprüngliche Vollzugsform des Da­seins, das In-der-Weltsein" sei (WM 26418°). Da dies in der Tat eine etwas vage Formulierung ist, möchte ich im Folgenden einige Be­deutungsstufen des Verstehens bei Heidegger und Gadamer unter­scheiden, die uns helfen mögen, Gadamers besondere Auffassung des Verstehens und "der Hermeneutik besser zu verstehen. Ich fange mit der scheinbar einfachsten an, um mit der schwierigsten zu enden.

1. Verstehen als intellektuelles Erfassen

Man kann zunächst einmal das Verstehen mit einem intellektuel­len Erfassen gleichsetzen. Es handelt sich dabei, wenn man will, um einen erkenntnismäßigen oder kognitiven Vorgang. Wenn man ver­steht, begreift man etwas, sei es, dass man etwas klarer sieht, etwa wenn eine dunkle Stelle einsichtig wird, sei es, dass man etwas in ein größeres Ganzes einordnen kann. Dies möchte ich die elementare oder kognitive Auffassung des Verstehens nennen, weil sie in der herkömmlichen Hermeneutik als selbstverständlich galt. So ver­stand beispielsweise Dilthey das Verstehen als das Verfahren, das allen verstehenden Geisteswissenschaften eigen ist: Im Verstehen wird ein Ausdruck auf ein Erlebnis zurückgeführt, das im Verstehen nacherlebt wird. Die Methodologie dieses Verstehens heißt auch selbstverständlich eine Hermeneutik. Dieses Verstehen steht durch­aus in der Kontinuität des lateinischen intelligere, womit die geistige Auffassung eines Sinngebildes gemeint ist. Wie man dieses intellige­re oder Verstehen des Genaueren konstruiert, ist hier sekundär, und Gadamer verdeutlicht es auch nicht. Nichtsdestoweniger ist es klar,

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dass diese übliche Auffassung des Verstehens bei ihm vorausgesetzt wird, wenn er etwa nach dem Sinn des Verstehens in den Geistes­wissenschaften fragt. Er fragt sich insbesondere, ob eine Methodolo­gie dieses Verstehens Herr werden kann. Denn das geistige Erfassen hat hier etwas Subtiles (die Tradition sprach bekanntlich hier von subtilitas intelligendi). Das liegt auch im Sinne dieses Verstehens, wenn man etwa von jemandem sagt, dass er etwas nicht versteht. Die schöne englische Wendung ist vertraut: "He doesn't get it" oder "I get it". Da sagt man im Deutschen: "Er kapiert's nicht." Aber auch das steckt im elementaren Verstehen drin: Man versteht etwas oder nicht, und alle Regeln, um das zustande zu bringen, kommen zu spät.

2. Verstehen als praktisches Können

Damit führt das elementare, kognitive Verstehen zu einer zweiten Stufe des Verstehens, wo Verstehen so viel wie "Können" heißt. Man kann hier von einem "praktischen Verstehen" sprechen. Hei­degger hatte sich in diesem Zusammenhang auf die Formel "sich auf etwas verstehen" berufen (SZ, 143). Verstehen heißt einer Sache ge­wachsen sein, etwas können, mit etwas fertig werden können181 . Die­ses Können bezeichnet weniger eine Erkenntnis als eine praktische Fertigkeit, die aber auch eine Möglichkeit meiner selbst ins Spiel bringt: "ich" verstehe mich auf dieses oder jenes, ich "kann" es. So verstehe ich mich aufs Tanzen oder aufs Schwimmen, nicht weil ich da etwas weiß oder gute Methoden anwende, sondern weil ich es einfach kann. Man muss aber sehen, dass in diesem Können auch ein Stück Nichtkönnen steckt. Das steckt, glaube ich, bereits in der Formel "einer Sache gewachsen sein". Sie schließt ja ein, dass man der Sache gerade nur gewachsen ist, das es gerade ausreicht. Aber was hier "gekonnt" wird, kann jederzeit in ein Unvermögen um­schlagen: Der beste Fußballspieler der Welt kann mal ein schlechtes Spiel spielen. Der beste Rhetoriker kann eines Tages stammeln, wie der Stammelnde mal auch auf eine glänzende Formulierung stoßen kann. Etwas können, etwas verstehen, impliziert ein Unvermögen, ein Nichtverstehen. Für Heidegger war das Nichtkönnen sogar das Primäre182: Die Geworfenheit ist so sehr die grundlegende Dimen­sion, dass das Verstehen sich wie eine Eroberung, eine uns selbst überraschende Errungenschaft ausnimmt. Wer versteht, wirkt wie das Kind, das plötzlich merkt, dass es Rad fahren kann und vor lau­ter Ergriffenheit nicht sieht, dass es gefährlich schnell hin und her

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taumelt, und plötzlich merkt, dass es nie erfahren hat, wie man bremst. So verstehen wir, wenn wir etwas können.

Wichtig für Heidegger ist dabei, dass das Verstehen ein reflexi­ves und selbstreflektives ist. Es ist ein Sichverstehen auf etwas. Ich verstehe heißt: Ich kann etwas: ich kann Deutsch sprechen, Rad fahren usw. Man weiß auch, warum das für Heidegger besonders entscheidend war: Als ein Wesen, dem es immer in seinem Sein um dieses Sein geht, ist der Verstehende immer in dem impliziert, was er versteht. Bei Heidegger nimmt sich dieses Sichverstehen denk­bar dramatisch aus: In jedem Verstehen wird eine Möglichkeit mei­ner selbst, ja ein Selbst- und Seinsverständnis ausgespielt, das der Auslegung harrt. Die Aufgabe der Auslegung liegt hier nämlich in der Herausstellung der dabei ins Spiel gesetzten Möglichkeiten. Die Hermeneutik ist für ihn nichts anderes als der Versuch der Auseinanderlegung dieser vorausgesetzten Verstehensmöglichkei­ten. Gadamer scheut bekanntlich vor einer so dramatisch klingen­den Hermeneutik der Existenz zurück, aber er setzt diesen hei­deggerschen Sinn des Verstehens als "sich auf etwas verstehen" durchaus voraus. Er hat ihn aber vor allem mithilfe von Aristote­les' Konzeption des praktischen Wissens (phr6nesis) herausgear­beitet. Hier ist die Selbst anwendung zentral, da das Wissen nicht auf eine theoretische Beherrschung, sondern auf eine spezifische Umsicht, die des gelingenden Handeins abzielt. Ich möchte auf dieses aristotelische Modell hier nicht ausführlicher eingehen,183 sondern an ihm nur festhalten, dass das "praktische Wissen" sehr wohl ein wichtiges Element des gadamerschen Verstehensbegriffs bleibt. Es ist aber nicht das einzige.

3. Das Verstehen als ein mediales Spiel: Das Beispiel des Kunstwerkes

Es springt in die Augen, dass Gadamer sich an einem anderen Muster als Heidegger orientiert, wenn er vom Verstehen handelt. Während Heidegger das praktische Können, das im "sich auf et­was verstehen" involviert ist, abhebt, geht Gadamer programma­tisch von der Erfahrung der Kunst aus: Wer ein Kunstwerk versteht, lässt sich in ihr Spiel hineinziehen. So kommt dem Spielbegriff eine entscheidende Rolle zu in der gadamerschen Bestimmung des Verstehens. Aber inwiefern? Ein Spiel kann man zunächst als eine bloß "subjektive" und unverbindliche Tätigkeit betrachten. Ga-

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damer ist sich darüber im Klaren, und gerade deshalb ist für ihn der Ansatz bei dem Spielbegriff so ergiebig. Denn Gadamer möchte am Spielvorgang zeigen, dass der Spielende in Wahrheit in eine ihn übertreffende Wirklichkeit versetzt wird. Wer spielt, beugt sich näm­lich der überragenden Wirklichkeit des Spieles und seiner Selbst­ständigkeit: Ebenso wie der Tennisspieler den Ball von anderswoher bekommt und zurückspielen, d. h. antworten muss, ebenso ordnet sich der Tänzer der Rhythmik der Musik unter, wie der Dirigent der Partitur folgt und derjenige, der ein Gedicht liest, dem Duktus der Verse gehorcht. In all dem spielt die "Subjektivität" des Spielers ge­wiss eine entscheidende Rolle: Es gibt kein Gedicht, ohne dass es rezitiert wird, ohne Interpretation also, wie es kein Tennismatch ohne Spieler oder keine Symphonie ohne Dirigenten und Musiker gibt. Aber die Interpretation steht hier ganz im Dienst einer "Sache": dem Gedicht, der Symphonie, dem Spiel. Und in diesem Spiel gibt es weniger Willkür, als man oft meinen möchte: Man kann nicht ein Gedicht oder eine Symphonie völlig willkürlich interpre­tieren (oder lesen). Man muss sich immer der höheren und ver­pflichtenden Wirklichkeit des Kunstwerkes beugen, obwohl es sie ohne Interpretation oder Verstehen nie gibt. Das Verstehen steht somit im Dienst der Sache, auch wenn sie den Verstehenden immer impliziert.

Diesen Umstand hebt Gadamer hervor, indem er vom medialen Sinn des Spieles spricht. Gemeint ist die mediale Verbform im Grie­chischen. Neben der aktiven (lieben, tragen) und der passiven Verb­form (geliebt, getragen werden) kennt das Griechische eine mittlere Form, die zwar eine grammatisch passive Form aufweist, nichts­destoweniger eine Tätigkeit bezeichnet, die mit dem Subjekt geschieht. Die mediale Verbform pe{thomai bedeutet z. B. "gehor­ehen", polem6n po{esthai "Krieg führen" (bellum gerere) und paideuomai "erziehen". Kriegführen, gehorchen und erziehen sind für uns aktive Vorgänge, aber das Griechische ist hier etwas subtiler. Es erkennt, dass man es mit Vorgängen zu tun hat, die auch das Sub­jekt involvieren, und zwar in einem Sinn, der ans Passive grenzt: Wer einen Krieg führt, wird auch geführt. Ein politisch sehr inkorrektes Beispiel dafür ist die mediale Verbform gameomai, die "sich verhei­raten" bedeutet, aber nur für die Frau ("sich verheiraten" ist für den griechischen Mann ein aktiver Vorgang: gameo): Wenn sich eine Frau verheiratet, ist der Vorgang weder rein aktiv, noch rein passiv; es ist ein medialer Vorgang: Etwas geschieht mit einer.

Warum ist dies für Gadamers Verstehensbegriff zentral? Es ist er-

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giebig, weil für Gadamer das Verstehen selber als ein medialer Vor­gang zu fassen ist. Wer versteht, ist nämlich jemand, der sich auf me­diale Weise in ein Spiel hereinziehen lässt: "Das ist der Punkt, an dem sich die Bestimmung des Spieles als eines medialen Vorgangs in seiner Wichtigkeit erweist. Wir hatten gesehen, dass das Spiel nicht im Bewusstsein oder Verhalten der Spielenden sein Sein hat, sondern diesen im Gegenteil in seinen Bereich hineinzieht und mit seinem Geist erfüllt. Der Spielende erfährt das Spiel als eine ihn übertreffende Wirklichkeit" (WM, GW 1, 115). Spielen ist nach Gadamer immer ein Gespieltwerden.

So ergeht es uns, wenn wir verstehen: Wir sind dabei weniger die­jenigen, die fangen, als diejenigen, die im zweifachen medialen Sinn gefangen werden: 1) Wer versteht, wird immer in das, was er ver­steht, hineingezogen; 2) nichtsdestoweniger ist es ein den Ver­stehenden übersteigender Sinn, der einen da gefangen nimmt: Ein Gedicht, ein Ton, ein Bild fesselt einen, aber zugleich so, dass es nur da ist, wenn es einen fesselt.

Man ermisst hier sowohl die Nähe als auch die Distanz gegenüber Heidegger. Das Verstehen charakterisiert weiterhin ein grundlegen­des Können meines Seins, aber das Musterbeispiel dafür findet Gadamer pointiert in der Erfahrung der Kunst und des Kunstverste­hens: Ich bleibe da immer im Spiele, aber so, dass ich von dem, was mir aufgeht, gefangen genommen wird. Es ist ferner eine Wahrheit, die einem hier aufgeht, die auf anderem Wege unerreichbar wäre, denn Kunst widersetzt sich entschieden, wie Gadamer oft betont, der Übersetzung in ein anderes Medium. Und diese Wahrheit ist nicht relativ oder willkürlich, auch wenn sie immer auf eine Inter­pretation, d. h. einen Vollzug angewiesen ist.

Eine weitere Innovation Heidegger gegenüber liegt auch in einem vierten Moment, in der Auffassung des Verstehens von der Sprache her.

4. Verstehen als sprachliche Verständigung

Im Verstehen liegen bisher drei unabdingbare Momente, die sich gegenseitig erhellen: 1. ein elementares, kognitives Element, 2. ein praktisches Element, aber auch 3. ein mediales Element. Alle drei Momente ergänzen sich, sofern das Erkennen hier ein mediales Können bedeutet und das Können seinerseits ein mediales Erken­nen einschließt. Ein viertes Element kommt aber bei Gadamer hinzu. In Wahrheit und Methode hebt Gadamer besonders hervor,

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dass "Verstehen" im Deutschen auch die Bedeutung von "Sichver­stehen" im Sinne von Sichverständigen hat. "Man versteht sich" heißt so viel wie Einverstandensein, Übereinkommen. Das Ver­stehen oder Sichverstehen wird damit an die Idee der Verständi­gung angelehnt. Aber wie bezieht sich das auf das Verstehen, das uns bislang beschäftigt hat? Ist es dasselbe, einen Text zu verstehen (im Sinne des elementar kognitiven Verstehens), einer Sache ge­wachsen zu sein (im Sinne des praktischen Verstehens), sich in ein Spiel hineinziehen zu lassen und sich miteinander zu verständigen? Man kann zur Not diese Verschmelzung bei den drei ersten Bedeu­tungen nachvollziehen (sofern Verstehen Können und Gespieltwer­den heißt). Die Familienähnlichkeit ist bei dem vierten Moment der Verständigung alles andere als evident. Warum orientiert sich Gada­mer auch, ja bevorzugt an dem Modell der Verständigung, wenn er von Verstehen spricht?

Das Modell der Verständigung legt sich zunächst nahe, weil eine Verständigung in der Regel auf sprachlichem Wege erfolgt. Verste­hen ist immer für Gadamer: eine Sprache finden für ... Ich verstehe jemanden oder eine Sache, wenn ich sie sprachlich nachvollziehen kann. An diese Evidenz erinnert die Ansetzung des Verstehens als Verständigung bei Gadamer. Diese sprachliche Angewiesenheit fehlte in dem früheren kognitiven, aber auch in dem heideggerschen Begriff des Verstehens, wie es in Sein und Zeit angesetzt war. Das Selbstverstehen war 1927 nicht wesentlich als ein sprachliches Phä­nomen charakterisiert worden. Es gibt aber nach Gadamer kein Verstehen ohne Orientierung auf eine mögliche Sprachlichkeit. Hierin weiß sich Gadamer mit der älteren Tradition der Hermeneu­tik solidarisch, die das intelligere immer schon mit dem Problem des (wie es meist hieß: "grammatischen") Sprachverstehens verband, wie es besonders im Falle der dunklen Stellen (obscura, ambigua) herausgefordert war.

Aber das Verständigungsmodell geht über dieses noch kognitiv angesetzte Modell des intelligere hinaus, indem es außer der sprachlichen Natur auch den dialogischen Charakter des Verste­hens in den Vordergrund rückt. Das Verstehen ist nicht bloß ein Erkennen oder ein praktisches Können, das monologisch verfährt. Es setzt die Anrede durch den anderen voraus: Das Verstehen ist immer zugleich eine Antwort, ein Antwortenkönnen. In Wahrheit und Methode sagt daher Gadamer, dass die Sprache sowohl den hermeneutischen Vollzug (also das Verstehen) als auch den herme­neutischen Gegenstand (das, was man zu verstehen sucht) be-

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stimmt (ja: be-stimmt). Verstehen heißt: eine Sprache suchen für etwas. Dieses "etwas" lässt sich aber wiederum nur sprachlich nachvollziehen. "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache." Das Verständnis dieser Grundthese über das Verstehen erfordert ein eigenes Kapitel.

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VI. WAS HEISST "SEIN, DAS VERSTANDEN WERDEN KANN, IST SPRACHE"?

In den letzten fünfzehn Jahren hat sich Hans-Georg Gadamer be­sonders intensiv mit dem Problem der Grenzen der Sprache aus­einander gesetzt. Ein Aufsatz aus dem Jahre 1985 trug bereits den Titel "Grenzen der Sprache". Er wurde 1993 im 8. Band seiner Ge­sammelten Werke mit weiteren Texten in einen unter dem Titel "An den Grenzen der Sprache" stehenden Abschnitt wieder aufgenom­men. Im 10. und letzten Band seiner Gesammelten Werke, der 1995 erschien, verstieg sich Gadamer sogar zu der Äußerung, dass die Er­fahrung der Grenzen der Sprache die fundamentalste seiner Herme­neutik sei: "Oberster Grundsatz der philosophischen Hermeneutik ist, wie ich sie mir denke (und deshalb ist sie eine hermeneutische Philosophie), dass wir nie ganz sagen können, was wir sagen möch­ten. "184 Das Überraschende an diesem Ausspruch ist, dass er einer der Grundthesen, wenn nicht der Grundthese des Hauptwerkes Wahrheit und Methode von 1960 zu widersprechen scheint, nach der das Universum der Sprache so gut wie grenzenlos sei. 1960 schien Gadamer tatsächlich die Universalität der Hermeneutik an die Grenzenlosigkeit des sprachlichen Ausdrucks zu binden. In Wahr­heit und Methode beharrte ja Gadamer auf der wesentlichen Sprach­lichkeit allen Denkens und Verstehens, als er die "Universalität der Hermeneutik" unmissverständlich darin sah, dass "Sprache alle Ein­reden gegen ihre Zuständigkeit" überholen und damit "mit der Uni­versalität der Vernunft Schritt" halten könne (WuM, GW, Bd. I, 405). Die wirkungsvollsten Infragestellungen des Universalitätsan­spruches der Hermeneutik, insbesondere die von Jürgen Habermas, bestanden in der Hauptsache darin, an die Grenzen der Sprache zu erinnern. Sie scheinen jedoch bei dem späten Gadamer voll berück­sichtigt, ja zum Grundsatz (!) der Hermeneutik erhoben zu werden. Wie lässt sich diese Wende, um nicht zu sagen Kehre, verstehen? Gab es eine Wende, und warum?

Ich möchte diese Wende als eine Akzentverschiebung deuten, nicht weil mir unbedingt daran liegt, Gadamer eine entgegen kom­mende Interpretation widerfahren zu lassen, sondern weil mir just die Akzentverschiebung im Stande erscheint, die Kohärenz und die

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Was heißt "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache"? 101

Spezifizität der hermeneutischen Sprachkonzeption hervortreten zu lassen. Dieselbe Grundeinsicht erscheint mir nämlich im Spiele bei der "frühen" Betonung der Universalität der Sprachlichkeit wie bei der späten Erinnerung an die Grenzen der Sprache. Um das zu zei­gen, möchte ich im Folgenden den Sinn der sprachlichen Univer­salität in Wahrheit und Methode kurz ins Gedächtnis rufen, um von da aus die Konsequenz zu verstehen, mit der Gadamer in neueren Essays eher die Erfahrung der Grenzen der Sprache in den Vorder­grund zu rücken neigte.

Die These von Wahrheit und Methode über die sprachliche Uni­versalität fand bekanntlich ihren prägnantesten Ausdruck in dem berühmt gewordenen Ausspruch: "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache." Wie ist dieser Satz zu verstehen? Er besteht ja aus den geläufigsten Ausdrücken (zumindest für Philosophen): Sein, Verstehen, Sprache. Lässt man den Relativsatz zunächst beiseite, dann behauptet er einfach: "Sein ist Sprache." An sich wäre dieser Satz nicht vielsagend bzw. schlichtweg widersinnig. Es scheint ja nicht zuzutreffen, dass "Sein" schlechthin "Sprache" ist. Jeder Posi­tivist vom Dienst könnte dem entgegensetzen, dass es doch Seien­des auf der Schattenseite des Mondes (oder eines noch weit entlege­neren Himmelskörpers) gebe, das weder gesehen noch verstanden wird, noch je seine sprachliche Formulierung gefunden habe, das es aber dennoch "gibt". Ebenso, wird er weiter ausführen, hätte es ver­mutlich Seiendes im Universum gegebe'n, wenn es sprachliche Wesen wie uns nie gegeben hätte, und voraussichtlich wird etwas weiterbestehen, nachdem sich sprachliche Wesen aus der Perfektion ihrer Technik heraus ausgemerzt haben werden. Von dieser Per­spektive aus wäre der Ausspruch "Sein ist Sprache" eher sinnwidrig, allenfalls sehr vermessen.

Zur Not könnte man ihm einen philosophischen Sinn abgewin­nen, wenn man ihn etwa im Sinne Heideggers verstünde. "Sein ist Sprache" ist ja ein sinnvoller Gedanke für Heidegger, sofern allein der Mensch als sprachliches Wesen Zugang zum "Sein" hat, d.h. "das Wunder aller Wunder" erfahren kann, dass Seiendes "ist", im beton­ten, "aufgehenden" Sinne des Wortes: Es "gibt" Sein, und dieser Seins aufgang wird im Wort aufgefangen.

Dieser heideggersche Sinn ist dem gadamerschen Diktum wohl nicht ganz fremd, aber die Formulierung von Wahrheit und Methode legt doch den Akzent anderswo: Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache. Also nicht jegliches "Sein" ist Sprache, sondern dasjeni­ge Sein, das verstanden werden kann. Wie soll man diesen Relativ-

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satz verstehen? Er ist ja ausschlaggebend, soll der gadamersche Satz weder widersinnig noch im rein heideggerschen Sinne auszulegen sein.

Ein Relativsatz kann grammatisch auf zweierlei Weise bestim­mend sein: Er kann entweder das Subjekt, auf das er sich bezieht, in einem wesentlichen Sinne bestimmen und einschränken (wenn ich z. B. sage: Der Glaube, der nicht wirkt, ist nicht wahrhaftig: Die Rede ist nicht vom Glauben im Allgemeinen, sondern vom Glau­ben, der nicht wirkt); der Relativsatz kann aber auch nur das Sub­jekt, auf das er sich bezieht, in einem für das Verständnis des Satzes nicht wesentlichen Sinne erläutern oder explizieren (etwa im Satz: Platon, der Gegenstand meiner gestrigen Vorlesung war, ist ein großer Philosoph; in diesem Beispiel könnte der Relativsatz ohne großen Schaden für das Verständnis wegfallen). Im ersten Beispiel spricht man von einem bestimmenden Relativsatz, im zweiten von einem erläuternden oder explizierenden. Der banale Unterschied wird im Deutschen nicht durch besondere Kennzeichnen markiert. Er wird es aber in anderen Sprachen. Im Französischen wie im Ita­lienischen wird in der Regel ein nur erläuternder Relativsatz von Kommata umklammert (da er für den Sinn nicht unabdingbar ist). Im Englischen verwendet man darüber hinaus zwei verschiedene Relativpronomina, um den Status des Relativsatzes zu markieren (obwohl der Gebrauch lehrt, dass dies wenig beachtet wird): Das Relativpronomen im bestimmenden Relativsatz (restrictive clause im Englischen) wäre "that", dasjenige im erläuternden Relativsatz "who" oder "whom" bzw. "which" für eine Sache.

Wie ist der Relativsatz in Gadamers Diktum zu lesen: im bestim­menden oder im erläuternden Sinne? Soll der Satz auf Englisch "Being that can be understood is language" (bestimmend) oder "Being which can be understood is language" (explizierend) hei­ßen? Außer Zweifel scheint mir, dass er im ersten Sinne zu ver­stehen ist, und so wurde er meist auf Englisch übersetzt, denn ansonsten würde er auf die Allgemeinheit hinauslaufen: "Sein ist Sprache", was widersinnig oder nur in einem heideggerschen Sinne sinnvoll wäre. Der Relativsatz schränkt also hier die Extension des Subjektes ein. Der Satz bedeutet also nicht, dass Sein schlechthin Sprache ist 185, sondern nur das Sein, das verstanden werden kann.

Wie ist dies wiederum zu verstehen? Es meint, wie der Kontext des Satzes auch lehrt, dass das verstandene Sein notwendig sprach­lichen Charakter hat (wohingegen das nicht verstandene Sein nicht Sprache ist). Mit anderen Worten handelt es sich um eine These

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über den wesentlich sprachlichen Charakter unseres Verstehens. Gadamers Ausspruch stellt also nicht eine "ontologische" These über das Sein bzw. das Sein an sich (das von Hause aus sprachlich verfasst wäre), sondern eine These über unser Verstehen auf, näm­lich die, dass das menschliche Verstehen in einem notwendigen und ermöglichenden Sinne auf Sprachlichkeit angewiesen ist.

Die Zielrichtung der gadamerschen Argumentation in Wahrheit und Methode ist für das Verständnis besonders zu beachten: Pole­misiert wird dort gegen eine Auffassung, derzufolge die sprachliche Formulierung erst nach einem geistigen oder intellektuellen Akt erfolgen würde, also gegen eine "nominalistisch" zu nennende Sprachauffassung, die Gadamer in Wahrheit und Methode auf Pla­ton zurückführt: Zuerst gäbe es z. B. die Vorstellung von (bzw. den Wunsch oder den Appetit danach) einem Apfelkuchen und erst in einem zweiten Schritt das Wort "Apfelkuchen" (bzw. "apple pie", je nach der "Konvention", die aber an dem "Gedanken" nichts än­dern würde). So ist es nicht, entgegnet Gadamer: Wort und Den­ken (bzw. der sinnhafte Vollzug) erfolgen vielmehr gleichzeitig186:

Wenn ich Appetit danach habe, habe ich gleichsam bereits das Wort Apfelkuchen auf der Zunge. Ohne dieses Wort bzw. diese Richtung auf das Wort wäre nach Gadamer die Vorstellung eines Apfelkuchens unnachvollziehbar. Gadamers Grundidee ist also die, dass es kein Verstehen ohne diese Richtung auf einen sprachli­chen Nachvollzug gibt. Man könnte hier genauer von einer Ver­schmelzung zwischen Verstehen und Sprache sprechen: Man ver­steht nur, soweit man etwas in Worte (bzw. in Sprachlichkeit187)

fassen kann. Stimmt das aber? Wie steht es nämlich, wenn jemand etwa sagt:

"Ich kann das nicht in Worte fassen"? Wird nicht dabei voraus­gesetzt, dass man es sehr wohl erlebt, fühlt und insofern versteht, aber eben nicht sprachlich ausdrücken könne? Hierin meldet sich die Grunderfahrung der Grenzen der Sprache. Wie wir eingangs sahen, wurde sie vom späteren Gadamer sehr wohl in Rechnung gestellt und sogar zum Prinzip seiner Philosophie erhoben: "Obers­ter Grundsatz der philosophischen Hermeneutik ist, wie ich sie mir denke (und deshalb ist sie eine hermeneutische Philosophie), dass wir nie ganz sagen können, was wir sagen möchten." Vermutlich könnte aber dieser Satz in Wahrheit und Methode nicht stehen, das viel eher darauf zu bestehen scheint, dass man doch immer sagen kann, was man sagen möchte bzw. was man versteht. Wie ist die Wende bzw. Akzentverschiebung zu verstehen?

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In Wahrheit sind beide Sichten in einer wichtigen und wesent­lichen Hinsicht nicht nur kompatibel, sie ergänzen einander. Denn: Was man nicht sagen oder in Worte fassen kann, ist immer das, was man sagen möchte und müsste, aber eben nicht kann, weil einem die Worte fehlen. Worte können indes nur fehlen, weil man nach ihnen sucht, sofern man zu verstehen strebt. Das gilt auch von allen Ge­sichtern des Unsagbaren: Das Unsagbare - auch das Unsägliche­ist immer I1ur unaussagbar, weil keine Worte all dem gewachsen sind, was auszusagen wäre. Die spätere Akzentsetzung der Herme­neutik setzt also sehr wohl die frühere Einsicht voraus, nach der das Verstehen wesentlich auf Sprache (bzw. Sprachlichkeit) ausgerich­tet ist.

Neu - und vermutlich auch Folge der Debatten, die die Herme­neutik ausgelöst hat, u. a. die mit Derrida - ist allerdings die Hervor­hebung der Grenzen des jeweiligen sprachlichen Ausdrucks. Der sprachliche Ausdruck ist aber nicht begrenzt im Vergleich mit einem intellektuellen Verstehen, das die Sache viel adäquater erfasst und an der Grenze des sprachlichen Mediums keinen Anteil hätte. Ein solches Verstehen ohne Sprachlichkeit gibt es nach Gadamer wei­terhin nicht. Der sprachliche Ausdruck ist begrenzt, weil jedes Ver­stehen von Grund aus, weil sprachlich, begrenzt ist, sofern es immer nur einen Ausschnitt und einen Aspekt des Auszusagenden aus­spricht.

In dieser "späten" Sicht oder Betonung bleibt also der Vorrang der Sprachlichkeit für das Verstehen durchaus aufrechterhalten. Der spätere Gadamer bleibt insofern seiner früheren Grundeinsicht treu. Der neuere Akzent auf den Grenzen der Sprache verweist sei­nerseits nicht auf ein Jenseits der Sprachlichkeit, das als solches dem Verstehen erschlossen wäre. Was jenseits des Gesagten liegt, bleibt immer ein zu Sagendes und kann nur als solches erraten werden. Der späte Gadamer betont aber hier, wie selten das uns gelingt, denn selbst das, was wir sprachlich zu formulieren vermögen, bleibt ungemein dürftig. Ein Ungenügen haftet ja fast immer dem Gesag­ten an. Kein Wort schöpft das innere Wort ganz aus. Dieses innere Wort ist dasjenige, das wir immer herauszustammeln versuchen. Wir verfallen dabei aber meist auf die gängigsten und klischeehaften Schablonen der Verständlichkeit, die oft genug eine scheinhafte ist (und die Heidegger treffend als "Gerede" apostrophierte). Dieses "innere" Wort, das weder diesseits noch jenseits der Sprache, son­dern in ihr liegt, ist gleichsam die Sprache, die die Sprache - über das Gerede und das Geredete hinaus - ständig sucht und deren

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Was heißt "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache"? 105

Spur sie ist. Darin liegt die Grenze der Sprache, aber ebenso sehr die Universalität der Sprachlichkeit für die Hermeneutik, die diese Spannung zwischen dem geäußerten und dem inneren Wort zu den­ken versucht.

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VII. DIE WEISHEIT DES STAMMELNS

Die Seele seiner Hermeneutik, hat Hans-Georg Gadamer in den letzten Jahren immer wieder betont, bestehe darin, dass der andere Recht haben könnte. Die Hermeneutik sei gewissermaßen die Kunst, Unrecht haben zu können. Sie erbringe sozusagen die theo­retische Rechtfertigung für Kierkegaards Ausspruch am Ende von "Entweder-Oder", "Über das Tröstliche an dem Gedanken, gegen Gott immer im Unrecht zu sein". Der Mensch kann getrost irren und von der Erfahrung weiter lernen. Gefährlich wird es nur, wenn er dies vergisst und sich närrisch auf seine Vorurteile versteift. Des­halb spielt der Dialog, die Konfrontation mit der Andersheit, eine so wesentliche Rolle für die Hermeneutik. Allein im Gespräch kann es uns gelingen, über die Platitüde unserer beschränkten Vormeinun­gen hinauszugehen. Die Hermeneutik entpuppt sich damit als eine "Diskursethik" , aber gerade weil es für sie keine Letztbegründung oder kein endgültiges Wort gibt.

Dies ist aber eine Einsicht, die sich Gadamer erst langsam gegen die ihn prägenden Autoritäten erkämpfen musste. In seinen auto­biographischen Schriften, die in diesem Sinne philosophisch ernst genommen werden wollen, schildert Gadamer seine Begegnungen mit Menschen, die auf ihn den größten Eindruck, ja den größten Druck ausgeübt haben. Zwei scheinen alle anderen überragt zu haben: sein Vater Johannes Gadamer (1867-1928) und Martin Hei­degger (1889-1976). Auch ohne irgend einer wohlfeilen Vaterfigu­rentheorie nachzuhängen, muss doch auffallen, wie oft und mit wel­cher Konsistenz Gadamer auf seinen Vater zu sprechen kommt. Der Kontext ist in der Tat stets derselbe: Immer wieder erfährt man, wie sehr sein Vater seine Wendung zu den "Schwätzprofessoren" (sprich: den Kunst- und Geisteswissenschaftlern) missbilligte. Eine hohe Autorität im Bereich der pharmazeutischen Chemie, der auch Rektor der Marburger Universität war, als der junge Gadamer dort seinen Doktor machte, soll Johannes Gadamer die N aturwissen­schaften für "die einzig redlichen Wissenschaften" gehalten ha­ben.188 Er muss "auf mannigfache Weise" versucht haben, seinen Sohn für die Naturwissenschaften zu interessieren, aber ohne Er­folg. "Zeit seines Lebens", erinnert sich wehmütig Gadamer, blieb er "recht unzufrieden mit mir" .

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In dieser Situation ist es kaum verwunderlich, dass Gadamers spät entwickelte hermeneutische Philosophie zum Teil darin aufgehen sollte, den Wahrheits anspruch geisteswissenschaftlicher Erkenntnis in ihrem Eigenrecht zu verteidigen. Dies war jedenfalls der Aus­gangspunkt seines Hauptwerkes Wahrheit und Methode (1960). Gadamers Parteinahme war dabei offenkundig auch eine Rechtfer­tigung des eigenen Lebensweges. Selbst wenn der Weg in die Geis­teswissenschaften, aber auch in die Erfahrungswelt der Kunst als eine Art Rebellion gegen das hautnah erlebte Diktat erscheinen mag, erhält sich doch etwas von diesem Druck in dem Bedürfnis, den Wahrheitsanspruch der Geisteswissenschaften theoretisch zu rechtfertigen. Der Rechtfertigungszwang ist ja mit dem Methoden­gedanken aufs Innigste verknüpft. Deshalb ist es ein Missverständ­nis, auch wenn dies gewissen Methodologien gelegen kommt, die Hermeneutik in einem Gegensatz zur wissenschaftlichen Rationa­lität zu verfestigen. Die Grundforderungen der modernen Wissen­schaft gelten auch für die Hermeneutik. Sie sind ihr aber so evident und prägen so sehr das allgemeine Bewusstsein, dass sie es für not­wendig hält, an vergessene Bedingungen des Wissens zu erinnern, die nicht in Methodologie aufgehen,189 weil sie mit der rhetorischen und traditionsverpflichteten Natur unseres Wissens zusammen­hängen.

Die sich über fünfzig Jahre erstreckende Begegnung mit Heideg­ger ist natürlich komplexer, weil philosophischer. Dennoch fallen einige Symmetrien auf. Auch von seiner Beziehung zu seinem Leh­rer hat Gadamer in zahlreichen Studien Rechenschaft abzulegen versucht, die oft auch noch nach Heideggers Tod geschrieben wur­den. Dass Heidegger eine nahezu dämonische Wirkung auf seine Zuhörer hatte, ist von verschiedenen Seiten aus bezeugt und anhand der jetzt erscheinenden früheren Vorlesungen ein Stück weit nach­zuvollziehen. Gadamer fiel zunächst vollkommen unter ihren Bann. Er hörte Heideggers Namen zum ersten Mal in München in einem Seminar von Moritz Geiger vom Sommersemester 1921. Später er­reichten ihn in Marburg immer häufiger Berichte von Freiburger Studenten über die unerhörte Kraft dieses "heimlichen Königs" der deutschen Philosophie, wie Hannah Arendt ihren persönlichen Ein­druck formulierte. Den Ausschlag für Gadamers Pilgerfahrt nach Freiburg im Jahre 1923 gab schließlich jener berühmte, inzwischen erschienene Bericht, den Heidegger auf Bitte von Paul Natorp über seine Aristoteles-Interpretationen schnell zu Papier gebracht hatte. Er wirkte auf Gadamer "wie das Getroffenwerden von einem elek-

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trischen Schlage". Nicht zufällig wurde er bei der Lektüre an Verse von Stefan George erinnert,19o Gadamers Anhänglichkeit für die Dichtung Georges, die er schon als Gymnasiast entwickelt hatte,l91 hat damit den Boden für seine Rezeption Heideggers bereitet.

Überhaupt muss für Gadamer das Jahr 1923 ein Schicksalsjahr gewesen sein. Es war zunächst eine Zeit der Rekonvaleszenz nach der schweren Polioerkrankung, die ihn beinahe das Leben gekostet hatte. Auch abgesehen von der politischen Krise mit der Besetzung des Ruhrgebiets war es das Jahr der tiefsten Wirtschaftskrise in Deutschland, von der man sich heute kaum Vorstellungen machen kann (ein äußeres Indiz nur: Im Juli 1923 hatte ein US-Dollar einen Wert von 353412 Mark; im August waren es 4620455 Mark; im Ok­tober 25 Milliarden und am 5. November, dem Tag der Währungs­reform, 4 Trillionen),192 Diese Krise brachte Gadamer jedoch ein halbes Glück: Rekonvaleszent, vollkommen mittellos und frisch ver­heiratet, wurde Gadamer von Heidegger eingeladen, in seiner klei­nen Hütte in Todnauberg zu wohnen. Sechs intensive, dem zwangs­losen Austausch und der Aristoteles-Interpretation gewidmete Wo­chen verbrachte er in der unmittelbarsten Nähe seines Lehrers, der selber in einer der produktivsten Phasen seines Schaffens war. Diese Begegnungen bildeten, wie sich Gadamer später erinnerte, so etwas wie seine "erste praktische Einführung in die Universalität der Her­meneutik"193. Als Heidegger ein Jahr darauf (Anfang Dezember 1924) seinen Vortrag über "Dasein und Wahrsein nach Aristoteles" vor verschiedenen Gruppen der Kant-Gesellschaft im Rheinland und im Ruhrgebiet hielt, wollte er sich von seinem Schüler Gada­mer begleiten lassen, der nach jedem Vortrag Diskussionsabende abhalten sollte,194 doch kam die Reise nicht zustande. Die Phrone­sisinterpretation, die Heidegger damals in Marburg (Wintersemes­ter 1924/25) hielt, ist neuerdings im Band 19 seiner Gesamtausgabe nachzulesen. Über Jahre hinweg war aber Gadamer ihr einziger An­walt gewesen. Man geht nicht fehl in der Annahme, dass seine Ab­handlung über "Praktisches Wissen" (1930), die selber bis 1985 unveröffentlicht blieb, auf diese frühen Diskussionen um den Wahr­heitsanspruch der Phronesis zurückgeht.

So massiv die Faszination für Heideggers befreienden Neuansatz war, empfand Gadamer das Bedürfnis, auch hier eine gewisse Ab­standnahme zu gewinnen. Teils auf Heideggers Anregung hin, teils um ihr zu entkommen, entschloss sich Gadamer zum Studium der klassischen Philosophie, das er vor allem bei Paul Friedländer absol­vierte. Friedländer stand dem George-Kreis nahe, dem sich Gada-

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mer stets verbunden fühlte. 195 Folgt man Gadamers Selbstzeugnis­sen, ist es gerade auf diesem Gebiet der Altphilologie, dass ihm die Emanzipation von seinem Lehrer langsam gelang. Umso intensiver pflegte er in den darauf folgenden Jahren und Jahrzehnten seine Studien zur griechischen Philosophie. Allein in diesem Bereich (sowie dem der Ästhetik) konnte er auf Jahre hinaus als Lehrer tätig werden und damit seine Autonomie behaupten. Auf allen an­deren Feldern, bis zur Spätreife von Wahrheit und Methode (das man aber langsam versucht ist, zu Gadamers "Frühwerk" zu zäh­len), plagte ihn immer "das verdammte Gefühl, Heidegger gucke [ihm] über die Schulter"196. Die anderen bedeutenden Heidegger­Schüler, die in Marburg lehrten, Gerhard Krüger und Karl Löwith, hatten viel früher ihre Distanz zu ihrem Lehrer deutlich gemacht.

Gadamers langes Schweigen und die eigene Lehrtätigkeit schaff­ten jedoch die nötige Distanz. In Wahrheit und Methode gibt es wohl keine einzige Zeile, an der sich Gadamer expressis verbis irgendeine "Heidegger-Kritik" gestatten würde. Dennoch ist die Differenz überall mit Händen zu greifen. Es ist nicht nur so, dass die Seins­frage und die mit ihr einhergehende Überwindung der Metaphysik deutlich zurücktreten. Auch dort, wo sich GadameJ; Einsichten des späteren Heidegger über die Kunst, die Geschichte oder die Sprach­lichkeit (der bekannten Dreiteilung von Wahrheit und Methode fol­gend) anzueignen scheint, tut er es, indem er sich unbeirrt weiterhin auf Autoren beruft, die gerade für den jungen Heidegger bestim­mend waren, von denen sich aber der spätere Heidegger distanziert hatte, als er vor der inzwischen als Konsequenz der metaphysischen Seinsvergessenheit umgedeuteten Modernität seines eigenen Früh­werks zurückschrak: Dilthey, Kierkegaard, Augustin und den Aristo­teles der praktischen Philosophie. Platon, nach Heidegger der Begründer der Metaphysik, erscheint bei Gadamer als der noch so­kratische Meister des Gesprächs, und Hegel, der die metaphysische Seinsvergessenheit auf die Spitze getrieben haben soll, als der Vor­denker der hermeneutischen Erfahrung, die immer die Erfahrung der je eigenen Endlichkeit ist. Die Tradition des Humanismus, die Heidegger in seinem berühmten Brief von 1946 zur Metaphysik und zum Wesen der Technik zuordnete, rehabilitierte Gadamer gleich zu Beginn von Wahrheit und Methode, um ihre Widerstandskräfte gegen das rein technisch-methodische Denken neu einzusetzen.197

Es ist somit ein anderes Verhältnis zur Tradition, das Gadamer vom Boden der ins Dialogische gewendeten Faktizitätshermeneutik aus zutage fördert. Gadamers erste öffentliche Ankündigung seines

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hermeneutischen Programms verband sich aber doch mit einer Hei­degger-Kritik. Sie erfolgte, soweit man (zurück)sehen kann, in einer kurzen Ansprache am 27. Mai 1951 anlässlich der Wahl in die Hei­delberger Akademie der Wissenschaften. In dieser knapp zweiseiti­gen Rede fasst Gadamer seine früheren Studien, aber auch sein künftiges Forschungsprogramm zusammen. Sein Lehrer Heidegger sei zwar "ein Hörender wie seit Hegel keiner da gewesen war", aber auch, wie Hegel selbst, "ein von der Macht seines eigenen Denkens ständig zum Überhören der eigenen Stimmen der Vergangenheit Versuchter". So musste es darauf ankommen, "noch mehr nur Hörender zu werden". Diese Philosophie unserer dialogischen Exis­tenz kündigt Gadamer unter dem Titel einer "Theorie der Herme­neutik" an. Sie würde die theoretische Rechtfertigung dafür liefern, dass "alle Interpretation ein Moment der Selbstauslegung enthält und alle Forschung auf dem Felde der Geschichte der Philoso­phie selber Philosophie ist"198. Die Modelle für dieses Moment der Selbstauslegung, das jeder Interpretation innewohnt, findet aber Gadamer pointiert und eigenständig in der Erfahrung der Kunst, der Geisteswissenschaften und der dialogischen Natur unseres Ver­stehens. Auf einen neuen Anfang kommt es nicht mehr an.

In seinem Vater, in Heidegger (andere ließen sich durchaus nen­nen: Gadamers erste Publikationen von 1923 und 1924 sind seinen anderen Lehrern - Natorp und Hartmann, aber auch Bultmann -verpflichtet) wurde Gadamer von früh an mit starken Repräsentan­ten des Zeitgeistes konfrontiert. Mit Johannes Gadamer war es der Königsweg der allein respektablen Naturwissenschaften, mit Heideg­ger war es wohl der Anspruch, die gesamte abendländische Tradition im Namen eines neuen Anfangs, eines neuen Denkens auf Distanz zu bringen. In beiden Fällen handelte es sich um imponierende Aus­blicke, deren Faszination fürwahr heute noch fortbesteht. Die Hoch­konjunktur unserer Wissenschaftskultur und des ihr zum Teil entge­genwirkenden Heideggerianismus, auch wo der Name Heidegger un­bekannt oder verpönt ist, legen davon Zeugnis ab. Bei beiden hatte es Gadamer mit Größen zu tun, die sich ihrer Sache sicher waren. Vielleicht war es Gadamers geduldiges Verdienst, sich zu fragen, ob man es immer so genau wissen kann. So wandte er sich der Kunst, der Geschichte und den Geisteswissenschaften zu, wo man es mit Ungenauem und natürlich auch mit viel Geschwätz zu tun hat, wo man aber doch an Wahrheiten teilhat, die uns unmittelbar angehen.

Gewiss erscheinen sie im Vergleich mit den exakteren Wissen­schaften als "Schwätzwissenschaften" . Aber gibt es nicht gerade so

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etwas wie eine Wahrheit des Wortesuchens? Ist es nicht das grund­legende Faktum unserer Endlichkeit, dass man an Wissenserfahrun­gen teilhat, über die wir nicht ganz Herr sind? Mehr noch: Ist es nicht diese unsere Worte suchende Kontingenz, die die Verführung der methodischen Wissenschaftlichkeit als ihre Grundlage ständig voraussetzen und verbergen muss? Ursprünglicher als diese Ver­führung - und der zwielichtige Erfolg, der Verführungen eignet -wäre also unsere essentielle Angewiesenheit auf dialogisches Zu­sammenstammeln in einer Welt, die wir nie ganz in den Griff bekommen können. So konnte sich Gadamers Autobiographie das Bonmot von Brecht zu Eigen machen: "Für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug." Von hier aus erklärt sich die hartnäcki­ge Wendung der Hermeneutik zum Nichtwissen des Sokrates, zur docta ignorantia oder zum fesselnden Geheimnis der Kunst, das uns an unsere primäre Verstummung zurückerinnert. Wenn es irgend­eine "Lehre" der Hermeneutik gibt, dann versteckt sie sich in dieser Weisheit des Stammelns nach dem rechten Wort.

Sie ist aber nicht so sehr die Weisheit eines negativen Unvermö­gens. Es trifft sich, dass Gadamer selber von einer "Weisheit des StammeIns" in Bezug auf Hölderlin sprach,199 dem man nicht unbe­dingt sprachliche Inkompetenz wird nachsagen wollen. Was Hölder­lin auszeichnet, ist gerade die beredte Empfindlichkeit für unsere stammelnde Dürftigkeit im Angesicht des zu Sagenden. Was wir so stammelnd suchen, ist das passende Wort, das auszusagen vermöch­te, wie es um uns steht. Gerade weil es dieses Wort nicht gibt oder sich nicht sagen lassen will, erfährt sich unser Denken als ein suchender Dialog der Seele mit sich selbst.

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VIII. GADAMERS ANTI-ÄSTHETISCHE WIEDERGEWINNUNG DER WAHRHEIT DER KUNST

Der erste Teil von Wahrheit und Methode steht unter dem pro­grammatischen Titel einer "Freilegung der Wahrheitsfrage an der Erfahrung der Kunst". Die noch zurückzugewinnende Wahrheit der Kunst wird dort in Anspruch genommen, um das Monopol einer an der methodischen Sicherheit orientierten Auffassung der Geistes­wissenschaften zu erschüttern. Seit Dilthey verstand sich die Her­meneutik, die traditionell die Kunstlehre des Verstehens war, als die allgemeine Grundlage oder Methodenlehre der Geisteswissenschaf­ten. Aufgabe der Hermeneutik sollte es sein, Methoden des Verste­hens auszuarbeiten, die den sonst fragwürdigen wissenschaftlichen Status der Geisteswissenschaften festmachen könnten. Gadamers Fragestellung setzt zwar auch bei den Geisteswissenschaften ein, es fragt sich indes, ob der Methodenbegriff der Erkenntnisweise dieser Wissenschaften wirklich gerecht wird. Hat man es hier nicht mit einer Wahrheitsbegegnung oder Sinnerfahrung zu tun, die sich nicht mit den Mitteln der methodischen Wissenschaft beschreiben lässt? Um die Rückgewinnung dieser Wahrheit geht es Gadamers Herme­neutik. Sie geht von den Geisteswissenschaften aus, zielt aber auf eine universelle Hermeneutik, d.h. eine, die für alle Arten des Ver­stehens Geltung beansprucht.

Für diese Entmethodisierung der Wahrheitsfrage beruft sich Gadamer entschieden auf das Zeugnis der Kunst. Er wird sich aber zunächst mit der seit Kant gängigen Auffassung, die der Kunst einen Erkenntniswert abspricht, auseinander setzen. Unter dem Stichwort des "ästhetischen Bewusstseins" kritisiert er die Konzeption, die Kunstwerke lediglich nach ihren ästhetischen Qualitäten beurteilt und von ihren moralischen und kognitiven Elementen souverän ab­sieht. Den damit für den ästhetischen Genuss kreierten Raum nennt er die "ästhetische Unterscheidung". Ihr gegenüber macht Gadamer die Idee einer "ästhetischen Nichtunterscheidung" geltend, derzu­folge die Kunsterfahrung sich stets in die lebensweltliche Konti­nuität unserer Erkenntnis einfügt und damit eine Wahrheitserfah­rung verkörpert, die auf anderem Wege unerreichbar bliebe. Das ästhetische Bewusstsein hält er für eine "Abstraktion", die den Zu-

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gang zum Wahrheitsgehalt der Kunst eher versperrt als eröffnet. Gadamers Freilegung will am Leitfaden der Kunst - zunächst nega­tiv - den Wahrheitsbegriff aus der Zwangsjacke der methodischen Wissenschaft befreien. Durch diese Freilegung soll es aber möglich werden, positiv zu einer angemesseneren Auffassung des Wahrheits­anspruches der Kunst und darüber hinaus des Verstehens im weite­ren Sinne zu gelangen.

Es ist also Gadamers Anliegen, das Wahrheitsmoment der Kunst gegen deren rein ästhetische Verkürzung zu Ehren zu bringen. Man darf also von einer Destruktion der Ästhetik im Namen der Kunst sprechen, etwa nach dem Heideggerschen Verständnis von Destruk­tion, demnach die Konstruktionen in Frage zu stellen sind, die ein adäquates Verständnis der Sache selbst verhindern. Es liegt nahe, dass Gadamer bei Kant einsetzt. Denn Kant war es, der die Autono­mie der Ästhetik begründete, indem er ihr einen Geltungsbereich jenseits der Erkenntnis und der Moral verschaffte. Besonders ver­hängnisvoll war in Gadamers Augen der Umstand, dass Kant den Begriff der Erkenntnis im Voraus auf die methodische Naturwissen­schaft eingeschränkt hatte. Die ästhetische Erfahrung konnte sich nur noch jenseits der objektiven Wissenschaft und Wahrheit als sub­jektives Spiel verstehen. Kant lehnte sich dafür an die humanisti­schen Leitbegriffe des Geschmacks, des Gemeinsinnes und der Urteilskraft an, beraubte sie indes ihres im Humanismus selbstver­ständlichen Erkenntnisanspruches, indem er ihnen nur noch eine subjektive Geltung gönnte.

Kant sprach noch von einem Spiel unserer Erkenntnisvermögen im ästhetischen Urteil, das vornehmlich bei ihm dem Naturschönen galt. Dem Kunstschönen schenkte Kant bekanntlich weniger Auf­merksamkeit, weil dieses es zu direkt auf unsere moralische und er­kenntnismäßige Empfänglichkeit absah. Diese Absicht stellte ge­rade die reine "Ästhetizität" des Kunstschönen in Frage. Allein im Naturschönen sei das Schöne unbeabsichtigt, gleichsam über­raschend, sodass aus dem freien Spiel unserer Erkenntnisvermögen ein spezifisch ästhetisches Gefühl des Schönen und des Erhabenen hervorgehen konnte. Schiller radikalisierte alsdann den kantischen Spielbegriff, indem er den spielerischen, unwirklichen Charakter der ästhetischen Erfahrung, die von nun an vor allem in der künstleri­schen Kreation ihren Niederschlag fand, auf die Spitze trieb. Das Reich der Ästhetik und der Kunst wurde zu einem des schönen Scheines, in dem das Subjekt seine spielerische Freiheit entdecken und entfalten würde. Aus der Erziehung durch Kunst wurde mit Schiller eine ästhetische Erziehung.

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Die damit gewonnene Autonomie der Ästhetik wurde nach Ga­damer um den Preis ihres Wahrheits- und Realitätsverlustes erkauft. Diese Autonomie war aber auch die stillschweigende Konsequenz des Monopolanspruchs der methodischen Wahrheit, die die ästheti­sche Unterscheidung nur bestätigte, indem sie sich in einem Reich abseits der Wahrheit und der Wirklichkeit etablierte. Künftig wer­den Kunstwerke nur noch als Ausdrucksphänomene aufgefasst und aufgenommen. In ihnen gehe es nicht mehr um eine Wahrheits­erfahrung, für die die Wissenschaft nunmehr allein verantwortlich zeichnet, sondern um das produktive Werk eines Genies. Die damit hoch gekommene Genieästhetik war zugleich eine Erlebnisästhetik. Im Kunstgenuss handelt es sich künftig nur noch um das N acher­leben des schaffenden Erlebriisses des Künstlers.

Es wird aber an dieser Stelle für Gadamer fraglich, ob Kunstwer­ke wirklich nur als Kunstwerke, d. h. als wahrheitsfreie Ausdrucks­erscheinungen erfahren werden. Geht es hier tatsächlich um Aus­druck und Erlebnis und nicht vielmehr um Erkenntnis und Wahr­heit? Wird die Kontinuität unserer Existenz in der ästhetischen Erfahrung wirklich suspendiert? Wird nicht vermöge der Kunst diese Kontinuität eher auf sich selbst zurückgeführt und für sich selbst entdeckt?

Gegen diese negative Folie der kantisch-schillerschen Subjekti­vierung der Ästhetik wird Gadamer seine eigene "Ästhetik" in Wahrheit und Methode profilieren. Er setzt selber provokativ bei dem Spielbegriff ein, den Kant und Schiller noch rein subjektiv deu­teten. Gadamer will aber gerade zeigen, dass das Spiel kein bloß subjektiver Vorgang ist, sondern eher ein autonomes Geschehen, in das das menschliche Subjekt aufgeht, darstellt. Wer die Erfahrung eines Kunstwerkes macht, wird von ihm ebenso mitgerissen, wie der Spieler sein Spiel wie eine ihn übertreffende Wirklichkeit erfährt. Das Spielen ist immer ein Gespieltwerden, bei dem sich das Spiel als das wahre subiectum erweist. Die Kunsterfahrung wird damit zu einem Geschehen, an dem der Betrachter - wie der Schaffende -teilhat.

Diese Erfahrung ist nach Gadamer eine verwandelnde. Er spricht deshalb auch von einer "Verwandlung ins Gebilde", die an Heideg­gers Idee eines "Ins-Werk-Setzen-der-Wahrheit" gemahnen mag. Gadamer meint damit, dass die Wirklichkeit im künstlerischen Ge­bilde eine andere Dimension hinzugewinnt, als ob sie zum ersten Mal so zur Darstellung käme. Die Kunsterfahrung verleiht damit der Wirklichkeit so etwas wie einen "Seinszuwachs". Dieser nahezu

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quantitative und damit mehr oder weniger geschickte Ausdruck muss aus Gadamers Polemik gegen den Seins verlust der modernen Ästhetik verstanden werden: Weit davon entfernt, uns von der ob­jektiven Welt zu entfernen und in die fiktive Welt eines schönen Scheines zu projizieren, konfrontiert uns die Kunst umso dringlicher mit der Wirklichkeit selber, die durch ihre Verwandlung ins Gebilde so gut wie "seiender" wird.

Es ist aber nicht nur die Wirklichkeit, die im Kunstwerk verwan­delt erscheint. Denn wir sind immer auch dabei mit verwandelt. Die in der Kunst sich kundgebende Welt ist stets die unsere, aus der wir uns immer schon verstehen. Die Kunsterfahrung wird zu einer Selbstbegegnung und damit zu einer Selbsterkenntnis. Diese Ein­sicht wird Gadamer zu einer Rehabilitierung der Mimesis anleiten, kraft deren er Anschluss an den Wahrheitshorizont der vorkanti­schen Ästhetik sucht. Denn bis zum Aufgang des ästhetischen Be­wusstseins war der Mimesisbegriff dem Selbstverständnis der Kunst noch wesentlich, weil er nach Gadamer den evidenten Weltbezug der Kunst aufrechterhielt. Diese Evidenz ging aber verloren, als sich die Kunst auf den Flügeln des ästhetischen Bewusstseins von jedem Realitätsbezug löste und gar von ihm befreien wollte. Gadamer fragt sich, ob die Ortlosigkeit, die daraus für die Kunst resultierte, nicht wiederum eine Folge des modernen Nominalismus zeitigte, für die die Wirklichkeit nur die von der Wissenschaft erkennbare sein kann. Kunst, betont Gadamer, verleiht vielmehr der Wirklichkeit einen ,,~rhöhten Seinsrang" . Insofern leistet die Kunst eine Mimesis, eine augenöffnende Nachahmung der Welt, die sich aber nur in der Kunst nachvollziehen und darstellen lässt.

In der Kunst kommt die Welt - mit uns - zur Darstellung. Deshalb wird Gadamer in Wahrheit und Methode den transitorischen Küns­ten, der Musik und dem Theater, eine gewisse paradigmatische Funktion zuerkennen. An ihnen wird man gewahr, dass die Kunst nur Dasein hat, sofern sie gespielt, "interpretiert" und so für uns dargestellt wird. In der darstellenden Kunst sind wir immer mit dabei und mitgemeint. Gadamer stützt sich auf Kierkegaards Be­griff der Gleichzeitigkeit, um diesen aktiven Anteil am Kunstgesche­hen zu verdeutlichen. Bei Kierkegaard meinte es die noch gegen­wärtige Dringlichkeit der Heilsbotschaft, die nicht einmal vor 2000 Jahren ergangen ist, sondern die hier und jetzt an mich gerichtet ist und Antwort erheischt, weil ich vor ihr nicht indifferent bleiben kann. Ebenso ergeht es in der Begegnung mit dem Kunstwerk. Das gelungene Kunstwerk sagt mir immer, nach dem von Gadamer oft

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angeführten Vers Rilkes (der eigentlich von Don Giovanni her­kommt): "Du musst dein Leben ändern!"

So ist es kein Wunder, dass unter den transitorischen Künsten die Tragödie auch eine ausgezeichnete Beispielfunktion für Gadamer einnimmt: Bekanntlich hat Aristoteles den Zuschauer in seine Defi­nition der Tragödie aufgenommen, und dies vor allem deshalb, weil uns die gespielte Tragödie auf die Tragik des Lebens selber zurück­wirft. An der Tragödie wird augenscheinlich, dass in der Kunst die Kontinuität unserer zeitlichen Existenz nicht etwa eine Suspendie­rung, sondern vielmehr eine Zuspitzung erleidet.

Gadamers These von dem Darstellungscharakter und dem Seins­zuwachs des Kunstwerkes lässt sich auch an den nicht transitori­schen Künsten nachweisen. In den bildenden Künsten kommt das anschaulich zum Tragen, sofern das Bild nicht bloß ein Abbild der Wirklichkeit oder eines Menschen sein will, sondern sie in ihrer Wahrheit allererst erfahren lässt. Das Bild weist immer auf ein Ori­ginal zurück, aber so, dass es nur in dem Bild zu seinem wahren Sein und zu seiner angemessenen Darstellung gelangt. Auch für die de­korativen Künste und die Architektur interessiert sich Gadamer, weil sie so plastisch an die Einbettung der Kunst in den praktischen Zusammenhang einer jeweiligen Lebenswelt erinnern. Die Funktio­nalität und der Weltbezug, die den künstlerischen Charakter der Ar­chitektur gelegentlich fraglich erscheinen lassen, leisten auf diese Weise Gadamers Kritik an der Abstraktion des ästhetischen Be­wusstseins Vorschub.

Auch an der Literatur lässt sich Gadamers Einsicht in das darstel­lende Wesen jeder Kunst verdeutlichen. Dies leuchtet vielleicht sogar in größerem Maße ein, als dies noch 1960 der Fall sein konnte. Denn die Rezeptionsästhetik und die Reader-Response-Theory haben seitdem und oft unter dem Einfluss von Gadamers Ästhetik zur Genüge hervorgehoben, wie sehr die Literatur im Vollzug des Lesens ihre Vollendung findet. Das Lesen bildet nicht die nachträg­liche Reproduktion eines im Original verborgenen Sinnes, es voll­bringt die Konkretion des Sinnes selber.

Gadamers Behandlung der Literatur in Wahrheit und Methode fiel aber etwas stichwortartig aus (wo sie knappe fünf Seiten um­fasste). Umso eindringlicher hat er sich mit der Poetik nach Voll­endung seines Hauptwerkes beschäftigt. Die Mehrzahl seiner äs­thetischen Aufsätze nach 1960 galt in der Tat der Literaturtheorie. Sie sind heute vor allem im 8. Band seiner Gesammelten Werke (1993) zugänglich. Dieser Band trägt den prägnanten Titel: Kunst als

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Aussage. Es ist also der geheimnisvolle Wahrheits- und Aussage­charakter der Kunst, der dort eine Vertiefung erfährt. Von daher sieht man auch ein, dass die Literatur und die Lyrik für den späten Gadamer die paradigmatische Funktion übernehmen werden, die 1960 noch den transitorischen Künsten zuzufallen schien. Der Be­griff des Lesens erlangt dabei eine universale Funktion für die Ästhetik. Er weist nämlich auf den mitgehenden Vollzug hin, den jedes Kunstwerk vom Leser verlangt. Aber zu dieser Leseaufgabe fordert nicht nur die Literatur auf. Auch Bauwerke und transitori­sche Künste wollen in diesem Sinne "gelesen", d. h. mitvollzogen werden. Lesen heißt hier primär Mitgehen, Hören, und zwar Hören durch das innere Ohr, wo der Sinn Resonanz, Antwort und mithin Anwendung erfährt.

Damit wird auch die universale Wahrheit erreicht, die Gadamer an der Erfahrung der Kunst freilegen wollte. Die hermeneutische Wahrheit ist stets eine, die uns durch das innere Ohr hindurch gehen muss. Es ist mit anderen Worten eine Wahrheit, die unser Selbstver­ständnis angeht und immer schon auf uns angewendet ist, die wir aber nicht beherrschen, weil wir an ihr nur teilhaben. In seinen letz­ten Essays zur Ästhetik wie "Wort und Bild - 'so wahr, so seiend'" und "Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache" (1992) wird Gadamer dieses Wahrheitsgeschehen mit den einfachsten, fast tau­tologischen Worten beschreiben: "so ist es, es kommt heraus". Etwas an diesen Formeln erinnert an Heideggers Faszination für Imperso­nalien wie" es weltet",,, es gibt", mit denen die Fragwürdigkeit des instrumentalen Denkens der Neuzeit markiert werden sollte. In die­ser Kritik am Instrumentalismus des nominalistisch-neuzeitlichen Denkens, aus dem auch das ästhetische Bewusstsein stillschweigend hervorging, liegt nach Gadamer die universale Wahrheit der Kunst.

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IX. SPIEL, FEST UND RITUAL. ZUM MOTIV DES UNVORDENKLICHEN

BEIM SPÄTEN GADAMER

Unter der Sequenz Spiel- Fest - Ritual möchte ich in diesem Ab­schnitt eine Entwicklung in Gadamers Ästhetik verfolgen, die auf die Vertiefung eines zentralen Motivs seiner philosophischen Her­meneutik hindeutet. Gadamer ging bekanntlich in seinen ästheti­schen Überlegungen von dem Begriff des Spieles aus, die er zwar bereits 1960 in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode in Zusam­menhang mit der Idee des Festes brachte, aber dieser Zusammen­hang gelangte erst anlässlich seiner Salzburger Vorträge von 1974 über Die Aktualität des Schönen zu wirklicher Entfaltung. Derselbe Reflexionsfaden führte Gadamer in seinen allerletzten Arbeiten zum Begriff des "Rituals", kraft dessen er sich einem Grundphäno­men der menschlichen Existenz zu nähern suchte, auf das seine Her­meneutik von vornherein ausgerichtet war. Spiel - Fest - Ritual weist also auf die Beharrlichkeit eines zentralen Themas im Werke Gadamers hin, das ich vorläufig als das der Unvordenklichkeit der menschlichen Vernünftigkeit charakterisieren möchte. Ich hoffe, dass meine Ausführungen verdeutlichen können, was unter dieser unverdaulichen philosophischen Begrifflichkeit gemeint sein kann.

Gadamers eindrucksvolle Inanspruchnahme des Spielbegriffes erfolgte im Zusammenhang einer ästhetischen Besinnung, deren Hauptabsicht dahin ging, die Unzulänglichkeit der Begriffe der mo­dernen, auf Friedrich Schiller zurückgehenden Ästhetik nachzuwei­sen. Schillers fundamentale ästhetische Kategorie war selbstver­ständlich auch die des Spieles, die er wirkungsreich mit dem Ernst der theoretischen Wissenschaft und der praktischen Handlungsord­nung kontrastierte. Im Spiel sei das Subjekt allein mit sich beschäf­tigt und sozusagen befreit von dem Druck, der auf ihm im Bereich des Wissens und der Praxis lastet. Auf diesem freien Spiel des Sub­jekts mit sich selbst gründete die Autonomie des Ästhetischen für Schiller. Frei, d. h. frei von den Gesetzen der Erkenntnis und des Handeins, sei das Subjekt eigentlich nur im Ästhetischen.

Gadamer bedient sich aber der Spielkategorie, um gerade die Grenzen der Konzeption von Schiller, ja der gesamten modernen

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Ästhetik aufzuzeigen. Im Spiel der Kunst, führt Gadamer aus, ist das Subjekt nicht auf sich selbst gestellt und nicht von seinen erkennt­nismäßigen und praktischen Erwartungen losgelöst. Ganz im Ge­genteil: Das Spiel besagt für Gadamer, dass der Betrachter eines Kunstwerkes in ein Geschehen eingeflochten ist, dessen er nicht Herr ist und bei dem es ihm nicht zur Disposition steht, seinen üb­lichen Erfahrungs- und Erwartungshorizont auszuschalten. Wer einen Roman liest, einer Oper zuhört oder ein Gemälde bestaunt, findet sich hineingezogen in einen Bereich, den er wie eine ihn "übertreffende Wirklichkeit"200 erleidet. Wer könnte je sagen, was ihm geschieht, wenn er von einem Musikwerk, einem Gemälde, einem Bauwerk oder Gedichtetem eingenommen wird? Alles, was man darüber in einem anderen Medium als dem des Werkes selbst ausführen könnte, wirkt ungeheuer flach. Was bezaubert uns so sehr an einem Musikwerk? Man kann es nicht so recht sagen. Sicher kann man hier auf etliche Floskeln zurückgreifen: Es ist großartig, es wurde meisterhaft gespielt und dirigiert, mit Präzision, besser, mit Seele gespielt, alles Mögliche, aber um das zu verstehen, muss man dabei sein, wenn das Werk gespielt wird. Man muss sozusagen, und das ist für Gadamer keine entlegene Metapher, "mitspielen". Kunst, unterstreicht Gadamer, ist eine Aussage, die sich einer Umsetzung in ein anderes Medium widersetzt. Es ist aber dennoch für ihn eine Aussage, denn es ist ein Anspruch, besser, ein Angesprochenwerden, das von dem Spiel der Kunst ausgeht. Man braucht nur ein großes Kunstwerk zu evozieren, um zu wissen, was hier gemeint ist. Wenn ich etwa die Namen von Mozart, Kafka, Tizian oder Woody Allen erwähne, wird jeder sofort einsehen, was für eine ganze Welt von Aussage damit gemeint ist. Dies ist auch der Fall, wenn man zum Beispiel seit zehn Jahren keinen Roman von Kafka mehr gelesen hat. Etwas prägt sich in uns ein und wird geheimnisvollerweise nicht vergessen, wie man etwa den Inhalt eines philosophischen Vortrags nach zehn Minuten völlig vergessen hat (wenn man überhaupt "da­bei" war, als er gehalten wurde - was sicherlich selten geschieht). Wie ist es möglich, dass ein Kunstwerk so anzusprechen vermag, so viel "wahrer" als ein wissenschaftliches Argument sein kann? In der Kunst liegt also auch eine Aussage, liegt auch Wahrheit, die man aber nur versteht, wenn man sich in ihr Spiel hineinziehen lässt.

Aber dieses Spiel ist nicht so sehr als unser unverbindliches, sub­jektives Spiel mit dem Werk zu denken, sondern viel eher das des Werkes mit uns, meint Gadamer. Wir sind im Spiel eher Mitspielende, Angesprochene und im glücklichsten Fall Herausgehobene. Beim

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Spielen sind wir also nicht so sehr die spielenden als die gespielten, vielleicht sogar die überspielten. Wer würde aber hier sagen, das Spiel sei etwas rein Spielerisches? Ist der Gegenbegriff zum Spiel wirklich immer und primär der des Ernstes? Bedeutet etwa das Spiel der Kunst nichts als ein unernstes "divertissement", "entertainment"? Nein, antwortet Gadamer, im Spiel, in jedem Spiel liegt so etwas wie ein "heiliger Ernst"201. Das gilt nicht nur für die Kunst, es gilt auch für sportliche Spiele, kindliche Spiele und auch für die trivialsten Ge­sellschaftsspiele aller Art. Auch wenn wir nur spielerisch bei einer

. Sache sind, ist es uns also ernst, "heilig ernst" damit. Nur wer nicht mitspielt, meint es nicht ernst mit dem Spiel. Wer ein Spiel souverän von außen betrachtet, wirkt wie ein Spielverderber. Weil er gerade nicht mitspielt. Das spielende Verhalten ist das des Versunkenseins in ein Spiel. Mit der Spielmetapher verbindet also Gadamer eine Kritik an einem unverbindlichen, subjektivistischen Kunstverständ­nis. Die ästhetische Erfahrung ist nicht, wie Schiller meinte, die einer souveränen Subjektivität, die auf einmal spielerisch in eine ganz an­dere imaginäre ("ästhetische") Welt eintreten würde, wo sie vom Druck der alltäglichen Sorgen entlastet wäre. Die Erfahrung eines Kunstwerkes ist vielmehr die eines Einrückens in ein uns über­wältigendes, aber doch zugleich mithineinziehendes Spiel, wo unser ganzes Wesen auf dem Spiel steht. Dies ist für Gadamer die echte Erfahrung des Spieles: das Hineingezogensein. Der Gegenbegriff zum Spiel ist also nicht der des Ernstes, weil das Spiel auch etwas Ernstes ist, sondern das Nichtdabeisein.

Der Spielbegriff markiert damit auch die Grenze der Vergegen­ständlichung, wie sie uns von der methodischen Wissenschaft her vertraut ist: "Die Seinsweise des Spieles lässt nicht zu, dass sich der Spielende zu dem Spiel wie zu einem Gegenstand verhält. Der Spie­lende weiß wohl, was Spiel ist, und dass, was er tut, ,nur ein Spiel ist' , aber er weiß nicht, was er da ,weiß'. "202

Damit soll unterstrichen werden, dass die Kunsterfahrung (und darüber hinaus, wie wir sehen werden, die Erfahung des Verstehens und des Miteinanderseins und -sprechens) nicht ein Verhalten zu einem isolierbaren Gegenstand, den man als Kunst objektivieren könnte, darstellt. Das Spiel der Kunst liegt nicht im Kunstwerk, das da draußen aufgehängt oder gespielt wird, sondern in dem An­gerührtsein von einem Anspruch, einer Anrede, einer Aussage, die uns so fesselt, dass wir nur mitspielen können. Wer würde hier chirurgisch unterscheiden wollen, wo die Anrede und die Antwort liegt? Ist es das Werk, das uns in Frage stellt, oder sind wir es, die in

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dem Werk unsere Fragen oder unsere Rhythmen wieder erkennen? Dies ist es, was Gadamer an der Erfahrung der Kunst so sehr faszi­nierte: dass hier solche objektivierende Unterscheidungen fehlgrei­fen, dass aber dennoch Wahrheit erfahren wird, eine Wahrheit, zu der wir auf angehauchte Weise gehören.

Zur Erfahrung der Kunst gehört somit eine eigentümliche "Zeit­lichkeit", die des Dabeiseins für eine Weile. Das Spiel der Kunst wird nie begriffen, an ihm haben wir nur teil, sofern wir uns von sei­nem Zauber erreichen lassen. Wenn wir etwa ein Musikwerk hören, sind wir gleichsam unwiderstehlich zum Mitsingen, gleichsam zum Tanzen aufgerufen. Wir können nicht umhin, innerlich mitzusum­men, mit den Fingern zu schnippen oder mit den Füßen mitzustamp­fen, mitzufolgen, nahezu "mitzudirigieren". Wir spielen jedenfalls mit, sofern wir Musik hören. Die eigentlichste Vollzugsweise von Musik ist also das Mittanzen. Ebenso erkennen wir uns in einem Gedicht oder einem Gemälde, wie wir von einem Roman oder einer Tragödie gefesselt sind. Es geht uns an, spricht uns an. Es ist nun Gadamers Hauptthese bei dem Spielbegriff, dass dieses Mitgehen dem Werk nicht äußerlich ist, sondern zu seiner Aussage gehört: Erst dann, in dieser mysteriösen Anrede, ist es "Kunst". Jede Kunst­erfahrung ist die eines Mitvollzugs, d. h. einer Antwort auf den Appell des Werkes. Zur Zeit von Wahrheit und Methode liebte es Gadamer in fast neuplatonischer Weise, hier von der "Darstellung", die zur Kunst notwendig gehört, zu sprechen. Das wollte heißen: Es gibt nicht zunächst ein Werk und daneben, je nach Aufführung und Kontext, seine Darstellung. Jedes Werk "existiert" nur in seiner Darstellung, d.h. als Darstellung für jemanden und für eine Weile, die die unseres zeitlichen Daseins ist. Später bevorzugte es Gada­mer, hier in Anlehnung an den Sprachgebrauch des frühen Heideg­ger von Vollzug, von einem Mitvollzug zu sprechen. So hieß der Band, der Gadamers ästhetische Interpretationen in der Ausgabe seiner Gesammelten Werke versammelt: "Hermeneutik im Voll­zug". Ein Werk der Kunst will auf diese Weise immer mitvollzogen, d.h. "begangen" werden.

Es lag nahezu auf der Hand, dass sich Gadamer dafür auf den Be­griff des Festes bezog, dem er damit paradigmatische Bedeutung für seine ganze Ästhetik und darüber hinaus für unsere gesamte Welt­erfahrung verlieh. Denn ein Fest zeichnet sich immer durch eine ge­wisse Zeitlichkeit aus, in die wir hineingerissen werden: Ein Fest er­scheint zu einer gegebenen Zeit, die als festlich gilt und die alle an ihm Teilnehmenden zu einer feierlichen Stimmung erhebt, im besten

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Falle: feierlich verwandelt. Zum Wesen des Festes gehört also, dass eine Zeit oder ein Raum feierlich sind. Das zeigt sich exemplarisch an der Wiederkehr von Festen. Es ist aber nicht so, beobachtet zu Recht Gadamer, dass wiederkehrende Feste so benannt werden, weil sie in eine Zeitordnung eingetragen werden, sondern umge­kehrt so, dass die Zeitanordnung selber durch die Wiederkehr der Feste entsteht,203

Unser zeitliches Sein wird so durch Feste skandiert, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Am Fest zeigt sich somit, dass die zu ihm Gehörenden in ein Spiel eingefügt sind, das über ihr subjektives Belieben, Tun und Meinen hinausragt. Wer würde eine Feststim­mung je "objektivieren" wollen? Sie ist einfach da, und an ihr haben wir alle teil. Ein Fest - wie jedes Kunstwerk, ja wie jedes Verstehen­hat sein Dasein in der Weile und der Gemeinschaft, durch die es be­gangen wird. Auch wenn die meisten Feste auf ein Stiftungsereignis oder -datum zurückgehen, existieren sie nur in dem jeweiligen Voll­zug ihres Begangenwerdens. Nehmen wir etwa das Weihnachtsfest als Beispiel. Es weist natürlich auf ein Stiftungsereignis zurück, aber das Weihnachtsfest, das gefeiert und begangen wird, ist nicht einfach die Repetition eines Geschehens, das vor 2000 Jahen stattfand, es meint die Gegenwart: das Fest, das sich dieses Jahr, 2001, ereignet und dessen Gegenwart uns feierlich be-stimmt (oder nicht). Diese einstimmende Gegenwart des Festes ist die einer jeden Kunsterfah­rung, ja eines jeden Verstehens für Gadamer. Das Fest vollzieht sich nur vermittels dieser Darstellung, in dieser zeitlichen Begehung. In ihm "verschmelzen" nämlich die Horizonte der Gegenwart und der Vergangenheit: In der Wiederkehr des Festes liegt ein Moment der Wieder-Holung der Vergangenheit, aber ebenso sehr liegt in der Wiederholung ein unabdingbarer Gegenwartsbezug. Jedes Fest stellt damit eine Gegenwart sui generis dar. Kein Fest ist wie ein an­deres, auch und gerade wenn immer wieder dieselben Feste wieder­kehren. Man ist erfasst von etwas, was da ist und uns durch seine Präsenz besticht und verwandelt.

In Wahrheit und Methode hatte Gadamer insbesondere das Mo­ment der Teilhabe an dem Wesen des Festes hervorgehoben. Wer ein Fest feiert oder mitfeiert, ist da, ist "dabei", wird mitimpliziert. In seinen Salzburger Vorträgen von 1974 hat Gadamer nun die kommunikative Seite dieses Dabeiseins und Angesprochenwerdens stärker in den Vordergrund gerückt. Denn die Begehung des Festes schließt eine potenzielle Gemeinsamkeit ein. Man kann nicht allein feiern. Gadamer schreibt in Die Aktualität des Schönen: "Das Fest

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ist Gemeinsamkeit und ist die Darstellung der Gemeinsamkeit selbst in ihrer vollendeten Form. "204

Wer an einem Fest teilnimmt, will kommunizieren. Kommunizie­ren heißt aber nicht unbedingt Worte austauschen, sondern viel­mehr Miteinandersein, Aneinander-Teilhaben. Das Zusammensein, das Übereinkommen ist wichtiger als das Übereinkommen über dies oder jenes. Im kommunikativen Wesen des Festes liegt damit ein Festhalten des Vergänglichen. Auch dies gehört zur Zeitlichkeit der Feste. Ein Fest feiert immer das Bleibende im Vergehenden, aber so, dass beide Momente, sowohl das Bleibende als auch das Vergängliche, zugleich mitgedacht werden. Wenn wir eine Person, Weihnachten, ein Goethe-Jahr feiern, gedenken wir des Bleibenden, aber dies schließt stets ein Bewusstsein des Dahinschwindenden ein. Wie viele Weihnachten werden wir noch zusammen feiern?, fragen wir uns oft in einer Mischung aus Dankbarkeit und Bangigkeit, wenn wir solche Feste begehen. Das Fest markiert immer ein Sich­Sammeln der Zeit über sich selbst, ein Festhalten-Wollen der Weile, von der wir aber alle wissen, dass sie sich nicht festhalten lässt. Jedem Fest haftet somit ein Bewusstsein der menschlichen Ge­brechlichkeit an. Jede Festfreude, ja jede Freude ist vielleicht die Kehrseite eines Unsagbaren, Unsäglichen.

Gadamer spricht in diesem Zusammenhang von der "Eigenzeit" der Feste. Die Zeit der Feste ist eine "erfüllte", eben eine festliche, die die berechnende Zeit, über die man sonst verfügt, zum Stillstand bringt,205 Aber die Zeit, mit der wir sonst rechnen und die Gadamer auch die "leere" Zeit nennt, ist eine sich selbst vergessende Zeitlich­keit: Es ist die Zeit zu etwas, für etwas. Erst im Fest wird uns die Zeit als solche bewusst, nämlich als das Geschenk, das wir sind.

An den Festen wird uns also gewahr, dass wir in der Zeit und damit nolens volens in Traditionen stehen, in denen sich Vergangen­heit, Gegenwart, aber auch Zukunft ineinander verschränken. Gern dünken wir uns über Traditionen erhaben: Ach, Weihnachten, ach, das Goethe-Jahr, was geht mich das alles an? Selbstherrlich gebär­den wir uns als die freien Gestalter unserer Schicksale. Wir stellen uns so willig hin wie selbstbewusste, autonome Wesen, die über ihre Zeit verfügen und ihr Leben steuern. Dabei vergessen wir, wie viel Schickung, wie viel Tradition und Nichtwissen in unser Schicksal hineingehört. Wir leben in einer Zeit, wo man scheinbar alles ver­gegenständlichen und damit beherrschen kann. Es gibt Statistiken und Prognosen über alles. Man kann alles kontrollieren: die Zeit vor allem, die Wirtschaft natürlich, bald das Wetter, auf jeden Fall sein

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Gewicht, das, was man isst, und damit sein Aussehen, bis hin zu Ge­burten und den Genen, aus denen wir ein Gewebe sind. Früher wa­ren dies alles Schicksalsschläge, die passierten und die man hinzu­nehmen hatte. Sicherlich kann man vieles zu unserem Wohl kontrol­lieren, aber täuscht man sich nicht in dieser Kontrollsucht über sich selbst hinweg? Wir kontrollieren alles, als wären wir Götter. Aber vielleicht liegt gerade darin der Wahn, das Vergessen der eigenen Zeitlichkeit und Sterblichkeit. Nach Gadamers Hermeneutik stehen wir viel mehr in Traditionen, als wir uns durch unseren puritanisti­schen Kontrollwahn einzugestehen bereit sind. Die Wiederkehr der Feste erinnert an dieses Stehen in Traditionen, die begangen wer­den, aber stets nur in der so flüchtigen Präsenz unserer schillernden Gegenwart. In seinen letzten Arbeiten hat Gadamer in dieser Ab­sicht vom vergessenen Ritua1charakter des Lebens gesprochen.206

Was heißt hier Ritual? Es meint das Ganze unseres Handeins, Denkens und Sprechens, das durch Übereinkommen, Sitte und Bräuche bestimmt und erfüllt ist. Die Richtigkeit unseres Handeins beruht nicht immer auf Gründen, Gesetzen, nachweisbaren Normen oder formalisierbaren Reflexionsschritten. Vieles von dem, was wir tun, sagen und sind, ist in seiner Richtigkeit von einem Ethos ge­tragen, das in seiner verhüllten Wirksamkeit mehr eingespielt als wirklich bewusst ist. Dies ist etwa handgreiflich an den trivialen Be­grüßungs- und Höflichkeitsformen festzumachen, die unser Mitein­ander bestimmen. Wir wissen nicht recht, woher sie kommen und ob sie nicht manchmal überflüssig sind, aber wir fühlen es nur allzu schmerzlich, wenn sie auf einmal verletzt werden. Wogegen wird da verstoßen, wenn ein Gruß ausbleibt oder ein herausgerutschtes Wort eine Missstimmung hervorruft? Es ist die Überzeugung des späten Gadamer, dass der Rahmen des Rituellen in unserem Leben weit umfassender ist als das, was sich wissenschaftlich, aber auch sprachlich objektivieren lässt. Was wird nicht alles ausgeblendet, wenn eine Objektivierung vorgenommen wird? Wie viel Ritual geht nicht in unsere Formen der Erziehung, des Zusammenseins und Miteinander-Sprechens ein? Kommt es da immer auf die objekti­vierbaren und aussagbaren Inhalte, deren wir uns bewusst werden können, an, oder sind da nicht weitergehende Spielformen des menschlichen Lebens am Werke? Man denke z. B. an die Unter­schiede der Geschlechter und die Rituale ihres Sich-einander­Näherns. Die moderne Phraseologie spricht hier gern von "kultu­rell" bedingten "Rollen", als ob wir aus ihnen einfach heraustreten und sie nach Belieben ablegen könnten. Es sind aber nicht nur Rol-

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len, die wir spielen, sondern Lebensformen, die über unser Wollen und Denken hinaus unser Sein ausmachen.

Mit diesem Konzept des Rituals, des Rituellen in jedem Ver­stehensvollzug, setzt Gadamer, wenn ich recht sehe, seine Besinnung über das Wesen des Spieles und des Festes fort, radikalisiert aber deren anthropologische Bedeutung und Tragweite. Wissen und Richtig-Handeln gehen nicht in Objektivation auf. Der Spielraum des Verbindlichen und d. h. des uns Verbindenden und Zusammen­haltenden erstreckt sich weit über das hinaus, wovon man objekti­vierend Rechenschaft ablegen mag. So hätten auch der Begriff des Rituals und die stillschweigende Verehrung, die er impliziert, den der Tradition in Gadamers Philosophie ersetzt, aber ihn zugleich nachvollziehbarer gemacht. Denn es geht in seiner Hermeneutik nicht um eine Verteidigung des Hergebrachten als solchen, sondern um die Grenzen der Objektivierung schlechthin. Das menschliche Verstehen, Verhalten, Fühlen hat vielleicht weniger mit Planen, Kontrolle und Bewusstheit zu tun, sondern weit mehr mit einem art­spezifischen Sich-Einfügen in die Ritualität des Lebens, in Tradi­tionsformen, in ein Geschehen, das uns umgreift und das wir nur stammelnd begreifen können. Gadamers grundlegende Idee ist aber die, dass dieses verborgene207 Ritual, in das das Leben eingelassen ist, weniger eine Begrenzung als eine Ermöglichung von mensch­licher Vernünftigkeit und Freiheit darstellt. Es ist der Traum einer gegen die Spielformen der Tradition und des rituellen Lebens ge­richteten Freiheit, der vielleicht eine moderne und verhängnisvolle Abstraktion verkörpert. Der Grund unserer Vernunft, unseres Den­kens und Fühlens, hat, um mit Schelling zu sprechen, etwas "Unvor­denkliches". Er steckt "hinter" unserer Vernunft im doppelten Sinne, d. h. als das, was sie nie ganz einholen kann, aber zugleich auch als das, was sie möglich macht. Diesem "unvordenklichen" Charakter unserer Welterfahrung näherte sich der späte Gadamer, als er so unzeitgemäßen Kategorien wie denen des Spieles, des Fe­stes und des Rituals nachging und sich dabei von der Wahrheits­erfahrung der Kunst führen ließ.208

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X. DAS INNERE OHR IN GADAMERS ÄSTHETIK. DISTANZ UND SELBSTREFLEXION

IN DER HERMENEUTIK

"Das Aufnehmen eines dichterischen Werkes, ob das nun durch das wirkliche Ohr vor sich geht oder nur durch jenes innere Ohr, das im Lesen lauscht, stellt sich als eine zirkuläre Bewegung dar, in der Antworten wieder in Fragen zurückschlagen und neue Antworten provozieren. "209

Das sich hermeneutisch erfahrende Bewusstsein ist ein Bewusst­sein der eigenen Endlichkeit. Da es um seine eigene Bedingtheit weiß, muss es für neue und andere Erfahrungen offen bleiben. Es muss insbesondere zur Revision eigener Vorurteile bereit sein, wenn es eines Besseren belehrt wird. Ein prägnantes Beispiel solcher Selbstkritik erfolgte, als Gadamer 1986 in der 5. Auflage von Wahr­heit und Methode seine eigene Konzeption von der Produktivität des Zeitenabstandes einer leichten Revision unterzog. Da sie ein Kernstück hermeneutischer Theorie betrifft, möchte ich im Folgen­den den Sinn und die Konsequenzen dieser Selbstkritik ermessen.

Zunächst seien die Funktion und das Gewicht des Zeitenabstan­des für Gadamers Hermeneutik in Erinnerung gerufen. Von Hei­deggers Analyse des hermeneutischen Zirkels ausgehend, vertrat bekanntlich Gadamer die Ansicht, dass Vorurteile nicht so sehr Hin­dernisse, wie die Aufklärung und der gemeine Verstand meinen, als vielmehr "Bedingungen des Verstehens" seien. Wir verstehen im­mer von Sinnerwartungen oder Vormeinungen aus, die die Er­schließung des Verstandenen allererst ermöglichen. Soll das herme­neutische Bewusstsein ein kritisches und andersheitoffenes sein, kann es natürlich nicht darum gehen, die jeweiligen Vorurteile als schlechthin unhintergehbar gelten zu lassen. Im Gegenteil: Ein sei­ner Vorurteilshaftigkeit bewusstes Verstehen wird darum bemüht sein, die eigenen Vorurteile als solche abzuheben.

Gadamer folgt darin Heidegger, der in einem bekannten Passus die "erste, ständige und letzte Aufgabe" der Auslegung darin sah, "sich jeweils Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff nicht durch Einfälle

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und Volksbegriffe vorgeben zu lassen, sondern in deren Ausarbei­tung aus den Sachen selbst her das wissenschaftliche Thema zu sichern".210 Diese Stelle lässt allerdings aufhorchen: Ausgerechnet dort, wo Heidegger die hermeneutische Vorgriffs struktur als Bedin­gung jeden Verstehens auszuweisen unternimmt, beruft er sich auf eine Ausarbeitung "aus den Sachen selbst". Heidegger solidarisiert sich mit dem Grundmotiv der Phänomenologie just an der Stelle, wo er von ihr am entferntesten zu sein scheint, nämlich bei der Ontolo­gisierung der Vorgriffsstruktur, die gerade einen Zugang auf die Sachen, wie sie "selbst" sein sollen, zu verhindern scheint. Nolens volens nimmt Heidegger hierbei den Korrespondenzbegriff der Wahrheit in Anspruch: Angemessene Verstehensansätze müssen von den Sachen her ausgewiesen werden. Dieser Adaequatio-Be­griff der Wahrheit wird im Übrigen als selbstverständlich vorausge­setzt, wenn an anderer Stelle von einer Destruktion der abendländi­schen Ontologie die Rede ist: Destruiert werden eben die Vorgriffe, die einen angemessenen Zugang zu den Sachen blockieren. An ihre Stelle sollen sachangemessenere, adäquatere treten. Die Vorgriffs­struktur als solche wird gleichwohl nicht transzendiert. Transzendie­ren lassen sich allein Entwürfe, die einer Ausweisung an den Sachen selbst ermangeln. Der dabei in Anschlag gebrachte Wahrheitsbegriff ließe sich lateinisch so formulieren: Veritas est adaequatio praejudicii ad rem.

Dieselbe Distinktion behält Gadamer bei, wenn er zwei grund­sätzliche Arten von Vorurteilen unterscheidet: gute und schlechte, bzw. wahre Vorurteile, under denen wir verstehen, und falsche, unter denen wir missverstehen.2ll Nicht ohne Recht erkennt Gadamer in dieser Unterscheidung "die eigentlich kritische Frage der Herme­neutik" ,212 sofern ein kritisches Bewusstsein seine Vorurteile nicht einfach "vollzieht", sondern von den Sachen her zu legitimieren ver­sucht. Wie geht das aber? Die Frage stellt sich mit umso größerer Dringlichkeit, als die Vorurteils struktur des Verstehens wiederum zu besagen scheint, dass man seine Vorurteile nicht einfach beiseite las­sen kann, um gleichsam zu den Sachen selbst überzuspringen. Eine "Sache" lasse sich allein im Umkreis eines Vorurteils gewahren. Dem trägt Gadamer insoweit Rechnung, als er lediglich wahre von falschen Vorurteilen unterschieden wissen will und infolgedessen Vorurteilslosigkeit als menschliche Unmmöglichkeit auszuschließen scheint.

So ist an die Adresse der Hermeneutik ihre eigene kritische Frage zu richten: Wie unterscheidet sie wahre von falschen Vorurteilen?

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Die Antwort von Wahrheit und Methode, zumindest in seinen vier ersten Auflagen, fällt eindeutig aus: "Nichts anderes als dieser Zei­tenabstand vermag die eigentlich kritische Frage der Hermeneutik lösbar zu machen, nämlich die wahren Vorurteile, unter denen wir verstehen, von den falschen, unter denen wir missverstehen, zu schei­den. "213 Von der Bedeutung des Zeitenabstandes hängt folglich das zentrale Problem der Hermeneutik ab, wobei Gadamers spezi­fisches Anliegen dahin geht, die vorwiegend negative Beurteilung des Zeitenabstandes im Historismus, der das Verstehen als ein Überbrücken des Zeitenabgrundes konstruierte, zu revidieren.

Man wird Gadamer nicht bestreiten wollen, dass der Zeiten­abstand eine gewisse hermeneutische Fruchtbarkeit aufweisen kann. So ist es der Zeitenabstand oder die Ausschaltung zeitgenössi­scher Einschätzungen, die beispielsweise die Bedeutung von Nietz­sehe oder van Gogh hervortreten ließen. Etliche weitere Beispiele ließen sich nennen, und man wird zuzugeben bereit sein, dass die großen Philosophen oder Künstler unserer Zeit womöglich erst in fünfzig oder hundert Jahren die Anerkennung finden werden, die ihnen gebührt. Dennoch scheint Gadamers These recht einseitig, da sie einer nahezu "teleologischen" Ausscheidung falscher Vorurteile im Laufe der Menschheitsgeschichte das Wort zu reden scheint.214

Ein solcher Traditionsoptimismus läuft offenkundig Gefahr, die oft sehr negative Funktion des Zeitenabstandes zu verkennen. Sie ma­nifestiert sich etwa, wenn der Abstand "produktive" Konzeptionen (oder Autoren) unterdrückt und damit für die Nachwelt unnach­vollziehbar gemacht hat, weil sie zu ihrer Zeit als ketzerisch galten. Unsere abendländische Tradition und die Wissenschaftsgeschichte könnten davon lehrreiche Zeugnisse ablegen, sofern sie uns über­haupt überliefert wurden. Diese Unterdrückung produktiver Neu­ansätze dauert wohl bis zum heutigen Tag. Autoren, die zu sehr aus der Reihe tanzen, wie man sagt, werden oft nicht ediert, besprochen oder berufen. Ja, es steht zu befürchten, dass diese nivellierende Macht geschichtlicher Vorurteile in einer zunehmend homogener werdenden Welt nur im Wachsen sein kann. Gegen die einseitige Hervorkehrung des Zeitenabstandes spricht fernerhin, dass er nicht allzu viel Beistand leistet, wenn es um die Beurteilung zeitgenössi­scher Ansätze geht, wo dennoch die Unterscheidung von wahren und falschen Vorurteilen ihren guten Sinn behält.

Aus diesen Gründen hat Gadamer 1986 jedenfalls seinen ur­sprünglichen Text und damit seine Hauptthese revidiert. In der kenntlich gemachten Revision lautet der einschlägige Passus nicht

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mehr "Nichts anderes als dieser Zeitenabstand vermag ... ", son­dern: "Oft vermag der Zeiten abstand die eigentlich kritische Frage der Hermeneutik lösbar zu machen, nämlich die wahren Vorurteile, unter denen wir verstehen, von den falschen, unter denen wir miss­verstehen, zu scheiden." Eine Fußnote zur Stelle bot eine kurze, wenngleich etwas rätselhafte Erklärung für den Texteingriff: "Hier habe ich den ursprünglichen Text gemildert: es ist Abstand - nicht nur Zeitenabstand - was diese hermeneutische Aufgabe lösbar macht."215 Was meint hier Abstand?

Zweifellos wird hier der Abstand als Bedingung des Verstehens aufgewertet. Dies muss auf den ersten Blick verwundern, weil man sonst bei Gadamer doch auf einen negativeren Begriff von Abstand stößt. Richtungweisend wurde hier Kierkegaards Kritik an dem "Wissen auf Abstand,"216 das ein Grundzug des methodischen Den­kens darstellt, von dessen Verführungen Gadamer gerade die Geis­teswissenschaften und menschliches Selbstverstehen (insbesondere das ethische) befreien möchte. Die Verführung eines distanzierten Wissens ist zwar verständlich - und erstaunlich erfolgreich - im eng begrenzten Gebiet der exakten Wissenschaften, wo es um die Ob­jektivierung und Messung von Naturvorgängen geht. Gadamer fragt sich indessen, ob die Idee eines solchen Abstandes von sich selbst im Rahmen der Geisteswissenschaften und erst recht dem des ethi­schen Selbstverstehens nicht gerade ein Widersinn ist, handelt es sich doch hier um unsere Anliegen und unsere eigenen Lebens­fragen. Gadamer hat von Heidegger gelernt, dass menschliches Ver­stehen immer Selbstverstehen mit einschließt. Verstehen heißt, sich auf eine Sache verstehen, die uns angeht und bei der wir uns nicht Abstand von uns selbst leisten können. Gadamers Aneignung der aristotelischen phr6nesis ging in dieselbe Richtung: Im moralischen Wissen ist unser Sein selber immer mit im Spiele.

Der Abstand, den Gadamer in der revidierten Fassung von Wahr­heit und Methode anvisiert, kann also gewiss nicht den verobjekti­vierenden Abstand meinen, der die neuzeitliche und methodische Wissenschaft auszeichnet. Um was für einen Abstand handelt es sich aber? Ich möchte im Folgenden der Vermutung nachgehen, dass es sich vielleicht nicht so sehr um einen Abstand von uns als um einen Abstand in uns selbst handelt. Gemeint ist die Distanz, die wir unse­rer Endlichkeit eingedenk von unseren eigenen Vorurteilen unter­halten können. Uns der geschichtlichen Bedingtheit unserer Ver­stehensentwürfe bewusst, werden wir in den Stand gesetzt, in uns selbst andere Gesichtspunkte zum Tragen kommen zu lassen. Tag-

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täglich sind wir de facto mit anderen Verstehensmöglichkeiten als den unsrigen konfrontiert: Es sind die Gesichtspunkte anderer, die­jenigen, von denen wir hören, für die etwas spricht, ob wir sie in uns selbst ganz integrieren können oder nicht. Auch "unsere" Gesichts­punkte sind uns schließlich von unserer Erziehung, Erfahrung und meistenteils von anderen beschert worden, ohne dass sie je ein schlüssiges Ganzes bildeten. Es ist dieser Spielraum von möglichen Verstehenshinsichten (in dem Sinne, in dem Heidegger das Verste­hen als ein Sich-Entwerfen auf Möglichkeiten hin angesetzt hatte), der faktisch unsere denkende Situation charakterisiert. In zwei be­deutenden Dialogen (Theaitetos 184e, Sophistes 263 e,264 a) - und die Wiederholung unterstreicht, wie wesentlich ihm diese Einsicht war - hat Platon das Denken trefflich als ein "inneres Gespräch der Seele mit sich selbst" bezeichnet. Im Gespräch, das wir immerfort mit und um uns führen, lernen wir, Abstand von unseren Meinungen zu gewinnen, und bleiben dennoch bei den Fragen, die uns als Selbstgespräch angehen. Diesen Abstand meint die Hermeneutik, wenn sie in ihm eine unerlässliche Bedingung des Verstehens aner­kennt.

Das Gespräch nimmt bekanntlich eine bevorzugte Rolle in der Hermeneutik ein. Es entbehrte nicht einer gewissen Konsequenz, als Habermas aus dem hermeneutischen Gesprächsmodell eine Dis­kursethik zu entwickeln versprach, die Geltungsansprüche von dia­logischer Verständiguilgssuche abhängen ließ.2I? Habermas wollte damit über die Hermeneutik hinausgehen, um ihr eine "kritische" Funktion einzuprägen. Es fragt sich aber, ob diese kritische Instanz dem Selbstgespräch der Seele, die in sich andere, gar entgengesetzte Geltungsansprüche eben "gelten" lässt, nicht bereits innewohnt.

Gewiss meint Dialog in erster Linie das Gespräch mit anderen, aber die Andersheit als solche muss ich gegen mich ausspielen, um sie allererst als Andersheit erfahrbar werden zu lassen. So kommt der Anstoß des anderen, in mir selbst zu wohnen, soll ich von ihm selbst qua Andersheit Kenntnis nehmen. In dieser Erfahrung des Anstoßes liegt gerade hermeneutischer Abstand, ein "Stehen weg von sich", das immer doch ein Stehen in mir selbst - als Selbstaus­einandersetzung - bleibt.

Ob diese augustinische, aber auch gut kartesianische Instanz des Selbstgesprächs in der gadamerschen Hermeneutik bislang zu ihrem vollen Recht gelangt ist, ist eine andere Frage. In der Nachfolge Hei­deggers war es 1960 noch für die hermeneutische Fragestellung dringlicher, den neuzeitlichen Subjektivismus als einen "Zerrspie-

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gel" in seine Schranken zu weisen: "Die Selbstbesinnung des Indivi­duums", hieß es in Wahrheit und Methode, "ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens"218. Dem­gegenüber galt es, Verstehen weniger als eine Handlung der Subjek­tivität denn als ein Einrücken in ein Überlieferungs geschehen zu beschreiben.219 Es fragt sich aber, ob die Dimension des Selbst­gesprächs diesem Entrücktsein nicht bereits Rechnung trägt, sofern sie das Ausgeliefertsein an die Vielfalt von Gesichtspunkten als Vor­gang des Bewusstseins erfahrbar macht.

Um dieses Selbstgespräch der denkenden Seele zur Sprache zu bringen, bewahrte Gadamer in Wahrheit und Methode den Begriff des "Bewusstseins", das er als ein wirkungsgeschichtliches verstand. Auf diese Weise wollte er sich die Pointe der heideggerschen Kritik an den ontologischen Grundlagen des Bewusstseinsbegriffs zu Eigen machen, die Einsicht nämlich, dass das neuzeitliche Subjekt - als neues hypokefmenon - eine metaphysiche Permanenz und damit einen falschen Selbstbesitz vorgaukelt, die der menschlichen Endlichkeit zuwiderlaufen. Für Gadamer, der sich hier als Hegelia­ner erweist, blieb jedoch diese Selbstkritik des Bewusstseins eine Erfahrung des Bewusstseins. Es ist ein wirkungsgeschichtliches Be­wusstsein, das sich als ein historisch bedingtes weiß. Damit ist es im Stande, ein Bewusstsein dieses seines Erwirktseins auszuarbeiten, selbst wenn es nie zu einer vollen Selbsttransparenz wird gelangen können. Den verstehenden Vollzug uns determinierender Horizonte fasste Gadamer unter dem Bild einer "Horizontverschmelzung" auf. Die Grundaufgabe des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins sah er darin, diese geschichtlichen Horizonte gegeneinander abzuwägen und abzuheben. Von einer "kontrollierten Horizontverschmelzung" war sogar die Rede: "Wir bezeichnen den kontrollierten Vollzug sol­cher Verschmelzung als die Aufgabe des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins." Auch dieser wichtige Text erfuhr in der 5. Auflage von 1986 eine (diesmal nicht kenntlich gemachte) kleine Modifika­tion: Den kontrollierten Vollzug der Horizontverschmelzung be­zeichnete Gadamer nicht mehr als die "Aufgabe", sondern als "die Wachheit des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins"220. Wachheit hört sich wohl weniger positivistisch an als Aufgabe. Von Wachheit ist wohl auch die Rede, weil es hier vor allem darum geht, vor eige­nen Vormeinungen auf der Hut zu sein. Dies geschieht aber nur, wenn die eigenen Vorurteile dadurch zur Abhebung gebracht wer­den, dass sie mit anderen Horizonten, aber auch mit den Horizonten anderer konfrontiert werden, die sich auch in uns selbst Gültigkeit

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verschaffen können. Dieses Mitdenken der eigenen Vorurteile, die Wachsamkeit des wirkungsgeschichtlich erwachten Bewusstseins, kann sich nicht anders denn als ein Selbstgespräch der Seele mit sich selbst denken lassen.

Auch wenn er aus den genannten Gründen dem Bewusstseins­begriff aus dem Wege ging, wollte Heidegger mit seinem Begriff des Daseins im Grunde vielleicht nichts anderes als dieses Selbstge­spräch an sich selbst erinnern. Da zu sein heißt, dass jedes Dasein von seiner geworfenen Kondition dergestalt eine Ahnung hat, dass dieses Da für es selbst eine Frage ist, um es mit Augustin zu formu­lieren. Das "Da" schließt eine Selbsterschlossenheit dieses Da für sich selbst und als offene Frage mit ein. Das Dasein, dem es um sein eigenes Sein geht, ist wesentlich ein Gespräch, ein Verständigungs­versuch, selbstverständlich auch mit den anderen, sofern sie auch da (oder "Da") sind. Als Gespräch, d. h. im Modus der Selbsterschlos­senheit, sind wir in dieser Welt. Hier ist Hölderlin beim Wort zu neh­men, als er vom Gespräch sprach, "das wir sind".

Die antisubjektivistische Stoßrichtung der Hermeneutik von 1960 ließ diese Dimension, die man sich nicht anders als kritisch und selbstkritisch denken kann, vielleicht nicht immer zum Tragen kom­men. Seitdem wurde sie jedoch immer mehr in den Vordergrund gerückt. Sie lässt sich vielleicht am sprechendsten im Begriff des "inneren Ohrs" vernehmen, der in Gadamers letzten Arbeiten immer häufiger begegnet. Wenn ich recht sehe, tritt er zum ersten Mal in Die Aktualität des Schönen (1977)221 auf und begegnet auch sonst vor allem im Zusammenhang der Ästhetik, insbesondere bei der Theorie des "Lesens" (vgl. das Motto). Nichtsdestoweniger lässt sich die Idee des inneren Ohrs für das allgemeine Verständnis des hermeneutischen Abstandes fruchtbar machen. Es ist ja für die Her­meneutik überhaupt kennzeichnend, dass sie vom Modell der Kunst ausgeht, um die Reflexionsschranken des herrschenden Wissen­schaftsmusters namhaft zu machen.

Die Rede von einem inneren Ohr hat im Bereich der Ästhetik einen plastischen Sinn. Wer eine Melodie hört, ein Gedicht liest oder ein Gemälde beobachtet, steht nicht einfach vor einem objekti­vierbaren, vernehmbaren Gegenstand, den jeder andere genau so wie ich selbst aufnehmen wird. Wer von Kunst etwas verstehen will, muss "mitgehen". Das Kunstwerk will durch uns selbst hindurchge­hen, Antwort von uns erheischen. Jedes Kunstwerk, das diesen N amen verdient, verlangt von uns eine Reflexions- oder Aufbau­arbeit, die jeder auf seine Weise und nach seinen gegebenen

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Möglichkeiten vollzieht.222 Eine solche Reflexion erfolgt in jeder Wiederaneignung des Werkes, sofern es zu uns spricht. So konnte Gadamer am Paradigma des Kunstwerkes die Anwendungsstruktur eines jeden Verstehens wieder erkennen. Verstandenes ist immer schon ein auf uns Angewandtes.

Jedes Kunstwerk muss in Gadamers Worten "gelesen" werden, d. h. vom innneren Ohr erneut zum Sprechen gebracht werden. Gadamer schließt sich Goethe an, der das Lesen als eine Art Auf­führung auf einer inneren Bühne verstand.223 Gadamers Begriff des Lesens ist hier aber sehr weit zu fassen. Lesen versinnbildlicht für ihn "die Vollzugsform aller Begegnung mit Kunst"224. Um ein Kunst­werk zu verstehen und als Kunstwerk zu erleben, muss ich es mit dem inneren Ohr lesen. Das Lesen behält bei Gadamer den Neben­ton des Aufsammelns (recueillement), des Auslesen- und Gären­lassens. Lesen ist zugleich ein In-sich-zurück-Gehen, das man Re­flexion nennen darf. Diese Instanz des inneren Reflektierens ist es, die Sinnvolles für mich sprechen lässt. Man muss das Gehörte durch das innere Ohr hindurchgehen lassen, um es in seiner Bedeutung, d. h. in seinem Wiederklang in uns zu erfassen. Gilt das aber nicht für jede Erfahrung von Sinn überhaupt, dass ein "gelesener" Sinn mein inneres Ohr erreichen soll? Auf diese Weise wird das Lesen für Gadamer zu einem anderen Wort für das Verstehen überhaupt: "Lesen", schreibt er, ist "die gemeinsame Grundstruktur allen Voll­zuges von Sinn".225

Gadamer hatte sich in Wahrheit und Methode auf das Beispiel der Kunst berufen, um eine die methodische Wissenschaft übersteigen­de Wahrheits erfahrung zurückzuerobern, die auch für die Wissen­schaften vom Menschen Geltung beanspruchen könnte. Das ent­scheidende Merkmal der ästhetischen Wahrheit, wenn man sie so nennen darf - denn sie ist viel universaler als das Ästhetische im en­geren Sinne -, besteht darin, dass sie nur im Akt des lesenden Auf­nehmens ihren Sinn entfaltet. Es gibt keine ästhetische Wahrheit - ja keine Wahrheit schlechthin, sofern die ästhetische Erfahrung hier Universalität in Anspruch nimmt - ohne die Wachsamkeit des inneren Ohrs.226

Im inneren Ohr liegt ein Gewinnen von Distanz, obwohl man ganz bei sich selbst bleibt. Denn wer sich etwas durchs Ohr gehen lässt, erwägt es auch. Das Ohr versucht, das Gehörte mit seiner je­weiligen Welterfahrung in Einklang zu bringen. Inmitten der Re­flexionsarbeit des inneren Ohrs erfolgt eine Art "Horizontver­schmelzung" oder ein Dialog zwischen dem eigenen Horizont und

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dem neu Erfahrenen. Das Neue wird im inneren Ohr vom Hinter­grund unseres Welthorizontes als Neues erfahren, sodass beides auf Abstand oder zur Abhebung gebracht wird. Diese Erfahrung des Anstoßes erfolgt auch im Gespräch, im Dialog mit anderen, der eine Art Erweiterung und Fortsetzung des Gesprächs der Seele mit sich selbst ist.

Die Andersheit geht aber nie in meiner Aneignung ihrer selbst auf. Im Gespräch mit anderen - oder mit anderen Ansichtspunkten, die aus uns selbst aufkeimen können - ist das innere Ohr darum be­strebt, auf das innere Wort des anderen einzugehen. Es gilt, die Zei­chen des anderen auch von dessen Blickpunkt aus zu erfahren. Was ich verstehen will, geht über das zufällig Geäußerte hinaus. Es ent­springt aus einem Mitteilungsversuch, den die Worte nie ausschöp­fen. So versucht das innere Ohr dem inneren Wort des anderen zu entsprechen. In dieser Entsprechung (adaequatio) verbirgt sich die hermeneutische Wahrheitserfahrung schlechthin - als Aufgabe, als Wachheit.

Denn die Legitimität des anderen, die ich von ihrem eigenen in­neren Wort aus zu hören versuche, ist es, die meine eigene Vor­urteilshaftigkeit in Frage stellt. Sonst bliebe das Selbstgespräch der Seele ein monadisches im Sinne von Leibniz. Eine selbstsichere In­dividualität wäre mit sich selbst nicht im Gespräch. Die Revision der Vorurteile, in der wir mit Gadamer die Grundaufgabe der Her­meneutik erkannten, wird mir vom inneren Wort des anderen be­deutet, das ich aber nur im inneren Ohr vernehmen kann, indem ich es durch mich hindurchgehen und sich gegen mich ausspielen lasse. Im Wechselgespräch der Gesichtspunkte gegeneinander wird ein gelassener Abstand von ihnen errungen. Nur wo der selbstsichere Monolog des Ich herrscht, ist Abstand von der eigenen Vorein­genommenheit unmöglich.

Das philosophische Muster dieses inneren Gesprächs, das über sich hinauszuwachsen strebt, findet sich - außer bei Augustin, auf den hier mehrfach verwiesen wurde - vielleicht in Kants Begriff der reflexiven Urteilskraft. Im Unterschied zur bestimmenden verfügt die reflektierende Urteilskraft über kein vorgegebenes Allgemeines, unter das sich ihre einzelnen Erfahrungen subsumieren ließen. Die reflektierende Urteilskraft geht vom Besonderen aus, um sich das dazu passende Allgemeine auszudenken, ohne dass es ihr aber je vollkommen gelänge. Denn das Finden dieses Allgemeinen bedeu­tete das Ende unserer Reflexion und damit unseres Daseins. Offen­bart sich nicht in dieser unaufhörlichen Arbeit der reflektierenden

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Urteilskraft die Grundsituation unseres Daseins als eines Selbstge­sprächs, als ein Unterwegs vom Besonderen auf ein Allgemeines hin, das sich aber nicht dinglich vorführen lässt?227

Damit wird auch ein Begriff von Vernunft zurückgewonnen, den der allgemeine Menschenverstand seit jeher für selbstverständlich hält, von dem sich aber die Philosophen etwas entfernt haben. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird nämlich Vernunft mit Reflexions­kapazität gleichgesetzt. Wer vernünftig handelt, ist einer, der sein Handeln wohl überlegt und die Konsequenzen seiner Handlungen nach besten Kräften ausgewogen hat. Desgleichen fällt ein vernünf­tiges Urteil, wer alle möglichen Gesichtspunkte erwogen und gegen­einander ausgespielt hat. Gibt es für uns Menschen eine höhere Ver­nunft? Die zunehmend von der methodischen Wissenschaft her kommende und gelähmte Philosophie erliegt vielleicht der Ver­führung, Vernunft viel zu sehr als ein verifizierbares Verfahren der Wissenschaft zu begreifen. So ist von einer instrumentalen, kommu­nikativen oder wirtschaftlichen und vielen anderen Typen von Ra­tionalität die Rede, wo man die selbstkritische Instanz des inneren Ohrs als Reflexionskapazität umsonst suchen wird. Ist aber nicht diese reflexive Vernunft, die es uns erlaubt, von unseren Meinungen Abstand zu nehmen, bereits eine kommunikative, d. h. eine, die immer schon konkurrierende Weisen der Weltorientierung gegen­einander auszuwägen hat? Für die methodische Rationalität er­scheint diese Reflexionsinstanz als eine bloß subjektive, als ein be­liebiges Spiel des individuellen Meinens. Die szientistisch genährte Furcht vor diesem angeblich Beliebigen versperrt uns vielleicht den Zugang zur einzigen Form von Vernunft, die doch jeder an sich selbst erfahren kann, sofern er vermöge des inneren Ohrs den um­herlaufenden Tönen und Reizen auf Distanz gehen kann. Die Iden­tifikation der subjektiv erfahrenen Vernunft mit willkürlicher Sub­jektivität ist vielleicht der verhängnisvollste Kurzschluss neuzeit­licher Rationalitätstypen, die immer wieder eine Vernunftinstanz in Aussicht stellen, die sich über die Köpfe der denkenden Individuen hinweg erstrecken würde. Gibt es aber so etwas? Ist es nicht viel­mehr so, dass sich diese überindividuelle Rationalität weiterhin vor dem Forum des inneren Ohres rechtfertigen lassen muss, um Ver­bindlichkeit zu erlangen?

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XI. HANS-GEORG GADAMER UND DIE FRANZÖSISCHE WELT

Der französischen Welt wird oft eine gewisse Insularität nachge­sagt: Die Franzosen bleiben gern unter sich, am liebsten in Paris und bei dem, was dort Furor macht. Dieses Vorurteil herrscht nicht zuletzt in der Philosophie. Es wird aber durch die enorme Ger­manophilie der französischen Philosophie Lügen gestraft. Von Berg­son bis Derrida, über Kojeve, Sartre, Merleau-Ponty, Levinas, Ri­creur, Foucault und Deleuze kann man sich die französische Philo­sophie des 20. Jahrhunderts ohne Kant, Hegel, Nietzsche, Husserl, Heidegger, von Freud und Marx ganz zu schweigen, überhaupt nicht vorstellen. In diesem Jahrhundert gilt dies in hohem Maße für Hei­degger. Ein nicht gering zu schätzender Teil von Heideggers interna­tionaler Bedeutung ist wohl auch auf die Resonanz zurückzuführen, die ihm in der französischen Welt beschieden wurde. Um nur die wichtigsten, die ganze Welt in ihren Bann ziehenden Strömungen zu nennen, war er zweifelsohne die Muse hinter der Existenzphiloso­phie von Sartre und der Dekonstruktion von Derrida, vielleicht auch hinter Foucaults genealogischen Studien. Damit stand er so­wohl einer Zuspitzung der Subjektphilosophie wie deren radikalster Infragestellung in der Dekonstruktion Pate. 11 faut le faire, kann man dazu nur sagen! Diese erdbebenhafte Wirkung Heideggers steht aber im krassen Widerspruch zur eher verhaltenen Reaktion der Franzosen auf das Werk seines Schülers Hans-Georg Gadamer. Zwar darf man geltend machen, dass Heidegger und Gadamer nicht ganz vergleichbare Größen sind. Aber dem ist entgegenzusetzen, dass die französische Wirkung doch deutlich hinter der Gadamer­Rezeption steht, die man etwa in Italien, in den USA, aber auch in den östlichen Ländern beobachten kann. In diesen Ländern ist Gadamer inzwischen in den Rang eines Klassikers aufgestiegen. Selbst die analytische Philosophie wurde durch die wohl geläufigste aller hermeneutischen Thesen, nämlich dass alles durch Interpreta­tion und Sprache vermittelt sei, angerührt, sodass man auch in ihr von einer gewissen Gadamer-Rezeption sprechen darf.

Die französische Reaktion war gewiss zurückhaltender. Als sich Gadamer und Derrida Anfang der 80er Jahre begegneten, sprach

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bereits der französische Herausgeber der dort geführten Diskussio­nen von einer "unwahrscheinlichen Debatte"228. Eigentlich muss das überraschen. Warum sollte denn eine Debatte zwischen Gadamer und Derrida so unwahrscheinlich sein, sind sie doch die profilier­testen Fortsetzer des heideggerschen Denkens? Konnte man sich wirklich nicht auf dem gemeinsamen Boden dieses Erbes verständi­gen, zumal die Begriffe der Hermeneutik und der Destruktion, auf die Gadamer und Derrida abhoben, bei Heidegger beinahe Synony­ma waren?229 Alles schien in der Tat die Franzosen für eine Aufnah­me des gadamerschen Denkens zu prädisponieren: die vorzügliche Vorbereitung durch Heidegger, ihre allgemeine Germanophilie in philosophicis, Gadamers eigene Vorliebe für Kunst, Rhetorik und Dichtung, aber vor allem die unverkennbare Nähe der Franzosen zu den Grundeinsichten der Hermeneutik in die geschichtliche Sprach­lichkeit unserer Erfahrung. Die bereits erwähnte populär-herme­neutische These, nach der alles Interpretation und Sprache sei, ist nämlich auch eine Grundüberzeugung der durch Nietzsehe und Heideggger hindurchgegangenen französischen Philosophie. Ist das französische Denken von Autoren wie Sartre, Foucault, Deleuze oder Derrida nicht durchweg hermeneutisch? So wird es in der Tat oft gesehen (und kritisiert), vor allem, wenn ich recht sehe, in Ame­rika, wo man durch die - manchmal hilfreiche - Distanz dazu ge­führt wird, die französischen und deutschen Ansätze in ihrem ge­meinsamen "kontinentalen" Zug zu erkennen. Vermutlich half mir, als Kanadier, diese Nähe Amerikas, als ich in der Hermeneutik eine der konsequentesten Entwicklungen des nachheideggerschen Den­kens sah.

Wie kann man sich aber die verhaltene Reaktion der Franzosen auf Gadamers Opus erklären? Wie immer spielten kontingente Gründe eine Rolle. Zu ihnen zählt die Qualität der Übersetzungen. Wahrheit und Methode wurde in dieser Hinsicht in Frankreich schlecht bedient. Eine Übersetzung erschien zunächst im Ricreur­nahen Seuil-Verlag im Jahre 1976, aber in einer um 200 Seiten am­putierten Fassung. Der Verlag fand nämlich das Werk zu umfang­reich (auch dies ein Rezeptionshindernis), sodass die "geschicht­lichen" Abschnitte, die am Anfang der ersten zwei Teile von Wahrheit und Methode stehen, einfach ausfielen. Später konnte Gadamer scherzhaft - oder auch nur halb scherzend - dazu sagen, dass Ricreur damit den Weg zur Rezeption einer Hermeneutik ver­bauen wollte, die zu der seinigen in Konkurrenz hätte stehen kön­nen ... Erst 1996 brachte Pierre Fruchon, der vor kurzem starb, eine

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vollständige Übersetzung zustande, an der ich mitarbeitete. Es bleibt abzuwarten, ob eine größere Wirkung von ihr ausgeht.

Aber die bis dahin fehlende Übersetzung genügt nicht, um die zögerliche Gadamer-Rezeption zu erklären. Denn die Franzosen ließen sich ja von Heidegger bezaubern, lange bevor es eine voll­ständige Übersetzung von Sein und Zeit gab (die erst Mitte der 80er Jahre erschien!). Andere kontingente Faktoren spielten eine Rolle, wie etwa der Umstand, dass die französische Heidegger­Schule, die den Boden für eine Rezeption der Hermeneutik hätte bereiten sollen, gänzlich unhermeneutisch war. Schulbildende Hei­degger-Vermittler wie Jean Beaufret kamen vor allem aus dem Existentialismus und von der husserlschen Phänomenologie her. Von Hermeneutik ist in den zahlreichen, gewiss auch verdienstvol­len Arbeiten von Beaufret so gut wie nichts zu lesen, und seine un­hermeneutische Lesart von Heidegger wurde an die gesamte folgen­de Generation vererbt. Heidegger erschien und erscheint meist als der Nachfolger von Husserl, dessen Kartesianismus natürlich eine Saite in der französischen Seele berühren musste, während er in Deutschland - bei allem Gemeinsamen - wohl eher in Gegensatz zu Husserl gesehen wurde. Die unverkennbar unhusserlsche Betonung der Zeitlichkeit, der Geschichtlichkeit und der Faktizität wurde in Deutschland wie selbstverständlich eher auf Dilthey, die deutsche Romantik und ihre Fortwirkung in der hermeneutischen Tradition zurückgeführt. Otto Pöggeler hat gelegentlich von dem "dilthey­fremden" Denken der Franzosen gesprochen. Dem muss man indes entgegenhalten, dass es an Vermittlern Diltheys in der französischen Welt nicht gefehlt hat, wie das Beispiel von Raymond Aron, George Gusdorf und Paul Ricreur lehrt,230 aber ihre Dilthey-Rezeption war so "heideggerfremd", dass es nicht leicht wurde, die gemeinsame Herkunft von Dilthey und Heidegger zu erkennen.

Sieht man von den mangelhaften Übersetzungen und dem unher­meneutischen Zuschnitt der Heidegger-Rezeption ab, erklärt sich m. E. die zögernde französische Gadamer-Rezeption vielleicht vor allem durch den Umstand, dass viele Themen und Begriffe von Gadamer in Frankreich bereits "besetzt" waren, aber so anders be­setzt, dass man die Andersartigkeit des gadamerschen Vorhabens nicht registrieren konnte. Dies sei im Folgenden anhand der zwei­felsohne zentralen Begriffe der Hermeneutik, der Geisteswissen­schaften und der Interpretation kurz angedeutet.

Der Hermeneutik-Begriff war zunächst vor Gadamer bereits be­setzt und geladen, vor allem durch Paul Ricreur. Das vielschichtige

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Werk von Paul Ricreur ist seit langem mit der Hermeneutik identifi­ziert, aber es hat seiner Herkunft nach wenig, wenn überhaupt etwas mit Gadamer zu tun. Ricreurs maßgebliche Arbeiten zur Hermeneu­tik in den 60er und 70er Jahren - man denke vor allem an Die In­terpretation. Versuch über Freud (1965), Der Konflikt der Interpreta­tionen (Paris 1969) und Die lebendige Metapher (Paris 1975) - sind nachweislich ohne Kenntnis von Wahrheit und Methode entstanden. In ihnen sind nämlich Bezugnahmen auf Gadamer anfangs nicht vorhanden, später rar und völlig sekundär. Ricreurs Beschäftigung mit der Hermeneutik geht offenbar auf seine in den 50er Jahren verfolgten Forschungen zur Hermeneutik der religiösen Symbole zurück. Dies führte ihn dazu, das Gespräch mit der protestantischen Theologie von Bultmann und der diltheyschen Hermeneutik der Geisteswissenschaften aufzunehmen. Die Hermeneutik steht seitdem für Ricreur für eine die Objektivationen nicht scheuende Philosophie der mehrdeutigen Zeichen im weitesten Sinne, d. h. der Symbole, der Metapher, der Erzählungen, der Geschichte und schließlich des Selbst, die er in seinen späteren Studien über Zeit und Erzählung (3 Bde. Paris 1983-1985), Soi-meme comme un autre (1990) und zu­letzt La memoire, l'histoire, l'oubli (2000) ausgearbeitet hat. Ricreurs anscheinendes Festhalten an dem methodologischen Konzept von Dilthey erschien Gadamer immer wie ein kartesianischer Rest, und Ricreur zögerte seinerseits, den heideggerschen (und in der Sache auch gadamerschen) Boden einer allgemeinen Hermeneutik der Fak­tizität zu betreten, die die Ansprüche der Methodologie hinter sich zu lassen schien. Insofern wurde Ricreur durch Dilthey gegen Heidegger geimpft, wie Gadamer seinerseits durch Heidegger gegen Dilthey. Deshalb wurde das Gespräch zwischen Gadamer und Ricreur so schwierig, ja inexistent.231 Dies erschwerte jedoch die französische Rezeption der gadamerschen Hermeneutik, deren Entstehung ihrer­seits natürlich nichts mit Ricreur zu tun gehabt hatte. In Frankreich blieb aber die Hermeneutik, für deren Universalität Gadamer warb, mit Ricreur identifiziert, damit aber auch für viele mit ihrer theologi­schen Herkunft. Das war in gewissem Sinne bereits ein Unrecht Ricreur gegenüber, aber in der ja alles verdunkelnden Öffentlichkeit blieb der Hermeneutik der Hauch des Theologischen haften. Die Hermeneutik der Symbole stammte ja ursprünglich aus der Reli­gionswissenschaft. Ricreur schien ihr auch einen restaurativen Sinn zu geben, als er den Meistern des Verdachts - Freud, Marx, Nietzsehe und den Strukturalisten - eine Hermeneutik entgegenstellte, die auf eine "recollection du sens", eine "Wiedergewinnung des Sinnes"

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ausgerichtet war. Hinter der strukturalistischen Ökonomie der Zei­chen galt es, so schien es, einen Sinn zu retten, den Ricreur nicht selten mit theologisch geladenen Begriffen umschrieb (Vertrauen, Teleologie, Eschatologie des Sinnes usw.). Eine so restaurativ klin­gende Hermeneutik hatte einen schweren Stand gegen ihre dama­ligen Gegner, die Claude Levi-Strauss und Jacques Lacan hießen. Im Lichte ihrer Anti-Hermeneutik konnte die Hermeneutik nur eine verkappte Theologie des Sinnes sein. Diesen restaurativ-ver­söhnenden Sinn der Hermeneutik scheint übrigens Derrida weiter­hin vorauszusetzen, sodass seine Dekonstruktion eher die Linie der Hermeneutik des Verdachts fortzusetzen scheint. Natürlich waren diese gallischen Debatten Gadamer völlig fremd, aber sein eigenes Pochen auf die Tradition und die Autorität, soweit es in Frankreich zur Kenntnis genommen wurde, musste das restaurative,232 um nicht zu sagen "reaktionäre" Vorurteil gegen die Hermeneutik, das auch in Deutschland nicht unwidersprochen blieb, stärken.

Gadamers Ansatz bei den Geisteswissenschaften, sofern auch er rezipiert wurde, musste auch für Äquivokationen sorgen. So selbst­verständlich er in der hermeneutischen Tradition seit Dilthey war, hatte der Begriff der "sciences humaines" einen völlig anderen Klang im Frankreich der 60er und 70er Jahre. Mit ihnen assozierte man nämlich nicht die traditionellen deutschen Geisteswissenschaf­ten (die Philologie, die Geschichte usw.), die im französischen Sprachraum oft eher zu den "Lettres" gerechnet werden, sondern die neu entstandenen "Humanwissenschaften", für die sich der Strukturalismus stark machte, d.h. die Linguistik (mit Saussure), die Ethnologie und die Anthropologie (mit Levi-Strauss), die Psycho­analyse (mit Freud und Lacan) und im Allgemeinen auch den "wis­senschaftlichen Marxismus" (nach Althussers Ausdruck). Diese Wis­senschaften nannten sich damals "sciences humaines" in Frankreich, und ihr größter Theoretiker wurde in der Hauptsache Michel Fou­cault. Sein Hauptwerk, Les mots et [es choses, trug ja den Untertitel: "Une archeologie des sciences humaines". Mit ihrer Suche nach den invarianten Stukturen der Signifikanten zeichneten sich diese "sciences humaines" aber ausgerechnet durch ihren antihumanisti­schen, antihermeneutischen, rein objektivierbaren, aber auch ihren revolutionären Ansatz aus. Sie schienen nämlich einen Kehraus mit der traditionnellen Philosophie schlechthin zu versprechen (die auch die Anhänglichkeit ihrer Theoretiker für den späten Heidegger erklären hilft). Für den damaligen Zeitgeist schienen jedenfalls diese "sciences humaines" von dem Ehrgeiz erfüllt, die überlieferte

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Philosophie auf- und abzulösen. Die in die Defensive gedrängte tra­ditionelle Philosophie ereiferte sich ihrerseits, sich gegen den dro­henden Einmarsch der "sciences humaines" zu wehren, den viele hinter den Unruhen vom Mai 1968 vermuteten. Auch wenn gebilde­te Geister dies anders zu sehen vermochten, standen die "sciences humaines" für einen wissenschaftlichen und revolutionären Ansatz, der die Philosophie auflösen wollte. Gadamers Ansatz bei den "sciences humaines" konnte in dieser Situation nur Missverständ­nisse hervorrufen. Die Vertreter der klassischen Philosophie hatten ja einen Horror vor ihnen, und die Verfechter der "sciences hu­maines" konnten nur zu dem Schluss kommen, Gadamer habe die Humanwissenschaften von Grund aus missverstanden.233 Eine Her­meneutik der Geisteswissenschaften war in diesem Kontext für nie­manden recht anziehend.

Der Begriff der Interpretation bildet vielleicht ein letztes hier zu nennendes Hindernis. Damit verbinde ich einen Knäuel von The­men, die man von einer allgemeinen Hermeneutik hätte erwarten dürfen. So verschiedenartig sich die Ansätze von Sartre, Merleau­Ponty, Foucault, Deleuze, Ricreur und Derrida auch ausnehmen mochten, trafen sie sich doch in der Anerkennung des interpretato­rischen Charakters unserer Welterfahrung. "Alles ist Sprache", "alles ist durch Paradigmen oder epistemes bedingt", "es gibt keine Fakten, sondern nur Interpretationen" sind doch Schlagworte, die man gern mit ihrem Denken und ihrer Herausforderung identifi­ziert. Diese Überzeugungen ließen sich auch unschwer auf Nietz­sehe zurückführen, der neben Heidegger bekanntlich zu einer gro­ßen Inspiration der französischen Philosophie wurde. Eine allgemei­ne Theorie der Interpretation hätte man vielleicht zur Not unter dem Titel der Hermeneutik rezipieren können, weil es nahe lag. Aber hier musste die gadamersche Hermeneutik die Erwartungen etwas enttäuschen. Sie entwickelte zwar eine allgemeine Hermeneu­tik, aber sie schien sich um Nietzsehe ziemlich wenig zu kümmern.234

Einschlägige Begriffe wie die von Interpretation und Perspektive scheinen auch bei Gadamer nicht den Stellenwert einzunehmen, der ihnen in einer allgemeinen Hermeneutik zuzustehen scheint. Gada­mer zieht offenbar andere Begriffe wie die von Verstehen, Aus­legung, Vorurteil und Horizont vor, hinter denen man zwar dieselbe Erfahrung vermuten darf. Dennoch darf man hier von einer gewis­sen Nietzsche-Ferne Gadamers sprechen. Sie wird seine Aufnahme in der Nietzsche- und Heidegger-freundlichen Frankophonie auch nicht begünstigt haben.

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Gadamers Nietzsche-Ferne ist nicht mit einer persönlichen Ab­neigung wegzuerklären, sie hat einen sachlichen Grund. Gadamer sieht nämlich in Nietzsches hermeneutischem Radikalismus (alles ist Interpretation, also gibt es keine Wahrheit) einen Kurzschluss, der auf einem geheimen Kartesianismus gründet. Die Wahrheit, die es nicht gibt, ist die von Descartes, d. h. die auf einem fundamenturn inconcussum gegründete, die schlechthin gewisse. Allein im Ver­gleich mit einer solchen Wahrheit können unsere Verstehensver­suche wie bescheidene "Perspektiven" oder "Interpretationen" wir­ken, die völlig relativ und relativierbar sind. Der Paralogismus steckt für Gadamer darin, dass für Nietzsche daraus folgt, dass alle Wahrheit und alle Verständigung dahin sind. Dies sei nur stichhaltig, folgert Gadamer, wenn man die kartesianisch-methodische Wahr­heit voraussetzt. Deshalb ist Gadamers ganze Hermeneutik be­strebt, an eine Erfahrung, besser: an die Erfahrungen von Wahrheit zurückzuerinnern, die in diese methodische Wahrheit nicht aufge­hen, aber die unser ganzes Verstehen nähren, die hermeneutische Wahrheit, die wir beispielsweise in der Begegnung mit dem anderen oder mit einem Kunstwerk erfahren, wo Wahrheit weniger auf Distanzierung als auf Anteilnahme beruht.

Einen weiteren Kurzschluss will Gadamer in Nietzsches Nihilis­mus erkennen, in dem auch Heidegger und Ernst Jünger die Signa­tur unserer Epoche sahen: Es gebe keinen Halt, keine Werte mehr. Dies sei auch nur probehaltig, argumentiert Gadamer, wenn man einen überzeitlichen Halt, einen absoluten Wert erwartet. Aber seit Platon müsste man doch wissen, dass dies mit unserer Endlichkeit unvereinbar ist. Nur Götter verfügen über solche Gewissheiten. Das besagt aber beileibe nicht, dass uns jeder Halt abgeht. Es ist in Gadamers Augen intellektueller Hochmut,235 das Fehlen einer für unsere Beweisansprüche letztbegründeten Wahrheit mit dem Aus­bleiben eines jeden Haltes bzw. mit einem heillosen Perspektivismus gleichzusetzen. Gibt es nicht die Solidarität, die tragende Gemein­schaft des Gesprächs, der Verständigung und des Zusammenseins? Selbst ihr Fehlen bezeugt ihre tragende Kraft. Denn man kann nur unter mangelnder Orientierung leiden und klagen, wenn man einen gewissen gemeinsamen Boden teilt, sei es nur den der fehlenden Orientierung, die sehr wohl eine neue Solidarität zu bilden vermag.

All dies scheint mir Gadamers bedächtige Nietzsche-Ferne zu er­klären, die sich auf ihre Art sehr wohl wie eine Nietzsche-Nähe lesen lässt. Sie hat gewiss nicht das Gespräch mit der französischen Philosophie, und insbesondere mit Derrida, erleichtert. Das ist scha-

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de, zumal Gadamer und Derrida in dieser ausgebliebenen Auseinan­dersetzung um Nietzsche am meisten voneinander hätten lernen können. Denn das Denken findet sich gerade dort herausgefordert, wo das Gespräch schwierig ist. Die Dekonstruktion und die Herme­neutik, die dem anderen begegnen möchte, fängt immer mit sich selbst an.

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ANMERKUNGEN

1 Vgl. M. Heidegger, Brief an R. Stadelmann vom 1. September 1945, in: M. Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. Gesamt­ausgabe, Band 16, Frankfurt a.M.: V. Klostermann 2000,395: "In erster Linie empfehle ich Gadamer (Leipzig); wo er zur Zeit ist, weiß ich nicht. Er ist nach dem geistigen Format, als Lehrer und Kollege und überhaupt der Wertvollste. Ich möchte mir ihn als meinen Nachfolger wünschen, wenn es so weit wäre." Vgl. auch den Brief an denselben vom 30. November 1945, ebd., 407: "Gadamer ist allerdings ein ausgezeichneter Lehrer und hat vor allem Erfahrung und Neigung dazu. Er hat mir neulich aus Leipzig geschrie­ben, ist dort Dekan und ginge gern an eine 'kleinere' Universität. [ ... ] Gada­mer wäre für die Studenten und für die Fakultätsarbeit wichtiger, denn er ist eben im besten Sinne der geborene vornehme Professor - aber mit weitem und freiem Horizont und in der unmittelbaren Fühlung mit den Sachen. Falls ich hier in Freiburg überhaupt noch gefragt werde, möchte ich Gada­mer an erster Stelle als Nachfolger nennen."

2 V gl. 0. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, Frei­burg/München 1983,395.

3 Über die nicht zu unterschlagenden Unterschiede in Heideggers und Gadamers Auffassung des hermeneutischen Zirkels vgl. meine Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000, 125-134.

4 Vgl. Hans-Georg Gadamer [im Folgenden: HGG], Gesammelte Werke [im Folgenden: GW], Bd. 2, Tübingen, 2. Aufl. 1993,448.

5 "Über die politische Inkompetenz der Philosophie" hieß der resignierte Titel eines Beitrages aus dem Jahre 1993, der jetzt in den Hermeneutischen Entwürfen, Tübingen 2000, 35-41 vorliegt.

6GW2,448. 7 Zu Gadamers distanzierter Reaktion auf die Herausforderung des Nihi­

lismus, in dem Heidegger die dramatische Konsequenz der abendländischen Metaphysik erblickte, vgl. das letzte Kapitel des vorliegenden Bandes, "Hans-Georg Gadamer und die französische Welt".

8 J. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991,2. Aufl. 200l.

9 R. Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, in: Glauben und Verstehen, Bd. I, Tübingen 1933,9. Aufl.1993, 28.

10 Man vergleiche diesen Titel mit der allerersten Zeile von Wahrheit und Methode: "Die folgenden Untersuchungen haben es mit dem hermeneuti­schen Problem zu tun."

11 Das Problem der Hermeneutik, in: Glauben und Verstehen, Bd. 11, Tü­bingen 1952,6. Aufl.1993, 215.

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146 Anmerkungen

12 Ebd. 13 Das Problem der Hermeneutik, in: Glauben und Verstehen H, 226-227. 14 WM, in: GW I, 264. Vgl. sehr ähnliche Wendungen im Vorwort zur

2. Auf!. von WM, jetzt in GW H, 440. 15 Vgl. R. E. Palmer, Hermeneutics. Interpretation Theory in Schleierma­

cher, Dilthey, Heidegger and Gadamer, Evanston 1969. 16 V gl. I Grondin, Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen

1999,319. 17 Quintilian, Institutio oratoria (ca. 95), hrsg. von M. Winterbottom, Ox­

ford 1970, I, 9. 18 V gl. I Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip, Berlin 1982; A. D.

Schrift, Nietzsehe and The Question of Interpretation. Between Hermeneu­ties and Deconstruction, New York 1990.

19 Zu dieser Ausdehnung der Hermeneutik vgl. M. Joy, Rhetoric and Her­meneutics, in: Philosophy Today 32 (1988),273-285.

20 Vgl. exemplarisch Kopperschmidt, I (Hrsg.): Rhetorik, Darmstadt: Bd. I: Rhetorik als Texttheorie, 1990; Bd. H: Wirkungsgeschichte der Rheto­rik,199l.

21 V gl. W. Jens, Tod der Rhetorik, in: Ars rhetorica, in: I Kopperschmidt (Hrsg.): Rhetorik, a. a. 0., Bd. H, 200.

22 H.-G. Gadamer, GW H, 11l. 23 W. Dilthey, GS XIVIl, 597. 24 V gl. I Grondin, The Task of Hermeneutics in Ancient Philosophy, in:

Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy, Bd. 8 (1994).

25 Zur Allegorese bei Platon, vgl. jedoch I Tate, Plato and Allegorical In­terpretation, in: Classical Quarterly, 23 (1929),142-154.

26 Pseudo-Herakleitos, Quaestiones Homericae, ed. F. Oelmann, Leipzig 1910,2. V gl. hierzu H.-I Klauck, Allegorie und Allegorese in synoptischen Gleichnistexten, Münster 1978, 45-53 und I Pepin, Mythe et allegorie, 2. Auf!. Paris 1976,159-167.

27 I Danielou, Origene, Paris 1948,179-190. 28 Über die terminologischen und z. T. sachlichen Abweichungen die­

ser Lehre bei Origenes vgl. H. de Lubac, Histoire et esprit, Paris 1950, 141ff.

29Vgl. C. Schäublin, Untersuchungen zu Methode und Herkunft der an­tiochenischen Exegese, Köln/Bonn 1974.

30 Vgl. H.-E. Hasso Jaeger, Studien zur Frühgeschichte der Hermeneutik, in: Archiv für Begriffsgeschichte 18 (1974),45.

31 Vgl. H. de Lubac, Exegese medievale. Les quatre sens de l'Ecriture, 4 Bde. Paris 1959-1964.

32 Sth I, q 1, a 10 conclusio. 33 Vgl. K. Dockhorn, Rezension von Wahrheit und Methode, in: Göt­

tingisehe Gelehrte Anzeigen, 218 (1966),169-206,179. 34 Ebd.

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Anmerkungen

35 G. Ebeling, Art. Hermeneutik, in: RGG 111,249. 36 Zit. bei K. Dockhorn, 179. 31 G. Ebeling, 252.

147

38 Im Folgenden werden z. T. Ausführungen von der 2. Auflage meiner Einführung in die philosophische Hermeneutik (2001) übernommen.

39 V gl. 1. R. Schneiders grundlegende Studie: Philipp Melanchthon's Rhe­torical Construal of Biblical Authority, Lewiston 1990,18.

40 Philipp Melanchthons "Rhetorik", hrsg. von 1. Knape, Tübingen 1993, 63,121.

41 Ebd., 64, 121. 42 Ebd., 107, 158. 43 W. Dilthey, GS XIV/1, 601. 44 In Gadamers GW 11, 276-291. Vgl. auch 1. Knapes Einleitung zu Me-

lanchthons "Rhetorik", 1. 45 H.-G. Gadamer, GW 11,280. 46 Ebd., 279. 41 Vgl. 1. Knape, 6ff. u. 1. R. Schneider, 55ff. 48 Philip Melanchthons "Rhetorik", 65, 122. 49 Philippi Melanchthonis de rhetorica libri tres, Wittenberg 1519,29-41. 50 Philipp Melanchthons "Rhetorik", 95, 145. 51 Ebd., 95, 146. 52 Vgl. H.-E. Hasso Jaeger, a. a. 0., 46f. 53 Vgl. 1. R. Schneider, 201. 54 Ebd., 180. 55 Philipp Melanchthons "Rhetorik", 85, 140. 56 V gl. 1. Knapes Einl. zu Philipp Melanchthons "Rhetorik", 23. 51 Vgl. L. Geldsetzer, Einleitung zum Neudruck des 2. Teiles der Clavis

scripturae sacrae unter dem Titel: De ratione cognoscendi sacras literas. Über den Erkenntnisgrund der Heiligen Schrift, Düsseldorf 1968.

58 Ebd., 97. 59Vgl. 1. Wach, Das Verstehen, Bd. I, Tübingen 1926 (Neudruck: Hildes-

heim 1966), 14. 60Vgl. H.-E. Hasso Jaeger, 49. 61 Ebd., 50. 621. C. Dannhauer, Idea boni interpretis, Straßburg 1630,10. 63 F. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hrsg.v. M. Frank, Frankfurt

a.M.1977,75. 64 In seinen GW 11,276-300. 65 Ebd., 279. 66 Ebd., 285. 61 Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in:

0. Marquard,Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, 117-146. 68 Ebd., 129. 69 Ebd., 130. 10 1. M. Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger

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148 Anmerkungen

Reden und Schriften, Leipzig 1742 (Neuausg. 1969), Vorwort o. S. Für die Bedeutung von Chladenius in philologisch-literaturwissenschaftlicher Hin­sicht vgl. P. Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M.1975.

71 Aus einer Erläuterung von 1738 zu den Institutiones, die H.-G. Gada­mer und G. Boehm herausgegeben haben (Seminar: Philosophische Herme­neutik, Frankfurt a.M.1977, 62).

72 Ebd., 65. 73 GW 1,312-317. Gadamer bezog sich dort auf die pietistische subtilitas

applicandi von 1. 1. Rambach. Auch wenn von der applicatio am Ende der In­stitutiones hermeneuticae sacrae (1723) die Rede ist (ebd., 804-822), ist der Ausdruck subtilitas applicandi dort nicht zu finden (ebenso wenig in dem von Gadamer und Boehm 1977 neu herausgegebenen Auszug)! In späteren Auflagen von Wahrheit und Methode (GW I, 312) gestand Gadamer, ihm sei Rambachs Hermeneutik durch die Zusammenfassung von Morus (Super Hermeneutica Novi Testamenti acroases academicae, Leipzig 1797) be­kannt, aber bei Morus war auch nicht von subtilitas applicandi die Rede. Ich verdanke diese Auskünfte meinem Kollegen Istvan M. Feher von der Uni­versität Budapest.

74 GW H, 312. 75 Hermeneutik und Kritik, hrsg. v. M. Frank, 92; Hermeneutik, hrsg. von

H. Kimmerle, 29-30. 76 Vgl. M. Potepa, Hermeneutik und Dialektik bei Schleiermacher, in:

Schleiermacher-Archiv, 1,1985,492. 77 F. Schleiermacher, Allgemeine Hermeneutik von 1809/10, in: Schleier-

macher-Archiv, 1,1985,1272. 78 Hermeneutik und Kritik, 84. 79 Ebd., 94. 80 Ebd., 76. 81 Ebd. 82 F. Ast, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, § 75. 83 F. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, 335. 84 Ebd., 334. 85 Ebd., 323. 86 Ebd., 321. 87 Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation

nach Schleiermacher , Frankfurt a. M. 1977. 88 A. Boeckh, Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wis­

senschaften, 1877 (Neuausg. Darmstadt 1977),10. Vgl. F. Rodi, Zur Herme­neutik des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.1990.

89 Ebd., 80. 90 Ebd., 85. 91 Ebd., 86. 92 1. G. Droysen, Historik, 20. 93 In seinen GS V,317-331.

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94 GS VII, 79-188. 95 GS VII, 217. 96 GS VII, 218. 97 GS V,318.

Anmerkungen 149

98 Tübingen 1962; vgl. auch Bettis hermeneutisches Manifest: Zur Grund­legung einer allgemeinen Auslegungslehre, 1955, Neuausg. Tübingen 1988, das die Ideen seiner umfangreichen Teoria generale della Interpretazione (Mailand 1955; dt.: Allgemeine Auslegungslehre, Tübingen 1967) glücklich zusammenfasst. In der Nachfolge Bettis steht das Werk von E. D. Hirsch, Prinzipien der Interpretation, München 1972. V gl. 1. Grondin, L'hermeneu­tique comme science rigoureuse selon Emilio Betti (1890-1968), in: Archi­ves de philosophie (53) 1990,121-137.

99 V gl. T. Kisiel, The Genesis of Heidegger's Being and Time, Berkeley 1993,498.

100 M. Heidegger, Sein und Zeit, 138. Vgl. P. L. Oesterreich, Die Idee der existentialontologischen Wendung der Rhetorik in M. Heideggers "Sein und Zeit", in: Zeitschrift für philosophische Forschung 43 (1989).

101 Sein und Zeit, 139. 102 Ebd., 142. 103 Ebd., 143. 104 Ebd., 148. 105 Ebd., 152. 106 Ebd., 153. 107 Ebd. 108 Vgl. meine Studie: Le tournant dans la pensee de Martin Heidegger,

Paris 1987. 109 H. Lipps, Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik, 1938, in

seinen Werken 11, 18. 110 F. Rodi, Die energetische Bedeutungstheorie von Hans Lipps, in: Jour­

nal of the Faculty of Letters, The University of Tokyo (17) 1992, 2. Zum Werk von H. Lipps vgl. auch die wichtigen Beiträge im Dilthey-Jahrbuch (6) 1989.

111 Hans-Georg Gadamer im Gespräch, hrsg. von C. Dutt, Heidelberg 1993,14.

112 WM, in GW 1,295. 113 WM, in GW 1,312. 114 Von diesem Frage-Antwort-Schema ausgehend konnte der Konstanzer

Literaturwissenschaftler H. R. JauB (Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M.1970) das anspruchsvolle Programm einer literarischen Her­meneutik verfolgen, die das literarische Kunstwerk als Antwort auf eine ge­gebene geschichtliche Situation versteht und damit dem rezeptiven Moment neben dem produktiven zu seinem Recht verhilft.

115 WM, in GW I, 472. 116 GW 1,236, vgl. auch WM, in GW 1,488-489. 117 GW IX, 406.

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150 Anmerkungen

118 GW II, 305 119 V gl. GW II, 291, 305. 120 J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M. 1970. 121 GW II, 232-250 (1967 im ersten Band von Gadamers Kl. Schriften und

1971 im Sammelband Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a.M. er­schienen).

122 J. Habermas, Der Universalitäts anspruch der Hermeneutik, in: Herme-neutik und Ideologiekritik, 152.

123 Ebd., 153. 124 Ebd., 154. 125 GW II, 467. 126 Vgl.: Theorie des kommunikativen Handeins, Frankfurt a.M. 1981;

Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983; Fak­tizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demo­kratischen Rechtsstaates, Frankfurt a.M. 1992.

127 K.-O. Apel, Normative Begründung der "Kritischen Theorie" durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit? Ein transzendentalpragmatisch orientierter Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken, in: A. Hon­neth et al. (Hrsg.): Zwischenbetrachtungen, Frankfurt a.M.1989, 15-65.

128 J. Derrida, Guter Wille zur Macht: Drei Fragen an Hans-Georg Gada­mer, in: Ph. Forget (Hrsg.), Text und Interpretation, München 1984.

129 Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton 1979; dt.: Philosophie und der Spiegel der Natur, Frankfurt a.M.1981.

130 Wahrheit und Rhetorik in der hermeneutischen Ontologie, in: G. Vatti­mo, Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990. Vgl. B. Krajewski, Traveling with Hermes: Hermeneutics and Rhetoric, Amherst 1992.

131 M. Heidegger, Schellings Abhandlung über das Wesen der mensch­lichen Freiheit, Tübingen 1971,229.

132 Das 3. Sechstel, der Abschnitt "Zeit und Sein", dessen erste Fassung geschrieben, aber alsdann von Heidegger zurückgehalten wurde, wurde nämlich in der Vorlesung vom Sommersemester 1927 erneut in Angriff ge­nommen, und der 2. Teil, der Kant, Descartes und Aristoteles gewidmet sein sollte, lässt sich ebenfalls aus den Vorlesungen im Umkreis von Sein und Zeit in seinen Grundzügen erahnen. Vgl. dazu die Textangaben in dem un­überbietbaren Einleitungskommentar von F.-W. von Herrmann, Hermeneu­tische Phänomenologie des Daseins. Eine Erläuterung von Sein und Zeit. Band I: Einleitung: Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein, Frankfurt a.M.1987, 402-403.

133 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), in: Dilthey-Jahrbuch 6 (1989), 237-238.

134 Vgl. die viel komplexere Aufstaffelung (mit zwölf Strukturmomenten!) der Fragelogik in der Vorlesung vom Wintersemester 1923/24: GA 17,73. Dort erfolgt sie noch ohne spezifische Anwendung auf die Seinsfrage, die in der Vorlesung vom Sommersemester 1925 (GA 20, 194ff.) statthat.

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Anmerkungen 151

135 Erinnert sei an den berühmten Passus des Nachwortes (1943) zur 4. Auflage von "Was ist Metaphysik?" (Wegmarken, GA 9,304), wo Heideg­ger die Formel wagte, "dass das Sein wohl west ohne das Seiende". In der 5. Auflage modifizierte Heidegger seinen Text und schrieb, auf die Position von SZ zurückkommend, "dass das Sein nie west ohne das Seiende". Die Abhandlung Zur Seinsfrage aus 1955 wird wiederum prägnant das Sein als das "ganz Andere zum Seienden" apostrophieren (vgl. GA 9,412). Auf diese Erfahrung des Seins, ja auf dieses Erstaunen vor dem Sein, das wir nicht "machen", aber in dem wir sind, aber nur für eine atemverschlagende sterb­liche Weile, kam es Heidegger immer an. Heidegger wusste, dass er diese Er­fahrung etwas verkürzte, als er sie in Sein und Zeit in einen begrifflich-trans­zendentalen Rahmen presste. Mit umso mehr Energie kehrte er im Nach­wort zu seiner Antrittsvorlesung von 1929, Was ist Metaphysik?, das "Wunder aller Wunder" hervor, dass Seiendes ist, dass es etwas - und uns­gibt und nicht vielmehr nichts (GA 9,412). Diese Erfahrung ist - schlicht und einfach - die des Seins für Heidegger. Sie kann nur zeitlich sein und eine Erfahrung dessen sein, was sich entzieht und unbegreiflich bleibt.

136 Bemerkenswerte Spuren dieser produktiven Logik finden sich durch­weg im gesamten Opus Heideggers. So wird beispielsweise im § 76 von SZ "der existentiale Ursprung der Historie aus der Geschichtlichkeit des Da­seins" nachgewiesen. Ein damals unveröffentlichter Vortrag von 1927 über "Phänomenologie und Theologie" (Wegmarken, GA 9,45-77) skizzierte sei­nerseits die ontologischen Voraussetzungen der Theologie. Ferner interes­sierte sich Heidegger in einer Vorlesung vom Wintersemester 1929/30 (GA 29/30, 311ff.) für die ontologischen Grundlagen der Biologie in ihrem Ver­such, den Organismus und das Leben zu fassen, während sich die Vorlesung vom Wintersemester 1935/36 (Die Frage nach dem Ding, Tübingen 1962) für die Grundlagen der Physik interessierte (vgl. dazu C. Chevalley, La physique de Heidegger, in: Les Etudes philosophiques 1990,289-312). Man wird zwar nicht in Heideggers Mitte der 30er Jahre einsetzenden Erläuterungen über "das Wesen der Dichtung" eine Grundlegung der Poetik oder der Literatur­wissenschaft, doch sehr wohl eine ontologische Klärung des "dichterischen Wohnens" des Menschen sehen dürfen, die den "ontologischen Vorrang der Seinsfrage" auf ihre Weise bekräftigt. Ansonsten erkannte Heidegger ande­ren Philosophen das Verdienst zu, eine den Wissenschaften den Boden be­reitende, ontologische Explikation vorgenommen zu haben. So habe Kant nach der Einleitung zu SZ (11) eine "apriorische Sachlogik des Seinsgebie­tes Natur" für die Physik erarbeitet. Mit dieser Thematik der "produktiven Logik" begann übrigens die Vorlesung vom Sommersemester 1925, Prolego­mena zur Geschichte des Zeitbegriffs (GA 20, 1-6), die der Niederschrift von SZ zugrunde lag.

137 Vgl. bereits in den frühen "Anmerkungen zu Karl Jaspers" aus 1919/21 das Abheben auf die "Grunderfahrung des 'ich bin', in der es radikal und rein um mich selbst geht", so dass die Grunderfahrung die "des bekümmer­ten Habens seiner selbst [ist], welches vor einer möglicherweise nachkom-

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152 Anmerkungen

menden, aber für den Vollzug belanglosen 'ist'-mäßig objektivierenden Kenntnisnahme vollzogen ist" (Wegmarken, GA 9,29-30). Vgl. ferner: Der Begriff der Zeit (1924), Tübingen 1989, 14: "Das so charakterisierte Seiende ist ein solches, dem es seinem alltäglichen und jeweiligen In-der-Welt-sein auf sein Sein ankommt." Aus den Vorlesungen, vgl. GA 20,405: "Das Dasein ist Seiendes, dem es in seinem Sein, in seinem In-der-Welt-sein, um sein Sein selbst geht" (vgl. GA 21, 220); GA 28, 171: "Damit ist das Seiende bezeich­net, dem seine eigene Weise zu sein in einem bestimmten Sinne ungleichgül­tig ist."

138 Vgl. GA 29/30, 95ff. Dass sich dieser sehr wichtige Begriff des Weg­seins bis in den späteren Entwurf der Seinsgeschichte hinein als unentbehr­lich erwies, zeigt sein Wiederauftauchen unter ganz neuen Auspizien in den Beiträgen zur Philosophie (GA 65),323: "Ist nämlich das Da-sein als der schaffende Grund des Menschseins erfahren und damit zum Wissen ge­bracht, dass das Da-sein nur Augenblick und Geschichte ist, dann muss das gewöhnliche Menschsein von hier aus als Weg-sein bestimmt werden. [ ... ] Weg-sein ist der ursprünglichere Titel für die Uneigentlichkeit des Da­seins." Vgl. auch den Besinnung betitelten Band, GA 66,219-220.

139 Dieter Thomä, Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers, Frankfurt a. M. 1990,254, sieht hier - mit gewissem Recht - eine Vermengung von zwei Fragen, die sich nicht auf eine einheitliche Fragestellung zurückführen lassen. Ich versuche im Folgenden, ihre Zusammengehörigkeit aus Heideggers Intentionen nachzuweisen. Thomä muss ich zugeben, dass Heidegger selber diesen Zusammenhang nicht mit aller wünschenswerten Deutlichkeit dargestellt hat. Suggeriert wird er aber durch Passagen wie der folgenden in dem Vortrag Der Begriff der Zeit (1924), a.a.o., 14: "Die Sorge um das Dasein hat jeweils das Sein in die Sorge gestellt, wie er in der herrschenden Auslegung des Daseins be­kannt und verstanden ist." Gespannt darf man in dieser Hinsicht auf die größere Abhandlung aus dem Jahre 1924, Der Begriff der Zeit, sein, die als Band 64 der GA vorgesehen ist.

140 Die Idee der Fundamentalontologie wird in den kommenden Jahren noch mehrere Verwandlungen durchlaufen, bis sie allmählich durch den Entwurf des seinsgeschichtlichen Denkens abgelöst, aber auch erfüllt wer­den wird. Vgl. insbesondere die Vorlesung vom Sommer 1928 (GA 26, 196-202), wo Heidegger eine völlig neue "Kennzeichnung der Idee und Funktion der Fundamentalontologie" umreißt (wo die Fundamentalontologie als der erste Teil' der "Metaphysik" erscheint, deren zweiter eine änigmatische "Metontologie" sein soll), ferner und wohl zum letzten Mal öffentlich den vierten Abschnittt von Kant und das Problem der Metaphysik (1929), insbe­sondere den abschließenden Teil über "Die Metaphysik des Daseins als Fundamentalontologie" , wo die Endlichkeit zum das Dasein tragenden Grundthema der Ontologie befördert wird. Leider kann ich hier nicht auf diese spannungsvollen und spannenden Wandlungen und ihre Konsequenz näher eingehen.

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141 E-W. von Herrmann, 127. 142 Ebd., 135.

Anmerkungen 153

143 Vgl. Briefe Martin Heideggers an Julius Stenzel (1928-1932), in: Hei­degger Studies 16 (2000),12: "Welcher Weg ist zu nehmen, um - in Absicht auf die Begründung der Möglichkeit von Seinsverständnis überhaupt und einzig in dieser Absicht - die Seinsverfassung des Daseins ('ljJuXTJ Platos der Funktion im Problem nach) vor Augen zu legen?" Auf diese verblüffende Herkunft des Daseins aus der psyche (und nicht aus dem Subjektbegriff, wie es meist geschieht) wies auch Heidegger in seinen Vorlesungen hin (vgl. GA 19,23,579,608; GA 22, 107). Sie wäre einer eingehenderen Interpretation wert.

144 Nach der Auskunft von E-W. von Herrmann hätte Heidegger die erste Fassung des 3. Teiles "bald nach ihrer Niederschrift verbrannt" (vgl. das Nachwort zu GA 2, 582). Das ist aber offenbar eine späte mündliche Äuße­rung von Heidegger. In früheren Texten, nämlich im Brief über den Huma­nismus (GA 9,325), aber auch in den Beiträgen (GA 65,451) sowie in Besin­nung (GA 66,414) bezeichnete Heidegger das Schicksal dieses Abschnittes durchweg mit etwas anderen Worten. Nach all diesen Texten sei der frag­liche 3. Abschnitt "zurückgehalten" worden. Kann man zugleich einen Text "zurückhalten" und "bald nach seiner Niederschrift verbrennen"? Wohl nicht, denn das "Zurückhalten" schließt ein, dass das Zurückgehaltene - we­nigstens eine Zeit lang - noch existierte. Ein Zurückhalten scheint also - rein sprachlich - ein sofortiges Vernichten auszuschließen. Deshalb gehört der Verfasser wider alle Wahrscheinlichkeit zu denjenigen, die nicht aus­schließen möchten, dass dieser 3. Teil eines Tages auftauchen könnte. Schließlich sei auf den Bericht von Frederic de Towarnicki hingewiesen (A la rencontre de Heidegger. Souvenirs d'un messager de la Foret-Noire, Gallimard, 1993, 64), dem Heidegger das unveröffentlichte Manuskript die­ses 3. Teiles gezeigt haben soll.

145 Zur Deutung der Kehre in diesem Sinne vgl. A. Rosales, Zum Problem der Kehre im Denken Heideggers, in: Zeitschrift für philosophische For­schung 38 (1984),241-262; E-W. von Herrmann, Das Ende der Metaphysik und der andere Anfang des Denkens. Zu Heideggers Begriff der Kehre, in seinem Band: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers "Beiträgen zur Philoso­phie", Frankfurt a. M. 1994, 64-84; sowie meine Prolegomena to an Under­standing of Heidegger's Turn, in: Graduate Faculty Philosophy Journal 14-15 (1991),85-108. Deuter wie Hans-Georg Gadamer und T. Kisiel sahen frei­lich in der Kehre eine "Rückkehr" Heideggers zu seinen Ur-Intuitionen. Aber erst das systematische Scheitern machte diese Rückkehr möglich, so dass die Rede von einer "Kehre vor der Kehre" cum grano salis zu nehmen ist.

146 Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der her­meneutischen Situation), in: Dilthey-Jahrbuch 6 (1989),249.

147 In der Vorlesung vom Sommersemester 1928 (GA 28, 196) bekräftigte Heidegger diesen aufklärerischen Anspruch seiner Destruktion: "Mit dieser

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154 Anmerkungen

Fundamentalontologie und durch sie ergreifen wir nur, und zwar in einer bestimmten Hinsicht, das innere und verborgene Leben der Grundbewe­gung der abendländischen Philosophie." Wie das dem Schelling-Buch ent­nommene Motto des vorliegenden Aufsatzes zeigt, unterschied aber Heideg­ger sehr wohl die geschichtliche Notwendigkeit der Besinnung über "Sein und Zeit" von dem Buch dieses Titels, das nur einen Nachvollzug dieser Be­sinnung versuchte.

148 Zur Charakterisierung des Phänomens als "das Sich-an-ihm-selbst-zei­gen" (SZ 31, Z. 3) bemerkte Husserl in einer Randbemerkung seines Hand­exemplars (Randbemerkungen Husserls zu Heideggers Sein und Zeit, in: Husserl Studies 11 [1994], 17): "Das ist gar zu einfach." Zur berechtigten Frage "To What Extent was Heidegger a Phenomenologist?" vgl. die skepti­schen Bemerkungen in der klassischen Schilderung von Herbert Spiegel­berg, The Phenomenological Movement. A Historical Introduction, 3. Aufl., The Hague/Boston/London 1982,336-421. Die Frage beschäftigt auch sehr die neuere französische Tradition der Phänomenologie, in der die Fragestel­lung Heideggers - viel stärker als in Deutschland - von der husserlschen her verstanden wurde, freilich um den Preis einer nahezu vollkommenen Ver­nachlässigung der hermeneutischen Herkunft Heideggers, die in Deutsch­land natürlich mehr Beachtung fand. Wegweisend sind hier die Arbeiten von I-F. Courtine, Heidegger et la phenomenologie, Paris 1990 und Jean-Luc Marion, Reduction et donation. Recherehes sur Husserl, Heidegger et la phenomenologie, Paris 1989.

149 V gl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Husserliana XIXIl, § 2,10, wo Husserl von einem zu vollziehenden Rückgang "von den bloßen Worten ... zu den Sachen selbst" sprach (weitere Texte bei F.-W. von Herr­mann, Hermeneutische Phänomenologie des Daseins, 286). Heideggers Hinweis auf den tautologischen Ausdruck "deskriptive Phänomenologie" (SZ 35, Z. 6-7) quittierte Husserl mit der Randbemerkung (a.a.O., 18): "Gleichwohl, das ist nicht zureichend." Über den okkasionellen Charakter der Maxime bei Husserl vgl. H. Spiegel berg, 379: "From the start for Hei­degger the central idea of phenomenology was expressed in the watchword 'Zu den Sachen', which in Husserl's own writings occurred only inciden­tally. "

150Vgl. meine Studie über "L'hermeneutique dans Sein und Zeit", in: I-F. Courtine (Hrsg.), Heidegger 1919-1929. De L'hermeneutique de la facticite a la metaphysique du Dasein, Paris 1996, 179-192. Nach F.-W. von Herr­mann (1988, 368ff.) sei die hermeneutische Akzentuierung Heideggers aus ihrer Opposition zur reflexiven Phänomenologie des Bewusstseins bei Hus­serl zu verstehen. Sachlich ist das einwandfrei, aber der Text der Einleitung legt nicht selbst den Finger auf diesen Aspekt, sondern unmissverständlich auf den Grundtatbestand der Verdeckung, die eine hermeneutische Inter­vention auf den Plan ruft.

151 Auf diesen augustinischen Sinn (die Frage, die ich für mich selbst bin) des Daseinsbegriffs komme ich im nächsten Kapitel zurück.

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Anmerkungen 155

152 Vgl. meine früheren Arbeiten: "Die Hermeneutik der Faktizität als on­tologische Destruktion und Ideologiekritik" und "Das junghegelianische und ethische Motiv in Heideggers Hermeneutik der Faktizität", in meinem Band: Der Sinn für Hermeneutik, Darmstadt 1994, 71-102.

153 GA 63,7. 154 M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60,205 ff,

250 u.ö. 155 GA 60, 21l. 156 Vgl. GA 60, 102ff. 157 Die Schärfe der Invektiven verrät freilich vor allem, wie sehr sie Hei­

degger unter die Haut ging. 158 Sein und Zeit, 143. 159 Nach T. Kisiel (The Genesis of Heidegger's Being and Time, 498)

wurde dieser Geworfenheitsbegriff erst in der endgültigen Fassung von Sein und Zeit eingeführt. Doch finden sich bezeichnenderweise bereits in einigen Entwürfen zur Augustin-Vorlesung vom Sommersemester 1921 Vorprägun­gen dieser derilictio (vgl. GA 60,251: "die Unruhe - das Geworfenwerden").

160 GA 63,7. 161 GA 63, 15. 162 Zum (paulinischen) Motiv des Wachseins in der Augustin-Vorlesung

vgl. GA 60, 105. 163 Für Augustin denke man dabei insbesondere an seine gegen die Herr­

schaft der Sprachlichkeit gerichtete Schrift De magistro. Für Heideggers Verständnis der Sprache in Sein und Zeit und seiner Tendenz, sie mit dem Gerede zusammenzusehen, vgl. meine Studie über "L'intelligence herme­neutique du langage", in: L'horizon hermeneutique de la pensee contempo­raine, Paris 1993 (auf Englisch in: Vf., Sources of Hermeneutics, Albany 1995,141-155). Diese bei Heidegger alles beherrschende Thematik des Ge­redes wird bei Gadamer fast völlig verschwinden.

164 Einführung in die phänomenologische Forschung, 1994, Vorlesung vom Wintersemester 1923/24, GA 17,283 ff.

165 V gl. GA 60,283 f.: "dass Augustin alle Phänomene mitteilt in der Hal­tung des confiteri in der Aufgabe des Gott-Suchens und Gott-Habens stehend" (vgl.l77).

166 Bernhard Weite, Suchen und Finden. Ansprache zur Beisetzung am 28. Mai 1976, in: Erinnerungen an Martin Heidegger, hrsg. von Günther Neske, Pfullingen 1977,253-256; vgl. das Gespräch mit H.-G. Gadamer im Gadamer-Lesebuch, 293.

167 An der inzwischen berühmt gewordenen Unterbrechung der Vor­lesung zur Phänomenologie der Religion (WS 1920/21) stellt es Heidegger als selbstverständlich hin, dass er nicht verstanden werden konnte. Vgl. GA 60, 65: "Philosophie, wie ich sie auffasse, ist in einer Schwierigkeit. Der Hörer in anderen Vorlesungen ist von vornherein gesichert: In kunstge­schichtlicher kann er Bilder sehen, in anderen kommt er für sein Examen auf die Kosten. In der Philosophie ist es anders, und ich kann daran nichts

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156 Anmerkungen

ändern, da ich die Philosophie nicht erfunden habe. Ich möchte mich aber doch aus dieser Kalamität retten und daher diese so abstrakten Betrachtun­gen abbrechen und Ihnen von der nächsten Stunde an Geschichte vortra­gen, und zwar werde ich ohne weitere Betrachtung des Ansatzes und der Methode ein bestimmtes konkretes Phänomen zum Ausgang nehmen, aller­dings für mich unter der Voraussetzung, dass Sie die ganze Betrachtung vom Anfang bis zum Ende missverstehen."

168 V gl. E-W. von Herrmann, Die Selbstinterpretation Martin Heideggers, Meisenheim am Glan 1962.

169 V gl. etwa das folgende charakteristische Bekenntnis in einem Brief an Elisabeth Blochmann vom 18. September 1932 (Martin Heidegger/Elisa­beth Blochmann: Briefwechsel 1918-1969, hrsg. von Joachim Storck, Mar­bach: Deutsche Schillergesellschaft, 1989,53): "Vorläufig studiere ich meine Manuskripte, d. h. ich lese mich selbst u. muss sagen, dass es im Positiven u. Negativen viel fruchtbarer ist als sonstige Lektüre, zu der ich ohnehin wenig Lust u. Gelegenheit habe."

170 Vgl. das Motiv des "In Vielrederei wirst du der Sünde nicht entgehen" (Spr. 10,19) am Ende des De trinitate von Augustin, das zur Relativierung des eigenen Ansatzes führt: "Aber zahlreich sind meine Gedanken, die wie die Menschengedanken eitel sind: Du kennst sie. Gewähre mir, dass ich ihnen nicht zustimme, dass ich sie, auch wenn sie mein Ergötzen erregen, dennoch missbillige, dass ich nicht, gleichsam schlafend, in ihnen verweile" (De trinitate, VX, 28, zitiert nach der Übersetzung von Michael Schmaus, München 1935).

171 Der Kontext der Stelle ist wichtig, weil er auch Heideggers ungesicher­te und verunsichernde Konzeption der Philosophie verdeutlicht (GA 60, 65); vgl. Anm. 155.

172 Der Feldweg, 1953, 7 (offenbar auch eine Wiederaufnahme der drei Fragebereiche der rnetaphysica specialis, wie sie Kant noch kannte).

173 Verwiesen sei auch auf die klassische Studie von Theodore Kisiel zur Herkunft dieses Begriffs, "Das Entstehen des Begriffsfeldes 'Faktizität' im Frühwerk Heideggers", in: Dilthey-Jahrbuch 4 (1986-87),91-120.

174 Vgl. Ben Vedder, Was ist Hermeneutik? Ein Weg von der Textdeutung zur Interpretation der Wirklichkeit, Stuttgart 2000, Kap. V: "Die Faktizität der Hermeneutik. Heideggers Bruch mit der traditionellen Hermeneutik", 95.

175 Vgl. M. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aris­toteies (Anzeige der hermeneutischen Situation), in: Dilthey-Jahrbuch 6 (1989),2.

176 Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der her­meneutischen Situation), 249.

177 Vgl. GA 61,35: "Das eigentliche Fundament der Philosophie ist das ra­dikale existentielle Ergreifen und die Zeitigung der Fraglichkeit; sich und das Leben und die entscheidenden Vollzüge in die Fraglichkeit zu stellen ist der Grundergriff aller und der radikalsten Erhellung."

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Anmerkungen 157

178 Vgl. dazu meine Studie "Heidegger et le probleme de la metaphysi­que", in: Dioti 6 (1999),163-204.

179 Heidegger scheint selber so viel anerkannt zu haben, wie eine neu­erdings veröffentlichte Randbemerkung zu seinem Handexemplar von G. Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie ("Heideggers Margina­lien zu Mischs Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Ontolo­gie", hrsg. von Claudius Strubbe, in: Dilthey-Jahrbuch 12 [1999-2000], 209) bezeugt: "in einem ganz anderen Sinne; wenngleich in S. u. Z. I zu sehr 'phälog.' [= phänomenologisch] im Schulsinne".

180Vgl. die ebenso allgemeine Charakterisierung im Vorwort zur 2. Aufla­ge von WM (GW 2,440): "Heideggers temporale Analytik des menschlichen Daseins hat, meine ich, gezeigt, dass Verstehen nicht eine unter den Verhal­tensweisen des Subjektes, sondern die Seinsweise des Daseins ist. In diesem Sinne ist der Titel 'Hermeneutik' hier verwendet worden. Er bezeichnet die Grundbewegtheit des Daseins, die seine Endlichkeit und Geschichtlichkeit ausmacht, und umfasst daher das Ganze seiner Welt erfahrung. " Diese Beru­fung auf Heideggers Bestimmung des Verstehens als eines Existentials war auch für Bultmann das Wegweisende an Heideggers Hermeneutik. Vgl. seine wichtige Arbeit von 1950 über "Das Problem der Hermeneutik", in: Glauben und Verstehen 11, 1952, 6. Aufl. 1993,226-227: "Zu entscheidender Klarheit ist das Problem des Verstehens durch Heideggers Aufweis des Ver­stehens als eines Existentials gebracht worden und durch seine Analyse der Auslegung als der Ausbildung des Verstehens."

181 Auf Französisch könnte man hier die Formel "s'en sortir" gebrauchen. "Je vais m'en sortir" heißt so viel wie: Ich werde es hinkriegen, ich werde damit fertig werden (bei einer Lage, einer Prüfung, einer Begegnung, einem Vortrag, einem Aufsatz usw.). Aber das Französische unterstreicht hier, dass ich aus der Lage "heraus"kommen kann. Das kann aber bei der Existenz nie der Fall sein, so daß die Verstehensaufgabe - comment s'en sortir? - eine nahezu sisyphische ist. Vgl. zur Formel "m'en sortirais-je?" 1. Derrida et Catherine Malabou, La contre-allee, Paris 1999,29.

182 Vgl. SZ, 189: "Das beruhigt-vertraute In-der-Welt-sein ist ein Modus der Unheimlichkeit des Daseins, nicht umgekehrt. Das Un-zuhause muss existenzial-ontologisch als das ursprünglichere Phänomen begriffen wer­den."

183 Vgl. dazu meine Einführung zu Gadamer, 164--171. 184 GW 10,274. Vgl.: The Philosophy of Hans-Georg Gadamer, Library of

Living Philosophers, 1997,496: "In this lies the real problem which really came to my full attention only through Heidegger and which found expres­sion in the Scholastic distinction of actus signatus and actus exercitus. It con­cerns the fact that not everything which one knows and can know in effect is sayable in a thematic assertion."

185 Es ist zu verzeichnen, dass G. Vattimo (Histoire d'une virgule. Gada­mer et le sens de l'etre, in: Revue internationale de philosophie 54 [2000], 499-513) den Satz in diesem Sinne versteht. Der Sache nach ist das auch der

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158 Anmerkungen

Fall bei R. Rorty, "Being that can be understood is language", in: London Review of Books, 16 March 2000,23-25.

186 Diese Gleichzeitigkeit bedeutet pointiert für Gadamer, dass Sprache nicht bloß eine Form bzw. ein Schema für das Denken (wie bei Humboldt) bereitstellt, sondern dass sie die Präsenz der Sache selbst gewährt. Zu dieser Humboldtkritik vgl.: Einführung zu Gadamer, 226f.

187 Dieser Zusatz gilt vor allem für den späten Gadamer, der den Horizont der Sprachlichkeit von dem der Zeichensprache abhebt: Wer eine Partitur gut spielt oder dirigiert, hat sie wunderbar "verstanden", auch wenn kein Wort dabei verwendet wurde. Auch das ist "Sprache", bzw. Sprachlichkeit, meint der späte Gadamer (vgl. dazu das Lesebuch-Gespräch). Die Sprach­lichkeit meint also die Möglichkeit eines sinnhaften Nachvollzugs, der nicht unbedingt der der Zeichensprache ist, zumal ein Schweigen auch einen sol­chen darstellen kann. Zu dieser Thematik, auf die ich in diesem Zusammen­hang nicht eingehen kann, vgl. den neueren, von L. K. Schmidt herausgege­benen Sammelband: Language and Linguisticality in Gadamer's Hermeneu­tics, Lanham (Maryland)/Boulder/New York/Oxford 2000.

188 Vgl. H.-G. Gadamer, Philosophische Lehrjahre [fortan unter PL], Frankfurt a. M. 1977, 15. Für das Folgende vgl. auch G W 2, 479.

189 V gl. ansatzweise GW 2,498 190 PL 212; GW 3: 263; GW 3, 309. 191 Vgl. GW 9,259. 192 Quelle: P. Hoffmann, German Resistance to Hitler, Harvard University

Press 1988,9. 193 GW2,486 194 Vgl. Kant-Studien, 29,1924,626 195 V gl zuletzt Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft, in GW

9,258-270 und das Gespräch mit Dörte von Westernhagen, in: Das Argu­ment 182, 1990, 544. Als Frau von Westernhagen dort gesteht, mit dem geor­gianischen Pathos nichts anfangen zu können, entgegnet Gadamer: "Das ist leider für Si'e ein großer Verlust." George wird heute nur noch selten ge­lesen, in Taschenbuchausgaben ediert und in Seminaren diskutiert. Das liegt zum Teil an der Verstrickung zahlreicher George-Anhänger in den Nazio­nalsozialismus. Die Tragik ist aber die, dass der George-Kreis zur Hälfte aus Juden bestand (vgl. ebd.). George wurde nach dem Krieg durch andere Fi­guren ersetzt. Eine davon ist vielleicht Hölderlin. Man darf aber nicht ver­gessen, dass die Hölderlin-Renaissance in unserem Jahrhundert zum großen Teil die Tat des George-Kreises war.

196 GW 2,491. 197 Gadamers positives Verhältnis zum Humanismus wird ausführlicher

erörtert in meinem Buch Sources of Hermeneutics, Albany 1995. 198 Dieser Text erschien unter dem Titel "Die Philosophie in den letzten

dreißig Jahren" in: Ruperto-Carola, Nr.5, Dez. 1951, 33-34 sowie in den Sit­zungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1953-55, 108-110.

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199 GW 9,4l. 200 GW 1, 115. 201 GW 1,107. 202 GW 1,108.

Anmerkungen

203 Die Aktualität des Schönen, GW 8, 132. 204 GW 8, 130. 205 GW 8, 133.

159

206 Vgl. vor allem seine Essays von 1992: "Wort und Wild - 'So wahr, so seiend'" und "Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache", in: GW 8, 373-440, sowie die Ausblicke im Gespräch am Ende des Gadamer-Lese­buches, Tübingen, 1997.

207 Diese Dimension der "Verborgenheit" unserer evidentesten Welt­erfahrung bildet ein wichtiges Motiv des späten Gadamer. Erinnert sei hier an den Titel seines Buches: Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frank­furt a.M. 1993 sowie an den Untertitel, mit dem seine späte Studie "Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache" anhebt: "Die Verborgenheit der Sprache" (GW, Bd. 8, 373).

208 Für Gadamers Bezugnahmen auf Sc hellings Denken des Unvordenk­lichen vgl. in seinen GW 2, 103, 334; Bd. 3, 236; Bd. 8, 366; Bd.lO, 64. Es han­delt sich aber auch hier um eine relativ späte Anlehnung an den Begriff des Unvordenklichen, der in Wahrheit und Methode noch fehlt (vgl. dazu mei­nen Beitrag über "Die späte Entdeckung Schellings in der Hermeneutik" in: I. M. Feher und W. G. Jacobs (Hrsg.), Zeit und Freiheit: Schelling - Schopen­hauer - Kierkegaard - Heidegger, Akten der Fachtagung der Internationalen Schellinggesellschaft Budapest, 24. bis 27. April 1997 , Budapest, Ketef Bt., 1999,65-72). In Wahrheit und Methode sprach Gadamer von der "Substan­tialität", die hinter jedem "Subjekt" steht. V gl. die späteren Ausführungen zu diesem Begriff der Substantialität in GW 8, 327: "Substanz heißt hier jenes Tragende, nicht Hervorkommende, nicht in die Helle des reflexiven Bewusstseins Gehobene, nie sich voll Aussagende, das dennoch unentbehr­lich ist, damit die Helle, die Bewusstheit, die Äußerung, die Mitteilung, das Wort, das trifft, sein können. Substanz ist der 'Geist, der uns verbinden mag'. Rilkes Wendung, die ich zitiere, deutet an, dass Geist mehr ist, als jeder Ein­zelne weiß und von sich weiß."

209 H.-G. Gadamer, Zwischen Phänomenologie und Dialektik - Versuch einer Selbstkritik, GW 2,7.

210 M. Heidegger, Sein und Zeit, § 32, 153. Vgl. Gadamers Zustimmung in Wahrheit und Methode (1960),4. Aufl. Tübingen 1975, 254; 5. Aufl. GW 1, 274: "Ein mit methodischem Bewusstsein geführtes Verstehen wird bestrebt sein müssen, seine Antizipationen nicht einfach zu vollziehen, sondern sie selber bewusst zu machen, um sie zu kontrollieren und dadurch von den Sa­chen her das rechte Verständnis zu gewinnen." Man unterstreiche dabei das positive Verständnis von Methode, Kontrolle und Sachlichkeit schlechthin.

211 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 4. Aufl. 1975,282; GW 1,1986, 304.

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160

212 Ebd. 213 Ebd.

Anmerkungen

214 Zu dieser Kritik vgl. bereits 1. Simon, Sprache und Raum. Philosophi­sche Untersuchungen zum Verhältnis zwischen Wahrheit und Bestimmtheit von Sätzen, Berlin 1969,311. Zu den universalgeschichtlichen Implikationen der Gadamerschen Position vgl. W. Pannenberg, Hermeneutik und Univer­salgeschichte, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 60, 1963,90-121, wie­derabgedruckt in: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, hrsg. von H.-G. Gadamer und G. Boehm, Frankfurt a.M.1978, 283-319.

215 Wahrheit und Methode, 4. Aufl. 1975,282; GW 1, 1986,304. Auch der gleichlautende Passus im Aufsatz Vom Zirkel des Verstehens (1959) wurde in GW 2, 64 in diesem Sinne geändert. V gl. die weitere Erklärung in Gadamers "Selbstkritik" von 1986 in GW 2, 8-9.

216 Vgl. H.-G. Gadamer, Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik (1963), in GW 4, 177 u.ö.

217 Zu dieser Konsequenz und ihren Grenzen vgl. unsere Studien: Ein­führung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991, und: Der Sinn für Hermeneutik, Darmstadt 1994.

218 Wahrheit und Methode, 4. Aufl. 1975,261; GW 1,1986,281. 219 Wahrheit und Methode, 4. Aufl. 1975,274-5; GW 1,1986,295. 220 Wahrheit und Methode, 4. Aufl. 1975,290; GW 1, 1986,312. 221 Jetzt in GW 8: Ästhetik und Poetik I: Kunst als Aussage, Tübingen

1993,134. 222 Ebd. 128, 134. 223 Ebd., 273. Vgl. auch Goethes Rede vom "inneren Sinn" in "Shake-

speare und kein Ende". 224 GW 2, 1986, 17. 225 Ebd., 19. 226 Für Gadamer besteht das Rätsel der Dichtung darin, "wahr zu sein

über alle Einrede hinaus, und doch nichts zu sein, auf das man sich berufen darf" (GW 9: Ästhetik und Poetik II: Hermeneutik im Vollzug, Tübingen 1993,127). Denn diese Wahrheit muss derjenige erfahren, der an ihr teil­haben soll. Auf diese Wahrheit kann man sich jedoch nicht wie auf eine Autorität "berufen", denn ihr Wahrheitswert hängt schließlich vom denken­den Vollzug des inneren Ohres ab. An der Kunst erfährt man, dass keiner uns diesen Vollzug abnehmen kann.

227 Insofern läßt sich in der dritten Kritik Kants Antwort auf die Frage "Was ist der Mensch?" erkennen. Siehe dazu meine Skizze in: Kant zur Ein­führung, Hamburg 1994, 143ff.

228 So lautete (paradoxerweise!) der Titelbeitrag von Philippe Forget, "Leitfäden einer unwahrscheinlichen Debatte", in dem von -ihm herausgege­benen Band: Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte mit Beiträgen von 1. Derrida, Ph. Forget, M. Frank, H.-G. Gadamer, 1. Greisch und F. Laruelle, München 1984. Zum Hintergrund und zur Nachwirkung der Gadamer-Derrida-Debatte, die im vorliegenden Essay nicht im Vorder-

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Anmerkungen 161

grund steht, vgl. meine Darstellungen in: Hans-Georg Gadamer. Eine Bio­graphie, Tübingen 1999, 365 ff. sowie "La definition derridienne de la de­construction. Contribution au rapprochement de l'hermeneutique et de la deconstruction", in: Archives de philosophie 62 (1999),5-16.

229 Sie erscheinen auch nahezu in denselben Partien von Heideggers Hauptwerk. In seiner Vorlesung vom Sommersemester 1923 zur Hermeneu­tik der Faktizität hielt Heidegger auch fest: "Hermeneutik ist Destruktion!" (GA 63, 105). Hermeneutik ist Destruktion, weil es einen Zugang zum Da­sein und den Phänomenen nur auf dem Weg einer Destruktion oder Auflockerung der diesen Zugang verdeckenden Begrifflichkeit gibt, die nach ihm auf eine Selbstverdeckung des Daseins hinausläuft. Zu diesem oft verkannten Sinn der Hermeneutik bei Heidegger vgl. das 2. Kapitel oben "Heideggers Wiedererweckung der Seinsfrage auf dem Weg einer phänome­nologisch-hermeneutischen Destruktion".

230 Dilthey und der deutschen Hermeneutiktradition stark verbunden sind nämlich die nicht unbeachteten Bücher von R. Aron, La philosophie critique de l'histoire (1938), Paris 1987 und von G. Gusdorf, Introduction aux sciences humaines. Essai critique sur leurs origines et leur developpe­ment, Publications de la Faculte des lettres de l'Universite de Strasbourg, 1960 und: Les origines de l'hermeneutique, Payot 1988. Vgl. neuerdings S. Mesure, Dilthey et la fondation des sciences historiques, Paris, PUF, 1990. Auf Ricreurs Dilthey-Verbundenheit komme ich sofort zurück. - Nach wie vor wird Heidegger in Frankreich in der (zwar destruierenden) Kontinuität von Husserl gesehen. Wegweisend sind hier die Arbeiten von I-F. Courtine, Heidegger et la phenomenologie, Paris 1990 und Jean-Luc Marion, Reduc­tion et donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phenomenologie, Paris: 1989; Etant donne. Essai d'une phenomenologie de la donation, Paris 1997. In ihnen spielen aber die Hermeneutik und Gadamer überhaupt keine Rolle, was umso verwunderlicher ist, als beide darum bemüht sind, die hei­deggersche Transformation der Phänomenologie zu thematisieren, aber ohne ihre hermeneutische Wendung zu sehen.

231 Vgl. dazu die Dissertation von Jean-Louis Guillemot, Le conflit des hermeneutiques. Gadamer et Ricreur en debat, Departement de philoso­phie, Universite d'Ottawa, 1999.

232 Die Arbeiten von Pierre Fruchon (L'hermeneutique de Gadamer, Paris 1994), einer der wenigen Franzosen, die sich dezidiert mit Gadamer befassten, standen auch in dieser Tradition, insofern sie in Gadamer vor allem den Erneuerer des Platonismus - gegen die Subjektphilosophie der Neuzeit, aber auch gegen den geschichtlichen Relativismus von Heidegger -hervorkehren möchten. Die theologische Ausrichtung von Fruchons antimo­derner Interpretation war auch unverkennbar. Eine die gesamte Sekundär­literatur berücksichtigende Darstellung von Gadamers PI at on verständnis verdanken wir dem Frankokanadier Fran\=ois Renaud, Die Resokratisierung Platons. Die platonische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, St. Augustin 1999.

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162 Anmerkungen

233 Vgl. M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1974,437: "Man wird also sagen, dass es, 'Humanwissenschaft' nicht überall dort gibt, wo es um die Frage des Menschen sich handelt, sondern überall dort, wo in der dem Unbewussten eigenen Dimension Normen, Regeln und Bedeu­tungsmengen definiert werden, die dem Bewusstsein die Bedingungen sei­ner Formen und Inhalte enthüllen. Von 'Humanwissenschaften' in jedem an­deren Fall zu sprechen, wäre ganz einfach ein sprachlicher Missbrauch." Eine gegenseitige Kenntnis von Gadamer und dem Philosophie-Außensei­ter Foucault hat es nicht gegeben. Auch wenn davon auszugehen ist, dass Gadamer von Foucaults objektivierendem Blick ebenso abgestoßen worden wäre wie Foucault von Gadamers Humanismus, gab es zweifelsohne ver­blüffende Ähnlichkeiten zwischen der Wirkungsgeschichte Gadamers und der Episteme-Konzeption von Foucault, zumal beide nicht nur auf das tra­gende sprachliche Element, sondern auch auf die Grenzen des Bewusstseins abheben. Foucaults eklatante Rede vom Tode des Subjekts fand auch einen Widerpart in Gadamers Destruktion des neuzeitlichen Bewusstseins.

234 Seit der wichtigen Studie von J. Figl ("Nietzsche und die philosophi­sche Hermeneutik des 20. Jahrhunderts" , in: Nietzsche-Studien 10-11, 1981-1982,408-430) ist dies ein Topos der Nietzsche-Forschung geblieben. In der Literatur zu diesem Thema ragt nach wie vor die sehr ausgewogene Arbeit von Alan D. Schrift, Nietzsche and the Question of Interpretation. Between Hermeneutics and Deconstruction, New York/London 1990 her­vor, zumal sie die Debatte mit Derrida in Betracht zieht. Für die französi­sche Welt vgl. die repräsentative Anfrage von Genevieve Hebert, "Nietz­sche, malin genie de l'hermeneutique?", in: Jean Greisch (Hrsg.), Compren­dre et interpreter. Le paradigme hermeneutique de la raison, Paris 1993, 311-341. Vgl. meine neuere Arbeit "Nietzsches Kunstdenken im Lichte der Gadamerschen Kritik des ästhetischen Bewußtseins", in: M. Riedel (Hrsg.), Natur und Kunst in Nietzsches Denken, Köln/Weimar/Wien, Böhlau Verlag, 2002.

235 V gl. dazu Gadamers lehrreiche Äußerungen in seinem Brief an Richard J. Bernstein von 1982, nachgedruckt in: R. 1. Bernstein, Beyond Ob­jectivism and Relativism: Science, Hermeneutics, and Praxis, University of Pennsylvania Press, Philadelphia 1988,263: "Verfallen wir nicht alle einem schrecklichen intellektuellen Hochmut, wenn wir die Antizipationen Nietz­sches und die ideologische Verwirrung der Gegenwart mit dem wirklich ge­lebten Leben und seinen Solidaritäten gleichsetzen? Hier ist in der Tat meine Abweichung von Heidegger fundamental." V gl. Gadamers Studie aus dem Jahre 1983 unter dem bezeichnenden Titel "Nietzsche - der Antipode: Das Drama Zarathustras", jetzt in den GW, Bd. IV, 448-462, und zuletzt "Nietzsche und die Metaphysik" (1999), in: Hermeneutische Wege, Tübin­gen 2000, 134-142.

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QUELLENNACHWEISE

I. Die Hermeneutik und die rhetorische Tradition. Zuerst erschienen als Artikel "Hermeneutik" in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. von Gert Ueding, Tübingen, Bd. 3,1966, Sp.1350-1374.

II. Heideggers Wiedererweckung der Seinsfrage auf dem Weg einer phäno­menologisch-hermeneutischen Destruktion. Zuerst erschienen in Th. Rentsch (Hrsg.), Heidegger: Sein und Zeit, Klas­siker Auslegen, München 2001.

III. Heidegger und Augustin zur hermeneutischen Wahrheit. Zuerst erschienen unter dem Titel "Zur hermeneutischen Wahrheit. Hei­degger und Augustinus", in: E. Richter (Hrsg.), Die Frage nach der Wahr­heit, Frankfurt a.M.1997, 161-173.

VII. Die Weisheit des Stammeins. Ein Porträt von Hans-Georg Gadamer. Zuerst erschienen in: Information Philosophie, 1994, Heft 5,28-33.

VIII. Gadamers anti-ästhetische Wiedergewinnung der Wahrheit der Kunst. Zuerst erschienen in: Ästhetik und Kunstphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart in Einzeldarstellungen, hrsg. von 1. Nida-Rümelin und M. Betzler, Stuttgart 1998,294-302.

IX. Spiel, Fest und Ritual. Zum Motiv des Unvordenklichen beim späten Gadamer. Zuerst erschienen in: Jahrbuch Homo Ludens 8 (1998),43-52.

X. Das innere Ohr in Gadamers Ästhetik. Distanz und Selbstreflexion in der Hermeneutik. Zuerst erschienen in: Denken der Individualität. Festschrift für Josef Simon zum 65. Geburtstag, Berlin 1995,325-334.

XI. Hans-Georg Gadamer und die französische Welt. Zuerst erschienen in: G. Figal (Hrsg.), Begegnungen mit Hans-Georg Gadamer, Stuttgart 2000, 147-159.

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PERSONENREGISTER

Allen, Woody 119 Althusser, L.140 Apel, K-o. 45, 150 Arendt, H. 72, 107 Aristoteles 18, 20f., 25, 28, 39, 48,

53,58,61,63,95, 106f., 109, 116

Aron, R. 138,161 Ast, F. 34, 148 Augustinus von Dakien 24 Augustinus von Hippo 12, 17 f., 24 f.,

29,41,72-80,109,130,132,134, 155

Barth, K13 Beaufret, J, 138 Bernstein, R. J,162 Betti, E. 39, 149 Blochmann, E. 156 Boeckh,A. 35f., 148 Boehm, G. 148,160 Brecht, B. 111 Bultmann, R.13f., 110, 139, 145

Chevalley, C. 151 Chladenius, J, M. 3lf., 147 Clauberg, J, 31 Courtine, J,-F. 154, 161

Danielou, J,146 Dannhauer, J, C. 20, 29-31, 147 Deleuze, G.136f., 141 Derrida, J, 45, 136f., 140-143, 150,

160,162 Descartes, R.130, 139, 142 Dilthey, W.l2f., 17, 19f., 26, 35-39,

41,64, 8lf., 109, 112, 138-140, 146f., 153,156f.,161

I

Dockhorn, K146 Droysen, J, G. 36, 148 Dutt, C.149

Ebeling, G. 147

Feher, I. M. 159 Fichte, G. 59 Figl, J, 146,162 Flacius Illyricus 17, 28f., 34 Forget, Ph. 150, 160 Foucault, M.136f., 140f., 162 Frank,M. 35, 148,160 Freud, S.136, 139f. Friedländer, P. 108 Fruchon, P'137, 161

Galenus, Ch. 24 Geldsetzer, L. 147 George,St.108,158 Gogh, V van 128 Greisch, J, 160, 162 Grondin, J,145f., 149 Guillemot, J,-L.161 Gusdorf, G. 138,161

Habermas, J, 10,44,100, 130, 150

Hartmann, N. 110 Hasso Jaeger, H.-E. 30, 146f. Hebert, G. 162 Hegel, G. W. F. 49, 58f., 109, 136 Herrmann,F.-W. von 57f., 79,150,

153f., 156 Hippokrates 24 Hirsch, E. D. 149 Hoffmann, P. 158 Hälderlin 8,75,111,158

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166 Personenregister

Humboldt, A. 158 Husserl, E. 53, 58, 66f., 70,136,138,

154

Isokrates 19

Jacobs, W. G. 159 Jaspers, K. 56,75,151 JauB, H. R. 149 Jens,W.146 Johannes Cassianus 24 Joy,M.146 Jünger, E. 142

Kafka, F. 119 Kant, I. 39, 4lf., 58, 65,108,112-114,

135[,150-152,158,160 Kierkegaard, S.106, 109, 115, 129 Kimmerle, H. 148 Kisiel, T.149, 153, 155f. Klauck, H.-J.146 Knape, J.147 Kojeve,A.136 Kopperschmidt, J.146 Krajewski, B. 150 Krüger, G. 109

Lacan, J. 140 Laruelle, F.160 Leibniz, G. W. 134 Leonardo da Vinci 11 Levinas, E. 136 Levi-Strauss, c. 140 Lipps, H. 41, 149 Löwith, K. 56, 109 Lubac, H. de 146 Luther, M.17, 25f., 75

Man,P.de45 Marion, J.-L. 161 Marquard, 0. 31, 147 Marx, K. 136, 139 Meier, G. F. 31 Melanchthon, Ph.17f., 25-29, 34,

147

Merleau-Ponty, M. 136, 141 Mesure,S.161 Misch, G. 38, 157 Mozart, W.A.11, 119

Natorp, P. 69, 107, 110 Neske, G. 155 Nietzsche, F. 9, 18, 45, 75, 128, 136f.,

139,141-143,146,162

Oe1mann, F. 146 Oesterreich, P. L.149 Origenes 17, 23, 146

Palmer, R. E. 14, 146 Pannenberg,W.160 Pepin, J. 146 Philo von Alexandrien 17, 21-23 Platon 19f., 48, 53, 58, 102, 109, 130,

142,146,153 Plinius 25 Pöggeler, 0. 7, 138, 145 Potepa, M.148

Quintilian 25

Rambach, J. J. 32, 148 Renaud, F. 161 Rickert, H. 66 Ricceur, P.136-139, 141 Riedei, M. 162 Rilke, R. M. 116, 159 Rodi, F.149 Rorty, R. 18,45,158 Rosales, A. 153

Sartre, J.-P.136f., 141 Saussure, F. de 140 Schäublin, C.146 Schelling, F. W. J. 34, 159 Schiller, F.114, 118, 120 Schleiermacher, F. 12,30,33-37,

8lf., 146-148 Schmidt, L. K. 158 Schneider, J. R.147f.

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Schrift,A. 0.146, 162 Searle, 1. R. 41 Simon, 1. 160 Sophokles 11 Spiegelberg, H. 154 Stadelmann, R. 145 Stenzel, 1. 153 Storck, 1. 156 Strubbe, C. 157 Szondi, P. 148

Theodor von Mopsuestia 24 Thomä,D. 152

Personenregister

Thomas von Aquin 24, 49 Tizian 119 Towarnicki, F. de 153

Vattimo, G. 18,45,150, 157 Vedder, B. 87, 156 Vico, G. B.19

Wach,1.147 Weite, B. 79, 155 Westernhagen, 0. von 158 Winterbottom, M. 146 Wolf, F. A. 34

167