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Grundstrukturen der neuen Regierungssysteme
PD Dr. Silvia von SteinsdorffVorlesung:
Demokratien, Autokratien, Grauzonenregime. Die politischen
Systeme in Ost- und Südosteuropa 29. Mai 2007
PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime 2
Gliederung
0. Beispiele zum Verfassungsprozess (Rest)1. Vor- und Nachteile des „Institutional
Engineering“2. Parlamentarismus versus
Präsidentialismus2.1 Die politikwissenschaftliche Debatte2.2 Mischsysteme als Fort- oder Rückschritt?3. Konkurrenz- oder Konsensdemokratie?3.1 Konkordanzdemokratie als historische
Ausnahme3.2 Entscheidungs- versus
Implementationskosten
PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime 3
Beispiel 2: Lettland (1)
• Mai 1990 Unabhängigkeitserklärung, Parlamentsbeschluss zur Wiedereinsetzung der Verfassung von 1922 (satversme)
ABER:• Die dort verankerten Staatsorgane z.T.
gar nicht (mehr) vorhanden• Grundrechtsteil fehlt
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Beispiel 2: Lettland (2)
• Wirrwarr zwischen Unabhängigkeit (Dez. 1991) und ersten freien Wahlen (Juni 1993)- sozialist. Verfassung gilt weiter, sofern sie der satversme nicht widerspricht- „Verfassungsgesetz“ zur Ergänzung
• Staatsbürgerschaftsfrage ungelöst (Gesetz von 1937 wieder eingesetzt)
• Einheitliches Verfassungsdokument erst seit 1998Fehlender Elitenkonsens, unklare „Spielregeln“Hypothek für die demokratische Konsolidierung
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Beispiel 3: Russland (1)
• Ab 1990: Überlagerung des Systemwandels durch den Staatszerfall
• Übernahme der sowjetischen „Halbdemokratisierung“ auf die Ebene der RSFSR
• 1989-1993: sozialistische Verfassung von 1978 gilt weiter, einzelne Verfassungsänderungen und Verfassunggebungsprozess laufen parallel über 150 Änderungen, großer Wirrwarr Beispiel: Art. 3 (neu) Gewaltenteilung, Art. 104 (alt): „Parlament“ als „oberstes Verfassungsorgan“ mit Generalkompetenz
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Beispiel 3: Russland (2)
Doppelherrschaft zwischen Staatspräsident Jelzin (1991 direkt vom Volk gewählt = demokratische Legitimität) und Parlament (nach geltender Verfassung allein für die Verfassunggebung zuständig = formale Legalität)
wechselseitige Blockade, Diskreditierung der neuen demokratischen Ordnung bereits vor ihrer Institutionalisierung
Okt. 1993: Verfassungsrechtlicher Neuanfang nach gewaltsamer Auflösung des Parlaments als Sieg der MACHT über das RECHT
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Beispiel 3: Russland (3)
Fehlender ElitenkonsensExklusion statt Inklusion wichtiger
gesellschaftlicher Kräfte bei der Verfassunggebung
Akzeptanz durch das Volk fragwürdig (Referendum mit niedriger Beteiligung und äußerst knapper Zustimmung)
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Fazit zur Verfassunggebung (1)
• „Institutions do matter" institutionelle Konsolidierung als Voraussetzung für Stabilisierung des gesamten politischen Systems Institutionen sind die Spielregeln, die das Verhalten der Akteure prägen (Wechselwirkung Institutionen - Akteure)
• Institutionalisierung:"investment of personalized power into impersonal institutions" (Jon Elster)
• Institutionelle Konsolidierung:"Existenz sicherer Verfahren, innerhalb derer unsichere politische Entscheidungen produziert werden können, die es einem politischen Gemeinwesen ermöglichen, erfolgreich auf unsichere Umwelten zu reagieren“ (Rüb) doppelte Unsicherheit während der Transformationsphase
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Fazit zur Verfassunggebung (2)
• Legitimitätsvoraussetzung für Verfassungen:von oben (Elitenkompromiss)von unten (Referendum)durch Verfahren (Inklusion)
• Standard-Bestandteile von Verfassungen:Präambel, Grundrechtsteil, Staatsorganisation, (föderale Ordnung), (Finanzverfassung)
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Für und Wider von „institutional engineering“
• Früher: Institutionenentwicklung eher geographisch beeinflusst oder zufällig zustande gekommen
• Heute: (seit der 3. Welle der Demokratisierung): bewusstes „engineering“
Debatte zwischen „Präsidentialisten“ und „Parlamentaristen“
Vetospieler-Ansatz
ABER:Übertragbarkeit von Institutionen problematisch kulturalistische Ansätze lehnen das völlig ab Empirie: gleiche Institutionen entwickeln unterschiedliche Funktionslogik
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Parlamentarismus versus Präsidentialismus
• Mitte der 1980er Jahre: Wissenschaftliche Debatte im Rahmen der Transformationsforschung
Juan Linz: Präsidentialismus funktioniert nirgends, außer in den USA
Scott Mainwaring: Es kommt weniger auf den Systemtyp an als auf die politische Kultur, das Parteiensystem etc.
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Unterschiede zwischen parlamentarischem und präsidentiellen Regierungssystem
Merkmal Parlamentarisches System Präsidentielles System
Abberufbarkeit der Regierungdurch das Parlament
+ –
Parlamentsauflösungdurch die Regierung + –
Struktur der Exekutivedualistisch (Staatsoberhaupt und
Regierungschef in getrennter Funktion)
monistisch (Personalunion von Staatsoberhaupt und
Regierungschef)
Legitimation von Parlamentund Staatsoberhaupt
nur das Parlament direkt vom Volk gewählt, indirekte Wahl des
Staatsoberhauptes
direkte Legitimation von Parlament und Staatsoberhaupt durch
Volkswahl
Inkompatibilität von Parlamentsmandat und Regierungsamt
– +
Horizontale GewaltenteilungLegislative - Exekutive
Integration von Regierung und Parlamentsmehrheit vs.
parlamentarische Opposition
Institutionelle Gegenüberstellung von Parlament und Regierung
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Vor- und NachteileParlamentarisches System Präsidentielles System
Dem. Legiti-mation
Parlamentswahl einzige Quelle Vorteil in Konfliktsituationen Nachteil bei handlungsunfähigem Parlament
Doppelte Legitimationsquelle Vorteil in gespaltenen Gesellschaften (Präsident als Integrationsfigur) Polarisierung/Personalisierung
Verhältnis von Parlament und Regierung
Fusion von Parlamentsmehrheit und Regierung zur Regierungsmehrheit Zwang zur Kooperation, Beschränkung der parlamentarischen Opposition auf öffentliche Kritik/Kontrolle
Wechselseitige institutionelle Unabhängigkeit kurzfristige Regierungsstabilität Gefahr von „Nullsummen-Spielen“ (winner take all-Prinzip)
Rolle des Staatsoberhauptes
Beschränkung auf Repräsentationsrolle „unparteiischer Schiedsrichter“ aber: begrenzte Integrationskraft
Politisch starker Präsident Symbol staatlicher Handlungsfähigkeit Gefahr der Parlaments-Blockade
Bedeutung politischer Parteien
Starkes, diszipliniertes Parteiensystem Artikulation und Repräsentation gesell- schaftlicher Interessen gewährleistet Gefahr des „Parteienstaates“
Schwaches, heterogenes Parteiensystem starke Wahlkreisbindung der Abgeordneten Gefahr von „Extrawürsten“/Korruption
FAZIT Hohe Systemstabilität, geringe Regierungsstabilität
Hohe Regierungsstabilität, geringe Systemstabilität
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Mischsysteme
• Parlamentarische (Europa) und präsidentielle (Amerika) Regierungssysteme meist historisch gewachsen
• Erst im Verlauf der dritten Demokratisierungswelle: Wie lassen sich die Vorteile beider Systemvarianten verbinden?
„gemischte“ Systeme als Exportschlager!
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Begriffsvielfalt für „gemischte“ Regierungssyteme
• Gemischtes System (von Beyme, 1979/1999)• Semipräsidentielles System
(Duverger, 1980)• Parlamentarisches System mit
Präsidialdominanz (Steffani 1979 ff.)• Präsidentiell-parlamentarisches oder
premier-präsidentielles System (Shugart/Carey 1992)
• Dualistischer Parlamentarismus(Brunner 1996)
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Zentrale Kriterien
• Direkt gewählter Staatspräsident mit „beachtlichen Kompetenzen“, trotzdem duale Exekutive
• Regierung ist dem Parlament UND dem Präsidenten gegenüber verantwortlich
KERNFRAGE:
Sonderform des parlamentarischen Systems oder eigenständige Systemlogik?
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„Exportschlager“ Semipräsidentialismus?
Länder in MOE mit (zumindest zeitweise) semipräsidentiellen Systemen:
Polen Russland
Rumänien Ukraine (bis 2004?)
Kroatien (bis 2000) Moldova (bis 2000)
Slowakei (bis 1998) (Weißrussland)
Litauen (??)
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Konkurrenz- oder Konsensdemokratie?
• Grundsätzlich: Konkurrenzdemokratie galt lange als effizienteste Form der Demokratie (Westminster-Modell)
• „Konkordanzdemokratie“ nur dann, wenn Konkurrenzmodell aus ethnischen, religiösen oder sonstigen gesellschaftlichen Gründen nicht funktionieren kann (z.B. Schweiz, Niederlande, Österreich)
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Merkmale von Konkurrenz- und Konsensdemokratie
Konkurrenz- / Mehrheitsdemokratie Konkordanz- / Konsensdemokratie
Klare Mehrheitsentscheidungen, meist Einparteien-Regierung
Konsensbildung im Vordergrund, Viel- oder Allparteienregierung
Zweiparteiensystem Vielparteiensystem
Mehrheitswahlrecht Verhältniswahlrecht
Pluralistische, von Konkurrenz geprägte Interessenrepräsentation
Korporatistische Interessenvertretung (Patronage und Paritätsprinzip)
Unitarischer Staat Föderaler Staat
Einkammersystem Zweikammersystem
Verfassungsänderungen einfach Verfassungsänderungen schwierig (qualifizierte Mehrheiten)
Legislative bestimmt über Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung
Ausgeprägte richterliche Verfassungskontrolle
Zentralbank von der Exekutive abhängig Autonome Zentralbank
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Entscheidungs- versus Implementationskosten
Veto-Spieler-Ansatz nicht nur die positive Macht zum Entscheiden ist wichtig, sondern auch die Macht, Entscheidungen zu verhindern je größer die Zahl der Vetospieler, desto größer der Zwang zum Kompromiss/Konsens Entscheidungskosten steigen
ABER: Studien von Arend Lijpardt zeigen:Konsensdemokratien z.T. sehr leistungsfähig hohen Entscheidungskosten stehen geringere Implementationskosten gegenüber
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Vor- und NachteileKonsensdemokratie Konkurrenzdemokratie
Starker Minderheitenschutz Gefahr einer „Tyrannei der Mehrheit“
Hohe Zahl von Vetoakteuren geringe Regierungsstabilität
Geringe Zahl von Vetoakteuren hohe Regierungsstabilität
Zwang zu Konsens und Kooperation aller Akteure („Nicht-Nullsummen-Spiel“)
Entscheiden einfach, kein Konsenszwang (“Nullsummenspiel”?)
Gefahr von Entscheidungsblockaden Schnelle, flexible Entscheidungen
Hohe Entscheidungskosten Geringe Entscheidungskosten
Geringe Entscheidungsfolgekosten (langfristige Lösungen)
Hohe Entscheidungsfolgekosten(Gefahr von „Stop-and-Go-Politik“)
Entscheidungsverfahren undurchsichtig („Eliten-Kompromisse“, Proporz)
Transparente Entscheidungsfindung
Betonung von Verteilungsgerechtigkeit und Sozialstaatsprinzip
Betonung von wirtschaftlicher Effizienz und gesellschaftlicher Innovation
PD Dr. Silvia von Steinsdorff Demokratie, Autokratien, Grauzonenregime 22
Konkurrenz oder Konsens in MOE (1)?
Voraussetzungen:
• Tiefe gesellschaftliche Konfliktlinien (postkomm./antikomm., Arbeit/Kapital, Stadt/Land, modern/traditionell)
• ethnische Minderheiten
• Unklare/ungleiche gesellschaftliche Interessenvertretungen (fluide Parteiensysteme etc.)
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Konkurrenz oder Konsens in MOE (2)?
(Vorläufiges) Ergebnis:Konsensorientierung als Erfolgskriterium für demokratische Konsolidierung
Beispiele:• Zweidrittelgesetze in Ungarn• Zweite Parlamentskammern in unitarischen
Staaten (Polen, Tschechien)• Inklusive Parlamente (Slowakei, Slowenien)• Starke Verfassungsgerichte (Ungarn, Polen)