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Diederichs Gelbe Reihe

Götterdichtung, Spruchweisheit und · 2018. 12. 4. · 11. Das Alwislied (Alvíssmál) 113 12. Das Merkgedicht von Rig (Rígsflula) 119 13. Bruchstücke und Einzelstrophen 129 14

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D i e d e r i c h s G e l b e R e i h e

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D i e d e r i c h s G e l b e R e i h e

Götterdichtung, Spruchweisheit undHeldengesänge der Germanen

Übertragen von Felix Genzmer

Eingeleitet von Kurt Schier

DIE EDDA

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Edda-Impressum29-12-05.qxd 29.12.2005 15:07 Uhr Seite b

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die deutsche Erstausgabe erschien 1981 im Eugen Diederichs Verlag.© Heinrich Hugendubel Verlag,Kreuzlingen / München 1981/2006Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Weiss / Zembsch / Partner, Werkstatt / MünchenProduktion: Ortrud MüllerSatz: Layer, OstfildernDruck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany 2008

ISBN 978-3-7205-2759-0

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Inhalt

Vorwort

1. Die Edda: Voraussetzungen 92. Genzmers Übersetzung im Spiegel der Edda-

Forschung 143. Edda und Edda-Übersetzung: Götterdichtung und

Spruchweisheit 174. Felix Genzmer und die Eddische Heldendichtung 28

Götterdichtung

1. Der Seherin Gesicht (Vo̧lospá) 322. Das Wafthrudnirlied (Vafflrú›nismál) 443. Das Grimnirlied (Grímnismál) 544. Balders Träume (Baldrs draumar) 635. Die kürzere Seherinnenrede (Vo̧lospá in

skamma) 676. Das Thrymlied (firymskvi›a) 717. Das Hymirlied (Hymiskvi›a) 778. Das Skirnirlied (Skírnismál) 85

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9. Lokis Zankreden (Lokasenna) 9310. Das Harbardlied (Hárbarzljó›) 10411. Das Alwislied (Alvíssmál) 11312. Das Merkgedicht von Rig (Rígsflula) 11913. Bruchstücke und Einzelstrophen 12914. Das Fjölswinnlied (Fjo̧lsvinnsmál) 13415. Das Hyndlalied (Hyndluljó›) 14216. Das Walkürenlied (Darra›arljó›) 149

Spruchweisheit

17. Das alte Sittengedicht (Hávamál) 15418. Die Lehren an Loddfafnir 16519. Das dritte Sittengedicht 17020. Einzelstrophen und Splitter 17421. Priameln 17722. Die Odinsbeispiele 17923. Die Geizhalsstrophen 18424. Die Heidreksrätsel (Hei›reks gátur) 18725. Die Runenlehren 20026. Die Zauberlieder (Ljó›atal) 20727. Der Zaubergesang der Groa (Grógaldr) 21128. Der Fluch der Busla (Buscubœn) 21429. Die Wölsistrophen 21730. Der Urfehdebann (Trygg›amál) 221

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Heldengesänge

31. Das Wölundlied (Vo̧lundarkvi›a) 22832. Das Hunnenschlachtlied (Hlo̧›skvi›a) 24033. Das Alte Sigurdlied (Brot af Sigur›arkvi›u) 25134. Das Alte Atlilied (Atlakvi›a) 25735. Das Alte Hamdirlied (Ham›ismál) 26736. Das Jüngere Sigurdlied (Sigur›akvi›a in

skamma) 27437. Das grönländische Atlilied (Atlamál in

grœnlenzku) 28838. Das Lied vom Drachenhort 30639. Die Vogelweissagung (Fáfnismál und Reginsmál) 31840. Die Erweckung der Walküre (Sigrídífomál) 32241. Sigurds Vaterrache (Reginsmál) 32742. Gripirs Weissagung (Grípisspá) 33343. Gudruns Gattenklage (Gu›rúnarkvi›a I) 34344. Gudruns Lebenslauf (Gu›rúnarkvi›a II) 34845. Gudruns Sterbelied (Gu›rúnarhvo̧t) 35746. Gudruns Gottesurteil (Gu›rúnarkvi›a III) 36247. Brünhildens Helfahrt (Helrei› Brynhildar) 36548. Oddruns Klage (Oddrúnargrátr) 36949. Die ältere Dichtung von Helgi dem Hundingstöter

(Helgakvi›a Hundingsbana II) 37650. Das jüngere Lied von Helgi dem Hundingstöter

(Helgakvi›a Hundingsbana I) 388

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51. Die Dichtung von Helgi Hjörwardssohn(Helgakvi›a Hjo̧rvarzsonar) 399

52. Das Mühlenlied (Grottaso̧ngr) 41053. Starkads Rückblick (Víkarsbálkr) 41554. Der Kampf auf Samsey 42155. Hjalmars Sterbelied 42556. Das Herwörlied 42757. Odds Männervergleich 43358. Das Innsteinlied 44059. Das Hroklied 44560. Hildibrands Sterbelied 450

Anhang

Zu dieser Ausgabe 454Quellenverzeichnis 456Mythologisches Glossar 458

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Vorwort

1. Die Edda: Voraussetzungen

Als im Jahre 1912 mit der »Heldendichtung« der erste Bandder Edda-Übersetzung von Felix Genzmer erschien, bedeutetedies in zweifacher Hinsicht ein wichtiges Ereignis. Zum erstenMal war es einer deutschen Edda-Übersetzung gelungen, nichtnur den Wortlaut des Urtextes ins Deutsche zu übertragen,sondern etwas von Geist und Atmosphäre der altnordischenVorlagen lebendig werden zu lassen. Außerdem aber bildetediese Ausgabe den ersten Band einer neuen Reihe, die unterdem Namen »Sammlung Thule« in den folgenden Jahren bis1930 auf 24 Bände und einen Einleitungsband anwachsen soll-te. Es war und ist noch heute die umfangreichste Sammlungvon Übersetzungen altnordischer Literatur.

1920 folgte der zweite Band der Edda-Übersetzung mit derGötter- und Spruchdichtung, und auch danach bis zu seinemTod im Jahre 1959 hat Felix Genzmer an der Übersetzung derEdda gearbeitet, ständig bemüht, seinen Text dem Alt-nordischen weiter anzunähern, Bedeutungsnuancen genauerwiederzugeben oder dem Rhythmus der Vorlage noch engerzu folgen, als er es schon in der ersten Auflage getan hatte. Vorallem aber spiegeln sich in den von Auflage zu Auflage zubeobachtenden Veränderungen auch die unterschiedlichenwissenschaftlichen Bewertungen der Edda selbst wider.

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Mit dem Begriff Edda verbindet man oft die Vorstellungvon Dichtungen, die in eine graue germanische Vorzeitzurückreichen, von urtümlichen Heldenliedern, alten, germa-nischen Mythen oder von geheimnisvollem Wissen. SolcheVorstellungen führen jedoch in die Irre. Zunächst muß mandie Edda-Lieder als Schöpfungen des Hochmittelalters be-trachten, und erst in zweiter Linie kann man untersuchen,wieweit ihre Stoffe oder ihre Formen oder auch ihre geistigeHaltung weiter zurückreichen und Vorstellungen viel frühererEpochen wiedergeben. Denn unter dem Namen Edda faßtman Dichtungen zusammen, die vor allem im 13. Jahrhundertin Island niedergeschrieben worden sind, also zu einer Zeit, alsdie Bewohner der Insel seit mehr als zwei JahrhundertenChristen waren und gewiß nicht mehr einfach an die altenheidnischen Götter des Nordens glaubten. Dabei ist der NameEdda selbst erklärungsbedürftig, denn zu Recht kommt er nureinem großen poetologischen Handbuch von Snorri Sturlu-son (1178/79–1241) zu, das gewöhnlich als Jüngere Edda be-zeichnet wird (vgl. Sammlung Thule, Bd. 20). – Eine Hand-schrift dieses Werkes enthält die Überschrift: »Dieses Buchheißt Edda, Snorre Sturlas Sohn hat es zusammengesetzt, sowie es hier geordnet ist«, und damit gehört die Handschriftzu den wenigen altnordischen, in denen ein Verfassernameangegeben wird. Allerdings ist die Bedeutung des NamensEdda nicht gesichert: möglicherweise bezieht er sich auf denOrt Oddi in Südwestisland, an dem Snorri erzogen wurde;dann würde der Name »Buch von Oddi« bedeuten. Vielleicht– so meinte man vor allem in früherer Zeit und vereinzeltauch noch heute – ist es zu einem altnordischen Wort edda,»Urgroßmutter«, zu stellen. Der Name kann aber auch zu ei-nem Wort ó›r, »Gesang, Dichtung«, gehören und seine ei-gentliche Bedeutung wäre dann einfach »Buch von der Dich-tung, Poetik«.

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Snorri hatte versucht, die Dichter der Zeit, die Skalden, mitdem Rüstzeug für die Kunst der Skaldendichtung vertraut zumachen, mit den Metren, den für die Skaldik charakteristi-schen metaphorischen Umschreibungen, den kenningar(Singular f. kenning) und den zum Verständnis der Kenningarerforderlichen Mythen und Heldensagen. So folgt in seinemBuch auf den ersten Teil mit dem Titel Gylfaginning,»Verblendung des Gylfi«, in dem Snorri eine zusammenfas-sende Darstellung der heidnischen Mythologie des Nordensgibt, ein zweiter Teil, Skáldskaparmál, »Dichtersprache«, miteiner systematischen Behandlung des Kenning-Systems, undendlich das Mustergedicht Háttatal, »Metren-Verzeichnis«, indem alle Skaldenmetren verwendet und interpretiert werden.Vor allem im ersten Teil, Gylfaginning, benutzt Snorri zu seinerSchilderung des ganzen kosmologischen Ablaufs von derEntstehung der Welt bis zu ihrem Untergang zahlreicheStrophen aus Liedern, deren Namen er häufig nennt, vondenen man aber lange Zeit nichts wußte. Snorris Edda blieb inIsland auch in den folgenden Jahrhunderten bekannt undwurde in mehreren Handschriften verbreitet. Wegen derZitate im ersten Teil meinte man aber, es müßte noch ein älte-res Werk geben, aus dem Snorri diese Strophen entnommenhatte. Als der isländische Bischof Brynjólfur Sveinssonwahrscheinlich im Jahre 1643 in den Besitz einer Handschriftmit poetischen Texten kam, von denen mehrere mit den vonSnorri zitierten übereinstimmten, nahm man an, die langegesuchte Liedersammlung vor Snorris Edda gefunden zuhaben. Man nannte deshalb dieses Werk ebenfalls Edda oder –um es von Snorris Buch zu unterscheiden Ältere Edda undschrieb es dem berühmtesten isländischen Gelehrten vorSnorri zu, dem Priester Sæmundr Sigfússon mit dem Beina-men inn fró›i, »der Geschichtskundige« (1056–1133). Deshalbbenutzte man für das Werk lange Zeit auch den Namen

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Sæmundar Edda im Gegensatz zur Snorra Edda. Aber dieHandschrift mit dieser Liedersammlung, wegen ihrer späterenAufbewahrung in der Königlichen Bibliothek in KopenhagenCodex Regius der Lieder-Edda genannt, wurde wohl erst um 1270geschrieben, und auch eine ihr wahrscheinlich vorausgehende,jetzt aber verlorene Handschrift dürfte kaum vor 1250 ent-standen sein. So ist die Lieder-Edda, die man oft als Ältere Eddabezeichnete, jünger als die Snorra Edda, häufig jüngere Eddagenannt, und von Sæmundr kann die Lieder-Edda schon garnicht stammen. Wie soll man den Begriff Edda-Lied definie-ren? Dies ist tatsächlich mit Schwierigkeiten verbunden, dennzunächst kann man so nur die poetischen Werke bezeichnen,die im Codex Regius stehen. Im Jahre 1691 wurde jedoch einHandschriftenfragment mit einigen Götterliedern bekannt,die sich auch im Codex Regius fanden. Darüber hinaus aber ent-hielt dieses Fragment A, das bald danach die Signatur AM 7481, 4to bekam, ein bisher unbekanntes Lied der gleichen Artmit dem Titel Baldrs draumar, »Balders Träume« (Nr. 4).Inhaltlich und formal verwandte Dichtungen fanden sichjedoch bald auch in anderen Texten, vor allem in manchenFornaldarso̧gur (»Vorzeitsagas«), also Sagas über Heldensagen-und Wikingerstoffe, die in der uns vorliegenden Gestalt meistnicht weiter als bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen, teilwei-se aber älteren Stoff enthalten. So weitete sich der BegriffEddalieder aus und wird heute als Gattungsbegriff verwendet.Man könnte ihn am einfachsten definieren als »Lieder von derArt, wie sie sich im Codex Regius der Lieder-Edda finden«.

Die älteren Ausgaben der Lieder-Edda hatten sich in derRegel darauf beschränkt, außer den Liedern des Codex Regiusnur einige wenige Lieder aus dem Edda-Fragment A und ausHandschriften der Snorra-Edda wiederzugeben. Im Jahre 1903war jedoch von Andreas Heusler und Wilhelm Ranisch einewichtige Sammlung herausgegeben worden mit dem Titel

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Eddica minora. Dichtungen eddischer Art aus den Fornaldarsögur undanderen Prosawerken. Hier war zum ersten Mal der Versuchgemacht worden, alle Texte, die ihrem Inhalt und/oder ihrerForm nach den Liedern des Codex Regius nahekamen, aus denverstreuten Sagas zusammenzufassen. 1905 war der jungeJurist Felix Genzmer, der sich schon länger für die altnordischeDichtung interessierte, nach Berlin zu Andreas Heusler gegan-gen, dem damals führenden Forscher im Bereich der altnordi-schen Literatur; von ihm erhielt er die entscheidenden An-regungen für seine Beschäftigung mit den altnordischen poe-tischen Texten. Andererseits war es auch Heusler, der sichdafür einsetzte, daß die Genzmersche Übersetzung derLieder-Edda die groß angelegte Reihe der »Sammlung Thule«eröffnete.

Freilich: Wer diese erste Ausgabe der Edda-ÜbersetzungGenzmers mit der vorliegenden Ausgabe vergleicht, wird vieleUnterschiede feststellen können, und keineswegs nurnebensächliche. Viele Lieder enthalten in der jetzigen Über-setzung mehr Strophen als in der Edition von 1912 und 1920,und auch die Anordnung der Lieder – vor allem im Götter-liedteil – ist ganz anders als in der ersten Ausgabe. DieseEdition hat zwar der Forschung kräftige Impulse gegeben,aber in ihrer wechselnden Gestalt spiegelt sie selbst die Ent-wicklung der Edda-Forschung über viele Jahrzehnte wider.Was für einer Edda begegnen wir denn in dieser Ausgabe? Umdies zu erkennen, muß man auf eine Strecke den verschlun-genen Pfaden der Edda-Forschung folgen.

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2. Genzmers Übersetzung im Spiegel der Edda-Forschung

Die erste Ausgabe der Übersetzung trägt in vielfacherHinsicht die Spuren von Andreas Heusler. Genzmer bezog inseine Ausgabe nicht nur die klassischen Edda-Lieder ein, son-dern einen großen Teil der Texte, die Heusler und Ranisch inden Eddica minora herausgebracht hatten. So wurde die Über-setzung Genzmers die vollständigste Sammlung eddischerDichtungen, die damals überhaupt existierte – nicht einmaldie verschiedenen Editionen des Urtextes erreichten sie inihrem Umfang, und auch heute noch gibt es keine Ausgabedes altnordischen Textes, der den Rahmen so weit zieht, wiees Genzmer getan hatte. Heuslers Einfluß zeigte sich aberauch noch in anderer und – wie man heute meint – vielleichtweniger glücklicher Weise. Der alten romantischen These,daß Dichtungen wie die Heldenlieder »vom Volk« geschaffenworden seien, war Heusler entschieden entgegengetreten:Nicht aus dem anonymen, romantisch überhöhten »Volk«seien die Heldenlieder entstanden, sondern sie seienSchöpfungen individueller Dichter. Das bedeutet aber, daßman sie als individuelle Kunstwerke behandeln muß, nicht alsLeistung des anonymen Volkes oder gar der »Volksseele«. Einelängere schriftliche oder mündliche Überlieferung konnteeinen solchen einmal geformten Text verändern und stören,und Edda-Herausgeber des späten 19. Jahrhunderts hattenkonsequenterweise das Skalpell der »höheren Textkritik« andie Lieder angelegt und versucht, sie wieder in ihre alte, ver-meintlich ursprüngliche Gestalt zurückzuführen. Häufig wur-den zahlreiche Strophen, die man für späte Zutat hielt, gestri-chen. Die Zeit der ärgsten Auswüchse eines solchenVerfahrens war zum Glück schon vorbei, als Genzmer seine

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Übersetzung schuf, aber ganz freigeblieben sind Heusler under von solchen Versuchungen nicht. In zwei Punkten griffensie in den überlieferten Textbestand ein: in der Anordnung derLieder insgesamt sowie bei der Behandlung einzelner Liederund insbesondere der sie begleitenden Prosastellen. In derEinleitung zum ersten Band der Edda-Übersetzung heißt es:

(Unsere Edda hat sich) »erlaubt, an den Gedichten etwelche»höhere Kritik« zu üben: störende Zutaten zu entfernen,Lücken zu füllen, Verschobenes umzustellen. DieProsaabschnitte besonders forderten zu schärferer Sichtungheraus. […] Bei diesem ganzen Verfahren schwebt das Ziel vor:die Eddagedichte als Kunstwerke dem kunstliebenden deut-schen Leser in die Hand zu legen, sie tunlich zu befreien vonden kunstwidrigen Zufällen, womit ihnen die mehr stoff- alsformbegierigen Schreiber zusetzten.«

Auch die Reihenfolge der Lieder änderte Genzmer. Im CodexRegius sind sie nach einem bestimmten System geordnet; dererste Teil mit Götterliedern ist deutlich vom zweiten Teil mitHeldenliedern getrennt, und jeder Teil hat eine bestimmteinnere Ordnung, zu deren Aufhellung die Forschung in denletzten Jahrzehnten viel Mühe aufgewandt hat. Genzmer hat inder ersten Ausgabe seiner Übersetzung diese von der isländi-schen Handschrift vorgegebene Anordnung der Texte aufgege-ben, und er begründet dies so:

Dieser Sammler ordnet die Stücke nach inhaltlichen, nichtkünstlerischen Eigenschaften. […] Das vorliegende Werk hatdie alte Reihenfolge grundsätzlich aufgegeben. ObersterEinteilungsgrund ist auch hier der stoffliche: wir scheiden diedrei Massen Heldendichtung, Götterdichtung, Spruchdichtung.[…] Soweit es diese inhaltlichen Gruppen zulassen, ordnen wir

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nach Merkmalen der dichterischen Gattung. […] UnserVorgehen stellt die künstlerische Eigenart, das Unter-scheidende der einzelnen Denkmäler klarer heraus.Bei all den vielfältigen und im Laufe der Jahre noch gewachse-nen Pflichten – seit 1920 war Genzmer Professor für öffentlichesRecht – arbeitete er ununterbrochen an der Edda-Übersetzungweiter, und man kann von Auflage zu Auflage beobachten, wieintensiv er nicht nur ständig den Text zu verbessern versuchte,sondern wie er auch neue wissenschaftliche Forschungen ver-folgte und deren Resultate benutzte. Dabei war gerade er selbereiner von jenen, die neue Betrachtungsweisen erarbeiteten. Erwandte sich als einer der ersten gegen die alte Heuslersche Vor-stellung, Heldensage habe nur in Form von Heldendichtungexistiert. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1948 mit dem Titel Vor-zeitsaga und Heldenlied wendet er sich entschieden gegen dieseAuffassung: Manche der älteren Heldenlieder in der Edda habenja eine ganze Heldensage zum Inhalt und nicht nur eine Episode;aber auch in diesen Edda-Liedern wird das Geschehen so knappund oft nur in Andeutungen wiedergegeben, daß man ein sol-ches Lied nur richtig verstehen kann, wenn man mit der Sageschon von vornherein vertraut ist. Also muß es auch schon vor-her eine Textüberlieferung in Prosa in irgendeiner Form gege-ben haben. Damit mußte man den überlieferten Texten selbstwieder größeren Wert beimessen. In den späteren Auflagen derEdda-Übersetzung näherte sich Genzmer immer mehr dem ori-ginalen Text an: Manche früher ausgeschiedene oder verscho-bene Strophe wurde wieder aufgenommen oder an ihrem ur-sprünglichen Platz zurückversetzt; und sogar in der Abfolge derLieder folgte er jetzt etwas enger als vorher der vom Codex Re-gius vorgegebenen Reihung. Innerhalb der Heldendichtung warGenzmer mit seiner Umarbeitung schon recht weit fortge-schritten, aber seinen Plan, die Edda-Übersetzung ganz neu zugestalten und den Ergebnissen der neueren Forschung, aber

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auch seinen eigenen neuen Erkenntnissen anzupassen, diesenPlan hat er nicht mehr verwirklichen können. Die vorliegendeSammlung beruht auf den letzten von Genzmer selbst besorg-ten Ausgaben der Edda, verschiedenen einbändigen Ausgaben,aber auch auf einer Ausgabe ausgewählter Heldenlieder inReclams Universal-Bibliothek 1952 und 1958, erweitert 1961,sowie vor allem auch auf handschriftlichen Korrekturen, Noti-zen, Briefen und anderen Vorarbeiten Genzmers. Es ist somitder wohl vollständigste Text der Edda-Übersetzung, der Genz-mers letzte Vorstellungen von dem Werk am besten wiedergibt.

3. Edda und Edda-Übersetzung:Götterdichtung und Spruchweisheit

Die Götterlieder bilden den ersten großen Teil derGenzmerschen Edda, im zweiten Teil faßte er dieSpruchdichtungen zusammen und im dritten dieHeldenlieder. Dies entspricht nicht ganz der Einteilung imCodex Regius; auch da bildet zwar die Heldendichtung eineneigenen Teil, aber innerhalb der Götterdichtung stehen auchdie Hávamál, »Sprüche des Hohen«, eine Sammlung vonSpruchdichtungen, die von Genzmer – wie schon erwähnt –in Einzelgedichte aufgelöst wurde und nun einen guten Teilder Texte in seinem Abschnitt »Spruchweisheit« bildet. DieGötter- und Spruchdichtungen im Codex Regius sind offenbarin einer bewußten Reihenfolge angeordnet. Am Anfang stehtdie Vo̧lospá (»Der Seherin Gesicht«), ein großer visionärerÜberblick über das Geschick des Kosmos, von der Entstehungder Welt und der Götter, der Riesen und Menschen bis zumUntergang der Welt und ihrer Wiedererstehung. Darauf fol-gen drei Lieder, in deren Mittelpunkt Odin und sein Wissen

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steht: die »Sprüche des Hohen« (Hávamál), in denenSpruchweisheit zusammengefaßt wird, die mit Odin inVerbindung gebracht werden, sowie das »Wafthrudnirlied«(Vafprú›nismál) und das »Grimnirlied« (Grímnismál). ImMittelpunkt des Geschehens im nächsten Lied, dem»Skirnirlied« (Skírnismál, auch Fo̧r Skírnis), steht eineWerbungsgeschichte des Gottes Freyr um die RiesentochterGerd. Nun kommen vier Lieder, in denen Thor eine beson-dere Rolle spielt: das »Harbardlied« (Hárbar›zlió›) handelt voneinem Zankgespräch zwischen Odin und Thor, daran schließtdas »Hymirlied« (Hymiskvi›a) an, das von einemThorsabenteuer berichtet und das durch eine Prosapassagedirekt mit »Lokis Zankreden« (Lokasenna) verbunden ist. Hiertritt Thor erst ganz am Schluß auf und erst ihm gelingt es, Lokizum Schweigen zu bringen. Daran schließt das burleske»Thrymlied« (firymskvi›a) an. Darauf folgt scheinbar unvermit-telt das »Wölundlied« (Vo̧lundarkvi›a), das heute gewöhnlich zuden Heldendichtungen gezählt wird und bei Genzmer auch indieser Liedergruppe steht. Nach der Edda ist Wölund albischerHerkunft, und es mag sein, daß das Lied deshalb unter dieGötterdichtungen gezählt wurde. Das Ende des Götterliedteilsim Codex Regius bildet das »Alwislied« (Alvíssmál), das einenWissenswettstreit zwischen Thor und dem Zwerg Alviss zumInhalt hat. Der Bogen spannt sich also von den großenmythologischen Überblicksdichtungen über die mythologi-sche Wissensdichtungen zu Liedern, die Einzelmythen zumGegenstand haben. Insgesamt macht dieser Teil derLieder-Edda im Codex Regius den Eindruck einer geschlossenenund bewußt aufgebauten Komposition, freilich, wie Genzmerzu Recht beobachtet hatte, nach inhaltlichen Gesichtspunkten,nicht nach künstlerischen oder ästhetischen. – Eine eingehen-de Untersuchung der Paläographie und Orthographie desGötterliedteils durch den Schweden Gustaf Lindblad hat

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gezeigt, daß in diesem Teil die Schreibung ziemlich einheitlichist, man muß also wohl damit rechnen, daß diese Lieder aufeine ältere, schriftliche Sammlung zurückgehen.

Genzmer fügte diesen Liedern noch einige hinzu, die sichnicht im Codex Regius finden. »Balders Träume« (Baldrs drau-mar) stehen in dem oben erwähnten Edda-Fragment A, das»Merkgedicht von Rig« (Rígsflula) findet sich in einerHandschrift der Snorra-Edda, das »Hyndlalied« (Hyndlolió›) istin einer großen Sammelhandschrift aus dem späten 14.Jahrhundert überliefert, der Flateyjarbók, und einen Teil des»Hyndlaliedes« bildet die »Kürzere Seherinnenrede« (Vo̧lospáin skamma). Das »Fjölswinnlied« (Fio̧lsvinnzmál) ist – zusammenmit dem von Genzmer unter der Spruchdichtung übersetzten»Zaubergesang der Groa« (Grógaldr) nur in jungenPapierhandschriften überliefert. Das »Walkürenlied«(Darra›arlió›) endlich, das bereits der Skaldendichtung nahe-steht, wird in der »Geschichte vom weisen Njal« (Njáls saga)überliefert.

Diese 16 Texte sind nach Inhalt, Form und Alter sehr ver-schieden. Ehe wir uns aber einige von ihnen etwas näher be-trachten, muß eine generelle, für das Verständnis der eddischenGötterdichtung allerdings entscheidende Frage gestellt werden.Wenn es sich bei diesen Liedern oder zumindest bei einigenvon ihnen wirklich um Texte handelt, die in die Zeit des Hei-dentums zurückgehen, heidnische Mythen und Vorstellungenwiedergeben und damit etwas vom Glaubensleben des Nor-dens in paganer Zeit widerspiegeln, dann ist es schwer zu be-greifen, wie sie im 13. Jahrhundert, also mehr als zwei Jahrhun-derte nach der Einführung des Christentums in Island,aufgezeichnet werden konnten. Bis auf ganz geringe und ver-einzelte Ausnahmen können wir in keinem Land germanischerSprache etwas Ähnliches beobachten. Wenn man in Englandoder Deutschland Spuren heidnischer Vorstellungen erkennen

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kann, so findet man sie meist in Abschwörungsformeln, in Sy-nodalberichten und dergleichen, in Texten also, in denen mansich gerade gegen solche Äußerungen des Heidentums wendet.Wirkliche Götterlieder wie im Norden gibt es im germani-schen Sprachgebiet sonst nicht. In Island aber existiert nicht nureine solche überraschende Fülle an Götterdichtungen, sondernmit der Prosa-Edda des Snorri Sturluson besitzen wir sogar einegeschlossene, systematische Darstellung der heidnischen My-thologie, ein Unikum nicht nur in der germanischen, sondernauch in den anderen volkssprachlichen Überlieferungen desKontinents. Man kann das sicher nicht damit erklären, daß sichhier, in der Abgeschiedenheit Islands, solche alten Traditioneneben besser erhalten hätten als im Süden. Denn erstens war Is-land keineswegs so abgeschieden, wie man sich das oft vorstellt,es hatte regen Anteil an den theologischen, wissenschaftlichenund literarischen Entwicklungen Europas, und außerdem ist esmit der Erhaltung alter Überlieferungen allein nicht getan: Da-mit sie die Zeiten überdauern, müssen sie ja auch niederge-schrieben werden. Die Kunst des Schreibens aber ist erst mitdem Christentum nach Island gekommen, und wer im 13. Jahr-hundert in Island wie auch sonst in Skandinavien diese Fähig-keit beherrschte, war entweder selbst Geistlicher oder war vonGeistlichen erzogen worden oder in einem geistlich bestimm-ten Umkreis aufgewachsen. Dies gilt auch für Snorri, der seineJugend auf dem Hofe Oddi in Südwestisland verlebte, einemder großen Zentren geistlicher Gelehrsamkeit, wo ein paar Jahr-zehnte vor Snorri auch Sæmundr Sigfússon gewirkt hatte. DieNiederschrift von eddischen Götter- und Heldenliedernkonnte ebensowenig gegen den Willen der Geistlichkeit erfol-gen wie Snorri seine Prosa-Edda gegen den Willen der Kirchehätte schreiben können, aber diese Frage stellte sich gar nicht.Das eigentlich Erstaunliche an der altisländischen Literatur istnicht, daß sich hier so viele ältere Überlieferungen halten konn-

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ten, sondern daß sie sich auch unter ganz anderen geistigen undreligiösen Bedingungen weiterentwickelten und daß sie amEnde aufs Pergament gebracht wurden. Dieses Phänomen vorallem gilt es zu erklären, doch kann das hier nur mit ein paarkurzen Andeutungen geschehen.

Die erste Voraussetzung für das Weiterbestehen älterer Tradi-tionen war die Art, wie in Island das Christentum angenommenwurde. Viele Isländer waren schon vorher in Kontakt mit demneuen Glauben gekommen, manche waren auch bereitswährend des 10. Jahrhunderts Christen geworden. Gegen Endedes Jahrhunderts verstärkte der norwegische König Olav Trygg-vason seine Missionsbestrebungen, es gab widerstreitende Par-teien in Island, und die Frage des Glaubens bedeutete auch undvor allem eine politische Entscheidung. Das Allthing des Jahres999 oder 1000 bestimmte einen als besonders verständig gelten-den Mann, einen Anhänger der heidnischen Partei, der allein füralle die Entscheidung treffen sollte, und er entschied für das Chri-stentum. So brachte die Einführung des Christentums in Islandkeine tiefgreifenden Glaubenskämpfe mit sich, und die Kirchehatte keinen Anlaß, scharf gegen alte Vorstellungen vorzugehen.Dazu kam, daß es durch die neue Religion auch kaum gesell-schaftliche Verschiebungen gab; die alten bedeutenden Familienbüßten durch die Christianisierung kaum etwas von ihrer Machtein, und nicht wenige Goden, die sich vorher vielleicht mehrschlecht als recht um den Vollzug der heidnischen Opfer geküm-mert hatten, errichteten nun Kirchen bei ihrem Hof. Überdieswurde die schwierige traditionelle Kunst der Skaldendichtungnach wie vor gepflegt, und es dauerte nicht lange, bis sich die Skal-dik auch christlichen religiösen Stoffen zuwandte. Eines derwichtigsten Kunstmittel der Skaldik sind die anfangs schon ge-nannten Kenningar; das sind metaphorische Umschreibungen,die man nicht verstehen kann, wenn man nicht eine erheblicheAnzahl von Mythen und Heldensagen genau kennt. Solange in

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Island die Skaldendichtung weiter gepflegt wurde, und das warnoch fast drei Jahrhunderte der Fall, konnte auch die Kenntnis al-ter, auch heidnischer Mythen und Heldensagen nicht ganz ver-schwinden.

Dies alles sind Faktoren, die zwar die Bewahrung ältererÜberlieferungen und sogar deren Weiterentwicklung plausi-bel machen können, die aber nicht erklären, weshalb alte,mündlich tradierte Texte jetzt literarisiert und – mehr oderweniger verändert – schriftlich fixiert wurden. Ein solcherVorgang beruht auf zwei Voraussetzungen, auf der Fähigkeitzu schreiben und auf der Kenntnis der alten traditionellenTexte. Viele Geistliche waren Isländer und gehörten selbstalten und traditionsreichen Familien an, die – so müssen wirannehmen – auch für die Bewahrung von älteren Überliefe-rungen besonders wichtig waren. Nicht wenige Isländer, obGeistliche oder Laien, die der Kunst des Schreibens fähigwaren, dürften deshalb auch mit alten traditionellen Stoffenvertraut gewesen sein. Dazu kam wohl noch ein für Islandbesonders glücklicher Umstand: In Island wurden in diesenersten Jahrhunderten ausschließlich Benediktiner- undAugustinerklöster eingerichtet, wobei allem Anschein nachdie Benediktinerklöster und vor allem das Kloster Thingeyrar(fiingeyrar) in Nordisland für die Entwicklung der Literaturbesondere Bedeutung erlangten. Benediktiner beschäftigtensich auch auf dem Kontinent intensiv mit der Geschichte undden Wissenschaften auch vor dem Christentum; Vergil undLivius, Sallust und viele andere antike Autoren wurden vonBenediktinern hochgeschätzt und fleißig gelesen.Benediktinisches Denken war offen auch für die Zeugnisseder Vergangenheit. Zwar ist es sicher, daß Mönche des KlostersThingeyrar wichtig waren für die Entwicklung der Sagali-teratur, ob sie freilich in irgendeiner Weise die Niederschriftälterer Götter- und Heldenlieder unmittelbar beeinflußten,

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das wissen wir nicht. Benediktinischer Geist äußerte sich aberwohl auch hier in einer grundsätzlichen Aufgeschlossenheitgegenüber der Vergangenheit und ihrer Literatur und bereite-te so die Voraussetzung, daß sich Männer wie Snorri, aber vorihm auch andere, uns nicht namentlich bekannte Isländer, mitGötter- und Heldenliedern und Spruchdichtungen beschäfti-gen und sie niederschreiben konnten. G. Lindblad hat jeden-falls gezeigt, daß mit hoher Wahrscheinlichkeit dem CodexRegius zwei getrennte schriftliche Sammlungen vor-ausgegangen sind, eine mit Heldenliedern, eine mitGötterliedern. Sie dürften zwischen 1210 und 1240, vielleichtnoch etwas früher entstanden sein. Es gibt nach Lindblad sogarHinweise darauf, daß einzelne Edda-Lieder schon um 1200niedergeschrieben wurden.

Dies sind Fragen und Ergebnisse der neueren Edda-For-schung, die Genzmer noch nicht bekannt sein konnten, die aberinsbesondere für die Interpretation der Götterdichtungen großeBedeutung haben. Sehr oft wird man damit rechnen müssen,daß Lieder Spuren und Reflexe von christlichen Vorstellungenzeigen. Doch Lieder können sich im Laufe der Zeit auch wan-deln und Merkmale verschiedener Zeiten annehmen; in vielenFällen ist es deshalb gar nicht möglich, das Alter eines Edda-Lie-des einigermaßen genau zu bestimmen, vor allem auch, weil si-chere Kriterien für eine Datierung weithin fehlen. Deshalb ist esnicht zu verwundern, daß sich die Datierungsvorschläge einzel-ner Forscher manchmal so stark unterscheiden. Während etwaJan de Vries, Verfasser einer noch heute wertvollen AltnordischenLiteraturgeschichte die Lieder »Balders Träume«, »Skirnirlied«,»Thrymlied« und das »Merkgedicht von Rig« in die Zeit zwi-schen 1150 und 1300 datierte, meinte der Isländer Einar ÓlafurSveinsson fast zur gleichen Zeit (1962), diese Lieder seien allevor 1000 entstanden, also noch in heidnischer Zeit. Auch in un-

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Die EddaGötterdichtung, Spruchweisheit und Heldengesänge derGermanen

Gebundenes Buch, Pappband, 472 Seiten, 12,5 x 18,7 cmISBN: 978-3-7205-2759-0

Diederichs

Erscheinungstermin: Februar 2006

Die Edda zieht mit ihren Geschichten über die nordischen Helden und Götter seit jeher dieLeser in ihren Bann. Die Sonderausgabe bietet ein großes Leseabenteuer zum kleinenPreis. Die Edda ist zugleich Götterkunde und Heldenepos, Spruchweisheit, Sittengedicht,Zauberlied und Vision von poetischer Kraft. Thor, Odin und sein Rabe, der grausame WolfFenrir, die weltumschlingende Riesenschlange Midgard - die Edda umfasst den ganzen Kosmosaltnordischen Glaubens und Dichtens. Dazu gehören nicht nur Heldenepen, wie die Gesängeum Sigurd und Gudrun, sondern auch Weisheiten aus dem altgermanischen Alltag. Sie bringenuns eine Vergangenheit näher, die in mythische Zeiten versunken zu sein scheint.