GÜTHNER, S. Grammatik im Gerspräch

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Grammatik im Gesprch

Linguistik Impulse & TendenzenHerausgegeben von

Susanne Gnthner Klaus-Peter Konerding Wolf-Andreas Liebert Thorsten Roelcke 33

Walter de Gruyter Berlin New York

Grammatik im GesprchKonstruktionen der Selbst- und Fremdpositionierung

Herausgegeben von

Susanne Gnthner und Jrg Bcker

Walter de Gruyter Berlin New York

Gedruckt auf surefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm ber Haltbarkeit erfllt.

ISBN 978-3-11-021362-1 ISSN 1612-8702Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschlielich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung auerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen

DanksagungDer vorliegende Sammelband basiert auf einem im Juni 2007 durchgefhrten Workshop an der Westflischen Wilhelms-Universitt und wurde durch die grozgige Frderung des Projekts (GU 366/4-1) Grammatik in der Interaktion: Zur Realisierung fragmentarischer und komplexer Konstruktionen im gesprochenen Deutsch seitens der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ermglicht. Fr die Mithilfe bei der Organisation des Workshops und der Fertigstellung des Bandes bedanken wir uns herzlich bei Sandra Dertenktter, Amelie Hauptstock, Vera Beckmann, Maria Baumeister, Marcel Fladrich und Oliver Richter. Unser Dank geht aber auch an Klaus-Peter Konerding, Wolf-Andreas Liebert und Thorsten Roelcke (Reihe Linguistik Impulse & Tendenzen) fr Kommentare zu den Manuskripten sowie an Heiko Hartmann und Manuela Gerlof von de Gruyter fr die Aufnahme in die LIT-Reihe und die Betreuung des Bandes. Mnster, im Februar 2009 Susanne Gnthner und Jrg Bcker

InhaltDanksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Susanne Gnthner und Jrg Bcker Einleitung zum Sammelband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (i) Partikeln und Diskursmarker als Ressourcen fr Positionierungsaktivitten Arnulf Deppermann Verstehensdefizit als Antwortverpflichtung: Interaktionale Eigenschaften der Modalpartikel denn in Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Imo Konstruktion oder Funktion? Erkenntnisprozessmarker (change-of-state tokens) im Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Meer Unscharfe Rnder. Einige kategoriale berlegungen zu Konstruktionen mit dem Diskursmarker ja in konfrontativen Talkshowpassagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Janet Spreckels ich hab einfach gedacht: Stellungnahme und Positionierung durch einfach in Erklrinteraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ii) Elliptische Konstruktionen als Ressourcen fr Positionierungsaktivitten Susanne Gnthner Adjektiv + dass-Satz-Konstruktionen als kommunikative Ressourcen der Positionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harrie Mazeland Positionsexpansionen: Die interaktive Konstruktion von Stellungnahme-Erweiterungen in Arbeitsbesprechungen . . . . . . . . . . (iii) Formelhafte Verfestigungen zwischen der Wort- und der Satzebene als Ressourcen fr Positionierungsaktivitten Jrg Bcker Quotativ-Konstruktionen mit Motto als Ressourcen fr Selbst- und Fremdpositionierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 1

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Benjamin Stoltenburg Was wir sagen, wenn wir es ehrlich sagen uerungskommentierende Formeln bei Stellungnahmen am Beispiel von ehrlich gesagt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 (iv) Standardferne Konstruktionen als Ressourcen fr Positionierungsaktivitten Friederike Kern Positionieren mit Kontrast: Zum Gebrauch einer Konstruktion im Trkendeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Transkriptionskonventionen nach GAT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

Einleitung zum Sammelband: Grammatik im Gesprch: Konstruktionen der Selbst- und FremdpositionierungSusanne Gnthner und Jrg BckerUntersucht man Grammatik im Kontext alltglicher Interaktion, so erhlt man von vielen grammatischen Konstruktionen ein in Teilen anderes Bild als die traditionelle, primr auf dekontextualisierten schriftsprachlichen Beispielen basierende Forschung. Form und Funktion grammatischer Strukturen im mndlichen Gebrauch sind mit spezifischen interaktionalen und kognitiven Aspekten verbunden, die eng mit den Produktions- und Rezeptionsbedingungen der gesprochenen Sprache zusammenhngen. So ist eine fr diesen Sammelband zentrale Beobachtung die, dass SprecherInnen nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass mndliche Kommunikation unter erheblichem Zeit- und Handlungsdruck abluft auf rekurrente, verfestigte grammatische Muster angewiesen sind, die Ressourcen fr die Bewltigung kommunikativer Aufgaben darstellen. Diese Konstruktionen bzw. constructions (Fillmore/Kay/OConnor 1988; Goldberg 1995; Croft 2001; stman 2005; Auer 2006, 2007; Gnthner 2006a,b; Gnthner/Imo 2006; Imo 2007a,b; Deppermann 2007; Feilke 2007; Birkner i. Dr.), constructional schemata (Ono/Thompson 1995), pre-fabricated parts (Hopper 1987), Formate sozialer Praktiken (Couper-Kuhlen/Thompson 2006) bzw. syntaktischen Muster (Feilke 2007) unterliegen in ihrer mndlichen Aktualisierung sowohl den generellen Produktions- und Rezeptionsbedingungen der gesprochenen Sprache als auch lokalen Kontextanforderungen. Sie sind konstitutive Bestandteile derjenigen Aktivitten und Gattungen, in denen sie verwendet werden, und sie entfalten sich als kommunikative Ressourcen im Prozess der Interaktion linear in der Zeit.1 Da sie in Abhngigkeit vom Rezipientenverhalten lokal konstruiert werden und sich einerseits auf vorangegangene Redezge beziehen sowie andererseits Konsequenzen fr nachfolgende Redezge haben, erweisen sie sich strukturell und funktional hufig als weitaus heterogener bzw. offener (Hopper 2001, 2004), als die Beschreibung in den Grammatiken und in ausschlielich an der Schriftsprache orientierten linguistischen Untersuchungen vermuten lassen.2 Entsprechend haben Untersuchungen zur Grammatik gesprochener Sprache seit1 Vgl. Konzept der on line-Syntax Auers (2000).

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ihren Anfngen in den 70er Jahren zahlreiche grammatische Phnomene und Konstruktionen zu Tage befrdert, die in einem im Vergleich zum schriftlichen Sprachgebrauch nicht deckungsgleichen Funktionsbereich verwendet werden, oder die im schriftlichen Sprachgebrauch stilistisch markiert oder gar nicht vorhanden sind.3 Whrend zunchst lange Zeit Einzelfalluntersuchungen im Vordergrund der Erforschung der Grammatik gesprochener Sprache standen, wurden in den letzten Jahren zunehmend Forderungen nach einem theoretischen Rahmen fr die Beschreibung und Analyse der Grammatik der gesprochenen Sprache laut, der auf einer realistischen Prozessmodellierung sprachlicher Interaktion aufbaut und es erlaubt, grundlegende Beziehungen zwischen den einzelnen grammatischen Aufflligkeiten des mndlichen Sprachgebrauchs in einen systematischen Zusammenhang zu bringen (Fiehler 2000, 2007; Fiehler et al. 2004; Deppermann 2006; Deppermann et al. 2006; Hausendorf 2007; Hennig 2006; Gnthner/Imo 2006; Imo 2007a). Dies impliziert eine den medialen und handlungstheoretischen Eigenschaften angemessene Grammatikperspektive, die sprachliche Strukturen in ihren prozessualen, funktionalen und soziokulturellen Vernetzungen betrachtet, sprich ihren Sitz im Leben (Gunkel 1925/85: S. 10) hat. Das zentrale Spannungsverhltnis fr einen geeigneten Rahmen zur Beschreibung und Analyse der Grammatik der gesprochenen Sprache besteht darin, dass er sowohl die Gefahr eines Empirie- als auch eines Theoriedefizits zu vermeiden hat. Aufgelst werden kann dieses Spannungsverhltnis nach Ansicht der Beitrge in diesem Sammelband im Rahmen einer realistischen Sprachwissenschaft (Hartmann 1979; Auer 2003; Gnthner 2007a), deren Gegenstandsbereich hinsichtlich seiner Systematik als Gesprchsgrammatik (Sandig 2000) bzw. Grammatik der kommunikativen Praxis (Gnthner 2007a) zu formulieren ist. Wie auch Krmer (2001: S. 329) betont, geht es hierbei[] um den Versuch, einen Begriff von Sprachwirklichkeit zu entfalten, der sich nicht mehr faszinieren und leiten lsst von der Idee der reinen, der homogenen, der virtualisierten Sprache, sondern dem gerade die Vielzahl heterogener Sprachpraktiken und ihnen korrespondierende unterschiedliche Formen von Sprache zum interessanten und erklrungswrdigen Phnomen wird.2 Siehe u. a. die Arbeiten von gel/Hennig (2007); Auer (2000, 2006, 2007); Deppermann et al. (2006); Deppermann (2007); Fiehler et al. (2004); Ford (1993); Gnthner (2000, 2006a,b, 2007a,b, 2008); Gnthner/Imo (2006); Hakulinen/Selting (2005); Hausendorf (2007); Hopper (1998, 2001); Ochs et al. (1996); Selting/Couper-Kuhlen (2001a,b). Siehe u. a. die Untersuchungen von Barth-Weingarten/Couper-Kuhlen (2002); Auer/Gnthner (2005), Gohl (2006), Gohl/Gnthner (1999); Gnthner (1999, 2000); Imo (2007b) zu Konnektoren und Diskursmarkern im Gesprch.

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Eine in diesem Sinne praxisorientierte Perspektive auf sprachliche Phnomene impliziert die Abkehr von einem streng systemlinguistischen Verstndnis sprachlicher Phnomene in der Tradition des Strukturalismus: Statt Sprache als ein von der Verwendung mglichst unabhngiges System losgelst von kommunikativen, sozialen, kulturellen, medialen und funktionalen Dimensionen zu konzeptualisieren, werden die strukturellen Eigenschaften von Sprache im Gegenteil als Ergebnis ihrer interaktiven Funktionen und Gebrauchsweisen betrachtet (Du Bois 1985; Ehlich 1998; Gnthner 2000a,b, 2007a). Diese Perspektive auf Sprache und Grammatik baut auf Haspelmaths (2002: S. 270) These von der Grammatik als geronnenem Diskurs auf und wird durch zahlreiche Ergebnisse der neueren Grammatikalisierungsforschung (Heine 1992; Hopper/Traugott 1993; Haspelmath 2002), der Cognitive Grammar (Croft 2001; Croft/Cruse 2004; Barlow/Kemmer 2000), der gebrauchsbasierten Anstze der Construction Grammar (stman 2005; Fischer/Stefanowitsch 2007; Stefanowitsch/Fischer 2008), der Emergent Grammar (Hopper 1987) und anderer funktional ausgerichteter Grammatiktheorien (Redder/Rehbein 1999; Hoffmann 2003; gel 2003; gel/Hennig 2007) gesttzt. Diesen Anstzen ist die Annahme gemeinsam, dass sprachliche Interaktion ohne Grammatik nicht existiert, aber Grammatik ebenso wenig eine von der Interaktion unabhngige Existenz hat. Grammatik und Interaktion sind in diesem Sinne auf das engste miteinander verwoben und stehen in einem reflexiven Verhltnis zueinander: [] talk shapes grammar as much as grammar shapes talk (Du Bois 2003: S. 52). Ziel einer praxisorientierten Sprachbetrachtung, wie sie diesem Sammelband zugrunde liegt, ist es, auf der Grundlage authentischen (mndlichen wie schriftlichen) Datenmaterials einige substantielle Prinzipien fr den Brckenschlag zwischen Grammatik (bzw. Sprachstrukturbeschreibung) auf der einen Seite und Interaktion (bzw. Sprachhandlungsbeschreibung) auf der anderen Seite zu diskutieren. Methodologisch hat dies die Konsequenz, dass sprachliche Phnomene nicht beliebig dekontextualisiert werden drfen, sondern immer im jeweiligen konkreten Interaktionszusammenhang zu beschreiben sind. Darber hinaus drfen weder die Medialitt und Handlungsbezogenheit sprachlicher Phnomene noch ihre inhrente Dialogizitt, ihre Sequenzialitt und die Zeitlichkeit ihrer Entfaltung ausgeblendet werden (vgl. Linell 2004, 2006). Gebrauchsbasierte interaktional ausgerichtete Studien im hier vorgeschlagenen Sinne knnen sowohl ausgehend von einem spezifischen Kontext und Funktionsbereich die verschiedenen Konstruktionen untersuchen, die in ihm verwendet werden, als auch ausgehend von einer einzelnen Kons-

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truktion die verschiedenen Kontexte und Funktionsbereiche analysieren, in denen diese Konstruktion Verwendung findet. In diesem Sammelband soll vor allem der erste Weg beschritten werden: Die vorliegenden Beitrge widmen sich unterschiedlichen sprachlichen Konstruktionen, deren Gemeinsamkeit es ist, dass sie im mndlichen Sprachgebrauch im Funktionsbereich von Selbst- und Fremdpositionierungen Verwendung finden. Das Positionierungskonzept hat in der Sprachwissenschaft bisher vorrangig in der konstruktivistischen konversations- und gesprchsanalytischen Erzhlforschung Anwendung gefunden (vgl. zum Beispiel Wolf 1999; Bamberg 2004; Lucius-Hoene/Deppermann 2004; Goblirsch 2005), in der Aspekte wie Emergenz und Kontextgebundenheit theoretisch und methodologisch eine zentrale Rolle spielen. So arbeiten Lucius-Hoene/Deppermann (2004) am Beispiel autobiographischen Erzhlens heraus, dass das Erzhlen von Selbsterlebtem nicht nur Selbstdarstellung, sondern auch Selbstherstellung ist und das erzhlende Ich insofern Identittsarbeit in Aktion (Lucius-Hoene/Deppermann 2004: S. 168) betreibt. Wolf (1999: S. 76) weist zudem darauf hin, dass Positionierungsaktivitten stark kontextgebunden sind: Sie orientieren sich einerseits am sequenziell gegebenen Kontext und sind andererseits an der Erzeugung des Kontexts fr nachfolgende Aktivitten beteiligt. Der vorliegende Sammelband befasst sich mit sprachlichen Mitteln der Selbst- und Fremdpositionierung aus einer strker grammatikorientierten Perspektive als die genannten Untersuchungen: Thematisiert werden grammatische Konstruktionen, die in unterschiedlichen (deutschen wie niederlndischen, privaten wie auch institutionellen, nicht-medialen wie auch medial vermittelten) Alltagsinteraktionen zur Durchfhrung von Positionierungsaktivitten eingesetzt werden. Die versammelten Beitrge teilen die oben skizzierte Auffassung, dass Grammatik aus dem Gebrauch sprachlicher Verfahren in tatschlichen Interaktionskontexten entsteht, dort also auch die Prozesse der Musterbildung und der Mustervernderung zu suchen und zu beschreiben sind. In der Folge untersuchen sie Positionierungsverfahren unter Einbezug von Aspekten wie Medialitt, sequenzieller Ordnung, Dialogizitt, Prosodie sowie Aktivitts- und Gattungsbezug. Methodologisch sind die hier versammelten Untersuchungen der Interaktionalen Linguistik (Selting/Couper-Kuhlen 2000; Selting/Couper-Kuhlen 2001a,b), der Gesprochenen Sprache-Forschung (vgl. Schwitalla 2006; Fiehler et al. 2004; Deppermann 1999) und der Konversationsanalyse (Sacks 196468/92; ten Have 2002; Lerner 2004; Schegloff 2007) zuzuordnen, greifen aber auch Erkenntnisse der gebrauchsorientierten (usage-based) Positionen der Construction Grammar sowie der Cognitive Grammar (vgl. unter anderem

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Croft 2001; Fried/stman 2005 und die Beitrge in Barlow/Kemmer 2000) auf, um dem Spannungsverhltnis zwischen der Verfestigung grammatischer Konstruktionen und ihrer prozessualen Aktualisierung im Diskurs Rechnung zu tragen (vgl. Deppermann 2006; Gnthner/Imo 2006; Gnthner 2007b; Linell 2004; Fischer/Stefanowitsch 2007; Imo 2007b; Stefanowitsch/Fischer 2008; Birkner i. Dr.). Die prozessuale Aktualisierung als dynamische Seite dieses Spannungsverhltnisses kann mittels der Begriffe Emergenz (Hopper 1987) und Projektivitt (Auer 2000; 2005; Gnthner 2008) beschrieben werden. Mit dem Konzept der Emergenz, das die besonderen Aspekte der zeitlinearen Abfolge grammatischer Konstruktionen in der mndlichen Interaktion erfasst, rckt die Perspektive der inkrementellen (Ford/Fox/Thompson 2002; Couper-Kuhlen/Ono 2007) Realisierung sprachlicher Phnomene im real-zeitlichen Produktions- und Rezeptionsverlauf in den Analysefokus. In der gesprochenen Sprache orientiert sich der schrittweise erfolgende Aufbau syntaktischer Strukturen dies veranschaulichen u. a. die Beitrge von Mazeland, Meer, Imo, Spreckels und Kern an Merkmalen des Kontexts sowie an verbalen und nonverbalen Hrerrckmeldungen, so dass sprachliche Realisierung nicht als das bloe Abrufen einer fixen sprachlichen Gestalt aus dem mentalen Lexikon konzeptualisiert werden kann.4 Darber hinaus zeigen die Analysen von Deppermann, Gnthner, Bcker und Stoltenburg, dass fr die Prozesse sprachlicher Produktion und Rezeption das Konzept der Projektivitt zentral ist. Syntaktische Projektionen sind fr die gesprochene Sprache vor allem deshalb von Relevanz, weil sie (zusammen mit aktivittsbezogenen und prosodischen Projektionen) eine Vorhersage von mglichen Redezug-Abschlusspunkten ermglichen (Auer 2000: S. 47 f.). Diese Leistung ist eine der essentiellen Grundlagen der Face-toFace-Kommunikation, in der Produktions- und Rezeptionsaktivitten maximal synchronisiert sind. Besonders deutlich zeigt sich das in spezifisch mndlichen Konstruktionsmustern wie der dialogischen Ko-Konstruktion syntaktischer Einheiten (siehe u. a. den Beitrag von Mazeland). uerungen von SprecherInnen sind insofern keine kognitiv autarken Einheiten, als sie in Anlehnung an die vorausgehenden uerungen produziert werden. Zugleich stellen sie selbst wiederum Gestalten dar, an denen sich die nchsten SprecherInnen orientieren (hierzu u. a. Deppermann, Mazeland, Imo und Spreckels). Wie die vorliegenden Analysen zeigen, setzen SprecherInnen zur Kontextualisierung von Selbst- und Fremdpositionierungen4 Siehe auch Linells (2004) principle of co-authority or co-construction sowie Auer (2000, 2005, 2007); Bybee (1998); Hopper (1987) und Gnthner (2007b).

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hufig Wort- und Konstruktionsklassen ein, deren vollstndige Systematik noch ein Desiderat der linguistischen Forschung ist. So finden zum Beispiel die von Eisenberg (1994: S. 206) als Zaunknige und Luse im Pelz der Sprache beschriebenen Partikeln hufig Einsatz im Rahmen von Positionierungsaktivitten (siehe die Beitrge von Deppermann, Meer, Imo und Spreckels), aber auch unter normgrammatischen Gesichtspunkten elliptische Konstruktionen (vgl. die Beitrge von Gnthner und Mazeland), formelhafte Verfestigungen zwischen der Wort- und der Satzebene (siehe die Beitrge von Bcker und Stoltenburg) sowie standardferne Konstruktionen (vgl. Kerns Beitrags zum Trkendeutschen). Die vorliegenden Untersuchungen solcher traditionell eher als randgrammatisch (Fries 1983, 1987) bewerteten Konstruktionen tragen zu der Einsicht bei, dass strukturell markierte Konstruktionseigenschaften, aber auch Vagheit oder Ambiguitt, die unter einer traditionellen Defizitperspektive mitunter pauschal als problematisch behandelt wurden, der mndlichen Interaktion keineswegs grundstzlich hinderlich sind. Sie schaffen ganz im Gegenteil in vielen Fllen erst die Voraussetzungen fr die Interagierenden, auf der Basis bereits im Sprachsystem vorhandener Konstruktionen neue Funktionsbereiche zu erschlieen (dies verdeutlichen Deppermann, Meer und Spreckels am Beispiel der Partikeln denn, ja und einfach sowie Bcker in Bezug auf prpositionale Fgungen mit den Substantiven Motto, Prinzip, Sinn, Art und Richtung). Grammatische Konstruktionen, die in der geschriebenen Sprache als Normverste wahrgenommen werden wrden, treten in der gesprochenen Sprache insofern bei nherer Betrachtung hufig als kontextgebundene Trger spezifischer kommunikativer Absichten in Erscheinung (hierzu Kern, Gnthner und Stoltenburg). Das hat methodologisch zum einen die Konsequenz, dass linguistische Kategorienbildung auf graduelle Phnomene als Standard- und nicht als Ausnahmefall vorbereitet sein muss. Zum anderen knnen periphere Vertreter linguistischer Kategorien nicht pauschal als stilistisch markierter oder grammatisch weniger wohlgeformt als prototypische Vertreter eingestuft werden, sondern sie mssen ebenso wie letztere als vollwertige funktionstragende Einheiten in der Kommunikation betrachtet werden. Vor dem skizzierten Hintergrund gehen die Beitrge dieses Sammelbands davon aus, dass die grammatische Analyse von Konstruktionen Faktoren wie den on line-Charakter ihrer Produktion und Rezeption (Auer 2000, 2005, 2007), ihre sequenzielle Einbettung, ihren interaktionalen Kontext und Verbindungen zu spezifischen kommunikativen Gattungen (vgl. Gnthner/Knoblauch 1996; Gnthner 2006a sowie Linells 2004 principle of act-activity interdependence) mit bercksichtigen muss, um

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zu einer vollstndigen und schlssigen Beschreibung zu gelangen. So sind wie gerade auch die Beitrge von Meer (zu Talkshows), Spreckels (zu schulischer Interaktion) und Mazeland (zu Arbeitsbesprechungen) veranschaulichen Strategien der Positionierung in der Regel eng mit den jeweiligen Aktivitten und Gattungen im spezifischen Kontext verwoben. Die Bercksichtigung auch peripherer Vertreter der jeweiligen Konstruktionen als vollwertige funktionstragende Einheiten in der Kommunikation zeigt ferner, dass das Postulieren diskreter Kategoriengrenzen der in der Interaktion beobachtbaren funktionalen und strukturellen Vielfalt grammatischer Konstruktionen nur unzureichend Rechnung trgt. Konstruktionen sind stattdessen eher im Sinne von Schegloff/Ochs/Thompson (1996: S. 40) als contingent and concerted accomplishment, symbiotic with the setting of social interaction which is its home base zu betrachten. In diesem Punkt sind die im Sammelband vorliegenden Untersuchungen auch als kritische Auseinandersetzung mit formalen Positionen in der Construction Grammar (vgl. zum Beispiel Kay 2002) zu begreifen, die implizit von der Diskretheit grammatischer Kategorien als Standardfall ausgehen und die dynamische, offene Natur sprachlicher Konstruktionen als Orientierungsmuster mit der Mglichkeit zu berlappungen, Amalgamisierungen und Fragmentarisierungen unterschtzen. Einer der Wege, der in diesem Sammelband angedacht wird, um die Offenheit des Form-Funktions-Kontinuums grammatischer Konstruktionen zu erfassen, ist der ber Familienhnlichkeitsrelationen in einem Netzwerkmodell (vgl. unter anderem Hopper 2001; Heine 1992; Taylor 2002; Croft/Cruse 2004 sowie die Beitrge von Deppermann, Meer, Imo, Gnthner und Bcker in diesem Band). Diesem Ansatz zufolge werden zwischen Konstruktionen, denen verwandte Funktionen in Bezug auf Positionierungsaktivitten gemeinsam sind, trotz partieller struktureller oder semantischer Unterschiede hnlichkeitsrelationen angenommen, die es rechtfertigen, sie als Knoten eines Netzwerks zu diskutieren, das an der Konstitution des funktionalen Grobereichs der Selbst- und Fremdpositionierungen Anteil hat. Konstruktionen der Selbst- und Fremdpositionierung finden sich zwar in den verschiedensten Bereichen der Grammatik (Partikeln, Konnektoren, Adjektive, Phrasen, Teilstze, Stze und grere Diskurseinheiten), bilden aber zusammen hierarchisch geordnete Netzwerke, die durch Familienhnlichkeit und geteilte Merkmale miteinander verbunden sind. Die bis zu diesem Punkt skizzierten Aspekte werden mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung in smtlichen Beitrgen des Bandes thematisiert. Den Beitrgen ist daher gemeinsam, dass sie in den folgenden Punkten von

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einigen Annahmen, Prioritten und Konzeptionen, die die linguistische Forschung der 70er und 80er Jahre dominiert haben, abweichen: An die Stelle eines strukturalistischen Item-and-Process-Modells, dem zufolge morphologische und syntaktische Regeln vom Sprachgebrauch weitgehend unberhrt bleiben, tritt ein an der Gebrauchswirklichkeit orientiertes (usage-based) Modell, das die Struktur und die Bedeutung grammatischer Konstruktionen ihrer Natur nach fr flexibel und dynamisch hlt und im Hinblick auf den alltglichen Sprachgebrauch erklrt; An die Stelle der Postulierung klarer Kategoriengrenzen tritt die Anerkennung der zentralen kommunikativen Bedeutung funktionaler und struktureller bergangsbereiche zwischen verschiedenen Kategorien, die in vielen Fllen auf die Emergenz neuer funktionaler und struktureller Ressourcen in der Interaktion hindeuten; An die Stelle einer Defizitperspektive auf randstndige Gebrauchsweisen einer Konstruktion tritt die Frage nach den empirisch nachweisbaren kommunikativen Funktionen, die durch das Abweichen vom Prototypen ermglicht werden; An die Stelle eines introspektiven Vorgehens auf Basis konstruierter Beispielstze tritt ein primr an der Sprachwirklichkeit orientiertes empirisches Vorgehen, das auf der Basis alltagssprachlicher Daten seien sie nun schriftlich oder mndlich zu Aussagen ber sprachliche Strukturen und ihre Funktionen im Sinne einer Gesprchsgrammatik (Sandig 2000) bzw. Grammatik der kommunikativen Praxis (Gnthner 2007a) zu gelangen versucht. In diesem Sinne sind die Beitrge angeschlossen an aktuelle Debatten der Interaktionalen Linguistik, der Construction Grammar und der Gesprochene-Sprache-Forschung zur Beziehung zwischen sprachlichen Formen und sozialen Handlungen. Sie zeigen, dass Untersuchungsergebnisse, die ausschlielich auf der Basis einer schriftsprachlichen Datengrundlage entstanden sind, durch die Bercksichtigung der gesprochenen Sprache eine nicht nur sinnvolle, sondern auch notwendige Ergnzung erfahren knnen.

Zu den einzelnen Beitrgen: Die Gliederung des Sammelbands in vier Abschnitte spiegelt die verschiedenen Konstruktionsklassen wider, die Gegenstand der vorliegenden Untersuchungen sind. Der erste Abschnitt ist den Formen und Funktionen von Partikeln und Diskursmarkern, sprich kleinen Wrtern im Rahmen von

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Positionierungsaktivitten gewidmet. Er enthlt die Beitrge von Arnulf Deppermann, Wolfgang Imo, Dorothee Meer und Janet Spreckels. (i) Partikeln und Diskursmarker als Ressourcen fr Positionierungsaktivitten Arnulf Deppermann setzt sich in seiner Untersuchung Verstehensdefizit als Antwortverpflichtung mit der Modalpartikel denn in Frageaktivitten auseinander. Die unterschiedlichen Typen von denn-Fragen, die er in der gesprochenen Sprache feststellt, ergeben ein deutlich komplexeres Gesamtbild als das in der Literatur bisher diskutierte. Die Multifunktionalitt der Partikel denn kommt zum Beispiel darin zum Ausdruck, dass sie sowohl epistemische als auch interaktionsorganisatorische Funktionen innehat: Sie drckt einerseits aus, dass eine Frage durch den vorangegangenen Kontext motiviert ist, und andererseits klagt sie die interaktive Verpflichtung des Gegenbers zur Lieferung der erfragten, verstehensnotwendigen Information ein. Frageaktivitten mit denn reprsentieren hier insofern Positionierungsstrategien, als der Adressatin die Position zugeschrieben wird, eine informative Bringschuld gegenber dem Sprecher zu haben. Folglich knnen denn-Fragen als Grammatikalisierungen einer Ausrichtung der Interaktion auf die Erzielung von Intersubjektivitt gesehen werden, die sich darin zeigt, dass SprecherInnen ihre AdressatInnen ganz selbstverstndlich fr ihr Verstehen in die Pflicht nehmen knnen. Auf der Grundlage seiner empirischen Analyse stellt Deppermann abschlieend allgemeinere berlegungen zur Bedeutungsbeschreibung von Modalpartikeln, zu Fragen von Projektion und Interaktion wie auch zu den Notwendigkeiten und Verfahren der Konstruktion von Intersubjektivitt an. Ebenso wie Deppermann setzt sich auch Wolfgang Imo mit kleinen Wrtern auseinander: Er untersucht in seinem Beitrag Konstruktion oder Funktion? Erkenntnisprozessmarker (change-of-state tokens) im Deutschen, wie Interagierende in Argumentations- und Positionierungskontexten mit Hilfe von Erkenntnisprozessmarkern die Beseitigung von Wissensasymmetrien signalisieren. Im Gegensatz zum Englischen wo primr oh als change-of-state token verwendet wird stellt er in den deutschen Daten eine Vielzahl an unterschiedlichen Elementen (wie ach, ach ja, ach so, echt, wirklich, ehrlich etc.) fest, die allesamt zur Signalisierung eines Wechsels des Informationsstandes eingesetzt werden knnen. Wie Modalpartikeln, Antwortpartikeln und Diskursmarker zeichnen sich Imo zufolge auch Erkenntnisprozessmarker dadurch aus, dass sie ein weites Funktions- und Bedeutungsspektrum haben und stark kontextabhngig sind. Durch die Bercksichtigung unterschiedlicher linguistischer Teilebenen (Sequenzstruktur, Funktion, Bedeutung, Prosodie und Semantik) ist es jedoch so

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Imo mglich, auch fr diese anscheinend nur schwer zu klassifizierenden Elemente die Zuordnung zu Konstruktionen vorzunehmen. Zugleich thematisiert Imo das Problem, die Klasse der Partikeln ausgehend von ihren Funktionen weiter zu systematisieren und Hybridisierungen und Amalgamierungen von Partikeln im interaktionalen Gebrauch detaillierter zu beschreiben. Dorothee Meers Beitrag Unscharfe Rnder. Einige kategoriale berlegungen zu Konstruktionen mit dem Diskursmarker ja in konfrontativen Talkshowpassagen ist der dritte Beitrag im ersten Teil dieses Sammelbands. Er konzentriert sich auf Funktionen der Partikel ja in konfrontativen Talkshowpassagen. Besondere Aufmerksamkeit bei der Datenanalyse widmet Meer den genrespezifischen und pragmatischen Funktionen von Konstruktionen mit ja im Vor-Vorfeld gesprochensprachlicher Einheiten. Ihre Analyse verdeutlicht, dass sich ja als Element des Vor-Vorfelds im Hinblick auf Prosodie, Syntax, Semantik und Pragmatik zum Teil deutlich von anderen kleinen Wrtern wie Antwortpartikeln, Modalpartikeln, Gliederungssignalen oder Hrerrckmeldungen unterscheidet und hufig als Diskursmarker gebraucht wird. Zugleich zeigen die Daten Meer zufolge aber auch, dass eine eindeutige Zuordnung von ja zur Kategorie Antwort-/Besttigungspartikel oder Diskursmarker im interaktionalen Kontext nicht immer mglich ist; vielmehr weist ja in vielen Fllen Eigenschaften mehrerer Kategorien gleichzeitig auf. Dieses Changieren zwischen den Kategorien wird in argumentativen Talkshowpassagen funktional genutzt, wie Meer zeigen kann: Ja wird im Vor-Vorfeld hufig dazu verwendet, im Rahmen von Positionierungsaktivitten Vorwrfe oder Widersprche vorzubereiten, wobei die kohsive Funktion der Antwortpartikel ja, aber auch die fortsetzungsoffene Vagheit, die die Grundlage fr die immer wieder beobachtete abtnende Wirkung der Partikel ja bildet, erhalten bleiben. Vor allem im Hinblick auf die konfrontative Ausrichtung tglicher Talkshows, so folgert Meer, ist es somit von entscheidender Bedeutung, den Diskursmarker ja von der Antwort- und Besttigungspartikel ja zu unterscheiden. Am Beispiel von Daten aus schulischen Interaktionen diskutiert Janet Spreckels in ihrem Beitrag ich hab einfach gedacht Stellungnahme und Positionierung durch einfach in Erklrinteraktionen die verschiedenen Funktionen der Modalpartikel einfach. Ihre Analyse zeigt, dass LehrerInnen einfach hufig in Erklrhandlungen verwenden, in denen sie Probleme bei einer Aufgabenerklrung zu relativieren versuchen. Die Partikel einfach erhlt in Erklrprozessen insofern wichtige Funktionen bei der Positionierung der Beteiligten entsprechend der zu diesem Handlungsmuster gehrenden Beteiligungsrollen. Mittels der Partikel positionieren SprecherInnen

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aber nicht nur eine uerung im Interaktionsprozess und in Hinblick auf mgliche im Raum stehende Propositionen, sondern sie beziehen auch selbst Position zu diesem Prozess und zu dessen Gelingen bzw. Misslingen. Diese Positionierungsaktivitten haben insofern nicht nur die Funktion, interaktive Strungen zu bearbeiten, sondern sie sind gleichzeitig auch Ausdruck solcher Strungen. In schulischen Erklrkontexten, so Spreckels, wird erwartet, dass Lehrpersonen die souverne Rolle der erklrenden Person einnehmen; gelingt dies nicht, versuchen die Lehrpersonen, diese Strung sprachlich zu bearbeiten. Wie Spreckels zeigen kann, stellt die Modalpartikel einfach hier eine subtile Ressource dar, mittels derer zum Erklrprozess und zu den ErklradressatInnen Stellung bezogen werden kann. (ii) Elliptische Konstruktionen als Ressourcen fr Positionierungsaktivitten Im zweiten Teil des Sammelbands stehen einige Konstruktionen im Mittelpunkt, die unter traditionellen und normgrammatischen Gesichtspunkten Ellipsencharakteristika haben. Er umfasst die Beitrge von Susanne Gnthner und Harrie Mazeland. Gegenstand von Susanne Gnthners Untersuchung Adjektiv + dassSatz-Konstruktionen als kommunikative Ressourcen der Positionierung sind zweiteilige Konstruktionen, die aus einem dass-Satz als B-Teil und einem bergeordneten evaluativen Adjektiv als A-Teil bestehen (zum Beispiel irre dass du dich jetzt grad meldest). Diese Konstruktion, die an eine Bezugshandlung anschliet, wird von Interagierenden primr in informellen Kontexten zum Ausdruck ihres Standpunktes verwendet. Gnthner argumentiert gegen eine elliptische Interpretation dieser Konstruktion, da mgliche Vollformen meist lngere Diskurssequenzen einleiten, whrend die Adjektiv + dass-Satz-Konstruktion primr eine resmierende Kommentarfunktion hat, die das aktuelle Gesprchsthema abschliet. Darber hinaus hat die Adjektiv + dass-Satz-Konstruktion ein exklamatives Potential, ber das die vermeintliche Vollform nicht verfgt. Die vorliegende Kombination von Adjektiv und Komplementsatz reprsentiert so Gnthner eine sedimentierte Struktur, die als symbolische Einheit einen Teil des sprachlichen Wissenshaushalts der Interagierenden darstellt. In einem Netzwerk verwandter, aber funktional unterschiedlicher Konstruktionen stellt die Adjektiv + dass-Satz-Konstruktion insofern eine alltagsgrammatische Ressource fr Positionierungsaktivitten in informellen Gesprchskontexten dar. Harrie Mazelands Studie Positionsexpansionen: Die interaktive Konstruktion von Stellungnahme-Erweiterungen in Arbeitsbesprechungen stellt die zweite Untersuchung in diesem Abschnitt des Sammelbands dar. Sie widmet sich mit den Mitteln der Konversationsanalyse einigen spezifischen

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Susanne Gnthner und Jrg Bcker

Positionierungsstrategien im Niederlndischen. Mazeland beschreibt Positionsexpansionen als spezifische Verfahren der inhaltlichen Progression in der Interaktion: Ein Sprecher schliet sich dem Standpunkt des vorherigen Sprechers an, indem er diesen inhaltlich weiterfhrt. Dabei wird der weiterfhrende Beitrag so konstruiert und platziert, dass er in den vorhergehenden Beitrag inkorporiert ist, sprich nicht die sequenziell vorgesehene nchste Position ausfllt, sondern sich in der vorhergehenden sequenziellen Position einnistet. Wie Mazeland zeigen kann, weisen Positionsexpansionen im Niederlndischen spezifische Konstruktionsmerkmale (zum Beispiel ein initiales en und und einen syntaktisch parasitren Bezug auf die Vorgngeruerung) auf und werden unmittelbar nach dem vorhergehenden Redebeitrag realisiert. Ein Vergleich der Positionsexpansion mit anderen Verfahren der Signalisierung von bereinstimmung verdeutlicht darber hinaus, wie die spezifische Gestaltung einer Folgehandlung jeweils auch spezifische lokale Formen sozialer Organisation herstellt (Allianzbildung, Etablierung des Gruppenwortfhrers, etc.). Mazeland argumentiert, dass aus einer interaktionalen Perspektive Konstruktionsformate nicht als isolierte, aus dem Kontext losgelste Formen beschrieben werden knnen. In Anbetracht der sequenziellen Organisation von Positionierungskonstruktionen pldiert er daher dafr, Konstruktionen als kontextuell dimensionierte Gestalten zu untersuchen. (iii) Formelhafte Verfestigungen zwischen der Wort- und der Satzebene als Ressourcen fr Positionierungsaktivitten Whrend in den beiden vorhergehenden Abschnitten des Sammelbands wortfrmige (Abschnitt i) und satzfrmige Einheiten (Abschnitt ii) Untersuchungsgegenstand waren, setzen sich die Beitrge von Jrg Bcker und Benjamin Stoltenburg im dritten Abschnitt mit Konstruktionen auseinander, die hinsichtlich ihrer morpho-syntaktischen Komplexitt zwischen der Wort- und der Satzebene liegen. Zu diesen Konstruktionen zhlen Quotativ-Konstruktionen, wie sie in Jrg Bckers Beitrag Quotativ-Konstruktionen mit Motto als Ressourcen fr Selbst- und Fremdpositionierungen untersucht werden. Bcker konzentriert sich dabei vor allem auf ein Muster aus der Gruppe der Konstruktionen mit dem Substantiv Motto, das typisch fr den informellen mndlichen Sprachgebrauch ist. Diese Konstruktion zeichnet sich durch morphologische, syntaktische und semantische Eigenschaften aus, die ihren flexiblen Gebrauch in Kontexten begnstigen, in denen es um die anschaulich bewertende Beschreibung und Positionierung von Personen, Personengruppen oder Institutionen geht. Hier findet die Konstruktion Bcker zufolge

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Anwendung als gesprchsrhetorisches Mittel szenischer Elaboration im Rahmen von Positionierungsaktivitten: Mittels ggf. spontan aus den lokalen Bedrfnissen der Interaktion heraus gebildeter typisierender Zitate knnen Figuren sowohl der erzhlten Welt als auch der Erzhlwelt besonders anschaulich als sympathisch, befremdlich, widersprchlich usw. positioniert werden. Neben den verschiedenen Motto-Konstruktionen gibt es weitere verwandte, mehr oder minder weit grammatikalisierte und lexikalisierte prpositionale Quotativ-Konstruktionen, mit denen ein Bezug zu objektsprachlichen Syntagmen hergestellt werden kann. Zu diesen Konstruktionen zhlen unter anderem Fgungen mit den Nomen Prinzip, Sinn, Art und Richtung. Wie Bcker zeigt, kann der Gruppe der Motto-Konstruktionen jedoch insofern ein Sonderstatus zugebilligt werden, als sie als Gesamtgruppe den breitesten Form- und Funktionsbereich abdeckt. Den zweiten Beitrag dieses Abschnitts des Sammelbands bildet der Beitrag Was wir sagen, wenn wir es ehrlich sagen. uerungskommentierende Formeln bei Stellungnahmen am Beispiel von ehrlich gesagt, in dem sich Benjamin Stoltenburg mit der Markierung subjektiver Positionierungen mittels der Konstruktion ehrlich gesagt befasst. In einem einleitenden berblick verdeutlicht Stoltenburg die klassifikatorischen Probleme, die sich der Rhetorik, der Grammatik, der Phraseologie, der Griceschen ImplikaturenTheorie, der Sprechaktheorie und der Untersuchung von Hflichkeit hinsichtlich mglicher Beschreibungen von ehrlich gesagt stellen. Anhand von Daten aus der Reality-Soap Big Brother arbeitet er dann heraus, dass der Funktionsreichtum von Konstruktionen wie ehrlich gesagt in konkreten Interaktionssituationen weit ber die Gebrauchskontexte hinausgeht, die von traditionellen Untersuchungen auf der Basis des Beispielsatzverfahrens ermittelt werden. So tritt ehrlich gesagt hufig in Zusammenhang mit Stellungnahmen auf, die entweder ein negatives Urteil oder einen Widerspruch bergen. Stoltenburg argumentiert, dass die Rekurrenz und Formelhaftigkeit der Konstruktion ein Indiz dafr ist, dass sie als Problemlsestrategie vom kommunikativen Haushalt einer Gesellschaft bereitgestellt wird, um interaktionsrelevante Konfliktherde zu entschrfen. Allen Vorkommen von ehrlich gesagt in seinen Daten ist gemeinsam, dass sie den SprecherInnen erlauben, sich von ihrer uerung und deren Konsequenzen zu distanzieren. Darber hinaus weist die Analyse auf die Schwierigkeit einer ganzheitlichen Beschreibung dieser Formel hin, was nach Stoltenburgs Meinung u. a. daran liegt, dass der Beschreibungsapparat der Sprachwissenschaft sich erst mhsam interaktionalen Fragestellungen anpassen muss.

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Susanne Gnthner und Jrg Bcker

(iv) Standardferne Konstruktionen als Ressourcen fr Positionierungsaktivitten Der letzte Abschnitt dieses Sammelbands ist Friederike Kerns Untersuchung einer standardfernen Konstruktion aus dem Trkendeutschen, einer ethnolektalen Variett des Deutschen, gewidmet. Auf der Basis von Interaktionen zwischen Jugendlichen analysiert Kern eine im Trkendeutschen typische Konstruktion zum Ausdruck eines semantischen Kontrastes, die sowohl zur Selbst- als auch zur Fremdpositionierung eingesetzt wird. Diese Kontrast-Konstruktion zeichnet sich durch konstruktionsinhrente syntaktische und prosodische Charakteristika aus, die sie Kern zufolge von vergleichbaren standardnahen Kontrast-Konstruktionen unterscheiden. So werden die fr entsprechende Kontrast-Konstruktionen typischen lexiko-semantischen Adversativitts-Marker in der trkendeutschen Kontrast-Konstruktion durch prosodische Verfahren wie einen durchgngigen Rhythmus und gegenlufige nukleare Konturen ersetzt. Darber hinaus lassen sich der trkendeutschen Kontrast-Konstruktion spezifische Funktionen zuordnen: SprecherInnen des Trkendeutschen verwenden diese Konstruktion primr zur Erklrung und Rechtfertigung bei strittigen oder problematischen Sachverhalten, indem sie ein konkretes Beispiel prsentieren, mit dem das Zustandekommen eines ungewhnlichen Ereignisses erklrt oder mittels eines Beispiels die Klage ber das Fehlverhalten einer abwesenden Person legitimiert werden soll. Die strukturelle und funktionale Vielfalt der in diesem Sammelband diskutierten Konstruktionen zeigt, dass das Grammatik-Diskurs-Interface von Konstruktionen im Sinne einer gebrauchsbasierten Gesprchsgrammatik bzw. einer auf der kommunikativen Praxis aufbauenden Grammatikperspektive nur induktiv und ausgehend von authentischen Daten angemessen modelliert werden kann. Die Ressourcen, auf die SprecherInnen zurckgreifen knnen, um ein spezifisches kommunikatives Ziel wie das der Selbstoder Fremdpositionierung zu erreichen, haben sich in der Kommunikation herausgebildet und sollten in der Folge auch dort untersucht werden. Aus diesem Grund gestalten sich die Aufgaben einer realistischen Sprachwissenschaft (Hartmann 1979; Auer 2003; Gnthner 2007a) deutlich schwieriger und komplexer, als einfache taxonomische Form-Funktions-Korrespondenzen auf der Grundlage erfundener, an der Schriftsprache orientierter Beispielstze suggerieren. Nach wie vor und vielleicht sogar mehr denn je besteht sowohl in theoretischer als auch in empirischer Hinsicht viel Forschungsbedarf: Einerseits mssen neue Beschreibungsmglichkeiten fr eine adquate interaktionsorientierte und kontextuelle Sprachbeschreibung

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gefunden werden, und andererseits mssen interaktionslinguistische Anstze in produktiver Auseinandersetzung mit bereits vorhandenen Sprachtheorien an einem theoretischen Rahmen fr eine realistische Sprachwissenschaft arbeiten, der so integrativ wie mglich ist, ohne sich der Gefahr der Indifferenz auszusetzen oder essentielle Methodenpostulate wie das der zentralen Bedeutung einer empirischen Datengrundlage aufzugeben. Als besonders fruchtbar kann sich hier ein Vorgehen wie das der realistischen Sprachwissenschaft erweisen, das analog zum konversationsanalytischen Prinzip order at all points (Sacks 196468/92) strukturelle und/oder semantischfunktionale Devianz nicht einfach als Randstndigkeit oder Markiertheit deutet, sondern ihr in Form der Frage why that now? (Sacks 196468/92) bzw. welcher kommunikative Zweck liegt dem Abweichen vom Prototypen hier nachweislich zugrunde? begegnet. Aus diesem Blickwinkel erweist sich Grammatik in vielen Punkten als ein deutlich heterogeneres und vielschichtigeres Phnomen, als in der Forschung bisher hufig angenommen wurde. Literaturgel, Vilmos, Prinzipien der Grammatik, in: Anja Lohenstein-Reichmann/Oskar Reichmann (Hrsg.), Neue historische Grammatiken. Zum Stand der Grammatikschreibung historischer Sprachstufen des Deutschen und anderer Sprachen, Tbingen 2003, S. 146. gel, Vilmos/Hennig, Mathilde, berlegungen zur Theorie und Praxis des Nhe- und Distanzsprechens, in: Vilmos gel/Mathilde Hennig (Hrsg.), Zugnge zur Grammatik der gesprochenen Sprache, Tbingen 2007, S. 179214. Auer, Peter, On line-Syntax oder: was es bedeuten knnte, die Zeitlichkeit der mndlichen Sprache ernst zu nehmen, in: Sprache und Literatur 85/2000, S. 4356. Auer, Peter, Realistische Sprachwissenschaft, in: Angelika Linke/Hanspeter Ortner/ Paul R. Portmann-Tselikas (Hrsg.), Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprachlichen Praxis, Tbingen 2003, S. 177188. Auer, Peter, Projection in interaction and projection in grammar, in: Text 25/2005, 1, S. 736. Auer, Peter, Construction Grammar meets Conversation. Einige berlegungen am Beispiel von so-Konstruktionen, in: Susanne Gnthner/Wolfgang Imo (Hrsg.), Konstruktionen in der Interaktion, Berlin, New York 2006, S. 291315. Auer, Peter, Syntax als Prozess, in: Heiko Hausendorf (Hrsg.), Gesprch als Prozess. Linguistische Aspekte der Zeitlichkeit verbaler Interaktion, Tbingen 2007, S. 95142. Auer, Peter/Gnthner, Susanne, Die Entstehung von Diskursmarkern im Deutschen ein Fall von Grammatikalisierung?, in: Thorsten Leuschner/Tanja Mortelmans (Hrsg.), Grammatikalisierung im Deutschen, Berlin 2005, S. 335362. Bamberg, Michael, Positioning with Davie Hogan Stories, Tellings, and Identities, in: Colette Daiute/Cynthia Lightfoot (Hrsg.), Narrative Analysis. Studying the Development of Individuals in Society, London 2004, S. 135157.

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(i) Partikeln und Diskursmarker als Ressourcen fr Positionierungsaktivitten

Verstehensdefizit als Antwortverpflichtung: Interaktionale Eigenschaften der Modalpartikel denn in FragenArnulf Deppermann1. Einleitung Wenn wir Sprache allgemein und grammatische Konstruktionen im Besonderen institutionentheoretisch analysieren, knnen wir davon ausgehen, dass sich fr rekurrente kommunikative Aufgaben und Probleme im Laufe der Sprachgeschichte sedimentierte Lsungen ausgebildet haben, die ausdrucksseitig mehr oder weniger fixiert sind (vgl. Gnthner 2006; Feilke 1994 und 1996). Eine Klasse solcher rekurrenter Aufgaben fr GesprchsteilnehmerInnen besteht darin, dass sie anzeigen mssen, wie sie einander verstehen. Diese Aufgabe der Verstehensdokumentation (Deppermann/ Schmitt i. Dr.) betrifft unterschiedliche, regelmig in Gesprchen auftretende Verstehenskonstellationen: Zu signalisieren ist z. B. bereits erreichtes, nicht erreichtes, revidiertes, unsicheres oder den eigenen Intentionen nicht entsprechendes Verstehen. Die hier vorgelegte Untersuchung zur Verwendung von denn in Gesprchen steht im Kontext der Erforschung solcher Verfahren der Dokumentation von Verstehen. Im Deutschen (wie auch in anderen Sprachen) ist das System der Modalpartikeln und Diskursmarker besonders darauf spezialisiert, rekurrente Verstehenskonstellationen zu indizieren (wie z. B. die Unterstellung von geteiltem Wissen und Erwartungskongruenz durch ja, eben, halt, gell, natrlich, Erwartungsdiskrepanz bzw. berraschung durch doch, auch, neu gewonnenes bzw. revidiertes Verstndnis durch aha, a(c)hso, Interpretationsunsicherheit durch vielleicht, wohl etc.; vgl. a. Fischer 2007; Fetzer/Fischer 2007). Weil diese grammatikalisierten Verfahren semantisch leichte Kontextualisierungsanweisungen sind, die hochgradig kontextfrei einsetzbar sein mssen und sich andererseits auf hochgradig kontextspezifische Konstellationen und Sachverhalte beziehen (vgl. Franck 1980: S. 254), bereitet die Bestimmung ihrer Funktion hufig groe Schwierigkeiten. Dieser Beitrag widmet sich einer spezifischen Modalpartikel, dem denn in Fragen. Es wird die These vertreten, dass denn eine epistemische und eine interaktionsorganisatorische Funktion hat: Mit denn wird angezeigt, dass eine Frage durch den vorangehenden interaktiven Kontext motiviert ist und

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Arnulf Deppermann

dass aus diesem Kontext fr die Adressatin die Verpflichtung erwchst, dem Sprecher die erfragte, verstehensnotwendige Information zu liefern.1 Denn ist also ein rckverweisender Index, der vorverweisende, projektive Eigenschaften hat. Es verstrkt die konditionelle Relevanz fr das Anschlusshandeln der Partnerin durch die Kontextualisierung der Legitimation, dass ein als gemeinsam unterstelltes Wissen ber die Relevanzen und die Beteiligungspflichten der Partnerin in Bezug auf ein im bisherigen Interaktionsverlauf initiiertes bzw. salient gewordenes joint project (i. S. von Clark 1996) bestehe. Denn ist damit, wie in diesem Band auch fr einfach (Spreckels), ehrlich gesagt (Stoltenburg) und verschiedene Erkenntnisprozessmarker (Imo) gezeigt wird, ein Verfahren zur Anzeige einer epistemischen Haltung (epistemic stance; vgl. Chafe/Nichols 1986), mit dem zugleich Sprecher und Adressatin positioniert werden. Diese Thesen ber die allgemeine Funktion von denn sollen dadurch belegt werden, dass gezeigt wird, dass so eine einheitliche Motivation fr denn in Fragen erkennbar wird, obwohl mit denn-Fragen eine zunchst sehr heterogen wirkende Vielfalt von Aktivitten vollzogen werden kann. Dazu wird auf ein erheblich diversifizierteres Korpus zurckgegriffen als in bisher vorliegenden Untersuchungen (Abschn. 1). Die allgemeinen rck- und vorverweisenden sequenzstrukturellen Eigenschaften von denn werden zunchst anhand einer ausgedehnten Beispielanalyse rekonstruiert (Abschn. 2). Die These zur Funktion von denn wird danach weiter zu belegen versucht, indem zum einen gezeigt wird, wie die generelle Funktion von denn in verschiedenen Verwendungskontexten systematisch kontextsensitiv spezifiziert wird (Abschn. 3). Zum anderen wird gezeigt, dass denn-Fragen prferenzstrukturelle Eigenschaften haben, die durch die allgemeine Funktion von denn zu erklren sind (Abschn. 4), und dass diese Funktion auch strategisch genutzt werden kann (Abschn. 5). Abschlieend werden einige konkludierende berlegungen zum Verhltnis unterschiedlicher Bedeutungsquellen bei der lokalen Interpretation und zum Verhltnis zwischen Handlungsprojektion und Verstehensnotwendigkeiten entwickelt (Abschn. 6).

1

In diesem Text wird in allgemeinen Aussagen fr den Produzenten von denn-Fragen die mnnliche Form, fr die Adressatin die weibliche benutzt. Davon ausgenommen sind Fallanalysen, in denen sich das grammatische Genus nach dem biologischen der aufgenommenen Personen richtet.

Verstehensdefizit als Antwortverpflichtung

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2. Syntax von denn in Fragen Die Modalpartikel denn ist eine der am hufigsten in Fragen vorkommenden Partikeln. Meine Untersuchung beruht auf 238 Vorkommen in unterschiedlichen Gesprchsgattungen wie Arzt-Patient-Gesprchen, Therapiegesprchen, biographischen Interviews und Medien-Interviews, Lehr-LernInteraktionen, Schlichtungs- und Beratungsgesprchen, informeller Freizeitkommunikation unter Jugendlichen sowie politischen Fernsehdiskussionen und Talk-Shows.2 Im Unterschied zum homonymen kausalen bzw. epistemisch begrndenden Konnektor denn kommt denn als Modalpartikel nie uerungsinitial vor. Es steht, abgesehen von indirekten Fragestzen mit Verbletztstellung (s. u.), immer nach dem Verb im Mittelfeld: unmittelbar nach dem Verb, wenn es kein Subjekt gibt: soll denn behauptet werden die klgerin sei gar nicht krank gewesen? (SG3B3A), vor dem Subjekt: wo war denn das? (PF002), unmittelbar nach dem Subjekt: was fhrt sie denn hierher (APG1402.01 magen), nach einem dem Subjekt folgenden Reflexivum: wie stellen sie sich denn diesen kompromiss von dem sie vorhin sprachen vor? (FR010). Gngig sind auch elliptische Konstruktionen des Typs Fragepronomen + denn: was denn?, warum denn (DS003), wo denn (SG201), wer denn? (JuK21A). Denn ist an den grammatischen Modus der Frage gebunden (Thurmair 1993). Es kommt in direkten Fragen vor. Dies knnen auch Exklamationen mit Fragesyntax sein (s. Abschn. 3). Selten ist die Verwendung in indirekten Fragen (n = 5): da hab ich gefragt, ob denn noch h flugkarten (.) zu bekommen sind (BR002A). Der wohl auch mgliche Gebrauch in wenn-Nebensatzkonstruktionen (wenn es denn der Wahrheit dient) ist im Korpus nicht belegt. Im untersuchten Korpus kommt es hauptschlich in Ergnzungsfragen (n = 210),

2

Die Daten stammen aus den Korpora des IDS und sind zum Teil ber den Service des Archiv fr gesprochenes Deutsch verfgbar (z. B. die Korpora SG, OS, GF, BR, FR, DS, PF).

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seltener in Entscheidungsfragen (n = 28) vor, nie aber in Deklarativsatzfragen. Denn wird oft enklitisch realisiert: wie war=s=n (SG3001.01), was is=n das hier fr n kleines loch (AA BI 03). Ein Funktionsunterschied zwischen der reduzierten und der Vollform ist nicht zu erkennen.

3. denn als retrospektiver Konnektor und als Projektor einer Partnerverpflichtung Denn ist eine Modalpartikel, die als Konnektor funktioniert: Denn verknpft den aktuellen Turn mit einem vorangehenden Kontext (siehe u. a. Knig 1977; Dittmann 1980; Franck 1980; Burkhardt 1982; Redder 1990). Tabelle 1 zeigt die unterschiedlichen Kontexte an, auf die sich die untersuchten denn-Fragen rckbeziehen.Hufigkeit (n/N) Bezugskontext Turn der Adressatin: adjazent vorangegangener nicht-adjazent vorangegangener Situational: bzgl. Adressatinnen-Ereignis3 nicht bzgl. Adressatinnen-Ereignis 103 37 15 17 13 6 9 38

Vorangehender Turn des gleichen Sprechers Gleicher Turn des Sprechers: Zitat/Darstellung von Adressaten-Handlungen Selbstzitat/Darstellung eigenen Handelns Darstellung von Handlungen Dritter

Tabelle 1: Retrospektive Bezugskontexte von denn-Fragen

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Adressatinnen-Ereignis wird hier im Sinne von Labov/Fanshel (1977:62) benutzt: Adressatinnen-Ereignisse sind solche, in Bezug auf die der Sprecher der Adressatin die epistemische Autoritt (vgl. Heritage/Raymond 2005) zuschreibt, da es sich um Ereignisse handelt, ber die die Adressatin besser als der Sprecher Bescheid wei (typischerweise aufgrund eigenbiographischer Erfahrung oder fachlicher Kompetenz).

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Die untersuchten Daten zeigen im Vergleich zu bisherigen Darstellungen in der Literatur ein erheblich diversifizierteres Bild hinsichtlich der sequenziellen Rckbezge von denn-Fragen. Whrend in der Literatur nur (oftmals ausgedachte) Flle diskutiert werden, die sich auf den unmittelbar vorangehenden Turn bzw. die vorangehende Handlung der Adressatin oder auf eine situative Relevanz beziehen, finden wir in den Daten noch einige weitere Mglichkeiten des Rckbezugs. Folgende Bezugstypen konnten gefunden werden: a) Ungefhr die Hlfte der denn-Fragen beziehen sich auf vorangehende Turns oder Handlungen der Adressatin der denn-Frage.#1 AA BI 01 scheitern 08 P: (0.4) daran wrde das eigentlich nich scheitern. 09 : na dann woran SCHEItert=s denn dann,

Meistens ist dies der unmittelbar der Frage vorangehende Turn. Es knnen aber auch nicht-adjazente Turns sein, die unterschiedlich weit im Gesprch zurckliegen.#2 AA BI 01 scheidung 11 P: ich lebe zur zeit in scheidung mit meinem mann.= 12 : MDchen. (.) ihr seid doch erst ganz (.) frisch verhEI[ratet ]was? 13 P: [] 14 ich glaube das is das geht mir so- (-) auf=n () (-) 15 ich kann mich auf der arbeit berhaupt nich [konzentrieren-] (-) 16 : [ja:. ] 17 : waRUM lassen=s sich denn scheiden:

In einigen Fllen wird innerhalb des multi-unit-Turns vom Sprecher zunchst ein Turn der Adressatin zitiert bzw. deren Handeln beschrieben, bevor eine denn-Frage folgt.#3 EK0042224 Nacht 01 T: du kennsch weder I:HN, (-) 02 du kennsch ihn NET, (-) 03 warum sag=sche jetzt des isch ne SCHLAFbekanntschaft? 04 ] 05 M: [ja hm] 06 hm des is vielleicht falsch ausgedrckt schlaf

b) Eine zweite Art des Rckbezugs ist situational: Hier bezieht sich die denn-Frage auf ein Ereignis bzw. auf einen Sachverhalt, bei dem der Produzent der Frage davon ausgeht, dass es fr beide Beteiligte gewusstermaen

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salient und gegenwrtig relevant ist. Diese Art des situationalen Bezugs kann sich entweder auf ein Erlebnis bzw. eine Handlung des Adressaten oder auf ein von den Interaktionsbeteiligten unabhngiges Ereignis beziehen, von dem aber der Adressat im Gegensatz zum Frageproduzenten genauere Kenntnis hat.#4 AA BI 01 (Gesprchsbeginn) 01 : so na:? (0.2) was fhrt sie denn hierher? #5 AA BI 03 14 : was is n das hier fr n kleines LOCH?

c) In der Literatur m.W. nicht beschrieben ist eine dritte Art des Rckbezugs: der Rckbezug auf einen Turn des Frageproduzenten selbst. Bemerkenswert viele denn-Fragen werden innerhalb eines multi-unit-Turns produziert, wobei sie sich auf vorangehende Einheiten des komplexen Turns selbst beziehen. Ihr Antezedent kann in einer Beschreibung einer Handlung oder in einem Zitat einer uerung des Sprechers selbst, der Adressatin (siehe #3) oder einer dritten Person bestehen (siehe #6) oder in der Schilderung eines Sachverhalts. Darber hinaus gibt es auch einige Flle, in denen sich die denn-Frage auf einen frheren Turn des Sprechers selbst bezieht. Solche denn-Fragen innerhalb von multi-unit Turns sind meistens nicht adressiert. Sie werden als rhetorische Fragen in Argumentationen oder Erzhlungen eingebaut, wo sie Bewertungen und Emotionen ausdrcken oder der Re-Inszenierung von kognitiven Prozessen dienen. Ein Beispiel dafr ist der folgende Ausschnitt aus einem biographischen Interview zur Wende:#6 BR006A Skandale Hm aber da hatte ooch noch niemand Vorstellungen h, was draus werden knnte. Es war noch so, es kamen immer mehr Schweinereien raus, die die Umwelt betrafen oder irgendwelche Korruptionen oder irgendwelche andern Skandale ja, und da hab ich immer noch gedacht, na wo soll denn das noch hinfhrn, wenn Ich hab nich damit gerechnet, dass die sofort irgendwie demnchst abtreten. Irgendwie ne Forderung, die ich denn mal mit unterschrieben habe, dass die SED ihren Vormachtsanspruch aufgibt und sich sozusagen einreiht unter die andern Parteien und und dass dass die das Neue Forum und Demokratischer Aufbruch, dass das zugelassen werden sollte, dacht ich na ja, vielleicht knn die was erreichen.

Im Folgenden wird der retrospektive Bezugspunkt von denn-Fragen als retrospektiver Kontext bezeichnet, sofern nicht auf spezifische Flle (wie einen vorangehenden Partnerturn, ein Selbstzitat etc.) Bezug genommen wird. Die grundlegenden Eigenschaften des Rckbezugs von denn-Fragen

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werden zunchst anhand einer Fallanalyse dargelegt. Anschlieend werden anhand weiterer Flle Varianten des Gebrauchs von denn herausgearbeitet. Ausschnitt #7 gibt den Beginn eines Arzt-Patient-Gesprchs wieder. Die Patientin klagt, dass sie bereits seit 14 Tagen an einer Erkltung leide. Der Arzt geht nicht direkt auf den Bericht ihrer erfolglosen Eigentherapieversuche (hustentee getrunken, Z. 10) ein, sondern refokussiert mit einer denn-Frage nach weiteren Symptomen die Beschwerdenanamnese.#7 IA MR 01 P: 02 03 A: 04 05 P: 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 A: P: A: P: A: A: P: A: P: P: 01 (Gesprchsbeginn) gutn tag doktor ich bin nmlich so erK:Ltet; (-) ich [wird ] de erKLtung gar net los. [hmja,] a:ch du LIEber gott; () hab se schon vierzehn TAche hab [ich=s] schon hinner mir; (0.8) [hmja;] QULT sie schon richtig- (.) JA ja; (1.2) mhmmhm; (0.8) dann hab ich immer schon HUStentee getrunken und Alle[s abber] (-) [mhm, ] was haben sie denn auer hUsten NOCH fr beschwErden- (1.0) och gott soweit= =KOPFschmerzen oder [SCHNUPfen oder- ] [mhm; mh-] [ja das is das is ] [() ] schnupfen eigentlich !GAR! nicht- (.) also nurmehr- (0.3)

Die denn-Frage (was haben sie denn auer husten noch fr beschwerden, Z. 12) erfragt nicht, ob die Patientin weitere Symptome hat, sondern sie prsupponiert dies. Mit denn rahmt der Arzt die Frage als Schlussfolgerung aus dem vorangehenden Turn der Patientin.4 Denn fungiert hier also als konklusiver Konnektor, die W-Frage fordert zu einer weiteren Przisierung des aus dem Partnerturn gefolgerten Sachverhalts auf. Denn wird hier argumentativ eingesetzt: Die Frage wird als Aktivitt gerahmt, die durch den Vorgngerturn, auf den denn anaphorisch verweist, motiviert und legiti4 So auch GRAMMIS, Systematische Grammatik: Nicht vorfeldfhige Adverbkonnektoren vom Typ der Abtnungspartikeln, 2004, http://hypermedia.ids-mannheim.de/pls/public/sysgram. ansicht?v_id=2701 (Stand: 24.5.2008), dessen Bestimmung von denn als Indikator einer Konklusion allerdings nicht fr alle Flle gilt: Das Begrndungs-denn macht aus seinem internen Konnekt eine Begrndung, whrend das konklusive denn aus seinem internen Konnekt eine Konklusion aus dem externen Konnekt macht, deren Gltigkeit z. B. in einem Entscheidungsfragesatz als internem Konnekt erfragt wird und in einem Ergnzungsfragesatz als Prsupposition induziert wird.

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miert ist. Die Legitimation besteht dabei darin, dass sich die Frage darauf richtet, dass die Adressatin einen Sachverhalt przisieren soll, der aus ihren vorangegangenen Turns zu inferieren ist und dessen Bekanntheit und Explizierbarkeit vom Fragenden ihr offenbar aufgrund ihres Turns als zu wissen zugeschrieben wird. Der Adressatin der denn-Frage wird also Przisierungswissen unterstellt, das mit der denn-Frage erfragt wird. Denn ist somit ein Verfahren der Verstehensdokumentation: Der Fragende zeigt an, dass er aufgrund des Partnerturns davon ausgeht, dass die Partnerin ber den von ihr zuvor angesprochenen Sachverhalt mehr wei, als sie bis dato zum Ausdruck gebracht hat. Dies scheint ganz generell die retrospektive diagnostische Funktion von denn zu sein, im Unterschied zu anderen in Fragen verwendeten Modalpartikeln (wie etwa, wohl, vielleicht): Der Fragende geht bei denn-Fragen auf jeden Fall davon aus, dass die Befragte eine Antwort geben kann (vgl. Knig 1977; Thurmair 1989 und 1991). Wie gelangt der Produzent der denn-Frage zur berzeugung, dass die Produzentin des Turns, auf den sich die denn-Frage zurckbezieht, ber weiteres einschlgiges Wissen verfgt? Im Ausschnitt #7 beruht die Unterstellung, dass die Patientin weitere Symptome zu berichten hat, offenbar darauf, dass die Patientin ber eine schwere Belastung durch die Erkltung geklagt hat (bin ja so erkltet, Z. 01), bisher aber nur ein Symptom indirekt benannt hatte (hustentee getrunken, Z. 10). Mit der prsupponierenden Nachfrage zeigt der Arzt nun an, dass er davon ausgeht, dass bei einer derart hochgestuften Klage auch mehr als nur ein Symptom vorliegen muss, um diese Klage zu rechtfertigen. Diese interaktionsgeschichtliche Motivation der Unterstellung greift auf das geteilte Wissen ber das abstrakte Konzept Erkltung zurck, welches beinhaltet, dass eine Erkltung verschiedene landlufig bekannte Symptome beinhalten kann. Zwei davon erfragt der Arzt dann auch als mgliche Kandidaten: kopfschmerzen oder schnupfen (Z. 14). Fr den Arzt folgt die Frage nach weiteren Symptomen (auer husten, Z. 12) aus dem frame Erkltung und aus der Implikationslogik seiner Stellung in einer kategorialen Abstraktionshierarchie, die beinhaltet, dass eine Erkltung meist mehrere unterschiedliche Symptome hat. Angesichts der Nennung von bisher nur einem Symptom entsteht kommunikativ eine Przisierungserwartung: Der Arzt zeigt mit der dennFrage an, dass angesichts der Klage der Patientin weitere Symptome zu erwarten sind und dass sie selbst wei, dass sie mit ihren bisherigen Schilderungen Anlass zu dieser Erwartung gegeben hat. Insofern muss hier die obige Behauptung, die denn-Frage beziehe sich auf den Vorgngerturn der Adressatin, ergnzt werden: Wohl ist dieser der Auslser und direkter Antezedent, auf den die denn-Frage zurckverweist, doch legitimiert sich die in

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der denn-Frage enthaltene Prsupposition erst durch den Rckbezug auf die vorhergehenden Turns der Patientin, vor allem durch ihren Initialturn, mit dem sie die Beschwerdenschilderung erffnete. Wir sehen hier also, dass es im strengen Sinne nicht ein einziges Antezedens gibt, sondern dass sich die denn-Frage gerade aus der Relation zwischen dem Antezedens im Nahkontext und weiteren Handlungen der Adressatin motiviert. Die Verwendung von denn indiziert also die konversationelle Buchfhrung der InteraktionsteilnehmerInnen (vgl. Brandom 2000; 2001): Der Fragende zeigt an, dass er nun einen Aspekt erfragt, hinsichtlich dessen die Adressatin nach dem, was sie bisher gesagt hat, auskunftsfhig sein msste. Denn ist also nicht nur ein Konnektor, sondern auch eine epistemische und normative Partikel. Denn ist ein Marker von epistemic stance (vgl. Chafe/ Nichols 1986), es zeigt ein Verstndnis der konversationellen Implikationen von Handlungen bzw. propositionalen Einstellungen (der Partnerin) an. Es indiziert Annahmen des Sprechers ber den (obligatorischen bzw. wahrscheinlichen) Zusammenhang zwischen geschilderten Sachverhalten bzw. Handlungen der Partnerin und den Relevanzen, die aus ihnen sowohl sachlich als auch fr die Interaktion folgen. Darber hinaus markiert denn unterstellten common ground, das heit verstndigungsrelevante Zuschreibungen. Denn zeigt nicht nur eine Konklusion ber Wissen der Adressatin an, es unterstellt ihre Geteiltheit. Genereller: Denn-Fragen sind ein Verfahren, um anzuzeigen, welche in der Frage formulierte Dimension von Sinngehalten (Mitbedeutungen, Implikat(ur)en, Prsuppositionen etc.) als latenter Teil der kondensierten Bedeutung eines Turn mitverstanden und als Teil seiner kommunikativ relevanten Bedeutung unterstellt wird.5 Der Sprecher macht mit der denn-Frage deutlich, dass durch den bisherigen Interaktionsverlauf und die in ihm initiierten joint projects bestimmte Begrndungs-, Explikations-, Referenzklrungs-, Detaillierungs- und andere Verpflichtungen entstanden sind, die die Adressatin nach Auffassung des Sprechers im retrospektiven Kontext eingegangen ist und die sie nun einlsen muss, um die Gltigkeit ihres Turns zu erweisen.6 Die retrospektiv orientierte Unterstellung von Geteiltheit hat eine projektive Implikation fr das Anschlusshan5 Vergleiche dazu allgemein Fetzer/Fischer (2007: S. 113); Fischer (2007: S. 4766); Burkhardt (1982: S. 85112), der diese Funktion sprechakttheoretisch als Vollzug prsuppositionaler Akte bezeichnet und Abtnungspartikeln ganz generell zuschreibt. Diese Zuspitzung ist eine Konsequenz aus den zwei bereits von Thurmair festgestellten grundlegenden allg. Eigenschaften von denn-Fragen: 1. denn indiziert, dass die Frage lokal kohrent ist, dass sie an einen vorangehenden Turn bzw. eine intersubjektiv saliente Relevanz der Situation anknpft, 2. denn zeigt an, dass der Sprecher davon ausgeht, dass der Befragte die Antwort kennt. Da sich denn aber nicht auf eigens vorangegangenes Handeln, sondern, spezifischer, stets auf vorgngige Partneraktivitten bezieht (Handlungen, thematische Gehalte, Inferen-

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deln: Sie unterfttert die konditionelle Relevanz der denn-Frage, da die Adressatin als Person positioniert wird, deren gemeinsam gewusste Verpflichtung es ist, die noch ausstehende Information, die erfragt wird, zu liefern. Denn ist damit ein Verfahren der Positionierung (vgl. Lucius-Hoene/ Deppermann 2004; Bamberg/Georgakopoulou 2008): Aufgrund der gleichartigen epistemischen Positionierung von Sprecher und Adressatin wird dieser die normative Position zugeschrieben, eine Bringschuld gegenber dem Sprecher zu haben. Denn ist eine autoargumentative Partikel:7 Der Fragende zeigt an, dass er nicht aus eigenem, kontingenten Interesse etwas erfragt, sondern dass es sich um einen Aspekt handelt, der auch fr die Adressatin selbstverstndlich fr ein hinreichendes Verstndnis des retrospektiven Kontexts ntig ist. Die Frage wird damit als nicht vom Fragesteller zu rechtfertigen, sondern durch den retrospektiven Kontext motiviert gerahmt. In interaktionszeitlicher Hinsicht ist denn also ein Verfahren, Vergangenes zukunftsrelevant, d. h. projektiv implikativ fr den folgenden Anschluss zu machen. Denn-Fragen sind Nachfragen, die sich auf Aspekte eines bereits begonnenen bzw. den InteraktantInnen bekanntermaen anstehenden joint project beziehen, die bislang nicht bzw. nicht hinreichend behandelt wurden. Denn-Fragen sind Verstehensdokumentationen, die anzeigen, dass der Sprecher erkannt hat, dass eine bestimmte sachliche, semantische oder pragmatische Dimensionen von Sinngehalten relevant fr das Verstndnis der Partnerin (d. h. ihres Handelns, Anliegens, Standpunkts etc.) ist, die jedoch noch nicht gengend instanziiert ist, um aus Sicht des Sprechers dafr zu sorgen, dass er sie hinreichend verstehen kann (vgl. Redder 1990: S. 35 ff.). Das Verhltnis zwischen dem fr das Verstndnis Fehlenden und demjenigen, was als bereits verstanden dargestellt wird, hngt vom syntaktischen Fragetyp ab: a) Ergnzungs-denn-Fragen zeigen an, welche Wissensdimension fr das bessere Verstndnis relevant ist, nicht aber, ob etwas bzw. was hinsichtlich dieser Dimension bereits verstanden wurde (s. oben #15 und #7). Die konkreten Sinngehalte, die in denn-Fragen als weiter bestimmungsbedrftig angesprochen werden, sind natrlich vollkommen kontext- und interaktionssequenzabhngig. Es lassen sich jedoch einige rekurrente semantizen), zeigt es dann, dass der Partner mehr zu dem sagen kann und auch sollte, was er zuvor in die Interaktion eingebracht hat. Vergleiche dazu Thurmair (1991: S. 377387). Zum Argumentieren in Interaktionen siehe bspw. Deppermann (2003: S. 1026) und Mazeland, in diesem Band.

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sche und pragmatische Defizitkonstellationen identifizieren, die durch denn angezeigt werden: Mangelnde referenzielle Spezifikation oder mangelnde Genauigkeit der Beschreibung: Mit der denn-Frage wird angezeigt, dass die Antezedentien zu vage, zu abstrakt oder nur negativ bestimmt sind bzw. dass relevante Spezifikationen (z. B. von Ort, Zeit, Akteur, Instrument etc.) fehlen. Mangelnde Kohrenz zwischen (Darstellungen von) Sachverhalten bzw. zwischen Handlungen, die inkohrent, widersprchlich, unmotiviert etc. erscheinen. Mangelnde Voraussetzung, Begrndung bzw. Rechtfertigung fr eine Handlung bzw. Darstellung (s. a. Bublitz 1978: S. 58 ff.; Franck 1980: S. 223 f.; Zifonun et al. 1997: S. 1225). b) Entscheidungs-denn-Fragen bieten dagegen die hypothetische Instanziierung einer Wissensdimension zur Ratifikation an, sie erfragen also deren Wahrheit aus Sicht der Partnerin. Die Instanziierung bezieht sich auf eine Voraussetzung des retrospektiven Kontexts bzw. auf etwas, dessen Vorliegen aus ihm geschlussfolgert werden kann (vgl. Franck 1980: S. 224 und GRAMMIS 2004). Mit Alternativfragen wird keine neue Information als solche erfragt, sondern die Beurteilung der Wahrheit der Information, die in der Frage selbst als deren propositionaler Gehalt formuliert wird.#8 AA BI 01 124 : ich meine w:enn ich sie jetzt KRANKschreibe. (-) tu ich ihnen denn=n geFALLN damit?

Alternativ- wie Ergnzungsfragen zeigen oftmals, dass der Fragende eine Schlussfolgerung aus dem Sachverhalt bzw. der Aktivitt gezogen hat, auf die sich die denn-Frage bezieht. Sie indizieren somit komplexe Konstellationen dessen, was bereits verstanden wurde, was inferiert wurde, was noch nicht verstanden wurde und noch verstanden werden soll und was als geteiltes Wissen ber die interaktiven Handlungsverpflichtungen des Partners im Rahmen der Durchfhrung eines joint projects angesehen wird.

4. Handlungstypen von denn-Fragen und ihre sequenziellen Implikationen Denn-Fragen unterscheiden sich darin, wie der retrospektive Kontext bewertet wird. Dies kann sowohl das Bezugsereignis selbst als auch die Tatsache, dass (aus Sicht des Sprechers) die mit der denn-Frage erfragte Information

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fehlt, betreffen. Unterschiedliche denn-Fragen liegen daher auf einem normativen Kontinuum der Bewertung: Sie reichen von schwerer Kritik ber Reparaturinitiation bis zur Einladung an die Partnerin, aus ihrer Sicht Relevantes weiter auszufhren (vgl. Redder 1990: S. 65 ff.). Welche Art von Handlung mit der denn-Frage ausgefhrt wird, hngt von der ausdrucksseitigen Gestaltung der Frage ab und vor allem davon, ob und wie sehr der retrospektive Kontext vom Sprecher nach intersubjektiv verfgbaren Mastben als defizitr bewertet wird. Die Position einer denn-Frage auf dem normativen Kontinuum hat sequenzielle Implikationen: Je nach Handlungstyp der Frage werden andere Anschlusshandlungen der Partnerin projiziert. a) Am negativen Ende des normativen Kontinuums liegen Flle, in denen der retrospektive Kontext als moralisch zuzuschreibendes Versagen bewertet wird. Die denn-Frage wird hier zum Vorwurf (vgl. Gnthner 2000, Kap. 2.3.2.4). Im folgenden Ausschnitt zitiert die Tochter eine abwertende Bezeichnung, die die Mutter fr ihren Freund benutzt hatte:#3 EK0042224, Nacht 01 T: du kennsch weder I:HN, (-) 02 du kennsch ihn NET, (-) 03 warum sag=sche jetzt des isch ne SCHLAFbekanntschaft? 04 ] 05 M: [ja hm] 06 hm des is vielleicht falsch ausgedrckt schlaf

Die formelhafte Konstruktion was soll denn des- indiziert hier zusammen mit dem Abwertungsausdruck schlafbekanntschaft, der auf die Tochter provokativ wirken muss, dass es sich um einen Vorwurf handelt. AdressatInnen reagieren auf Vorwrfe, die gegen sie gerichtet sind, mit Selbstkorrekturen (wie in die Mutter in #3, Z. 06), Rechtfertigungen, Gegenvorwrfen oder Entschuldigungen (vgl. Goffman 1974; Gnthner 2000). Wenn der Vorwurf aufgrund von geteiltem Wissen als evident und nicht durch eine Rechtfertigung oder Erklrung heilbar erscheint, verliert sie interaktional den Charakter einer Frage, die eine Antwort konditionell relevant macht. Sie wird zu einer rhetorischen Frage bzw. zu einer Exklamation, da Sprecher und Hrerin wechselseitig die projizierte Antwort und deren Bewertung kennen (vgl. Redder 1990: S. 73 ff.).8 Bezieht sich der Vorwurf dage8 Allerdings trifft es nicht zu, dass (wie Redder meint) fr die Exklamationsfunktion der intonatorische Halbschluss zwingend sei. Exklamatorische denn-Fragen werden sowohl mit steigender Abschlussintonation (#9) als auch mit schwebender oder fallender Abschlussintonation (#10) produziert. Das gleiche gilt brigens auch fr die Fragefunktion, die sehr hufig mit anderen Einheitenabschlussintonationsverlufen als der stark ansteigenden Frageinton-

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gen auf Nichtanwesende, wird er interaktional zu einer Klage. Ein Beispiel dafr ist #9.#9 MAFD9B 2036.36 armer otto 158 HE: un die hod vun ihrm vun dem soim geld gelebd 159 wenn er owends noch was esse gewolld hod 160 hod=a NISCHDS mehr griggd. 161 M: ja ja. 162 LM: [ah ja.] 163 HE: [om om ] FERNseh:. 164 KR: ja was is=n des fr=n MANN? [() ] 165 IN: [was is=en des fr=n] MANN? (-) 166 frag ich mich [AUCH. ] 167 KU: [ah ja des: en DEBB. ] 168 HE: [des: is=n DEBB hear?]

Die geteilte Bewertung wird hier durch die Wiederholung der Frage (Z. 164 f.) und durch die Explikation der mit ihr kommunizierten Abwertung durch die Rezipientinnen (Z. 167 f.) zum Ausdruck gebracht. Ob sie als Klagen oder als Vorwrfe eingesetzt werden interessant an den rhetorischen denn-Fragen im Korpus ist, dass auf sie stets eine Reaktion erfolgt, obwohl davon ausgegangen werden kann, dass der Produzent die Antwort und vor allem die Bewertung des in der Frage angesprochenen Sachverhalts als evident voraussetzt. Fragen, die offensichtlich als rhetorische produziert wurden, werden, zumindest wenn sie einen Sprecherwechsel projizieren, als negativ bewertende Assertionen behandelt (Koshik 2005), die eine Reaktion relevant machen. Handelt es sich um Vorwrfe, reagiert die kritisierte Adressatin (s. #3, Z. 06). Richten sie sich als Klagen gegen Dritte, erfahren sie entweder Besttigung wie in #9 oder sie werden zum Anlass einer Verhandlung der Bewertung und zur Suche nach Grnden wie im folgenden Fall. Denis (DE), Knut (KN) und Frank (FR) sind auf einer Reise und beobachten Jugendliche ihres Alters.#10 01 02 03 04 05 JuK17 Mongos DE: die kommen ja grad von der SCHUle heim, (.) ham die SAMstags schule? (.) oder was? (-) KN: was sind denn DES fr mongos. (.) FR: vor drei JAHren httste wohl, (.)

ation realisiert wird. Die exklamatorische Interpretation hngt in #8 und #9 ausschlielich von der Semantik ab. Allerdings ist es sicher mglich, dass die Intonation in semantisch und sequenziell weniger eindeutig evaluativen Fllen fr die Vereindeutigung der Funktion der denn-Frage sorgt. Vgl. Redder (1990: S. 73).

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Arnulf Deppermannh, (.) komm HIER, (.) httste momentan AUCH noch schule gehabt.

Knuts Frage was sind denn des fr mongos. (Z. 04) ist offenbar keine Frage nach einem fehlenden Grund fr den von Denis festgestellten Sachverhalt, sondern die pejorative Kategorisierung mongos zeigt an, dass es aus Sicht von Knut eben gerade keinen vernnftigen Grund gibt, warum die Jugendlichen samstags in die Schule gehen. Dass es sich hier um eine Exklamation handelt, die keine Antwort relevant macht, sondern eine geteilte Bewertung und damit Zustimmung projiziert, zeigt auch Franks Reaktion. Er gibt keine Erklrung fr den von Denis festgestellten Sachverhalt, sondern er widerspricht Franks Bewertung mit dem Einwand, dass vor einigen Jahren auch in Deutschland samstags noch Schule war (der Sachverhalt also keineswegs so unsinnig und abnorm ist, wie Knut meint). Auch nicht-adressierte, rhetorische denn-Fragen, auf die keine Reaktion der Gesprchspartnerin erfolgt, da sie im Kontext eines lngeren, noch unabgeschlossenen multi-unit turns (v. a. innerhalb biographischer Erzhlungen, Vortrge, argumentativer Stellungnahmen) produziert werden und die daher keine Antwortgelegenheit projizieren, erfahren eine responsive Behandlung, und zwar durch den Produzenten selbst. Dieser gibt eine Begrndung oder einen erluternden Hintergrund fr die in der rhetorischen Frage implikatierte Antwort und Bewertung. Ein Beispiel aus einem zeitgeschichtlichen Interview zur Wende:#11 BR006A das Ende 01 TR und die haben alle gesagt dass es das ENde is. 02 Und dass mit sozialismus nichts mehr is, 03 und ja hier noch was auf die beine zu stellen ginge deshalb nich mehr, 04 weil keen GELD dafr da is. 05 GM HM. 06 TR und jemanden dafr motivieren, 07 das ginge schon gar nich, 08 wer sollte denn das machen. 09 die es e DE: die war total durch. 10 GM HM. 11 TR die es pe de: die fing gerade an. 12 die hatte aber keine Lust, sich da vor irgend=nen KARren spannen zu lassen und wurde auerdem vom westen bezahlt. 13 ja und wer sollte das denn machen, 14 wer sollte das volk irgendwie berzeugen und h 15 wer sollte das alles bezahlen? 16 es stellte sich ja dann langsam raus,

Verstehensdefizit als Antwortverpflichtung17 18 wie das in den betrieben aussah, dass alles bis zum geht nich mehr RUNtergewirtschaftet war.

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Der Erzhler stellt im Zug seiner Erzhlung hier selbst mehrfach Fragen (Z. 08, 13), die evidentermaen eine negative Antwort projizieren. Jeweils anschlieend (Z. 0912 und 1618) liefert