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1. Einleitung In dieser Arbeit soll den verschiedenen Erzählsträngen des 2004 erschienenen Films Der Maschinist des Regisseurs Brad Anderson, ausgehend von der Archetypenlehre, nachgegangen werden. In der analytischen Psychologie von C. G. Jung (1875-1961) ist der Begriff der Archetypen in Beziehung zum Individuationsprozess zu untersuchten. Dabei sind die theoretischen Begriffe aus der analytischen Psychologie zu klären. Wie sich diese theoretischen Begriffe praktisch auf die Entwicklung des Helden im Film übertragen lassen wird im Fokus dieser Arbeit stehen. Dazu ist es notwendig, auf Jungs Definition des Unbewussten näher einzugehen. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Charakteranalyse von Trevor Reznik, dem Hauptcharakter des Films. Es ist nicht zu übersehen, dass Der Machinist eine Homage auf den russischen Schriftsteller Fjodor M. Dostojewskij (1821 - 1881) ist. Da im Film häufig Anspielungen auf Dostojewskis Werke zu erkennen sind soll bei der 1 Charakteranalyse des Helden die Verarbeitung und Anerkennung der Schuld und Sühne auf deren Individuationsweg untersucht werden. Bezug genommen wird vor allem auf den Archetyp des Schattens, der nach Jung dem Unbewussten entspringt, und eine Hilfsfunktion auf dem Individuationsweg der Helden darstellt, wobei die Auseinandersetzung des Protagonisten mit dem Schatten definiert werden soll, der nach der Lehre von den Archetypen seinen Sitz im kollektiven Unterbewussten hat. Dabei bleibt die Praxis der analytischen Psychologie, die in engem Zusammenhang mit der Jung’schen Archetypenlehre steht, unbeachtet. Die beiden Termini „Unterbewusstes“ und “Unbewusstes“, die von Jung in seinen Schriften nicht durchgängig konsequent angewandt und oft synonym gebraucht werden, sind zu klären, um sie danach auf die im Film vorkommenden Archetypen, besonders dem des Schattens, anwenden zu können. Weiter soll in diesem Zusammenhang das Unbewusste als Medium, hier explizit in der Symbolik des Fisches, untersucht werden. Auch die Traumsymbolik nach C. G. Jung ist in Verbindung mit dem Schlaf ein wichtiges Puzzleteil auf dem Individuationsweg Trevors und darf deshalb in dieser Arbeit nicht unbeachtet bleiben. Nicholas ist Epileptiker, wie Lew Myschkin, die beiden Lieben des Fürsten sind vergleichbar mit Trevors Zuneigung zu Stevie auf 1 der einen und zu Maria auf der anderen Seite. Vgl. dazu: Fjodor Dostojewskij, Der Idiot, Frankfurt am Main 1998. 3

HA Der Maschinist C.G. Jung, HS Im Lauf der Zeit · 12 C. G. Jung, „Zur Phänomenologie des Geistes im Märchen“, in: Archetyp und Unbewußtes, Augsburg 2000. S. 206 - 250, hier

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1. Einleitung

In dieser Arbeit soll den verschiedenen Erzählsträngen des 2004 erschienenen Films Der

Maschinist des Regisseurs Brad Anderson, ausgehend von der Archetypenlehre,

nachgegangen werden. In der analytischen Psychologie von C. G. Jung (1875-1961) ist der

Begriff der Archetypen in Beziehung zum Individuationsprozess zu untersuchten. Dabei sind

die theoretischen Begriffe aus der analytischen Psychologie zu klären. Wie sich diese

theoretischen Begriffe praktisch auf die Entwicklung des Helden im Film übertragen lassen

wird im Fokus dieser Arbeit stehen. Dazu ist es notwendig, auf Jungs Definition des

Unbewussten näher einzugehen. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Charakteranalyse von

Trevor Reznik, dem Hauptcharakter des Films. Es ist nicht zu übersehen, dass Der Machinist

eine Homage auf den russischen Schriftsteller Fjodor M. Dostojewskij (1821 - 1881) ist. Da

im Film häufig Anspielungen auf Dostojewskis Werke zu erkennen sind soll bei der 1

Charakteranalyse des Helden die Verarbeitung und Anerkennung der Schuld und Sühne auf

deren Individuationsweg untersucht werden. Bezug genommen wird vor allem auf den

Archetyp des Schattens, der nach Jung dem Unbewussten entspringt, und eine Hilfsfunktion

auf dem Individuationsweg der Helden darstellt, wobei die Auseinandersetzung des

Protagonisten mit dem Schatten definiert werden soll, der nach der Lehre von den Archetypen

seinen Sitz im kollektiven Unterbewussten hat. Dabei bleibt die Praxis der analytischen

Psychologie, die in engem Zusammenhang mit der Jung’schen Archetypenlehre steht,

unbeachtet. Die beiden Termini „Unterbewusstes“ und “Unbewusstes“, die von Jung in seinen

Schriften nicht durchgängig konsequent angewandt und oft synonym gebraucht werden, sind

zu klären, um sie danach auf die im Film vorkommenden Archetypen, besonders dem des

Schattens, anwenden zu können. Weiter soll in diesem Zusammenhang das Unbewusste als

Medium, hier explizit in der Symbolik des Fisches, untersucht werden. Auch die

Traumsymbolik nach C. G. Jung ist in Verbindung mit dem Schlaf ein wichtiges Puzzleteil auf

dem Individuationsweg Trevors und darf deshalb in dieser Arbeit nicht unbeachtet bleiben.

Nicholas ist Epileptiker, wie Lew Myschkin, die beiden Lieben des Fürsten sind vergleichbar mit Trevors Zuneigung zu Stevie auf 1

der einen und zu Maria auf der anderen Seite. Vgl. dazu: Fjodor Dostojewskij, Der Idiot, Frankfurt am Main 1998.�3

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2. C. G. Jung

2.1 C. G. Jungs Konzeption des Unbewussten und die Archetypenlehre

Das Unterbewusste und das Unbewusste sind voneinander abhängige Termini, die dennoch

unabhängig voneinander gebraucht werden sollten. Jung unterscheidet zwischen einem

kollektiven Unterbewusstsein, später von ihm auch kollektives Unbewusstes genannt, das alle

Bereiche umfasst, die dem Ich niemals zuvor bewusst gewesen sind und dem einzelnen

Individuum von Anfang an anhaften. Das persönliche Unbewusste ist dagegen mit dem 2

Freud’schen Vorbewussten gleichzusetzen, das alle persönlichen verdrängten Inhalte enthält.

Das „Lexikon der Psychologie“ bezeichnet „Unterbewusstsein“ als die „Bewusstseinsebene,

deren Inhalte nicht bewusst sind, die aber durch Reflexion bewusst gemacht werden können“.

Dies sei der wesentliche Unterschied zum „Unbewussten“, dessen Inhalte durch

Selbstreflexion nicht zugänglich seien, was von Jung nicht deutlich getrennt und deshalb in 3

dieser Arbeit ganz allgemein als „Unbewusstes“ bezeichnet wird. Jung selbst schreibt dazu: Alles was ich weiß, an das ich aber momentan nicht denke; alles, was mir einmal bewußt war, jetzt aber vergessen ist; alles was von meinen Sinnen wahrgenommen, aber von meinem Bewußtsein nicht beachtet wird; alles was ich absichts- und aufmerksamkeitslos, d. h. unbewußt fühle, denke, erinnere, will und tue; alles Zukünftige, das sich in mir vorbereitet und später erst zum Bewußtsein kommen wird; all das ist Inhalt des Unbewußten. 4

C. G. Jung, selbst humanistisch gebildet, baut sein Werk auf dem Wissen der Antike auf, in 5

dessen Erfahrungsschatz er eine tiefe, allzeit gültige Weisheit zu finden glaubt. Nach der

Überlieferung aus Platons Schriften soll am Eingang zum Orakel von Delphi γνῶθι σεαυτόν

(gnôthi seautón) angebracht gewesen sein. Diese Aufforderung zur Selbsterkenntnis sollte 6

zur Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit anregen. Diese Selbsterkenntnis ist

das Idealziel von Jungs Individuationskonzept. Der Drang nach Selbstverwirklichung sei, so

Jung, bei jedem Menschen vorhanden; das Unbewusste konkretisiere sich dann in Bildern, die

aus dem Unbewussten kommen und Emotionen auslösen. 7

Was eigentlich in diesem Sinn morphologisch nicht korrekt ist, da eine Teilung zwischen dem Bewusstsein und dem 2

Unbewussten die Bezeichnung In-dividuum nicht rechtfertigt.

Spektrum Akademische Verlag GmbH Heidelberg, 2001. Zit. nach: Peter Möller, http://www.philolex.de/unbewust.htm.3

Carl Gustav Jung, Gesammelte Werke, nachfolgend als JGW bezeichnet.,“Theoretische Überlegungen zum 4

Wesen des Psychischen“. (Bd. 8), S. 185 - 261, hier S. 211

Vgl. C. G. Jung, „Schuljahre“, in: C. G. Jung, CJG, Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung, hg. von Aniela 5

Jaffé,nachfolgend bezeichnet als CGJ, Erinnerungen, Freiburg 1978. S. 31-89

Vgl. dazu „Symposion“, in: Platon, Sämtliche Werke (Bd. 2), hg von Walter F. Otto u. a. . Hamburg 1957. S. 203 - 2506

Vgl. Dieter Schnocks, Mit C. G. Jung sich selbst verstehen, Stuttgart 2013. S. 237

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2.2 Der Archetypus

C. G. Jung bezeichnet den Archetypus als eine erklärende Umschreibung „des Platonischen

εἶδος“. Bei Schnocks ist zu lesen, dass C. G. Jung den Begriff Archetypus, erst seit 1919 8

verwende, da er vorher von „Urbildern“ sprach. Originär als Vorläufer kann der 9

Neuplatoniker Plotin in Frage kommen, der aus dem Geist, dem νοῦς, den ἀρχέτυπος der

gesamten Welt entspringen sah. Die Vereinigung mit dem Göttlichen muss nach Plotin durch

eine ethische Leistung des Menschen selbst erreicht werden. Menschliches Denken sei

Vorbereitung, und die Besinnung auf den νοῦς die Voraussetzung. Allerdings stand bei 10

Plotin, anders als bei Jungs tiefenpsychologischer Terminologie, die Mystik der

Seelenwanderung im Vordergrund. Dennoch lassen sich zwischen Jungs Forschungsansatz 11

und Plotins Theorie in vielen Punkten Parallelen finden, wie zum Beispiel in folgender

Aussage Jungs: „Der Herabstieg des Geistes in die Sphäre des menschlichen Bewußtseins

drückt sich aus im Mythus vom göttlichen νοῦς, der in die Gefangenschaft der φύσις [phýsis]

gerät.“ Jungs Archetypen entspringen als Modell dem kollektiven Unbewussten. Im 12

Archetyp wird das Unbewusste ausgedrückt, das noch nicht bewusst gewesen ist, oder das

subjektiv bereits erlebt, aber wieder verdrängt wurde. Jung drückt dies wie folgt aus: „Der 13

Ausdruck ,Archetyp’ wird oft als bestimmtes mythologisches Bild oder Motiv miss-

verstanden. Aber solche Bilder sind nur bewusste Darstellungen; es wäre absurd,

anzunehmen, solche variablen Bilder könnten vererbt werden. Der Archetyp ist vielmehr eine

angeborene Tendenz, solche bewussten Motivbilder zu formen - Darstellungen, die im Detail

sehr voneinander abweichen können, ohne jedoch ihre Grundstruktur aufzugeben.“ Oder mit 14

Erich Neumann ausgedrückt ist „der Archetyp […] nicht nur eine Dynamis, eine dirigierende

Kraft, die, wie in der Religion, die Psyche des Menschen beeinflußt, sondern er entspricht

auch einer unbewußten ‚Konzeption‘, einem Inhalt.“ „Im Symbolbild des Archetyps“, so Neu-

C. G. Jung, „Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten“, in: Archetyp und Unbewußtes. Augsburg 2000. S. 788

Dieter Schnocks, Mit C. G. Jung sich selbst verstehen, Stuttgart 2013. S. 449

Vgl. Joachim Stiller, Die Seele bei Plotin, http://joachimstiller.de/download/philosophie_seele_plotin.pdf10

Obwohl er sich ursprünglich von der Wiedergeburt distanzierte, hielt Jung in späten Jahren eine Reinkarnation jedoch 11

nicht mehr ausgeschlossen. Vgl. dazu CGJ, Erinnerungen, hg. von Aniela Jaffé, Freiburg 1978. S. 320ff

C. G. Jung, „Zur Phänomenologie des Geistes im Märchen“, in: Archetyp und Unbewußtes, Augsburg 2000. S. 206 - 12

250, hier S. 211

In diesem Punkt unterscheidet sich Jung drastisch von Freuds Ansichten, der nur das Unbewusste mit verdrängten 13

psychischen Inhalten sieht.

C. G. Jung, Zugang zum Unbewußten, in: Jung, C. G. (Hg.), Der Mensch und seine Symbole, Freiburg 1968. S. 6714

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mann, „teilt sich etwas als Sinnzusammenhang mit, das erst von einem entwickelten

Bewußtsein mit großer Mühe begrifflich gefaßt werden kann.“ Daraufhin bezieht sich 15

Neumann auf eine bestimmte Aussage, C. G.Jungs, dass es sich um Urbilder handle, die am

treffendsten durch die bildhafte Sprache wiedergegeben werden. „Anima“ und „Animus“ 16

gehören für Jung zu den wichtigsten Archetypen, die zum Vergleich in dieser Arbeit jedoch

nicht relevant erscheinen. Diese repräsentieren jeweils die weiblichen bzw. männlichen

Anteile eines Menschen, die nicht gelebt werden, aber wichtig für die Ganzheit der

Persönlichkeit sind. Weitere Beispiele für Archetypen sind die „Persona“. und der 17

„Schatten“. Letzterer wird in dieser Arbeit exemplarisch für Trevors Alter Ego Ivan

verwendet. Während die „Persona“ die Maske ausdrückt, die dem Menschen zu der Rolle

verhilft, die er im Leben gerne spielen möchte und deshalb bewusst nach außen zeigt,

verkörpert der „Schatten“ seine unbewusste Seite. Er beinhaltet jene Gedanken, Gefühle, 18

Wünsche und Eigenschaften, die im bewussten Leben abgelehnt werden und löst Emotionen

aus. Wichtig erscheint, dass das, was zunächst als autonomer Prozess aus dem Unbewussten 19

entspringt, bewusst wahrgenommen wird, um den Individuationsprozess in Gang setzen zu

können. Jung behauptet: „Menschliches Bewußtsein erst hat objektives Sein und den Sinn

geschaffen, und dadurch hat der Mensch seine im großen Seinsprozess unerlässliche Stellung

gefunden.“ Dazu bedarf es des Archetypen. Mit Jung weiter formuliert „[…] ergreift und 20

überwältigt [der Archetyp], zugleich erhebt er das, was er bezeichnet, aus dem Einmaligen

und Vergänglichen in die Sphäre des immer Seienden, er erhöht das persönliche Schicksal

zum Schicksal der Menschheit, und dadurch löst er auch in uns alle jene Kräfte, die es der

Menschheit je und je ermöglicht haben, sich aus der Fährnis zu retten und auch die längste

Nacht zu überdauern.“ 21

Erich Neumann, Die große Mutter, Freiburg 1988, S. 29.15

C.G. Jung, Psychologie und Alchemie, Zürich 1944, S. 44.16

Ein Begriff aus der Antike, der die Masken der Schauspieler. bezeichnet. Von Jung aber als Synonym für die Fassade 17

eines Menschen, die er nach außen zur Schau trägt, benutzt.

Vgl. JGW Psychologische Typen, (Bd. 6) Zürich 1960. S. 50518

Die Begegnung mit dem Archetypen löst Emotionen aus, was Verena Kast, eine Schülerin Jungs, mit dem A. A. M. 19

(angeborener Auslöse Mechanismus) von Konrad Lorenz vergleicht. Vgl.Verena Kast, Kreativität in der Psychologie von C. G. Jung, Zürich 1974. S. 82

CGJ, Erinnerungen, Freiburg 1978. S. 259f20

JGW, Über das Phänomen des Geistes in Kunst und Wissenschaft, (Bd. 15) Olten 1971. S. 9521

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Ein möglicher Kritikpunkt an der Theorie der Archetypen könnte sich darauf beziehen,

dass die Existenz archetypischer Bilder in der Psyche des Menschen, und somit auch im

kollektiven Unbewussten, naturwissenschaftlich nicht beweisbar sei. Zu bedenken ist hierzu,

dass es genügend Aussagen gibt, die in eine ähnliche Richtung gehen. Seien es die Gedanken

von Platon, der Sokrates von einem ungebildeten Sklaven die Lösung des mathematischen

Problems der Verdoppelung des Quadrats erfragen lässt, das Phänomen der Seelen-22

wanderung bei Plotin, die Bezeichnung Erbschuld/Erbsünde in der katholischen Kirche oder

der Glaube an die Reinkarnation in der Anthroposophie.

2.3 Individuation

"Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität

unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst

werden. Man könnte ,Individuation' darum auch als ,Verselbstung' oder als ,Selbst-

verwirklichung’ übersetzen“, so Jung zum Begriff der Individuation. 23

Die Individuation befindet sich immer mehr oder weniger im Gegensatz zur Kollektivnorm, denn sie ist Abscheidung und Differenzierung vom Allgemeinen und Herausbildung des Besonderen, jedoch nicht einer gesuchten Besonderheit, sondern einer Besonderheit, die a priori schon in der Anlage begründet ist. Der Gegensatz zur Kollektivnorm ist aber nur ein scheinbarer, indem bei genauerer Betrachtung der individuelle Standpunkt nicht gegensätzlich zur Kollektivnorm, sondern nur anders orientiert ist. Der individuelle Weg kann auch gar nicht eigentlich ein Gegensatz zur Kollektivnorm sein, weil der Gegensatz zu letzterer nur eine entgegengesetzte Norm sein könnte. Der individuelle Weg ist aber eben niemals eine Norm. Eine Norm entsteht aus der Gesamtheit individueller Wege und hat nur dann eine Existenzberechtigung und eine lebensfördernde Wirkung, wenn individuelle Wege, die sich von Zeit zu Zeit an einer Norm orientieren wollen, überhaupt vorhanden sind. 24

Der individuelle Weg zur Individuation des Helden beginnt mit dem Bewusstwerden einer

neuen Schuld, die er auf sich lädt als er durch Unachtsamkeit, vielleicht auch durch einen

kurzen Schlafmoment, versehentlich eine Maschine in Gang setzt, was einem Kollegen den

linken Arm kostet. 25

Vgl. Platon, Die Wiedergeburt der Seele, in: Das Höhlengleichnis hg. von Bernhard Kytzler, Berlin 2012. S. 39f22

C. G. Jung, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten, Rascher, Zürich 1963, S. 6523

JGW Psychologische Typen, (Bd. 8), Olten 1971, S. 477f.24

Filmbeispiel auf DVD Der Maschinist:, Regie: Brad Anderson. Drehbuch: Scott Kosar. Castelao Productions. 2004. (Originaltitel: 25

El Maquinista.) Fassung: DVD. 3L Film GmbH & Co. KG., 2009, 98’. TC 19:11�7

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3. Archetypen

3.1 Der Schatten

„Ein Schattenseiten führen", "nur noch ein Schatten seiner selbst sein", jemanden

"beschatten", "etwas wirft seinen Schatten voraus“, sind Redewendungen, die jeder negativ

versteht. Mit dem Schatten ist demzufolge stets etwas Negatives verbunden. Dabei darf nicht

vergessen werden, dass ohne den Schatten das Licht auch seine Bedeutung verlieren würde. 26

Archetypen bilden ein Beziehungsgeflecht zwischen dem bewussten Selbst und dem anderen,

dem unbewussten Selbst. Dieses Andere ist immer auch das Fremde, das das Individuum

nicht akzeptieren möchte. Dieses Andere wird von C. G. Jung Schatten genannt. Zwischen

den beiden Polen herrscht eine grosse Spannung, die in Bildern verarbeitet und gestaltet wird.

Das Schattenmotiv, das in der Archetypenlehre, und in dieser Arbeit auf dem

Individuationsweg Trevors, eine bedeutende Rolle spielt, spiegelt sich bereits in Platons

Höhlengleichnis: Die für die ganze Wirklichkeit gehaltenen Figuren sind nur Schattenbilder.

Der Mensch muss erst hinaufsteigen ans Licht, um die ungeliebte Wahrheit, die schmerzt, zu

sehen. Ziel dabei ist es, zu erkennen, dass der Schatten nicht die ganze Wahrheit ist, wie im 27

umgekehrten Fall, bei der analytischen Psychologie Jungs, der unbewusste Schatten ans Licht

geholt werden muss, was ebenso schmerzhaft ist, um zum Selbst zu gelangen. Nach dem

Moraltheologen Ziegenaus ist es notwendig, den Schatten bewusst ins Leben zu integrieren

und die Spannung auszuhalten. Er sagt: Es „kann das Böse nach Jung nicht durch ent-

schiedenes Gutsein überwunden werden.“ Der Schatten tritt häufig in der Erscheinungsform 28

der Teufelsfigur des christlichen Volksglaubens auf. In volkstümlichen Darstellungen ist diese

Physiognomie gleichbedeutend mit dem griechischen Gott Pan. Meistens ist er schwarz und

behaart, hat Bocks- oder Pferdefüße, Hörner, einen Schwanz, eine lange Habichtsnase und ein

hässliches Gesicht. Die Erkenntnis, dass sich das gleiche archetypische Bild oft kollektiv in

gleicher Gestalt zeigt, schöpft Jung vor allem aus Gesprächen mit Ureinwohnern, die er in

verschiedenen Kontinenten auf seinen vielen Reisen führte, und seiner Arbeit mit 29

Vgl. dazu Marie-Louise von Franz, Der Schatten und das Böse im Märchen, München 1985. S. 4026

Vgl. dazu Platon „Phaidon, Politeia“, in: Platon. Sämtliche Werke (Bd. 3), hg. von Ernesto Grassi, Hamburg 1958. 27

S. 224ff

Anton Ziegenaus, “Wirklichkeit und Wirkweise des Bösen“, in: Der Fels 37. Jahr Nr.10/2006. S. 285 28

http://www.der-fels.de/2006/10-2006.pdf

CGJ, Erinnerungen, Freiburg 1978. 242-29329

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Schizophrenen. Trotz dieser Physiognomie, die an sich das, bzw. den Böse[n] kennzeichnet, 30

ist der Schatten, wie jeder andere Archetpyus auch, weder positiv noch negativ. „Jeder

Archetypus“, sagt Jung, „enthält Tiefstes und Höchstes, Böses und Gutes und ist darum der

gegensätzlichen Wirkungen fähig. Es ist darum nie von vornherein auszumachen, ob er sich

positiv oder negativ auswirken wird […] und es hängt ganz entscheidend von der

Beschaffenheit des sie auffangenden Bewußtseins ab, ob [die Archetypen des Unbewussten]

zum Fluch oder Segen ausschlagen.“ 31

3.2 Die (Große) Mutter

Ein archetypisches Motiv, das mit dem Weiblichen zusammenhängt ist das der Großen Mutter.

Die stammesgeschichtliche psychologische Entwicklung entspringt einer matriarchalen Stufe,

was die ältesten Kunst- und Kultwerke der Menschheit bezeugen, in der der Archetyp der

Großen Mutter zu finden ist. Davon, dass dieses archetypische Bild noch in jedem 32

Menschen, Mann oder Frau, lebendig ist, ist C. G. Jung übezeugt. Sehr häufig hat dieser

Archetyp ein Janusgesicht, das sich auf der einen Seite als Heilige, auf der anderen Seite

jedoch als Hure zeigt. Jung unterscheidet die Wirkung des archetypischen Mutterbildes.

Geschlechtsspezifisch gilt der Archetypus der Mutter für die Frau als der Typus ihres

bewussten, geschlechtsmäßigen Lebens, während sie für den Mann aber „der Typus eines zu

erlebenden, fremden Gegenüber, erfüllt mit der Bilderwelt des Unbewußten [ist].“ Da in 33

dieser Arbeit der Archetyp Mutter auf einen männlichen Protagonisten einwirkt, sollen an

dieser Stelle C. G. Jungs Aussagen dazu herangezogen werden, der meint, dass

dementsprechend „die Mutter dem Manne […] eine Angelegenheit von ausgesprochen

symbolischen Charakter [ist]“ „Daher rührt auch wohl dessen Tendenz, die Mutter zu

idealisieren. Idealisierung ist ein geheimer Apotropäismus. Man idealisiert, wo eine Furcht

gebannt werden soll. Das Gefürchtete ist das Unbewußte und dessen magischer Einfluß. […]

In einer Phase, wo der Archetypus erscheint, tritt in der Regel eine mehr oder weniger völlige

Identität mit dem Urbilde ein. […] Der Mann identifiziert sich daher mit dem von der Sophia

Jung erzählt von einem Erlebnis mit einem Schizophrenen, der eine Vision hatte, aber aufgrund seiner Ausbildung den 30

passenden mythologischen Zusammenhang eines griechischen Textes, über einen Mithraskult, der Jung bekannt war, nicht kennen konnte. Vgl. CGJ, Erinnerungen, Freiburg 1978.

JGW (Bd.10), S. 266.31

Vgl. Neumann, a.a.O., S. 99.32

JGW (Bd. 9/1), Düsseldorf 2006, S. 118f.33

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begnadeten Sohn-Geliebten […]“ , so Jung. Dass die Mutter mit dem Kind aber meist in 34

positiver Verbindung steht, ist auch in chinesischen Sprache vertreten, deren 4000 Jahre alte

Schriftzeichen für „gut“ sich aus der Verbindung der beiden Zeichen für das Weibliche

„(Frau)“ zusammen mit dem Zeichen „Kind“ heraus entwickelt hat.

3.3 Das Kind

In Jungs analytischer Psychologie steht das Kind für das Selbst, das wachsen und sich

entwickeln will. In vielen Kulturen wurde das Kind schon vor Jahrtausenden verehrt, wobei

als Symbol dafür das "göttliche Kind“ steht. Beispielhaft zu nennen sind der griechische

Apollon, der indische Krishna, Gautama, der später Buddha wurde, Ganesha und Jesus.

Diesen „Kindern“ sind besondere Fähigkeiten zugeschrieben. Wie jeder andere Archetyp hat

auch das mythologische Kindmotiv zwei Seiten. Zum Beispiel soll das Götterkind Hermes

bereits als Baby seinem Bruder Apollon die Kühe gestohlen haben. Er wurde zur

Personifikation des göttlichen Schelms und Tricksters, der zwei Gesichter hatte: ein seriöses,

womit er zum Schutzpatron für die ehrbaren Kaufleute wurde, und ein unseriöses, das den

Gauklern und Dieben angehörte. Ein Grenzgänger also, der in vieler Hinsicht auch dem

Schatten zugehörig ist. An dieser Stelle scheint Tewes Wischmanns Gedanke, dass man die

analytische Psychologie als Psychologie des Paradoxen bezeichnen könne oder als

Psychologie des Tao, erwähnenswert. Denn jede These (Yin), so Wischmann, ziehe

unweigerlich seine Antithese (Yang) mit sich und werde in der beides vereinigenden Synthese

(Tao) zur Ganzheit transzendiert. 35

Für Jung ist der archetypische Kern des Kindes im Menschen wichtig, damit er für

eine Therapie zugänglich ist und er wird somit zum Strukturelement der Psyche. Kindsein 36

bedeutet aber auch immer, ohne kindisch zu sein, einen Anteil von Naivität zuzulassen, um

die Ursprünglichkeit eines Kindes, die meist durch die abstrakte und komplizierte Denkweise

der Erwachsenen verdrängt wird, wieder zu erlangen, womit Lebenskraft, ursprüngliche

Wahrhaftigkeit, Kreativität und Intuition verbunden sind.

Ebd. a.a.O, S. 119f.34

Tewes Wischmann, Der Individuationsprozeß in der analytischen Psychologie C.G. jungshttp://www.dr-wischmann.privat.t-35

online.de/jung.htm

Vgl. JGW 9/1, Düsseldorf 2006, s. 166ff.36

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4. Schlaf - Traum - Halluzination

4.1 Der Schlaf

Bei jedem Einschlafen trinken wir Wasser des Flusses Lethe und befinden uns nahe an der

Schwelle des Todes, denn Hypnos, so wurde der Gott des Schlafes, ein ruhiger, sanftmütiger

Gott, von den alten Griechen genannt, ist kleine Bruder von Thanatos, dem Totengott. Die

traumbringenden Dämonen, die Oneiroi, wiederum die Söhne des Hypnos. Nicht nur in den 37

antiken Religionen wird der Schlaf durch seinen Traum zum Bindeglied für sonst verborgene

Botschaften des Unbewussten. Die Bedeutung von Schlaf und Traum für unsere Kultur

korreliert mit dem psychotherapeutischen Anspruch dann, so C. G. Jung, wenn der Therapeut

ein archetypisches Symbol am Erleben des Patienten erkennt, denn „[…] im Archetypischen

liegt der kulturhistorisch bedingte Anteil an ‚Objektivierung‘, den der geisteswissenschaftlich

orientierte Zugang zum Gegenüber erlaubt: Da gibt es etwas Kollektives, über das ‚nur

Individuelle‘ hinausweisendes“. Die Medizin sucht in den Schlaflaboren nach den Ursachen 38

der Schlaflosigkeit. Die Naturwissenschaften nehmen an, dass der Schlaf sowie der Traum

eine Funktion haben. Wenn man dem Menschen Schlaf oder auch nur den Traum entzieht,

dann verändert sich sein seelisches Erleben, denn wir benötigen Schlaf, um zu lernen, zu

vergessen, uns zu konzentrieren. Im Jahre 1953 machten die US-amerikanischen 39

Schlafforscher Aserinsky und Kleitman die Entdeckung, dass Träume nicht zufällig

auftauchen, sondern regelhaft in einem ganz bestimmten und erkennbaren Schlafstadium.

Charakteristisch für dieses Stadium sind schnelle Augenbewegungen bei geschlossenen

Lidern (REM = Rapid Eye Movement). Durch Vergleiche bei Testpersonen fanden die

Schlafforscher heraus, dass sich im Laufe der Nacht eine Entwicklung im Wesen der Träume

vollzieht. Nach dem Erwachen aus der ersten Traumperiode ist der Bericht gewöhnlich kurz

und handelt von der Gegenwart. Wird jemand jedoch spät in der Nacht aus dem REM-Schlaf

geweckt, sind die Berichte reicher an Einzelheiten und Handlungen. Traumberichte in den

frühen Morgenstunden enthalten oft Träume, die mit der frühen Kindheit oder weit in der

Vergangenheit liegenden Ereignissen zu tun haben. Nach diesen Ergebnissen allerdings 40

dürfte sich, Trevor während seines Sekundenschlafs kaum an die bereits ein Jahr

Wolfgang Eirund, Traum und Glauben, in: IZPP | Ausgabe 1/2010 | Themenschwerpunkt „Religion und Religiosität“, http://37

www.izpp.de/fileadmin/user_upload/Ausgabe-1-2010/08_1-2010_E_Eirund.pdf.

C.G. Jung, Traum und Traumdeutung, München 2001, S. 211.38

Vgl. Eirund, a.a.O.39

http://www.schlaf.de/was_ist_schlaf/1_30_10_remschlaf.php40

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zurückliegenden Ereignisse erinnern, was die Aufarbeitung von Zurückliegendem erschwert,

was im Film deutlich wird.

4.2 Der Traum

Laut Jung sind Nachtträume und Tagträume nicht sehr verschieden, er bezeichnet Tagträume

als „aktive Imagination“ . Jung unterscheidet zwischen wichtigen und unwichtigen Träumen. 41

Wichtige Träume waren für ihn archetypische, vor allem sich wiederholende Träume und

kompensatorische Träume. Im Film deutet die sich stetig wiederholende Uhrzeit von 12:30 42

auf einen solchen sich wiederholenden (Tag)Traum hin, in dem sich ein Problem

widerspiegelt, das das Unterbewusstsein zu lösen versucht. Ebenfalls zu den bedeutenden

Träumen zählen die kompensatorischen Träume. Für Jung zeigt sich in kompensatorischen

Träumen eine gewisse „Autonomie des Unbewussten“. Das Unterbewusstsein reagiert mit

diesen Träumen auf die aktuelle Lebenssituation des Träumenden indem es versucht ein

seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen, wenn die Seele ins Ungleichgewicht geraten ist.

Besonders auch die Bilder der Archetypen zeigen sich in der Jungschen Traumdeutung in

Symbolen, die sich in Träumen personifizieren, was in dieser Arbeit besonders wichtig ist.

Die Archetypen treten dem Selbst mit vielen Gesichtern entgegen, was beweist, dass das

kollektive Unbewusste, dem er nach Jung entspringt, in engem Zusammenhang, wenn nicht

gar Austausch mit dem persönlichen Unbewussten steht, da sich der Archetypus jeweils in der

passenden Gestalt zur Verfassung des Individuums zeigt. Im Film in Gestalt der Mutter, des

Kindes und des Schattens. Der Archetypus offenbart sich vor allem in Träumen, die nach Jung

„den Vorteil haben, vom Willen unabhängige, spontane Erzeugungen der unbewußten Psyche

zu sein, und die daher reine, von jeder bewußten Absicht unbeeinflußte Naturprodukte sind“. 43

Dass Träume viel über das Unbewusste aussagen, bezieht Jung auf seine eigene Erfahrung auf

einen Traum, der als wegweisend für seine Theorien zu sehen ist. An dieser Stelle soll dieser

bedeutende Traum C. G. Jungs zitiert werden, der Einblick in dessen Gedanken zum 44

Unbewussten und somit eine Ausgangsbasis zum Verständnis seiner Theorien geben kann: […] Ich war in einem mir unbekannten Hause […]. Es war „Mein Haus“. Ich befand mich im oberen Stock. Dort war eine Art Wohnzimmer, in welchem schöne alte Möbel im Rokokostil

Vgl. Aniela Jaffé, Der Mythus vom Sinn im Werk von C. G. Jung, Zürich 1983, S. 67.41

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 9:0142

C.G.Jung, Die Archetypen und das kollektive Unbewusste, hg. von Lilly Jung-Merker und Elisabeth Rüf, Düsseldorf 2006, S. 61.43

Aufgrund der Erkenntnis, die Jung aus diesem für ihn immens wichtigen Traum gewann, endete auch die Beziehung zu Freud, der 44

diesen Traum auf völlig anderer Ebene deutete. Vgl. dazu: Jung, „Schuljahre“, in: CGJ, Erinnerungen, hg. von Aniela Jaffé, Freiburg 1978. S. 163

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standen. An den Wänden hingen kostbare alte Bilder. Ich wunderte mich, daß dies mein Haus sein sollte und dachte: nicht übel! Aber da fiel mir ein, daß ich noch gar nicht wisse, wie es im unteren Stock aussähe. Ich ging die Treppe hinunter und gelangte in das Erdgeschoß. Dort war alles viel älter, und ich sah, daß dieser Teil des Hauses etwa aus dem 15. oder aus dem 16. Jahrhundert stammte. Die Einrichtung war mittelalterlich, und die Fußböden bestanden aus rotem Backstein. Alles war etwas dunkel. […] Ich kam an eine schwere Tür, die ich öffnete. Dahinter entdeckte ich eine steinerne Treppe, die in den Keller führte. Ich stieg hinunter und befand mich in einem schön gewölbten, sehr altertümlichen Raum. Ich entdeckte […] Backsteinsplitter. Daran erkannte ich, daß die Mauern aus römischer Zeit stammten. […] Ich untersuchte auch den Fußboden, der aus Steinplatten bestand. In einer von ihnen entdeckte ich einen Ring. Als ich daran zog, hob sich die Steinplatte, und wiederum fand sich dort eine Treppe. Es waren schmale Steinstufen, die in die Tiefe führten. Ich stieg hinunter und kam in eine niedrige Felshöhle. Dicker Staub lag am Boden, und darin lagen Knochen und zerbrochene Gefäße wie Überreste einer primitiven Kultur. 45

„Die Beschäftigung mit dem Unbewußten ist uns eine Lebensfrage“, schreibt Jung. 46

Archetypen sind eine Hilfe, sich mit dem Unbewussten auseinanderzusetzen, das sich oft in

Träumen zeigt.

4.3 Die Halluzination

„Optische Halluzinationen sind nicht selten. Der Betroffene vermag Wichtiges nicht mehr von

Unwichtigem zu trennen, das Gehirn kann störende Signale nicht mehr ausfiltern, das

Bewusstsein wird von Eindrücken überschwemmt. Wie der Traum öffnet auch die Psychose

die Schleusen für eine Flut von Ideen und Phantasien, die tieferen Bewusstseinsschichten

entstammen.“ Es ist schwierig, im Film Halluzinationen von Träumen, die Trevor im 47

Sekundenschlaf hat, zu unterscheiden. In Phasen der absoluten Erschöpfung und im

Sekundenschlaf zeigen sich die Archetypen, die ihn auf seinem Individuationsweg begleiten.

Diese Filmszenen gehen den Begegnungen mit den Archetypen dann meist voraus.

5. Zum Film Der Maschinist

5.1 Kurze Inhaltsangabe

Trevor Reznik (Christian Bale) kann seit einem Jahr nicht mehr schlafen. Er gilt als

Außenseiter in der Fabrik, in der er als Maschinist arbeitet. Er wäscht sich die Hände wie

besessen mit Chlorbleiche, schrubbt die Fugen des Fußbodens mit der Zahnbürste und liest 48

Dostojewskij. In einer Arbeitspause lernt er Ivan (John Sharian) kennen, der behauptet, dass 49

Jung, „Schuljahre“, in: CGJ, Erinnerungen., hg. von Aniela Jaffé, Freiburg 1978. S. 16345

Jung, C. G.: Archetypen, München 2010, S. 26.46

Jörg Böckem in: http://www.spiegel.de/spiegelwissen/a-660648.html,47

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 11:5948

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 11;0449

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der Schweißer Reynolds (James DePaul) von FBI-Agenten abgeführt worden sei, weshalb er

ihn abgelöst habe. Als der Arbeitskollege Miller (Michael Ironside) Trevor auffordert, ihm

beim Einrichten einer Maschine zu helfen starrt Trevor zum vermeintlich neuen Schweißer,

Ivan, hinüber und betätigt versehentlich den Einschaltknopf der Maschine. Da die

Notabschaltungen nicht funktionieren, kommt Millers linker Arm in die Maschine und wird

dabei abgetrennt. Bei einem darauffolgenden Gespräch mit der Betriebsleitung wird Trevor

mitgeteilt, dass es im Betrieb keinen Mann namens Ivan gibt. Reynolds steht tatsächlich wie

gewohnt an dem Arbeitsplatz, an dem Trevor zuvor noch Ivan gesehen zu haben glaubt.

Obwohl Ivan angeblich nicht existiert, glaubt Trevor, ihn öfter in einem roten Pontiac Firebird

zu sehen und verfolgt ihn. Am Tresen einer Kneipe entdeckt Trevor in der Brieftasche des 50

seltsamen Mannes ein Foto, auf dem dieser mit Reynolds, dem Arbeitskollegen, mit dem

Trevor befreundet ist, zusammen beim Angeln zu sehen ist . Er glaubt an eine Verschwörung 51

und nimmt das Foto an sich. Jede Nacht fährt Trevor Reznik zum Flughafencafe und lässt sich

von der freundlichen Bedienung Maria (Aitana Sánchez-Gijón) Kaffee und Kuchen servieren.

Sex sucht er bei der Prostituierten Stevie (Jennifer Jason Leigh). Eines Tages schlägt die

Bedienung des Cafes, die alleinerziehende Mutter Maria ihm vor, mit ihr und ihrem Sohn

Nicholas (Matthew Romero Moore) am Muttertag auf den Rummelplatz zu gehen. Dort fährt

er mit Nicholas in der Geisterbahn, wo der Junge einen Anfall erleidet. In Panik trägt Trevor

den Bewusstlosen ins Freie und hat Schuldgefühle. Maria kommt gelaufen und erklärt ihm, 52

dass Nicholas Epileptiker sei und keine Gefahr drohe. Nach einer Prügelei in der Firma wird

Trevor entlassen. Reznik sieht wieder den roten Pontiac Firebird, rast mit seinem Pick-up

hinterher, kann ihn aber nicht einholen. Da er sich das Kennzeichen gemerkt hat, will er den

Fahrzeughalter ausfindig machen. Er muss erfahren, dass er vor einem Jahr seinen eigenen

Wagen mit diesem Kennzeichen als Totalschaden gemeldet hat. Erschrocken über diese

Auskunft sucht Trevor Zuflucht bei Stevie, die davon träumt mit Trevor zusammen ein

gemeinsames neues Leben anzufangen. Von dieser Idee scheint Trevor nicht abgeneigt zu

sein, doch als er bei Stevie das Foto Ivans aus der Brieftasche findet, glaubt er, dass Stevie ihn

mit Ivan betrügt. Er sieht nicht, dass er selbst, nicht Ivan, auf dem Foto abgebildet ist. Nach

heftigem Streit fährt er zum Flughafencafe, um mit Maria zu sprechen. Die Bedienung dort

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 30:2350

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 1:17:5451

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 43:3852

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behauptet aber, dass es keine Kollegin mit dem Namen Maria gebe. Wieder entdeckt der 53

verzweifelte Trevor im Parkhaus den roten Pontiac Firebird und fährt ihm nach. Ivan, der

Fahrer, hält vor Trevors Wohnung und betritt mit Marias Sohn Nicholas das Haus. Trevor

findet Ivan in seinem Badezimmer vor dem Spiegel beim Rasieren mit einem Messer vor. Von

Nicholas gibt es keine Spur. Da Trevor in Ivan den Mörder von Nicholas sieht, stürzt er sich

auf ihn und schneidet ihm mit dem Messer die Kehle durch. Ivans Leiche rollt er in einen 54

Teppich und bringt sie zum Strand, wo er den Toten ins Meer kippen will, aber erkennen

muss, dass die Teppichrolle leer ist. Ivan steht plötzlich hinter ihm! Reznik erinnert sich, dass

er es war, der vor einem Jahr in dem roten Pontiac Firebird saß und ein Kind überfuhr. Er

fährt zum Polizeirevier und zeigt sich selbst wegen Fahrerflucht an. In der Gefängniszelle

findet Trevor endlich Schlaf. 55

5.2 Figurenkonstellation

Neben dem Protagonisten Trevor sind Ivan, Maria und Stevie die einzigen Hauptakteure, die

den gesamten Handlungsverlauf begleiten. Nicholas soll in der Figurenkonstellation jedoch

nicht vergessen werden, da er ein wichtiges Bindeglied zwischen Maria und Trevor darstellt.

Es steht ein Charakter im Mittelpunkt, dessen Leben derzeit aus Halluzinationen und

imaginären Bildern besteht. Trevor, kann als Antiheld bezeichnet werden. Er ist ein einfacher

Arbeiter mit wenig Sozialkontakten, der seinem Hobby, dem Fischen nicht mehr nachgeht. Er

leidet unter einem Putz- und Waschzwang und hat nach eigenen Angaben seit über einem Jahr

nicht mehr geschlafen. Er ist ständig in Bewegung. Seine Arbeit, die Bedienung einer 56

Bohrmaschine, die keine kognitiven Ansprüche stellt, findet in lauter, schmutziger

Atmosphäre statt. Außerdem ist er bis auf’s Skelett abgemagert. Wie in der Arbeit, steht auch

das Räderwerk in seinem Gehirn nicht still. Die Prostituierte, Stevie, Trevors Kontaktperson

in der realen Welt ist sexy, aufreizend nachlässig gekleidet, zeigt sich empathisch und ehrlich.

Sie gehört zum unteren sozialen Milieu, bedient Freier, die mitunter auch Gewalt gegen sie

anwenden. Maria, die ebenfalls den Archetypus der Mutter verkörpert, ist dagegen bieder 57

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 1:21:4753

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 1:27:0354

In diesem Absatz nicht erwähnte bedeutende Filmbeispiele finden sich bei im Detail beschriebenen Szenen a.a.O.55

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 17:2156

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 57:2757

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und stets sauber gekleidet, mütterlich und pflichtbewusst. Die Alleinerziehende pflegt keine

sozialen Kontakte. Sie arbeitet nachts als Kellnerin. Als Archetyp steht sie, gleichrangig mit

Stevie, Trevor als Helfer zur Seite. Auch das Kind Nicholas ist ein Helfer an der Seite

Trevors. Nicholas leidet an Epilepsie, lebt mit seiner Mutter Maria in bescheidenen

Verhältnissen. Die Wohnung der beiden entspricht der aus Trevors Kindheit, was deutlich

macht, dass auch Trevor und Nicholas ein und dieselbe Person sind. Ebenso ist Maria

identisch mit Trevors Mutter, was alte Fotos belegen. So steht sie in einer Doppelfunktion 58

als Mutter. Einmal für Nicholas als Archetupus Kind und einmal als die leibliche Mutter

Trevor, sowohl in der Rolle des Nicholas als auch in der Rolle als der Archtyp Mutter für den

erwachenen Trevor als Bedienung im Flughafencafe. Die wichtigste Person in dieser

Konstellation ist Ivan. Ivan ist ein fiktiver Kollege Trevors, dessen Charakter, Sprache und

Gestik Trevor sichtlich unangenehm sind. Auf den ersten Blick scheint Ivan Trevors

Gegenspieler zu sein. Trevor glaubt, dass Ivan Stevies Exmann ist und eine Verschwörung

gegen ihn gerichtet ist. Erst im Laufe des Films entpuppt sich Ivan als Helfer in seiner

Funktion als Bote. 59

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 38:5058

Abb. 1 erstellt von Pfau59

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6. Mehrstängiges Erzählen in Der Maschinist

6.1 Entwicklung des Protagonisten - der Individuationsprozess

6.1.1 Begriffsklärung

Verena Kast betont, „dass der Individuationsprozess zugleich ein Integrationsprozess und ein

Beziehungsvorgang ist.“ demnach ist es für Trevor nicht möglich allein und ohne Hilfe 60

seinen Weg der Individuation zu gehen. Da er kaum soziale Kontakte pflegt, sind es die

archetypischen Figuren, die diese notwendigen Sozialkontakte ersetzen. Archetypen bilden

ein Beziehungsgeflecht zwischen dem bewussten Selbst und dem anderen, dem unbewussten

Selbst. Dieses Andere ist immer auch das Fremde, das das Individuum nicht akzeptieren

möchte. Dieses Andere wird von C. G. Jung Schatten genannt. Zwischen den beiden Polen

herrscht eine grosse Spannung, die in Bildern verarbeitet und gestaltet wird. Diese Bilder

zeigen sich in Symbolen, die sich in Träumen und Mythen personifizieren. Der Schatten tritt

dem Selbst in vielen Gesichtern entgegen, was beweist, dass das kollektive Unbewusste, dem

er nach Jung entspringt, in engem Zusammenhang, wenn nicht gar Austausch mit dem

persönlichen Unbewussten steht, da sich der Archetypus jeweils in der passenden Gestalt zur

Verfassung des Individuums zeigt. Der Archetypus offenbart sich vor allem in Träumen, die

nach Jung „den Vorteil haben, vom Willen unabhängige, spontane Erzeugungen der

unbewußten Psyche zu sein, und die daher reine, von jeder bewußten Absicht unbeeinflußte

Naturprodukte sind“. Jungs Hauptanliegen war, dass das Individuum das Erbe des 61

Archaischen erkennt und unter Kontrolle bringt, um nicht von ihm überwältigt zu werden.

Jung beschreibt im folgenden Zitat die Notwendigkeit der Integration des aus der Phantasie

kommenden Archetypus: „In allen Fällen von Dissoziation erhebt sich deshalb die

Notwendigkeit der Integration des Unbewußten ins Bewußtsein. Es handelt sich um einen

synthetischen Vorgang, den ich als ‚Individuationsprozeß‘ bezeichnet habe.“ 62

Nach dem von ihm verursachten Verkehrsunfall mit tödlichem Ausgang leidet Trevor

an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Das Ereignis scheint beim Helden eine Art

dissoziative Amnesie verursacht zu haben, denn er hat offensichtlich den Unfall vergessen,

verdrängt, ins Unbewusste abgeschoben, das wiederum aber das Geschehen gespeichert hat.

Das Ich des Helden, der gleichzeitig ein Antiheld ist, ist gespalten in Bewusstes und

Unbewusstes, was seinen extremen körperlichen Zerfall erklärt. In der ersten Filmszene sieht

Verena Kast, Sich wandeln und sich neu entdecken, Freiburg 1996, S. 12.60

Jung, C. G.: Die Archetypen und das kollektive Unbewusste, hg. von Lilly Jung-Merker und Elisabeth Rüf, Düsseldorf 2006, S. 61.61

Ebd. S. 42.62

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man Trevor, der versucht eine Leiche, eingerollt in einem Teppich, zu entsorgen. Der

Zuschauer wird enttäuscht. Es ist keine Leiche da. Aber es ist eine Stimme zu hören die

Trevor die Frage stellt: „Wer bist du?“ Das scheint der Protagonist, selbst nicht genau zu 63

wissen und muss in kleinen Schritten auf seinem Individuationsweg, von C. G. Jung auch

Nachtmeerfahrten genannt, geklärt werden. Annähernd dieselbe Szene wird gegen Ende des

Films wiederholt. Allerdings ist Ivan, der hinter Trevor am Ufer steht und die Szene mit einer

großen Taschenlampe ausleuchtet, diesmal deutlich zu sehen. 64

6.1.2 Das Unbewusste in der Symbolik

Die großen religiösen Symbole gehören zur Welt des kollektiven Bewusstseins und des

kollektiven Unbewussten. Diese sind uns auch im Wachzustand zugänglich und haben eine

Verbindung zum kollektiven Unbewussten. Die Erfahrung mit religiösen Symbolen kann als

eine archetypische Erfahrung betrachtet werden. Immer wieder rücken, neben dem

Kühlschrank als zentrales Objekt, Abbildungen von Fischen und Anglerzubehör in den 65

Fokus, wie zum Beispiel der Aufkleber auf seinem Auto: „rather go fishing“. Nach C. G.

Jungs Theorie wissen die Menschen, „daß der Schatz in der Wassertiefe ruht, und werden ihn

zu heben versuchen. Da sie nie vergessen dürfen, wer sie sind, so dürfen sie ihr Bewußtsein

unter keinen Umständen verlieren. Sie werden also ihren Standpunkt auf der Erde festhalten;

sie werden damit - um im Gleichnis zu bleiben - zu Fischern […] Aber nicht jeder ist ein

Fischer. Manchmal bleibt diese Figur auch auf ihrer instinktiven Vorstufe stehen, […] wer ins

Wasser schaut, sieht zwar sein eigenes Bild, aber dahinter tauchen bald lebendige Wesen auf;

Fische sind es wohl […]“. Das Symbol im Film ist aber nicht lebendig. Angeln als Hobby 66

scheint derzeit von Trevor nicht aktiv ausgeübt zu werden. Die zuvor Fische liegen im

Gefrierschrank. Der Fisch ist für Trevor kein Symbol, das ihn emotionell ergreift. Die toten

Fische können den Protagonisten nicht beleben. Der Kühlschrank wird im Film häufig in

Szene gesetzt. Am Kühlschrank befinden sich auch die Post-its mit dem „Hangman“-Spiel, an

dessen Lösung Trevor verbissen arbeitet. Trotz dieser Nähe die das Symbol der Erlösung zu

Trevor hat, nimmt er es nicht wahr. Eine mögliche Bedeutung erschließt sich auch, als die

eingefrorenen Fische im Tiefkühlfach des Kühlschranks auftauen , da Trevor in seinem 67

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 2:5863

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 1:29:1364

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 12:1365

Jung, C. G.: Archetypen, München 2010, S. 27.66

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 1:1:4067

�18

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desolaten Zustand nicht mehr in der Lage ist, den Geschäften des täglichen Lebens

nachzugehen. Dazu gehört auch das pünktliche Bezahlen von Rechnungen, was dazu geführt

hat, dass der Strom abgesperrt wurde. Den üblen Geruch in seiner Wohnung, den Trevors

Vermieterin wahrnimmt, scheint er nicht zu bemerken. Der Kühlschrank kann daher als

Methapher dafür stehen, dass das, was auf Eis gelegt wurde, nicht automatisch verschwindet.

Dem Sprichwort „aus den Augen aus dem Sinn“ zufolge ist es nur aus dem Gesichtsfeld und

somit aus dem Bewusstsein verschwunden. Da Jesus, der selbst seinen Henkern ihre Schuld

vergibt, mit dem Zeichen des Fisches in Verbindung steht, kann der ständige Hinweis auf

Fische auch als Hinweis auf die Vergebung einer Schuld zu verstehen sein. Es schreibt C. G.

Jung: „Die Menschheit suchte und erwartete, und es war der Fisch - ‚levatus de profundo‘ -

aus der Quelle, der zum Symbol des Heilbringers wurde.“ 68

6.1.3 Persönlicher Individuationsweg Trevors

Die verschiedenen Erzählstränge des Films bestehen aus den Begegnungen des Protagonisten

mit den Archetypen. Meist blenden sich diese nach einem Sekundenschlaf ein, oder 69

erscheinen als Halluzination. Diese Begegnungen sind wichtig, damit der Held seinen

Individuationsweg erfolgreich beenden kann. Der Ablauf der persönlichen Entwicklung

Trevors bleibt bis über die Hälfte des Films hinaus verschwommen, weil es schwierig ist, die

verschiedenen Erzählstränge auseinanderzuhalten. Ein Post-it am Kühlschrank zeigt ein

Galgenmännchenspiel mit sechs Buchstaben, das zu lösen ist. Der Protagonist zieht

verschiedene Lösungsmöglichkeiten in Betracht, die zwar nicht stimmig, aber für seine

Entwicklung förderlich sind. Häufig ist es für den Zuschauer nicht schlüssig, ob es sich in der

Filmsequenz um Realität oder Traum handelt. Erst gegen Ende des Films verdichten sich die

Erzählstränge. Die Schlüsselszene stellt die Fahrt in der Geisterbahn, die Trevor zusammen

mit Nicholas unternimmt, dar. Der Marktschreier auf dem Rummelplatz wirbt für die Fahrt

damit, indem er „eine Fahrt in die Abgründe der Seele“ verspricht - und auch hält, denn 70

Trevor bekommt Bilder aus seiner Vergangenheit vorgeführt, die längst in seinem

Unbewusstsein schlummern. An einer Weggabelung will er Nicholas, der am Steuer sitzt,

dazu bewegen, den „Way of Solution“ einzuschlagen, dieser wählt jedoch einen anderen,

während Trevor machtlos zusehen und sich fügen muss. Jede Analepse und jede Begegnung

mit einem Archetypen bringt sowohl den Protagonisten als auch den Zuschauer der Lösung

Jung, C. G.: Archetypen, München 2010, S. 21.68

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 14:3769

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 41:0770

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des Konfliks ein Stück näher. Zudem implizieren sie bei Trevor Reznik ein Déjà vu. Trevor

erinnert sich plötzlich daran, dass er selbst vor einem Jahr den roten Pontiac Firebird besaß

und ein Kind überfuhr. Nicholas. Als er im Rückspiegel sah, dass dessen Mutter angerannt

kam, gab er Gas und beging Fahrerflucht. Das Wort unter dem Strichmännchen am Galgen

heißt KILLER! Die Aufgabe ist gelöst. 71

Trevor stellt sich der Polizei. Endlich biegt er an dieser Weggabelung rechts ab und schlägt

damit den richtigen Weg ein. Die freundschaftliche Abschiedsgeste von Ivan, als Trevor die 72

Polizeistation betritt, deutet darauf hin, dass der Augenblick gekommen ist, an dem es Trevor

Rezinik gelungen ist, seinen Schatten endgültig anzunehmen, nachdem er sich ausführlich mit

ihm auseinandergesetzt hat. Trevor hat Frieden mit sich selbst geschlossen. In der

Gefängniszelle angekommen kann er endlich schlafen. 73

7. Begegnungen mit den Archetypen als persönliche Helfer auf dem

Individuationsweg des Protagonisten

7.1 Der Schatten im Film

Das im Individuationsprozess geforderte Annehmen der eigenen Person mit allen Unan-

nehmlichkeiten ist ein schwieriger Schritt, wobei das Erkennen des Schattens als das

persönliche Unbewusste eine große Rolle spielt. Jung schreibt dem Schatten eine wichtige

Rolle zu: „Die Figur des Schattens personifiziert alles, was das Subjekt nicht anerkennt und

was sich ihm doch immer wieder - direkt oder indirekt - aufdrängt, also zum Beispiel

minderwertige Charakterzüge und sonstige unvereinbare Tendenzen.“ Im Metzler Lexikon 74

literarischer Symbole steht der Schatten als „Symbol des Abkünftigen, Entfremdeten,

Entseelten, aber auch des Wesens“, wobei als relevant betrachtet wird, dass der Schatten in

Abhängigkeit des Gegenstandes steht, das ihn wirft. Diese Beschreibung passt sowohl zu C. 75

G. Jungs Theorien als auch zum Hauptcharakter von Der Maschinist. In der sechsten Minute

des Films sieht man Trevor schwach und kraftlos, bis auf das Skelett abgemagert. Er wirkt 76

nur noch wie ein Schatten seiner selbst. Die Begegnung Trevors mit seinem Schatten, den er

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 1:32:1871

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 1:34:2172

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 1:35:3073

JGW, „Die Archetypen des kollektiven Unbewussten“, (Bd. 9/I), S. 30274

Heinz Druegh in: Günter Butzer und Joachim Jacob (Hrsg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart 2012, S. 367.75

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 5:01ff76

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allerdings nicht als solchen erkennt, kommt erst zustande, als er sich bereits in einem

desolaten körperlichen Zustand befindet. Nach eigenen Angaben hat er zu diesem Zeitpunkt

bereits seit fast einem Jahr nicht mehr geschlafen. Dem eigenen Gegenüber zu begegnen ist

nach Jung ein bedeutender Moment. Er meint: „Dies ist die erste Mutprobe auf dem inneren

Wege, eine Probe, die genügt, um die meisten abzuschrecken, denn die Begegnung mit sich

selber gehört zu den unangenehmeren Dingen, denen man entgeht, solange man alles

Negative auf die Umgebung projizieren kann.“ 77

Die erste Begegnung Trevors mit dem Schatten findet bereits in der zweiten

Filmminute statt. Allerdings ist er noch nicht zu sehen. Nur seine Stimme ist zu hören, als er

die Frage stellt: „Wer bist du?“ Als Archetyp zeigt sich der Schatten Trevor in einer 78

Arbeitspause. Als Trevor nach dem Anzünden einer Zigarette - der Zigarettenanzünder ist im

Film in den Focus gerückt - nach einem Sekundenschlaf erwacht, steht Ivan neben seinem 79

Auto. Auch im Film lassen sich zumindest einige der oben genannten Teufelsmerkmale bei 80

Ivan erkennen, der eindeutig den Schatten verkörpert. Dabei sind diese archetypischen Bilder

im kollektiven Unbewussten nur als Wirkkräfte zu verstehen, als Energie, die von der sinnlich

erfahrbaren Welt durch typische bildhafte Symbolgestalten ausgedrückt werden. Nach Jung

sind „die Urbilder […] unendlicher Wandlung fähig und bleiben doch stets dieselben, aber nur

in neuer Gestalt können sie aufs neue begriffen werden. Immer erfordern sie eine neue

Deutung.“ In einer Filmszene zeigt er seine verkrüppelte Hand in einer Geste, bei der der 81

Zuschauer unwillkürlich an Hörner denken muss. Dennoch darf der Schatten nicht 82

zwangsläufig mit dem Bösen gleichgesetzt werden. Wenn der Schatten also als die „dunkle

Seite der Seele“ bezeichnet wird, sollte „dunkel“ nicht voreilig negativ konnotiert werden,

sondern als der Part der Seele gesehen werden, der schlecht sichtbar ist und deshalb keine

Beachtung findet. Da sich hier aber meist, wie im Keller, den Jung als Beispiel heranzieht, 83 84

Jung, C. G.: Archetypen, München 2010, S. 23.77

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 2:5878

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 14:1679

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 16:0680

JGW Bd. 16), a.a.O., S. 20881

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 32:5482

Dieter Schnocks, Mit C. G. Jung sich selbst verstehen, Stuttgart 2013. S. 4083

Vgl. dazu CGJ, Erinnerungen, Freiburg 1978. S. 16384

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verdrängte „Antiwerte“ befinden, bekommt der Schatten meist eine destruktive Seite, wie er 85

sich auch im Filmbeispiel in der Person des Ivan vorerst äußert. Trevor sieht ihn Ivan das

Böse, das er verabscheut, ja sogar zu bekämpfen versucht. Er verbindet sich mit dem

„Schatten“, der dunklen Seite des Menschen, meist negative Assoziation. Allerdings darf

dabei nicht vom negativen Menschenbild eines Schopenhauer oder Hobbes ausgegangen

werden. Um die Schattenanteile als Negativum zu assoziieren, muss die These, dass der

Mensch im Grunde gut ist, stimmen. Indem Trevor Ivan als vermeintlichen Exmann von

Stevie entlarven zu meinen scheint, wird er sogar zu seinem Rivalen, was als erste Anzeichen

einer Annäherung des Schattens als Alter Ego zu deuten ist. Der Name Ivan für die 86

Schattenfigur scheint bewusst gewählt worden zu sein. So steht der Name Ivan für die

Gesamtheit aller Russen , wie etwa die deutsche Bezeichnung Otto Normalverbraucher, für 87

Jedermann. Interessant ist allerdings auch eine weitere Bedeutung des aus dem Hebräischen

stammenden Namen, nämlich, dass er aus Jahwe, dem Wort für Gott und Chanan, das für

Gnade steht, zusammengesetzt ist. Somit würde der Schatten hier auf der einen Seite mit 88

seiner Person und auf der anderen Seite mit seinem Namen für die Dualität im Gottesbegriff

selbst stehen. Es drängt sich eine Verbindung hierzu aus dem häufig im Film erwähnten

russischen Autor Dostojewskij auf, der einen Charakter in seinem Roman Die Brüder

Karamasow ebenfalls Iwan nennt, der sich die Frage stellt, ob denn der Teufel nicht eine

Erfindung des Menschen nach seinem Ebenbild sein könne, ebenso wie Gott. Betrachtet 89

man jedoch den Schatten als Dämon, der weder gut noch böse ist und dem Menschen als

Helfer zur Seite steht, passt die Annäherung von Ivan an Trevor, in der Funktion als Führer

auf dem Weg zur Erkenntnis sehr gut. Obwohl Jung den Geist als ein Prinzip sieht, das im

Gegensatz zur Materie steht, vergleicht er die Beziehungen zwischen Gegensätzlichem, die 90

sich in lebendigen Symbolen darstellen, in der Symbolgestalt des Hermes, dem Boten, den

Jung als „Offenbarungsgott in der frühmittelalterlichen Naturphilosophie“ und als „nichts

Vgl. dazu Dieter Schnocks, Mit C. G. Jung sich selbst verstehen, Stuttgart 2013. S. 4085

Vgl. dazu Filmszenen:a)Trevor meint die Stiefel Ivans im Flur von XY stehen zu sehen, Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 35:28, 86

b)Auf Bildern ist er mit Ivan ausgetauscht Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 35:45

https://www.wortbedeutung.info/Iwan/87

http://www.vornamen.ch/name/ivan.html88

Fjodor M. Dostojewskij, Die Brüder Karamasow, München 1978.89

Vgl. „Zur Phänomenologie des Geistes im Märchen“, in: Archetyp und Unbewußtes, Augsburg 2000. S. 206 - 250, hier 90

S. 207�22

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Geringeres als [den] welt-schöpferische[n] nous selber“ betrachtet . Weiter lässt sich darin 91

nach Jung auch der alchemistische Mercurius erkennen, da in ihnen allen Stofflich-

Materielles und zugleich Geistiges verbunden sei: „Er [Mercurius] ist der Teufel, ein

wegweisender Heiland, ein evasiver ‚Trickster‘ und die Gottheit […]. Er ist das Spiegelbild

eines mit dem opus alchymicum koinzidenten mystischen Erlebnisses des artefix. Als dieses

Erlebnis stellt er einerseits das Selbst, andererseits den Individuationsprozeß, und das

kollektive Unbewußte dar.“ Auch das alchemistische Symbol dazu (Quecksilber, Planet 92

Merkur), unterstützt Jungs These.

Obgleich dem Trickster bei Jung eine andere Rolle zugeordnet wird, auf die in dieser

Arbeit nicht näher eingegangen wird, scheint es legitim, das obige Zitat an dieser Stelle

einzufügen, weil dadurch deutlich wird, dass sich der positive Schattenaspekt auch in der

Figur des Teufels als Widersacher personifizieren kann. Die ewige Unruhe Trevors scheint

sich der Figur des Mercurius anzunähern. Schnocks meint, dass der Schatten dem Ich sehr

nahe sei. Er schreibt: „Man hat ihn darum auch einen Hüter der Schwelle zum Unbewussten

genannt. Der Schatten ist in den meisten Fällen der Bereich, dem wir auf dem Weg nach innen

zuerst begegnen. Und er bleibt für jeden Menschen eine immerwährende Herausforderung, da

er als wichtigste psychische Grundfunktion nicht zu beseitigen ist. Man kann die

Schatteninhalte bewusst machen und auf vernünftige Weise ins Leben integrieren.“ Dass 93

Trevor sich auf dem Weg befindet, den Schatten anzunehmen, wird im Lauf des Films immer

deutlicher. Die Einheit von Trevor und Ivan wird in der Szene besonders hervorgehoben, in

der Trevor im Spiegel hinter seinem eigenen Spiegelbild das von Ivan entdeckt. Ivan 94

versucht Trevor deutlich zu machen, dass nicht er, so wie von Trevor vermutet, der Killer ist,

sondern Trevor selbst. „ Nicht ich […] du […]“ sagt sein Alter Ego. Diese Szene bringt 95

einen Wendepunkt in das Geschehen. Die Rolle Ivans in der Figurenkonstellation ändert sich.

Ab diesem Zeitpunkt nimmt ihn auch Trevor als Boten wahr, der ihm dabei hilft, Licht ins

Dunkel zu bringen.

JGW Die Archetypen und das kollektive Unbewußte, (Bd 9/1) Düsseldorf 2006, S. 119.91

JGW „Der Geist Mercurius“, in: Symbolik des Geistes, (Bd. 13) Ostfildern 2011. 1948, S. 211 - 270, hier S.119; hieraus 92

stammt auch die Doppelnatur und Gleichsetzung des Mercurius mit der sapientia und dem Heiligen Geist!

Dieter Schnocks, Mit C. G. Jung sich selbst verstehen, Stuttgart 2013. S. 4293

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 1:25:3394

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 1:26:1195

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7.2 Die Mutter im Film

Im Film Der Maschinist kommt die janusgesichtige Mutter besonders deutlich zur Geltung.

Die archetypisch überpersönliche Große Mutter, gilt als die Urheberin des Lebens. Nach Jung

ist die Trägerin des im Kollektiven Unbewussten angelegten Mutter-Archetypus ist in erster

Linie die persönliche Mutter bzw. deren Vertreterin. Ihr werden Eigenschaften zugeschrieben,

die ihr selbst gar nicht anhaften. Nach Jung stehen psychisch Kranke unter einem 96

besonderen Einfluss des Mutterbildes, was sich bei Trevor Reznik, in seiner mentalen 97

Instabilität bestätigt. Im Film kümmern sich sowohl Maria als auch Stevie um das leibliche

Wohl von Trevor: Stevie, die für die Hure steht, bereitet Trevor Frühstück und gibt ihm

Geborgenheit, Maria, die Heilige, deren Name bereits an die Gottesmutter erinnert, serviert

ihm im Flughafencafe Kuchen und zeigt viel Empathie. Beide Male erhält Trevor von der 98

Großen Mutter Nahrung und neue Kräfte. Im Film sind als bezeichnende Szenen sowohl die

Umarmungen in den intimen Stunden bei Stevie und das von ihr servierte Frühstück als 99

auch die Geste Marias, als sie Trevor mitfühlend ein Stück Kuchen zu seinem Kaffee serviert.

Nach Neumann sind „Nahrung geben, Schützen, Wärmen, und Festhalten die Fuktionen, „in

denen sich der Elementarcharakter des Weiblichen […] auswirkt. Das erste Treffen mit 100

diesem Archetypus findet mit Stevie als reale Person und mit Maria im Flughafencafe 101 102

bereits während der ersten zehn Minuten des 98 Minuten dauernden Films statt. Selbst die

persönliche Mutter wird ins Spiel gebracht, was deutlich wird, wenn Trevor alte Kinderbilder

in seinem Fotoalbum liebevoll betrachtet, auf denen die Wohnsituation seiner Kindheit mit

der von Maria identisch ist und einem Erinnerungsobjekt, der Glasschale seiner Mutter, die, 103

sorgsam gehütet, im Film immer wieder in den Fokus gerückt wird. An dieser Stelle könnte 104

der Vergleich des Jungschülers Erich Neumann greifen, in dem er die Große Mutter als „Welt-

Körper-Gefäß“ darstellt, da er für das Verständnis des Archtyps nach dieser Symbolik

Vgl. C.G.Jung, Die psychologischen Aspekte des Mutter-Archetyps (1938). In: C.G.Jung: Archetypen. München 1990, S. 75ff96

Vgl. JGW, 9/1, Düsseldorf 2006 ,S. 118.97

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 8:3498

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 58:1599

Neumann, a.a.O., S. 45.100

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 5:0101

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 8:34102

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 45:00ff103

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 1:32:52104

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greift. Maria ist auch identisch mit der leiblichen Mutter Trevors, was nach Jung noch eine 105

enge Verbindung zur Anima darstellt, die sich nach seinen Angaben im Jugendalter jedes

Menschen vom Archetyp der Großen Mutter herauslösen sollte. Trevors Sehnsucht nach der

ursprünglichen mütterlichen Geborgenheit der eigenen Kindheit kommt dadurch zum

Ausdruck.

7.3 Das Kind im Film

Jung betrachtet den Kinderarchetypus als ein treffendes Beispiel für einen Mythnbestandteil,

der im Traum und in psychotischen Phantasieprodukten erscheint. „Am deutlichsten und 106

sinnvollsten aber manifestiert sich das Kindmotiv in der Neurosentherapie bei dem auch die

Analyse des Unbewußten hervorgerufenen Reifungsprozeß der Persönlichkeit, den ich als

Individuationsprozeß bezeichnet habe“ , behauptet er, was auf den Protagonisten zutreffend 107

ist. Der Archetyp Kind ist im Film Der Maschinist individuell charakterisiert. Er wird von

einem etwa zehnjährigen Jungen verkörpert, für den Trevor eine Vaterfigur darstellt. Nicholas

vertritt zum einen Trevor in seiner eigenen Kindheit, zum anderen das Kind, das bei dem von

ihm verschuldeten Autounfall ums Leben kam. Damit greift für die erste Verbindung

Nicholas’ zu Trevor die Aussage Jungs, dass das Kindmotiv ein Bild für gewisse Dinge der

eigenen Kindheit, die wir vergessen haben, sei. Jung behauptet, dass man „dem Archetypus 108

‚Kind’ […] empirisch bei spontanen […] Individuationsprozessen [begegnet].“ In diesem 109

Fall liege eine Identifikation des Patienten mit seinem persönlichen Infantilismus dar, was im

Fall des Protagonisten durchaus möglich zu sein scheint, wenn die Identität Trevors mit dem

Kind in Betracht gezogen wird. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es sich bei dem

Kindmotiv nicht um ein reales Kind handelt, sondern um eine mythologische Kind-

vorstellung, ein irrationales Symbol eines wunderbaren Kindes mit nicht empirischen

Eigenschaften. Immer wieder steht das fiktive Kind Nicholas Trevor als Helfer zur Seite.

Dieser Archetyp tritt relativ spät auf In der oben beschriebenen Schlüsselszene in der 110

Geisterbahn, ist es das Kind, das den Wagen lenkt und Trevor auf diesem Weg auf

Neumann, a.a.O., S. 51ff.105

Vgl. JGW, (Bd. 9/1), Düsseldorf 2006, S. 167.106

Ebd., S. 173.107

Ebd., S. 175.108

Ebd., S. 194.109

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 38:36110

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Geschehnisse aufmerksam zu machen versucht, die aus seinem Bewusstsein gelöscht

wurden. Meist tritt Nicholas zusammen mit der Mutter auf, die in das Geschehen 111

miteinbezogen wird, was nach Jung durch die ablehnende Haltung des Bewusstseins, das

noch in der Konfliktsituation gefangen ist, oder auch durch den horror vacui des Unbewussten

veranlasst wird, weil der Held für eine Hilfe, bzw. für eine neue Geburt noch nicht bereit

ist. Ein weiterer wichtiger Punkt, schon gegen Ende des Films, ist der, als Nicholas und 112

Ivan Hand in Hand, Nicholas also bereits losgelöst von der Mutter, das Haus betreten, in dem

Trevor wohnt. Es scheint, dass sie sich Zugang verschaffen wollen zu dem, was seinen 113

intimen Bereich darstellt, der verschlossen ist, zu dem keiner Zugang hat, nicht einmal er

selbst.

8. Schlussgedanken

Beim Protagonisten des Films Der Maschinist, Trevor Reznik, wird deutlich, dass der

Schatten nicht nur das Böse, sondern auch das Gute für das Bewusste unzugänglich machen

kann. Dieser Archetypus wurde wie eine Brücke genutzt, um eine Verbindung zwischen dem

Bewussten und dem Unbewussten herzustellen. Der Archetypus muss demnach vielschichtig

betrachtet werden. C. G. Jung, der seinem Archetypus diese Ambivalenz zugesteht, kann in

dieser Hinsicht zugestimmt werden, dass das Verdrängte, der Schatten, als zur Person gehörig

bejaht und angenommen werden muss, damit das Individuum zum Selbst finden kann. Der

Protagonist hat sich mit seiner Schattenseite auseinandersetzt, sich diese bewusst gemacht,

daran gearbeitet umzudenken, wenn auch unbewusst. Das wird durch seine Auseinander-

setzung mit den Post-its deutlich, an deren Lösung er verbissen arbeitet, allerdings die Schuld

erst bei anderen sucht, bevor der den Schatten in der Person des Ivan akzeptierten kann.

Trevor stellt die existentielle Fragen nach Schuld und Sühne. Dadurch und durch die intensive

Auseinandersetzung mit seinem anderen Pol und der Hilfe der sich ihm zeigenden Archetypen

wird der Individuationsweg des Dostojewski lesenden Helden erfolgreich. Durch die

Anerkennung und Bewusstmachung seiner Schuld, der Erleichterung seines Gewissens und

der Möglichkeit, dafür Sühne zu leisten, ist wieder ein Energiefluss zwischen beiden Polen

möglich. Das Unbewusste hat seinen negativen Aspekt und somit auch seine Gefährlichkeit

für Trevor verloren. Indem er sich seiner Schuld bewusst ist, sie anerkennt und dafür sühnt,

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 42:34111

JGW, (Bd. 9/1), Düsseldorf 2006, S. 182.112

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 1:24:04113

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kann er endlich Ruhe finden. Trevors persönliches Dunkel verschwindet. Er, der sich mit

seinem Dämon versöhnt hat, schleppt sich in seiner spärlich möblierten Zelle zu einem

unbequem aussehenden Ruheplatz und kann schlafen. Der Film löst sich in gleißendem 114

weißem Licht auf. Die Archtypen, die im Film als Helfer fungieren, haben ihre 115

Schuldigkeit getan, die Erzählstränge laufen zusammen, indem der Protagonist seinen

Individuationsweg beendet hat.

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 1:35:30114

Filmbeispiel auf DVD, a.a.O., TC 1:36:18115

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Quellenangaben

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- , JGW, Bd. 8, „Die Dynamik des Unbewußten", hg. v. Marianne Niehus-Jung, Lena Hurwitz-Eisner u.a., Sonderausgabe, Düsseldorf 1995.

- , JGW, Bd. 9/1, „Über den Archetypus“, Sonderausgabe, hg. von Lilly Jung-Merker und Elisabeth Rüf, Ostfildern 2011.

- , JGW, Bd. 9/2, „Aion“ Sonderausgabe, hg. von Lilly Jung-Merker und Elisabeth Rüf, Ostfildern 2011.

- , JGW, Bd. 12, „Psychologie und Alchemie“, Sonderausgabe, hg. von Lilly Jung-Merker und Elisabeth Rüf, Ostfildern 2011.

- , JGW, Bd. 13, „Der Geist Mercurius“, Sonderausgabe, hg. von Lilly Jung-Merker und Elisabeth Rüf, Ostfildern 2011.

- , JGW, Bd. 15, „Über das Phänomen des Geistes in Kunst und Wissenschaft“, hg. v. Aniela Jaffé, Olten 1973.

- , Psychologie und Alchemie, Zürich 1944

- , Die Beziehung zwischen dem Ich und dem Unbewussten, Zürich 1963.

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Platon, „Die Wiedergeburt der Seele“, in: Das Höhlengleichnis, hg. von Bernhard Kytzler, Berlin 2012, S. 39 - 41.

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Möller, Peter: Spektrum Akademische Verlag GmbH Heidelberg, 2001. http://www.philolex.de/unbewust.htm. (zugegriffen am 13.08.2018)

Stiller, Joachim: Die Seele bei Plotin, http://joachimstiller.de/download/philosophie_seele_plotin.pdf (zugegriffen am 27.07.2018)

Wischmann, Tewes: Der Individuationsprozeß in der analytischen Psychologie C.G. jungshttp://www.dr-wischmann.privat.t-online.de/jung.htm (zugegriffen am 28.09.2018)

Ziegenaus, Anton: „Wirklichkeit und Wirkweise des Bösen“, in: Der Fels 10 (2006), http://www.der-fels.de/2006/10-2006.pdf (zugegriffen am 01.09.2018)

Kein Autor angegeben: http://www.schlaf.de/was_ist_schlaf/1_30_10_remschlaf.php (zugegriffen am 01.09.2018)

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- , http://www.vornamen.ch/name/ivan.html (zugegriffen am 13.08.2018)

DVD

Der Maschinist. Regie: Brad Anderson. Drehbuch: Scott Kosar. Castelao Productions. 2004. (Originaltitel: El Maquinista.) Fassung: DVD. 3L Film GmbH & Co. KG., 2009, 98’.

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