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HABEN DIE AZTEKEN WIRKLICH MASSENWEISE MENSCHEN GEOPFERT? ODER HANDELT ES SICH UM AUSGEBURTEN DER PHANTASIE? UM EINE RECHTFERTIGUNG FÜR DIE VERBRECHEN DER SPANISCHEN KONQUISTADOREN? IM KOLUMBUSJAHR UNTERNIMMT ES EIN SCHWEIZER FORSCHER, IN EINER QUELLEN- UND IDEOLOGIEKRITISCHEN STUDIE EINEN ALTEN MYTHOS ZU DEMONTIEREN Die Lüge des Hernán Cortes VON PETER HASSLER Eine Aura schauerlicher Faszination umgibt die Kultur der Azteken, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine der größten Städte der damaligen Welt besiedelten: Mexico- Tenochtitlan. Sie wurde 1521 von spanischen Eroberern unter Hernán Cortes und deren indianischen Verbündeten dem Erdboden gleichgemacht. Zur Rechtfertigung ihrer zerstörerischen Aktionen hat die Propaganda der Konquistadoren einen für das christliche Empfinden abscheulichen Kult angeführt: die aztekische Praxis der Menschenopfer. Auch die spanischen Chronisten und Missionare, ja sogar die indianischen Konvertiten berichten darüber wiederholt in ihren Werken. Selbst wenn die darin genannten Zahlen von der Wissenschaft als weit übertrieben kritisiert worden sind, so gelten die Menschenopfer im Kult der Azteken dennoch als gesicherte Tatsache. Nach weitverbreiteter Lehrmeinung haben die Azteken, die sich selber als Nahua oder Mexica bezeichneten, ihre Opfer vornehmlich aus Gefangenen rekrutiert. Hierzu hätten sie besondere Kriege, sogenannte Blumenkriege, organisiert, deren Ziel und Zweck es war, möglichst viele gegnerische Krieger gefangenzusetzen, um sie den aztekischen Göttern, vor allem dem (Kriegs-)Gott Huitzilopochtli, zu opfern. Dabei habe man die Gefangenen rücklings über einen Opferstein gelegt, ihnen mit einem Steinmesser die Brust aufgeschnitten und das (noch zuckende) Herz herausgerissen. Ferner seien Sklaven, seltener auch Frauen und Kinder, auf diese Weise geopfert worden. Neben dieser angeblich am häufigsten praktizierten Kardioektomie werden andere Opferformen genannt, bei welchen die Tötung durch Enthaupten, Erschießen mit Pfeilen oder (Wurf-)Speeren oder in einem ungleichen Zweikampf geschah. Eine besondere Stellung im Kult der Azteken, so wird behauptet, nahm das „Menschenschinden“ ein: Dem Opfer wurde die Haut abgezogen, in welche ein Priester schlüpfte, um in diesem makabren Aufzug einen kultischen Tanz aufzuführen (vgl. Abb. 1). Nicht nur den Azteken, sondern auch anderen Völkern Mesoamerikas (Mexikos und Mittelamerikas) – so den Mixteken und den Maya – werden derartige (Tötungs-)Rituale, insbesondere das Herzopfer, nachgesagt. An Theorien und Erklärungen zur Motivation für diese archaischen Kulte mangelt es nicht. So nennen einige Forscher religiöse Gründe, andere vermuten, aus kulturmaterialistischer Sicht, eine

Haben Die Azteken Wirklich Massenweise Menschen Geopfert

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  • HABEN DIE AZTEKEN WIRKLICH MASSENWEISE MENSCHEN GEOPFERT? ODER HANDELT ES SICH UM AUSGEBURTEN DER PHANTASIE? UM EINE RECHTFERTIGUNG FR DIE VERBRECHEN DER SPANISCHEN

    KONQUISTADOREN? IM KOLUMBUSJAHR UNTERNIMMT ES EIN SCHWEIZER FORSCHER, IN EINER QUELLEN- UND IDEOLOGIEKRITISCHEN STUDIE EINEN ALTEN MYTHOS ZU DEMONTIEREN

    Die Lge des Hernn Cortes VON PETER HASSLER

    Eine Aura schauerlicher Faszination umgibt die Kultur der Azteken, die zu Beginn des

    16. Jahrhunderts eine der grten Stdte der damaligen Welt besiedelten: Mexico-

    Tenochtitlan. Sie wurde 1521 von spanischen Eroberern unter Hernn Cortes und deren

    indianischen Verbndeten dem Erdboden gleichgemacht. Zur Rechtfertigung ihrer

    zerstrerischen Aktionen hat die Propaganda der Konquistadoren einen fr das

    christliche Empfinden abscheulichen Kult angefhrt: die aztekische Praxis der

    Menschenopfer.

    Auch die spanischen Chronisten und Missionare, ja sogar die indianischen Konvertiten

    berichten darber wiederholt in ihren Werken. Selbst wenn die darin genannten Zahlen

    von der Wissenschaft als weit bertrieben kritisiert worden sind, so gelten die

    Menschenopfer im Kult der Azteken dennoch als gesicherte Tatsache.

    Nach weitverbreiteter Lehrmeinung haben die Azteken, die sich selber als Nahua oder

    Mexica bezeichneten, ihre Opfer vornehmlich aus Gefangenen rekrutiert. Hierzu htten

    sie besondere Kriege, sogenannte Blumenkriege, organisiert, deren Ziel und Zweck es

    war, mglichst viele gegnerische Krieger gefangenzusetzen, um sie den aztekischen

    Gttern, vor allem dem (Kriegs-)Gott Huitzilopochtli, zu opfern. Dabei habe man die

    Gefangenen rcklings ber einen Opferstein gelegt, ihnen mit einem Steinmesser die

    Brust aufgeschnitten und das (noch zuckende) Herz herausgerissen. Ferner seien Sklaven,

    seltener auch Frauen und Kinder, auf diese Weise geopfert worden.

    Neben dieser angeblich am hufigsten praktizierten Kardioektomie werden andere

    Opferformen genannt, bei welchen die Ttung durch Enthaupten, Erschieen mit Pfeilen

    oder (Wurf-)Speeren oder in einem ungleichen Zweikampf geschah. Eine besondere

    Stellung im Kult der Azteken, so wird behauptet, nahm das Menschenschinden ein:

    Dem Opfer wurde die Haut abgezogen, in welche ein Priester schlpfte, um in diesem

    makabren Aufzug einen kultischen Tanz aufzufhren (vgl. Abb.

    1). Nicht nur den Azteken, sondern auch anderen Vlkern Mesoamerikas

    (Mexikos und Mittelamerikas) so den Mixteken und den Maya werden derartige

    (Ttungs-)Rituale, insbesondere das Herzopfer, nachgesagt. An Theorien und

    Erklrungen zur Motivation fr diese archaischen Kulte mangelt es nicht. So nennen

    einige Forscher religise Grnde, andere vermuten, aus kulturmaterialistischer Sicht, eine

  • machtpolitische Repression oder die Regulation einer berbevlkerung. Eine wegen ihrer

    Absurditt oft kritisierte Hypothese trug Michael Harner vor: Die Menschenopfer und

    der sich daran anschlieende Kannibalismus seien kologisch notwendig gewesen, weil

    die Menschen an chronischem Proteinmangel gelitten htten; der Genu von

    Menschenfleisch soll angeblich dem aztekischen Adel vorbehalten geblieben sein. ber

    Menschenopfer bei den Azteken wurde eine Flle von meist kleineren Artikeln

    geschrieben. Auch in Gesamtdarstellungen der aztekischen Kultur fehlt kaum ein Kapitel

    darber; ebenso findet sich in Geschichtsbchern, Lexika und selbst historischen

    Abrissen meist ein Hinweis auf diese Opfer. Obwohl so oft von Menschenopfern die Rede

    ist, trifft man doch kaum auf Quellenkritik, auch nicht in den (nur in geringer Zahl

    vorhandenen) Buchmonographien.

    Es drngt sich daher die Notwendigkeit auf, die Quellen einmal kritisch zu

    durchleuchten. Als klassischer Augenzeugenbericht ber ein (Massen-)Menschenopfer

    bei den Azteken werden hufig die Schilderungen von Bernal Diaz del Castillo, einem

    schreibkundigen Soldaten im Tro von Corts, zitiert:

    Wir schauten hinber zur groen Pyramide ... und sahen, wie sie [die Azteken] ...unsere

    Kameraden ... mit Gewalt die Treppen hinaufschleppten und sich anschickten, diese [die

    spanischen Gefangenen] zu opfern ... Nachdem sie getanzt hatten, legten sie sie dann rcklings

    ber recht schmale, zur Opferung hergerichtete Steine, und mit Feuerstein-Messern sgten sie ihnen

    die Brust auf, rissen ihnen das Herz (noch) zuckend heraus und boten es den Gtzen ... dar.

    (Dann) stieen sie die Krper mit den Fen die Stufen hinunter. Unten warteten weitere

    blutrnstige Priester, die ihnen Arme und Beine abschnitten und die Gesichter huteten. (Diese

    Hute) gerbten sie wie Handschuhleder. Samt ihren Barten bewahrten sie sie auf, um mit ihnen

    Feste zu feiern, whrend (derer) sie ein Gelage veranstalteten und das Fleisch (der Geopferten) mit

    Chilmole [einer scharfen Sauce] verschlangen. (bersetzt aus: Bernal Daz del Castillo,

    Historia verdadera de la conquista de Nueva Espaa, Capitulo 152, in spter

    Erinnerung aufgezeichnet zwischen 1552 und 1557, posthum erschienen

    in Madrid 1632; Nachdruck: Mexiko 1974.)

    Der Schauplatz, der Haupttempel in der Inselstadt Tenochtitlan, lag vom

    Beobachtungsstandort der angeblichen Augenzeugen, dem Lager an den Ufern in der

    Nhe von Tlacopan, etwa sechs bis acht Kilometer Luftdistanz entfernt. Daher konnte

    Bernal Daz, obwohl er sich auf mehrere Zeugen berief, weder etwas gesehen noch gehrt

    haben.

    Um gar die berichteten Ereignisse am Fue der Tempelpyramide mitzuverfolgen, htte er

    sich in dem durch Mauern eingefriedeten heiligen Tempelbezirk befinden mssen; die

  • Umstnde erlaubten dies aber nicht. Den Azteken war es nmlich gelungen, die von

    mehreren Seiten angreifenden Spanier und deren indianische Verbndete

    zurckzuschlagen und eine Brigantine zu kapern. Hierbei nahmen sie etwa fnfzig

    Spanier gefangen, deren vermeintliche Opferung Bernal Daz spter so phantasiereich

    beschrieb. Die Spanier und ihre indianischen Helfer hatten sich nach dieser Niederlage in

    ihre Lager zurckziehen mssen.

    Bernal Diaz ist jedoch nicht der Erfinder dieser Ritualmordlge: Hernn Cortes schrieb

    sie 1522 in einer etwas krzeren Fassung in seiner Tercera Carta de Relacin an Kaiser

    Karl V. Er durfte gewi sein, damit in Europa auf offene Ohren zu treffen, grassierten

    doch gerade dort seit dem 15./16. Jahrhundert bereits Ritualmordlgen ber die Juden,

    die man soeben zusammen mit den Mauren von der iberischen Halbinsel vertrieben

    hatte. (In unserem Jahrhundert haben sich auch die Nazis bei ihren Hetzkampagnen

    gegen die Juden dieses alten Topos der Barbarei bedient.)

    In der Tat, der Lge des Hernn Cortes war ein berwltigender Erfolg beschieden: Fast

    fnfhundert Jahre lang konnte sie unbeschadet berdauern. Juan Gins de Seplveda, der

    Gegenspieler des Indianer-Verteidigers Fray Bartolome de las Casas, benutzte solche

    Berichte ber Menschenopfer und Kannibalismus Praktiken also, die er selber nie

    beobachtet hatte als Grundlage fr seine rassistischen Schriften, mit denen er

    versuchte, den indianischen Vlkern das Menschsein abzusprechen und ihre

    Unterwerfung oder Ausrottung zu rechtfertigen.

    Zu den Lgen der Konquistadoren kommen noch einige wenige ausfhrlichere Berichte

    aus zweiter Hand, also Geschichten vom Hrensagen; man findet sie in den Schriften

    der spanischen Missionare und der indianischen Konvertiten, welche in proselytischem

    Eifer gegen die alte Religion wetterten. Daneben gibt es eine Flle von stereotypen

    Phrasen, zum Beispiel die Wendung und sie opferten sie. Offensichtlich hat jedoch nie

    ein Spanier oder ein indianischer Konvertit tatschlich die Opferung eines Menschen

    beobachtet!

    Die einzigen konkreten Aussagen darber, wer wen wann wo und wie geopfert haben

    soll, entstammen nicht etwa dem aztekischen Kulturbereich, sondern jenem der Maya in

    Yukatan. Diese Schilderungen sind in den Akten der Inquisitionsprozesse von 1561/65,

    welche der fanatische Pater Diego de Landa leitete, aufgezeichnet. Pater Diego gilt als

    Hauptinformant in Sachen Maya-Kultur. Er war es auch, der die Bibliotheken der Maya

    plndern und etliche Hieroglyphenhandschriften verbrennen lie.

    Die besagten Gestndnisse ber Menschenopfer jedoch wurden den Indianern unter der

    Folter durch stereotype Befragungen abgepret. Diese Prozedur wurde jeweils so lange

  • fortgesetzt, bis die gewnschte Antwort kam oder der Gepeinigte starb. Die Aussagen der

    gequlten Indianer entbehren somit jeglicher Beweiskraft und sind fr die Ethnographie

    wertlos.

    Neben den Schriftquellen existieren viele archologische Zeugnisse wie Skulpturen,

    Fresken, Malereien und Bilderhandschriften, die sowohl von den Spaniern als auch von

    indianischen Konvertiten und von Anthropologen mit Menschenopfern in Verbindung

    gebracht wurden. Jedoch sind bildliche Darstellungen von Herzen oder auch von

    Ttungen noch lange kein Beweis, da tatschlich Menschen geopfert worden sind.

    Fr solche Darstellungen gbe es gengend andere Interpretationen: etwa Mythos oder

    Legende; die Darstellung bildhafter Rede (Allegorie, Symbol, Metapher); womglich eine

    profane Exekution; auch Mord. Ebensowenig knnen bearbeitete Menschenknochen als

    Beweis fr die Existenz von Menschenopfern dienen, da es sich auch um Reliquien oder

    andere Kultobjekte handeln knnte, die keineswegs an die Opferung von Menschen

    erinnern. Zum Beispiel gibt es in Ritualen des tantrischen Buddhismus Schdelschalen

    und Knochen trompeten.

    Die Forschung hat sich bislang auf die erwhnten Lgen und die Geschichten vom

    Hrensagen abgesttzt und dann entsprechend die archologischen Zeugnisse, die

    mexikanischen Bilderhandschriften sowie bestimmte Maya-Hieroglyphen interpretiert.

    Der Zirkelschlu ist klar: Die Spanier bekamen Darstellungen auf Skulpturen, Fresken,

    Malereien und Bilderhandschriften zu Gesicht, die sie als Menschenopfer deuteten, und

    die Anthropologen wiederum verwendeten die spanischen Berichte zur Interpretation

    dieser oder hnlicher Sachquellen, ohne die schriftlichen Zeugnisse je kritisch und

    systematisch hinterfragt zu haben, aller Ungereimtheiten und Widersprche zum Trotz.

    Vereinzelt gibt es auch weniger triviale Deutungen. So hat zum Beispiel der sterreicher

    Karl Anton Nowotny aus Bilderhandschriften zur Geschichte des Frsten 8-Hirsch

    Jaguarklaue einen Mord im Schwitzbad herausgelesen, was man lange Zeit als ein

    Herzopfer im Tempel angesehen hatte. Die Symbolforscherin Leslie J. Frst hat

    Darstellungen im Codex Vindobonensis Mexicanus 1, bei denen andere Interpreten

    sogleich an Menschenopfer dachten, als magische Handlungen entlarvt: So wird eine

    Agave, welche eine weibliche Gottheit verkrpert, enthauptet (vgl. Abb. 2), wie dies in

    den Ritualen zur Herstellung des Rauschtrankes Pulque in symbolischer Weise geschieht.

    Andere Darstellungen erlutert die Forscherin als (magische) Ttungen personifizierter

    Steine.

  • Wie man Abbildungen von Selbstenthauptungen (vgl. Abb. 3) oder andere

    Bildgeschichten, die offensichtlich jeglichen physischen Realismus entbehren, jemals als

    Menschenopfer deuten konnte, drfte knftigen Generationen wohl ein Rtsel sein.

    Einen anderen wichtigen symbolischen Hintergrund fr die Ttungsdarstellungen hat

    man bis heute noch berhaupt nicht bercksichtigt die Initiation (eine feierliche

    Einweisung). Zwar ist in der Fachliteratur von den Schamanen im vorkolumbischen

    Mesoamerika die Rede, jedoch kaum von deren Initiationsriten. Dabei sind gerade sie

    Schlsselereignisse: Im Mittelpunkt des Rituals steht der mystische Tod. Der Kandidat

    stirbt und erneuert sich. Dieser Tod durch Imagination oder symbolische

    Handlungen nimmt oft dramatische Formen an, etwa als Zerstckelung oder als

    Verschlingen durch ein Ungeheuer. Auf diese Symbolik hin sind die

    Ttungsdarstellungen und die Todessymbole in der indianischen Hochkultur

    Mesoamerikas bisher noch nicht untersucht worden, obschon es dort mehrere Mythen

    gibt, in denen durch Sterben neues Leben entsteht.

    Und was wohl hat es mit Tod und Auferstehung der beiden Helden Hunahpu und

    Xbalanque auf sich, wovon im berhmten Heiligen Buch der Quich-Indianer (in

    Guatemala), dem Popol Vuh, erzhlt wird? Nach einem hitzigen Ballwettspiel mit den

    Frsten der Unterwelt, so die Sage, sollten die beiden Helden gettet werden. Sie

    strzten sich jedoch selber in die Backgrube und auferstanden erneuert aus ihren

    pulverisierten Gebeinen. Danach besiegten sie die Frsten der Unterwelt und

    verwandelten sich schlielich in Sonne und Mond. Ist das tdliche Ballspiel nicht doch

    mythisch-symbolisch zu verstehen?

    Das Ballspiel gehrte im brigen zu den Charakteristika der Kulturen Mesoamerikas.

    Wren die Berichte ber Ttungen der Verlierer- oder der Siegermannschaft wrtlich zu

    nehmen, htte sich dieses Spiel wohl nicht nur wegen Nachwuchsmangels, sondern auch

    aus konomischen Grnden kaum lange halten knnen. Denn es ist eine kostspielige und

    letztlich wenig sinnvolle Angelegenheit, dauernd Spezialisten auszubilden, welche

    hernach umgebracht werden sollen.

    Der Tod ist nicht nur ein Thema im (mythischen) Ballspiel, sondern auch in manchen

    Kultdiamen der Azteken. Bei den Jahresfesten wurde unehliches Geschehen

    nachgestaltet. Dazu mute man nicht notwendig mythische Ttungen bei lebendigem

    Leibe vornehmen der Bhnentod ist schlielich keine Erfindung der Neuzeit. Gerade

    die in den Quellen geschilderten impraktikablen Handlungen zeigen, da theatralische

    Ttungen gemeint sind. Da wird zum Beispiel beschrieben, wie man die Brust

    aufschneidet: Von Brustwarze zu Brustwarze oder etwas darunter, wie es bei Fray

  • Bernardino de Sahagun steht, und zwar mittels eines Steinmessers. Oder es wird jemand

    mit alleiniger Hilfe des Steinmessers enthauptet! Oder man ffnet damit sogar die eigene

    Brust. Anscheinend besonders Tapferen gelingt mit dem Steinmesser sogar eine

    Selbstenthauptung!

    In diese Kategorie gehrt wohl auch das Ritual des Menschenschindens: Einem

    Darsteller wird die Haut rasch und in einem Stck allenfalls die Haut des Kopfes

    separat abgezogen, damit ein Priester in diesen skindress schlpfen kann, um darin einen

    bis zu zwanzig Tage dauernden kultischen Tanz aufzufhren.

    Man mu dabei bedenken, welcher Aufwand von der Reinigung bis zur Gerbung fr die

    Prparation einer Tierhaut notwendig ist, damit diese geschmeidig bleibt. Auch wre ein

    Schnitt lediglich dem Rckgrat entlang, wie man ihn auf Skulpturen beobachten kann,

    kaum praktikabel gewesen (vgl. Abb. 1). Folglich kann dastlacaxipeualiztli, wie das

    Menschenschinden im Aztekischen genannt wurde, kaum anders als metaphorisch-

    symbolisch verstanden werden, war doch gerade die Sprache der Azteken fr ihre

    vielfltige bildhafte Rede bekannt. So verbirgt sich hinter yollotli eztli (Herz und Blut)

    nichts Blutrnstiges, sondern eine Metapher fr ein begehrtes Getrnk, nmlich den

    Kakao!

    Das Herz ist nicht nur im europischen Kulturraum ein symboltrchtiges Organ. Auch in

    indianischen Sprachen verbinden sich damit Assoziationen von Gemt und Seele. Fr

    das in der Literatur so oft erwhnte Herzopfer ist brigens in keiner indianischen

    Sprache Mesoamerikas ein eigenes Wort berliefert. Selbst im Aztekischen nicht, obwohl

    gerade in dieser Sprache Rituale in minuziser Weise durch besondere Bezeichnungen

    differenziert werden. So trifft man fr das Herzopfer lediglich auf den allgemeinen

    Begriff Menschentten/-morden(tlacamictliliztli). Noch kein bersetzer des Aztekischen

    hat je Rechenschaft darber abgelegt, warum er mictia (tten) als opfern bertrgt,

    wenn Indianer Spanier umbringen, im umgekehrten Fall jedoch dieses Wort mit tten

    wiedergibt.

    Die Seele aus dem Leibe schneiden ist nun einmal kein chirurgischer Akt. So erklrt

    sich vielleicht, warum Herzopfer in Mesoamerika nie beobachtet worden sind und

    warum man keine Massendeponien all der angeblichen Hekatomben von Geopferten

    gefunden hat.

    Schlielich hat auch der Huitzilopochtli-Mythos, der immer noch als Grundlage fr die

    angeblichen Menschenopfer bei den Azteken herhalten mu, nichts mit einem Opfer zu

    tun. Die Gttin Coatlicue wurde durch eine Daunenfeder schwanger. Ihre Shne, die

    Centzonhuitznaua, und deren ltere Schwester Coyolxauqui glaubten ihr nicht und

  • wollten ihre vermeintlich unehrenhafte Mutter tten. Doch bevor den Geschwistern dies

    gelang, wurde Huitzilopochtli in voller Kriegsmontur geboren. Er vernichtete seine

    lteren Brder und zerstckelte seine bse Schwester Coyolxauqui.

    Von einem Ttungsritual im Sinne einer Opferhandlung kann bei diesem Kampf der

    Gtter wahrlich keine Rede sein. Dies hat zwar Eduard Seier (1849-1922), ein Pionier

    der Mexikanistik, schon zu Beginn dieses Jahrhunderts erkannt, aber weder er noch

    andere Wissenschaftler zogen daraus Konsequenzen. Noch etwas hat man bersehen:

    Der Stammesgott der Azteken, der in der Literatur, auch in der Belletristik, als so

    blutrnstig dargestellt wird, lie sich whrend des Festes Tlaxochimaco anscheinend auch

    durch harmlose Blumen zufriedenstellen. Whrend des ihm geweihten Panquetzaliztli-

    Festes haben die Feiernden sein Abbild in der Form einer Teigfigur gefangengenommen

    und in einer Art Eucharistie verspeist.

    Das Resmee: Nach sorgfltigem und systematischem Studium der Quellen lassen sich keine

    institutionalisierten (Massen-)Menschenopfer nachweisen. Das Phnomen ist also nicht das

    angebliche Opfer, sondern allen Widersprchen in den Quellen zum Trotz der immer

    noch tief verwurzelte Glaube daran.

    Mit dem hier vorgestellten Thema setzt sich der Autor ausfhrlich in einem soeben erschienenen Buch

    auseinander: Menschenopfer bei den Azteken? Eine quellen- und ideologiekritische Studie; Reihe

    XIX, Volkskunde/Vlkerkunde, Abt. B: Ethnologie, Bd. 30; Verlag Peter Lang, Bern 1992.

    Peter Hassler, Jahrgang 1954, studierte in Bonn Altamerikanistik, Indologie und Tibetologie und

    machte ein Doktorat in Ethnologie an der Universitt Zrich. Seine Forschungsschwerpunkte sind

    Ethnohistorie und Religionsethnologie.