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TREFFPUNKT FORSCHUNG 214 Phys. Unserer Zeit 5/2012 (43) www.phiuz.de © 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim ELEMENTARTEILCHENPHYSIK | Haben wir das Higgs-Boson entdeckt? Im Dezember letzten Jahres verkündeten die Sprecher der beiden am Large Hadron Collider (LHC) eingesetzten Großexperimente ATLAS und CMS erste Hinweise auf das lang gesuchte Higgs-Boson [1]. Nun wurden am 4. Juli dieses Jahres die neuen Ergebnisse von beiden Experimenten in einem weltweit übertragenen Seminar vorgestellt. Die damals gefun- denen Signale haben sich deutlich verstärkt, so dass die Entdeckung eines neuen Teilchens als sicher gilt. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um das vom Standardmodell verhergesagte Higgs-Boson. Während die im Dezember vorgetra- genen Ergebnisse in einer zweijähri- gen Datennahme am LHC bei einer Schwerpunktsenergie von 7 TeV ge- wonnen wurden, kam für die neuen Messungen eine vergleichbare Daten- menge bei 8 TeV Schwerpunktsener- gie hinzu. Wegen der höheren Ener- gie und der auch deutlich höheren Kollisionsrate herrschten diesmal an- dere experimentelle Bedingungen als in der ersten Datennahme, so dass die neuen Messungen eine unabhän- gige Überprüfung darstellten. Bei der Suche machten sich die Forschergruppen zunutze, dass die möglichen Zerfallsarten (Teilchen- physiker sprechen von Zerfallskanä- len) des Higgs-Teilchens sehr gut vorhersagbar sind. Entsprechend die- ser theoretischen Vorgaben wurde die Suche optimiert. Die höchste Empfindlichkeit besitzen die beiden Detektoren bei Higgs-Zerfällen in Photonpaare oder in Paare von Z-Bo- sonen mit nachfolgenden Zerfällen in vier geladene Leptonen. In diesen Fällen entspricht die invariante Mas- se der Zerfallsprodukte innerhalb der Detektorauflösung der Masse des Higgs-Bosons; das Signal stellt sich als enge Anhäufung über einer breiten Untergrundverteilung dar. Abbildung 1 zeigt ein Kollisions- ereignis mit einem Higgs-Kandidaten in dem Zwei-Photonen-Kanal. Im theoretisch bevorzugten niedrigen Massenbereich ist auch die Suche nach Higgs-Zerfällen in Paare von W-Bosonen vielversprechend. Aller- dings erwarten wir hier keine scharfe Signalspitze, sondern eine breite Ver- teilung in der rekonstruierten Masse. Das liegt daran, dass Neutrinos von W-Boson-Zerfällen einen Teil der Zer- fallsenergie unvermessen davontragen. Wie bereits im Dezember wurde von beiden Experimenten bei einer Masse von etwa 125 GeV/c 2 ein deut- lich sichtbares Signal gefunden, das im Photonkanal am signifikantesten ist. Die beobachteten Signale können nicht durch Fluktuationen des Unter- grunds erklärt werden. Kombiniert man die Daten der ersten und der laufenden Datennahme, dann besit- zen die Signale eine Signifikanz von etwa 5 Standardabweichungen (5σ). Die entsprechende Wahrscheinlich- keit einer Untergrundfluktuation ist in beiden Experimenten also kleiner als 1 zu 1 Million. Abbildung 2 zeigt die Entwick- lung des von ATLAS rekonstruierten Signals mit anwachsender Datenmen- ge (symbolisiert durch den Zeitpunkt der Präsentation der Ergebnisse). Man sieht deutlich die Zunahme der Signifikanz des Signals an derselben Stelle in der rekonstruierten Masse. Damit ist die Entdeckung eines neu- en Teilchens sicher. Bleibt die Frage: Um was für ein Teilchen handelt es sich nun? Tatsächlich passen die Beobach- tungen recht gut zu der Hypothese der Erzeugung und des Zerfalls eines Higgs-Bosons des Standardmodells. In Abbildung 3 sind die Signalstärken in verschiedenen Kanälen aufgetra- gen, die von Kopplungsstärken an die unterschiedlichen Teilchen ab- hängen. Angesichts der noch sehr großen statistischen Unsicherheiten scheint das entdeckte Teilchen mit der Hypothese eines Higgs-Bosons übereinzustimmen. Allerdings ist bei beiden Experi- menten eine leichte Überhöhung der Signalstärke im Photon-Photon-Kanal im Vergleich zur Standardmodellvor- hersage sichtbar, während eher zu wenige Kandidaten im Tau-Kanal be- obachtet werden. Wegen der gerin- gen Statistik berechtigen diese Mess- werte jedoch nicht, Schlüsse über mögliche Abweichungen zu ziehen. Sie zeigen aber die Notwendigkeit, das neu entdeckte Teilchen in allen Abb. 1 Kollisionsereignis mit einem Higgs-Boson-Kandidaten, der in zwei hochenergetische Photonen zerfällt (rote Balken). Die gelben Spuren kommen von ionisierenden Teilchen aus dem Kollisionsrest. ABB. 2 SIGNIFIKANZ Evolution der Signifikanz des beobachteten Signals mit der verwendeten Datenmenge. Der links dargestellte P-Wert gibt die Wahrscheinlichkeit an, mit der durch Fluktuation reine Untergrundprozesse mindestens die Zahl der beobachteten Ereignisse ergeben und so ein Signal vortäuschen. Rechts ist die Signifikanz des Signals in Einheiten der Standardabweichung aufgetragen. Die gepunkteten Kurven entsprechen den Erwar- tungen bei Produktion eines Standardmodell-Higgs-Bosons.

Haben wir das Higgs-Boson entdeckt?

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T R E F F P U N K T FO R SC H U N G

214 Phys. Unserer Zeit 5/2012 (43) www.phiuz.de © 2012 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

E L E M E N TA R T E I LC H E N PH YS I K |Haben wir das Higgs-Boson entdeckt?Im Dezember letzten Jahres verkündeten die Sprecher der beiden amLarge Hadron Collider (LHC) eingesetzten Großexperimente ATLAS undCMS erste Hinweise auf das lang gesuchte Higgs-Boson [1]. Nun wurdenam 4. Juli dieses Jahres die neuen Ergebnisse von beiden Experimentenin einem weltweit übertragenen Seminar vorgestellt. Die damals gefun-denen Signale haben sich deutlich verstärkt, so dass die Entdeckungeines neuen Teilchens als sicher gilt. Sehr wahrscheinlich handelt es sichum das vom Standardmodell verhergesagte Higgs-Boson.

Während die im Dezember vorgetra-genen Ergebnisse in einer zweijähri-gen Datennahme am LHC bei einerSchwerpunktsenergie von 7 TeV ge-wonnen wurden, kam für die neuenMessungen eine vergleichbare Daten-menge bei 8 TeV Schwerpunktsener-gie hinzu. Wegen der höheren Ener-gie und der auch deutlich höherenKollisionsrate herrschten diesmal an-dere experimentelle Bedingungen alsin der ersten Datennahme, so dassdie neuen Messungen eine unabhän-gige Überprüfung darstellten.

Bei der Suche machten sich dieForschergruppen zunutze, dass diemöglichen Zerfallsarten (Teilchen-physiker sprechen von Zerfallskanä-len) des Higgs-Teilchens sehr gut vorhersagbar sind. Entsprechend die-ser theoretischen Vorgaben wurdedie Suche optimiert. Die höchsteEmpfindlichkeit besitzen die beidenDetektoren bei Higgs-Zerfällen inPhotonpaare oder in Paare von Z-Bo-sonen mit nachfolgenden Zerfällen invier geladene Leptonen. In diesenFällen entspricht die invariante Mas-se der Zerfallsprodukte innerhalb derDetektorauflösung der Masse desHiggs-Bosons; das Signal stellt sich alsenge Anhäufung über einer breitenUntergrundverteilung dar.

Abbildung 1 zeigt ein Kollisions-ereignis mit einem Higgs-Kandidatenin dem Zwei-Photonen-Kanal. Im theoretisch bevorzugten niedrigenMassenbereich ist auch die Suchenach Higgs-Zerfällen in Paare von W-Bosonen vielversprechend. Aller-dings erwarten wir hier keine scharfeSignalspitze, sondern eine breite Ver-teilung in der rekonstruierten Masse.

Das liegt daran, dass Neutrinos vonW-Boson-Zerfällen einen Teil der Zer-fallsenergie unvermessen davontragen.

Wie bereits im Dezember wurdevon beiden Experimenten bei einerMasse von etwa 125 GeV/c2 ein deut-lich sichtbares Signal gefunden, dasim Photonkanal am signifikantestenist. Die beobachteten Signale könnennicht durch Fluktuationen des Unter-grunds erklärt werden. Kombiniertman die Daten der ersten und derlaufenden Datennahme, dann besit-zen die Signale eine Signifikanz vonetwa 5 Standardabweichungen (5σ).Die entsprechende Wahrscheinlich-keit einer Untergrundfluktuation istin beiden Experimenten also kleinerals 1 zu 1 Million.

Abbildung 2 zeigt die Entwick-lung des von ATLAS rekonstruiertenSignals mit anwachsender Datenmen-ge (symbolisiert durch den Zeitpunktder Präsentation der Ergebnisse).Man sieht deutlich die Zunahme derSignifikanz des Signals an derselbenStelle in der rekonstruierten Masse.Damit ist die Entdeckung eines neu-en Teilchens sicher. Bleibt die Frage:Um was für ein Teilchen handelt essich nun?

Tatsächlich passen die Beobach-tungen recht gut zu der Hypotheseder Erzeugung und des Zerfalls einesHiggs-Bosons des Standardmodells. In Abbildung 3 sind die Signalstärkenin verschiedenen Kanälen aufgetra-gen, die von Kopplungsstärken an die unterschiedlichen Teilchen ab-hängen. Angesichts der noch sehrgroßen statistischen Unsicherheitenscheint das entdeckte Teilchen mitder Hypothese eines Higgs-Bosonsübereinzustimmen.

Allerdings ist bei beiden Experi-menten eine leichte Überhöhung derSignalstärke im Photon-Photon-Kanalim Vergleich zur Standardmodellvor-hersage sichtbar, während eher zuwenige Kandidaten im Tau-Kanal be-obachtet werden. Wegen der gerin-gen Statistik berechtigen diese Mess-werte jedoch nicht, Schlüsse übermögliche Ab weichungen zu ziehen.Sie zeigen aber die Notwendigkeit,das neu entdeckte Teilchen in allen

Abb. 1 Kollisionsereignis mit einem Higgs-Boson-Kandidaten,der in zwei hochenergetische Photonen zerfällt (rote Balken).Die gelben Spuren kommen von ionisierenden Teilchen ausdem Kollisionsrest.

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Evolution der Signifikanz des beobachteten Signals mit derverwendeten Datenmenge. Der links dargestellte P-Wert gibtdie Wahrscheinlichkeit an, mit der durch Fluktuation reineUntergrundprozesse mindestens die Zahl der beobachtetenEreignisse ergeben und so ein Signal vortäuschen. Rechts ist dieSignifikanz des Signals in Einheiten der Standardabweichungaufgetragen. Die gepunkteten Kurven entsprechen den Erwar-tungen bei Produktion eines Standardmodell-Higgs-Bosons.

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seinen Eigen schaften sehr gründlichzu vermessen.

Einen Beitrag hierzu hat auch dasTevatron am Fermilab bei Chicagogeliefert. Es fand ebenfalls Über-schüsse bei der Suche nach demHiggs-Boson, allerdings liegt derenSignifikanz nur bei 3σ. Bei der Suchein einer Vielzahl von Kanälen sindhauptsächlich Zerfälle in Bottom-Quarks gefunden worden, was lautStandardmodell auch so zu erwartenist. Die Resultate werden dennochmit Vorsicht gesehen, da ein komple-xes Gemisch von unterschiedlichenUntergrundquellen eine Signalextrak-tion sehr unsicher macht. Wie gehtes weiter?

Derzeit läuft der LHC auf Hoch-touren bei 8 TeV. Die Datennahmewurde sogar bis zum Februar 2013verlängert, bevor das große Umbau-programm, das einen Betrieb bei14 TeV erlauben wird, den LHC für20 Monate stilllegt. Die in der jetzigenPeriode gewonnenen Daten werdenausreichen, weitere wichtige Eigen-schaften und Zerfallskanäle desHiggs-Bosons nachzuweisen. Insbe-sondere muss etabliert werden, dassdas entdeckte Teilchen skalar ist,sprich einen Spin 0 hat. Das ist einewesentliche Eigenschaft und Be-sonderheit des Higgs-Bosons.

So kann bis Frühjahr nächstenJahres entschieden werden, ob essich tatsächlich um den letzten nochfehlenden Baustein des Standard -modells der Teilchenphysik handelt,oder ob man gar etwas gänzlich Un-erwartetem auf der Spur ist. Beideswären große Entdeckungen in derPhysik.

Literatur[1] T. Müller, Phys. Unserer Zeit 2012,

43 (1), 10.[2] T. Müller, Phys. Unserer Zeit 2008,

39 (2), 78.press.web.cern.ch/press/PressReleases/Releases2012/PR17.12E.html

Thomas Müller, KIT Karlsruhe

Abb. 4 François Englert (links) und Peter Higgs (rechts) nach den Vorträgen beimCERN-Seminar am 4. Juli.

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Stärken der von ATLAS (links) und CMS (rechts) beobachteten Signale in verschiedenen Zerfallskanälen,normiert auf die entsprechenden Standardmodell-Wirkungsquerschnitte. Es ist eine leichte Überhöhungdes Signals im Photon-Photon-Kanal (γ γ ) erkennbar, allerdings ist die statistische Unsicherheiten nochsehr groß.

D I E E R D E I N 3 D |Die beiden deutschen Radarsatelliten TanDEM-X und TerraSAR-X haben die Land-flächen der Erde einmal komplett abge-bildet. Aus der Datenbasis entsteht das weltweit erste einheitliche, digi tale Höhen-modell der Erde in 3D mit zwei Meter Höhengenauigkeit. Das Deutsche Zentrumfür Luft- und Raumfahrt (DLR) steuert beide Radarsatelliten und erzeugt dasHöhenmodell.

www.dlr.de/dlr/desktop default.aspx/tabid-10212/332_read-2451 Abb.1 Das Höhenrelief von Island (Foto: DLR).