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Thomas Hegemann und Ramazan Salman Handbuch Transkulturelle Psychiatrie

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Thomas Hegemann und Ramazan SalmanHandbuch Transkulturelle Psychiatrie

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Thomas Hegemann und Ramazan Salman

Handbuch Transkulturelle Psychiatrie

Mit Beiträgen von:Sjoerd Colijn

Gerhard EbnerSuman FernandoDorothea Grieger

Thomas HegemannThomas Hilbert

Bertold HuberJoop de JongRob KeukensAhmet Kimil

Jan Ilhan KizilhanInga-Britt KrauseSteffen Kröhnert

Filiz KüçükJutta Lindert

Roland LittlewoodMarie Rose Moro

Cornelia OestereichGari Pavković

Ramazan SalmanKlaus SievekingCarlos E. Sluzki

Jakob SpallekGesine Sturm

Andreas TänzerHacı-Halil Uslucan

Hajo Zeeb

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Thomas Hegemann und Ramazan Salman

Handbuch Transkulturelle Psychiatrie

1. Auflage 2010

ISBN-Print: 978-3-88414-467-1

ISBN-PDF: 978-3-88414-741-2

ISBN-ePub: 978-3-88414-841-9

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Psychiatrie-Verlag im Internet: www.psychiatrie-verlag.de

© Psychiatrie-Verlag GmbH, Bonn 2010

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden. Lektorat: Uwe Britten, textprojekte, Geisfeld Umschlaggestaltung: p.o.l: kommunikation design gmbh, Köln, unter Verwendung eines Fotos von Ute Hüper, Köln Typografiekonzeption: Iga Bielejec, Nierstein Satz: Psychiatrie-Verlag, Bonn Druck und Bindung: Druckkollektiv, Gießen

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EINFÜHRUNG IN DIE TRANSKULTURELLE PSYCHIATRIE

Transkulturelle Psychiatrie – eine Reise Vorwort 11

Thomas Hegemann und Ramazan Salman

Von Kategorien zu Kontexten Plädoyer für eine kultursensible Psychiatrie 20

Roland Littlewood

RAHMENBEDINGUNGEN UND HINTERGRÜNDE

Migration in Deutschland und Europa – Gegenwart und Zukunft 41

Steffen Kröhnert

Bedarf und Inanspruchnahme psychiatrischer Versorgung durch Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland 58

Jacob Spallek und Hajo Zeeb

Rassismus als institutioneller Prozess 69

Suman Fernando

Teilhabe von Migrantinnen und Migranten als kommunalpolitische AufgabeFührungsverantwortung in der öffentlichen Verwaltung 79

Gari Pavković

THEORETISCHE UND METHODISCHE GRUNDLAGEN

Anthropologische Modelle für die multikulturelle psychiatrische Arbeit 95

Inga-Britt Krause

Psychologische Phasen der Migration und ihre Auswirkungen 108

Carlos E. Sluzki

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Transkulturelle Kommunikation und Beratung Die Kompetenz, über kulturelle Grenzen hinweg Kooperation herzustellen 124

Thomas Hegemann

Klassifizieren oder nuancieren? Ein kritischer Blick auf DSM und ICD am Vorabend des DSM-V 142

Joop de Jong

Psychotherapeutisches Arbeiten in institutionellen Settings Ein langer Weg von der Aufnahme bis zur Nachsorge 169

Jan Ilhan Kizilhan

TRANSKULTURELLE METHODEN UND QUERSCHNITTSAUFGABEN

Gestaltung kultursensibler Servicedienste Konsequente Entwicklungen in lernenden Organisationen 187

Thomas Hegemann

Vermittler zwischen Sprachen und Kulturen Methoden des Gemeindedolmetschens und des Überbrückens von Kommunikationshindernissen 199

Ramazan Salman

Psychiatrische Begutachtung von Migrantinnen und Migranten Gütekriterien für eine interkulturelle Begutachtung 216

Gerhard Ebner

Interkulturelle Qualifizierung und Personalentwicklung Förderung interkultureller Kompetenz in psychiatrischen Versorgungseinrichtungen 242

Thomas Hegemann und Ramazan Salman

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ZIELGRUPPENSPEZIFISCHE ERFORDERNISSE

Frauen in der Migration Genderspezifische Bedürfnisse von Migrantinnen 259

Gesine Sturm und Marie Rose Moro

Jugendliche Migrantinnen und Migranten in der psychiatrischen Versorgung 273

Sjoerd Colijn

Gewalttätige Jugendliche mit Migrationshintergrund Modelle und Bewältigungen 288

Hacı-Halil Uslucan

Alt werden in der Fremde Soziale Lage, Bedarf und Versorgungsrealität von älteren Migranten 301

Dorothea Grieger und Filiz Küçük

Gesundheitliche Versorgung von Menschen »ohne Papiere« 317

Thomas Hilbert und Klaus Sieveking

AUSGEWÄHLTE ARBEITSBEREICHE

Entwicklung interkultureller Kompetenz im psychiatrischen Krankenhaus 333

Cornelia Oestereich

Kultursensible Fürsorge in den Arbeitsbeziehungen der psychiatrischen Pflege 350

Rob Keukens

Migration und Sucht 368

Ahmet Kimil und Ramazan Salman

Traumatische Ereignisse bei Migranten und ihre Auswirkungen 383

Jutta Lindert

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Migranten im Maßregelvollzug 398

Andreas Tänzer

Auf der Weiterreise zu einer transkulturellen Psychiatrie 414

Thomas Hegemann und Ramazan Salman

ANHANG

Ausländerrechtliche Bestimmungen in Deutschland 418

Bertold Huber

Literatur 448

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EINFÜHRUNG IN DIE TRANSKULTURELLE PSYCHIATRIE

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Übersicht über dieses Kapitel

In dieser Einführung werden die Ideen vorgestellt, auf denen dieses Buch beruht.Die Herausgeber führen mit ihrem Vorwort in das Konzept des Buches ein. Sie stellen die Vorgeschichte dar und beschreiben mit kurzen Wor-ten die Grundideen und die Entscheidungen, mit diesen Autorinnen und Autoren auf die Reise zu gehen.Roland Littlewood, der Senior der englischen Medizinanthropologie, er-öffnet mit seinem einleitenden und zeitlosen Grundlagenartikel die Rei-se. Er stellt im Sinne eines Arbeitsprogramms das Konzept einer kultur-umfassenden Psychiatrie vor und beschreibt dessen anthropologische Grundlagen.

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Transkulturelle Psychiatrie – eine ReiseVorwortThomas Hegemann und Ramazan Salma

»Du öffnest Bücher und sie öffnen dich.«Tschingis Aitmatov

Wir als Herausgeber freuen uns, mit dem vorliegenden Buch die Neu-ausgabe der Transkulturellen Psychiatrie vorlegen zu können. Die ver-gangenen neun Jahre nach Erscheinen der ersten Ausgabe waren eine bewegte Zeit für alle an transkulturellen Entwicklungen Interessierte. Dazu gehören auch viele Bereiche der psychiatrischen Versorgung.Mehrere nationale Konferenzen der deutschen Regierung, die Ansied-lung der Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integra-tion im Bundeskanzleramt sowie die Gründung des Bundesamtes für Migration in Nürnberg mit der wichtigen Zuständigkeit für die neu eingeführten Integrationskurse haben trotz aller kontroverser Diskus-sionen einen breiten gesellschaftlichen Konsens darüber geschaffen, dass Migration ein dauerhaftes Phänomen unserer Gesellschaft sein wird. Integration ist eine Querschnittaufgabe jeder Politik geworden. Der demografische Wandel mit immer weniger Kindern und immer mehr alten Menschen und der jetzt bereits absehbare Mangel an quali-fizierten Nachwuchskräften auf der einen Seite und auf der anderen die zunehmende Verelendung vieler Stadtteile mit hohem Migrantenanteil in Ballungszentren zeigen deutlich, dass wir uns die Vernachlässigung einer langfristig angelegten Integrationspolitik nicht mehr leisten kön-nen (Laschet 2009). Die beeindruckenden Lebensleistungen vieler Mi-grantinnen und Migranten in Wirtschaft, Kultur, Sport, Bildung, Wis-senschaft, gesundheitlicher und sozialer Arbeit und zunehmend auch in der Politik zeigen, dass sich Integration lohnt.Die Psychiatrie am Schnittpunkt zwischen sozialer Welt, körperlichem und seelischem Erleben steht mitten in dieser gesellschaftlichen Entwick-lung. Eine große Anzahl von Tagungen und Publikationen hat in den

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vergangenen zehn Jahren auch für die Psychiatrie im deutschsprachigen Raum die Anforderungen und Notwendigkeiten einer kultursensiblen Versorgung in der Migrationsgesellschaft umfänglich beleuchtet und dis-kutiert. Nach der sich in unserem Feld seit Jahren engagierten »Deutsch-Türkischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und psychosozi-ale Gesundheit« bietet seit 2008 der »Dachverband der transkulturellen Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im deutschsprachigen Raum« ein Diskussionsforum für das wachsende Interesse der Profes-sionellen der psychiatrischen Arbeit an Austausch, Lösungsfindung und Weiterentwicklung kulturellen Wirkens. Wie aber in vielen anderen ge-sellschaftlichen Bereichen auch, stehen wir zu den Anforderungen einer transkulturellen Psychiatrie weniger vor der Herausforderung, Erkennt-nisse zu sammeln, sondern diese in die Alltagspraxis umzusetzen.Dass Migration sowohl für die Migranten wie für die Aufnahmegesell-schaft mehr oder weniger große innere und äußere Anpassungsanforde-rungen mit sich bringt und erhebliche Konsequenzen für die psychische Gesundheit hat, gehört mittlerweile zum Allgemeinwissen. Professio-nelle in der psychiatrischen Versorgung bemühen sich nach besten Kräf-ten, auch Patienten, die ihnen »fremd« erscheinen, geeignete Angebote zu machen.Soziokulturelle Unterschiede führen aber immer noch zu Kommunikati-onsproblemen. Anliegen, Umgangs- und Ausdrucksformen von Patientin-nen und Patienten aus anderen Kulturen können vielfach nicht adäquat eingeschätzt werden; das Erleben und Verhalten sind anders als gewohnt und die Erwartungen an Hilfe und Unterstützung können erheblich diffe-rieren. Um darauf angemessen und der freiheitlichen Ausrichtung unserer Gesellschaft angemessen auf diese Anforderungen reagieren zu können, bedarf es nicht nur transkultureller Kompetenzen der einzelnen Mitar-beiter, sondern transkultureller Kompetenzen ganzer Teams und Insti-tutionen.Die »Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Ner-venheilkunde« hat bereits 2006 als erste medizinische Fachgesellschaft mit ihrer Sonnenberger Erklärung Standards gesetzt, die für uns als Herausgeber leitend sind. Und diese Thesen setzten nicht nur für die Psychiatrie notwendige Standards.Es reicht aber nicht, Standards zu definieren!Professionelle – jeder Einzelne – stehen vor der Aufgabe, sich verstärkt darum zu bemühen, soziale Distanzen zu mindern und mehr Verständ-

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Die 12 Sonnenberger Leitlinien zur psychiatrisch-psychotherapeutischenVersorgung von Migranten in Deutschland (Machleidt 2002)

1 Erleichterung des Zugangs zur psychosozialen und therapeutischen Regelver-sorgung durch Niederschwelligkeit, Kultursensibilität und Kulturkompetenz

2 Bildung multikultureller Behandlerteams aus allen in den Diensten tätigen Berufsgruppen unter bevorzugter Einstellung von MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund und zusätzlicher Sprachkompetenz

3 Organisation und Einsatz kulturell und psychologisch geschulter Fach-dolmetscherInnen als zertifizierte Übersetzer und Kulturmediatoren»face to face« oder als TelefondolmetscherInnen

4 Kooperation der Dienste der Regelversorgung im gemeindeorientierten Verbund untereinander und mit Schlüsselpersonen der unterschiedlichen Migrantengruppen, -organisationen und -verbände. Spezielle Beratungs- und Behandlungserfordernisse können Spezialeinrichtungen notwendig machen.

5 Beteiligung der Betroffenen und ihrer Angehörigen an der Planung und Ausgestaltung der versorgenden Institutionen

6 Verbesserung der Informationen durch muttersprachliche Medien und Multiplikatoren über das regionale Versorgungsangebot

7 Aus-, Fort- und Weiterbildung für in den Regeldiensten tätige MitarbeiterIn-nen unterschiedlicher Berufsgruppen zu interkulturellen Fachthemen unter Einschluss von Sprachfortbildungen

8 Entwicklung und Umsetzung familienbasierter primär und sekundär präventiver Strategien für die seelische Gesundheit von Kindern und Jugend-lichen aus Migrantenfamilien

9 Unterstützung der Bildung von Selbsthilfegruppen mit oder ohne professionelle Begleitung

10 Sicherung der Qualitätsstandards für die Begutachtung von Migrantenim Straf-, Zivil- (Asyl-) und Sozialrecht

11 Aufnahme interkultureller Fachthemen in die Curricula des Unterrichtsfür Studierende und Auszubildende

12 Initiierung von Forschungsprojekten zu Fragen der interkulturellen Versorgung

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nis für die unterschiedlichen Kulturen, die Lebensweisen, die Wertvor-stellungen und das Gesundheitsverhalten der ihnen fremd erscheinenden Patienten aufzubringen. Dieser Weg kann nur gemeinsam, multidiszi-plinär und praxisorientiert gemeistert werden.Transkulturelle Psychiatrie ist aber auch ein Appell an eine stärkere Patienten- oder Kundenorientierung. Was wollen und brauchen diese Patienten?, so lautet die zentrale Frage. Dazu ist der Aufbau von Ver-sorgungsstrukturen notwendig, was die Möglichkeiten der einzelnen Mitarbeiter – auch der engagiertesten – deutlich übersteigt. Dieser Pro-zess kann nur gelingen, wenn sich Einrichtungsleitungen eine transkul-turelle Psychiatrie zum Anliegen machen.Wir stehen jedoch nicht am Anfang! Wie die Beiträge von Kolleginnen und Kollegen in diesem Buch beweisen, können wir auf Erfahrungen, Wissen und Arbeitsweisen aufbauen, die andere vor uns entwickelt ha-ben. Wir können uns auf die »Schultern dieser Riesen« stellen, um einen neuen Überblick zu gewinnen, und müssen nicht alles neu erfinden. Es gilt, diesen interessanten, spannenden und herausfordernden Weg indi-viduell und institutionell zu gehen, wenn wir unserem Ziel »Gesundheit und Chancengleichheit für alle« näher kommen wollen.Damit sehen wir Transkulturelle Psychiatrie als eine Dimension einer sozialen Psychiatrie an. Diese scheint in der gesundheitspolitischen und der fachlichen oder gar wissenschaftlichen Diskussion ihre große Zeit hinter sich zu haben; die klammen öffentlichen Haushalte bieten auch nicht gerade die besten Voraussetzungen für eine stärker gemeindeorien-tierte Ausrichtung der psychiatrischen Versorgung, die für eine trans-kulturelle Ausrichtung unumgänglich ist.Wir möchten mit diesem Buch trotz aller Widrigkeiten Ermutigungen bie-ten. Als Herausgeber haben wir dieses Handbuch für die praktische Arbeit unserer Kolleginnen und Kollegen zusammengestellt und wir denken, dass die hier zusammengetragenen Informationen auch für wissenschaftlich In-teressierte aufschlussreich sind und zu neuen Fragestellungen einladen.Seit Jahren vereint uns das gemeinsame Interesse an einer Hebung der Kultursensibilität der deutschen Psychiatrie. In zahlreichen gemeinsamen Fortbildungen und Trainingskursen haben wir von den Teilnehmern die Wichtigkeit und Notwendigkeit dieser Thematik in immer eindrückli-cherer Weise beschrieben bekommen. Sie haben uns aber auch auf die Hindernisse und institutionellen Barrieren hingewiesen. Im Laufe dieses Dialogs sind uns zahlreiche Fachleute aus ganz unterschiedlichen Kultu-

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ren begegnet, von denen wir Unschätzbares gelernt haben und von denen wir einige zur Mitarbeit an diesem Buch gewinnen konnten.Wie schon bei der ersten Ausgabe haben wir uns immer wieder gefragt, wie kulturspezifische Angebote sowohl ganze kulturelle Communities als auch einzelne Professionelle motivieren können. Wie werden die Probleme von den Akteuren gesehen und erlebt? Welche Widerstände oder Barrieren sind zu überwinden und welche sprachlichen oder kultu-rellen Kompetenzen sind notwendig? Wie erhalten betroffene Menschen Zugänge zu stationären und ambulanten Angeboten der Psychiatrie? Wie müssen kompensatorische Angebote und Versorgungsstrukturen beschaffen sein, um Migranten effektiv zu berücksichtigen?Der Einbezug migrationsspezifischer und soziokultureller Aspekte in die psychiatrische Versorgung und die Berücksichtigung von Migran-tinnen und Migranten als spezielle Zielgruppe in den unterschiedlichen Handlungsfeldern der psychiatrischen Versorgung sind weiterhin hoch-aktuell! Transkulturelle Psychiatrie eröffnet einerseits neue Perspek-tiven, um Altbewährtes, aber häufig allzu Selbstverständliches neu zu überdenken und gemeinsam Neues zu lernen, was allen Patienten zugu-tekommt. Sie verunsichert andererseits aber auch, da sie an persönliche Dimensionen heranführt und institutionelle Schwächen deutlich macht. Es wird daher immer einer Anstrengung zur Veränderung etablierter Strukturen bedürfen, um auf diesem Wege weiterzukommen.Da wir es in der Psychiatrie, wie auch in anderen Versorgungsbereichen, mit einer Vielzahl von Kulturen zu tun haben, die wiederum komplex und dynamisch sind, können wir nicht Experten für alle diese Zielgrup-pen sein. Wir sehen uns durch die Entwicklung der letzten Jahre darin bestätigt, das hier vorliegende Buch nicht an Ideen und Konzepten zur Versorgung einzelner ethnischer oder kultureller Gruppen auszurichten, sondern Konzepte und Sichtweisen zu vermittelt, die generell hilfreich im Umgang mit Menschen fremder Kulturen sind. Wir haben ausdrück-lich auf die Notwendigkeiten mitteleuropäischer Immigrationsgesell-schaften fokussiert, für deren Anforderungen wir Lösungsperspektiven vorstellen möchten. Inspiriert und motiviert haben uns anfänglich die Bücher von Suman Fernando und F. Keating, Mental Health in a Multiethnic Society (1995), Jafar Kareem und Roland Littlewood, Intercultural Therapy (1992), sowie von Joop de Jong und Margo van den Berg, Transculturele Psychiatrie en Psychotherapie (1996), die in Europa Standards für diesen Ansatz gesetzt haben.

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Dieses Buch wendet sich als praxisorientiertes Handbuch an alle Fach-leute, die auf der Reise zu einem neuen professionellen Umgang mit anderen Kulturen nach Anregung und Hilfestellung suchen. Es ist als methodenorientiertes Lehr- und Nachschlagewerk gedacht für alle Pro-fessionen in der psychiatrischen Versorgung: Pflegende wie Ärzte, Ergo-therapeuten wie Psychologen, Sozialpädagogen wie Verwaltungsfach-leute und Gesundheitspolitiker in gleicher Weise. Bei der Betrachtung des Kulturellen geht es durchgehend um beide Seiten, um Professionelle wie um Klienten, denn keiner von beiden vermag zu sagen, wer denn nun der mit der »anderen« Kultur ist – es sind immer beide.Bei der Konzipierung des Handbuches und der Auswahl der Autoren haben wir uns nach folgenden Leitideen gerichtet:

• Das theoretische Grundkonzept folgt einer praktischen Lösungsorien-tierung für den psychiatrischen Alltag. Die Autorinnen und Autoren beschreiben bewährte Ansätze aus der Erwachsenen- wie der Jugend-psychiatrie, der Geriatrie, der Suchthilfe und der komplementären Arbeit. Fallbeschreibungen wurden nach Kriterien von Häufigkeit und Anschaulichkeit und weniger nach Exotik vorgenommen.

• Ein zentrales Anliegen liegt in der Reflexion der Kulturgebundenheit der Psychiatrie selbst. Wir haben deswegen den Einführungsbeitrag dezidiert diesem Thema gewidmet und freuen uns, mit Roland Little-wood einen Autor gewonnen zu haben, der bereits in den Achtziger-jahren für das Royal College of Psychiatry in London entsprechende Grundlagenkonzepte und Leitlinien entworfen hat.

• Die transkulturelle Dimension der Psychiatrie aus möglichst unter-schiedlichen kulturellen Perspektiven zu beleuchten ist ein weiteres An-liegen. Wir freuen uns, dass es gelungen ist, Sichtweisen aus so unter-schiedlichen Kulturen wie der argentinischen, bosnischen, britischen, dänischen, deutschen, französischen, kurdischen, niederländischen, türkischen, schweizerischen, sri-lankischen und US-amerikanischen vorstellen zu können. Dies führt zwar teilweise dazu, dass Beispiele aus Ethnien angeführt werden, die in Deutschland seltener anzutreffen sind; dieser Perspektivenwechsel unterstützt aber unser Anliegen, bei unterschiedlicher inhaltlicher Ausprägung strukturelle Ähnlichkeiten umso deutlicher werden zu lassen.

• Wir möchten ausdrücklich zu einer Aufmerksamkeit für strukturelle Fragen anregen. Dies gilt sowohl für gedankliche, konzeptionelle wie für organisatorische Strukturen.

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• Unser Interesse gilt weniger den Eigenheiten spezieller Kulturen, die zu erlernen unrealistisch ist. Zukunftsweisend kann es unserer Meinung nach nur sein, Interaktionsmuster zu beobachten, an denen sowohl wir selbst als auch die Institutionen, in denen wir arbeiten, teilhaben. Einige Leser mögen enttäuscht sein, nicht mehr mit faszinierenden »Geschichten aus fernen Ländern« inspiriert zu werden. Wir sind hier eher skeptisch, da solche Geschichten zur Stereotypisierung einladen. Im Vordergrund steht deshalb viel mehr eine generelle Kompetenzer-weiterung im Umgang mit dem Kulturellen.

• Transkulturelles Lernen erfolgt am besten in kulturell gemischten und multiprofessionellen Teams. Wir haben daher Wert darauf gelegt, die-se Thematik wie einen roten Faden in möglichst vielen Beiträgen und in der Auswahl der Autoren deutlich werden zu lassen.

• Als Letztes, aber sicherlich Wesentlichstes möchten wir hervorheben, dass eine transkulturelle Psychiatrie nur gelingen wird, wenn eine Kul-tur des wechselseitigen Lernens gepflegt wird. Kulturelle Kompetenzen können kaum erworben werden, um sie ein für alle Mal zu besitzen. Eher müssen sie im Dialog mit anderen, mit Klienten, mit Professio-nellen und mit dem gesellschaftlichen Umfeld ständig gepflegt, geprüft und ausgebaut werden.

Aus diesen Leitideen heraus haben wir die sechs Kapitel des Buchaufbaus gebildet: R. Littlewood stellt in seinem Einführungsbeitrag die wesentli-chen Fragen vor, denen sich jede Psychiatrie, die sich mit der kulturellen Dimension des Menschseins beschäftigen möchte, zu stellen hat. Hier ist vor allem die Rede von der Balance zwischen der biologischen und der soziologischen Dimension unseres Fachgebiets und wie diese in ein aktu-elles sozialpolitisches Umfeld platziert werden kann. Auch wenn dieser Beitrag schon älter ist, hat er nichts von seiner Aktualität eingebüßt.Das zweite Kapitel beschreibt die Rahmenbedingungen und Hintergründe transkultureller Psychiatrie. Es werden die migrationsspezifischen, histo-rischen und institutionellen Kontexte, in denen kulturelle Minoritäten le-ben und unter denen sich auch deren psychiatrische Versorgung abspielt, vorgestellt und die sich daraus ergebenden Notwendigkeiten begründet.Das dritte Kapitel bietet die wesentlichen theoretischen und methodi-schen Grundlagen, die für das Arbeiten mit kulturellen Minoritäten in der psychiatrischen Versorgung hilfreich sind. Vor allem geht es um Konzepte und Ansätze, die sich bewährt haben, um in der Komplexität

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transkultureller Aufgabenstellungen die Anamnese, Diagnostik, Kom-munikation und Psychotherapie sachgerecht realisieren zu können.Das vierte Kapitel stellt neue und innovative transkulturelle Arbeitsme-thoden und Querschnittsaufgaben vor. Hier sind konkrete Konzepte und Methoden für jede Form transkultureller Arbeit beschrieben. Die Themen reichen vom effektiven Umgang mit Dolmetschern über die Entwicklung interkultureller Kompetenz durch Fort- und Ausbildung bis hin zum Aufbau transkultureller Arbeitsteams oder zum Einbezug kultureller Gemeinschaften zur therapeutischen Mitarbeit. Auch wer-den die Grundlagen transkultureller Begutachtung vorgestellt.Themen des fünften Kapitels betreffen die Sensibilität für Fragen der Geschlechterrollen, das Arbeiten mit Jugendlichen oder alten Menschen sowie diesbezügliche Konzepte und Ideen für adäquates psychothera-peutisches Vorgehen. Es werden Modelle und Sichtweisen vorgestellt, die sich in den unterschiedlichen Fachbereichen der psychiatrischen Tä-tigkeit bewährt haben, sowie theoretische Erklärungen und praktische Vorgehensweisen vorgeschlagen.Das sechste Kapitel beschäftigt sich mit den bedeutendsten Teilgebieten der psychiatrischen Praxis und stellt wesentliche Erfordernisse für den Arbeitsalltag und die Gestaltung der Arbeitsbedingungen vor. Fragen der Versorgung von Menschen mit Suchtproblemen, Menschen, die Traumata durchlitten haben, sowie die Entwicklung interkultureller Kompetenzen in der stationären Allgemeinpsychiatrie und im Maßre-gelvollzug werden hier thematisiert.In einem Anhang wird zusätzlich zur umfangreichen Literaturliste ein breiter Überblick zu den wichtigsten rechtlichen Fragen geboten, die für die transkulturelle Arbeit beachtenswert sind.Als Herausgeber haben wir davon abgesehen, eine verbindliche sprachli-che und terminologische Einheitlichkeit für die einzelnen Beiträge vorzu-geben. Die Vielfalt der Stile, Traditionen und Sichtweisen der Autorinnen und Autoren macht gerade deutlich, dass es einfache Antworten auf die vielfältigen Fragen einer transkulturellen Psychiatrie nicht geben kann. Einige Begrifflichkeiten möchten wir an dieser Stellte kurz erläutern.Die Worte »autochthon« und »allochthon« werden vor allem von nie-derländischen Autoren verwendet, um Populationen zu differenzieren, die entweder aus der angestammten Bevölkerung eines Landes stammen oder aus der zugewanderten. Der Begriff »Anthropologie« wird vor al-lem von britischen Autoren verwendet, um eine wissenschaftliche Diszi-

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plin zu beschreiben, die auf Deutsch am ehesten als »soziologisch orien-tierte Ethnologie« bezeichnet werden könnte. In Deutschland übliche Unterscheidungen zwischen Volkskunde, Völkerkunde und Ethnologie sind in vielen Ländern in dieser Weise nicht gebräuchlich. Konzepte der »Medical Anthropology« fokussieren eher auf übergreifende Muster und Strukturen als auf die Beschreibung einzelner Ethnien. Wir haben uns für die Beibehaltung des von den entsprechenden Autoren gewähl-ten Begriffs »Anthropologie« entschieden. Uns ist bewusst, dass dieses Wort bei einigen Lesern Assoziationen an die mörderischen Intentionen der deutschen biologischen Anthropologie während der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wachrufen kann. Auch Worte wie »west-lich« und »nichtwestlich« beziehen sich nicht auf den Ost-West-Kon-flikt, der die deutsche Geschichte mehr geprägt hat als die unserer west-europäischen Nachbarn, sondern ist eher im Sinne der abendländischen Kulturtradition zu verstehen. Bei der Verwendung der Bezeichnungen »transkulturell« und »interkulturell« haben wir nicht auf der Trenn-schärfe bestanden, die in der ethnologischen Literatur gepflegt wird.Erwähnt sei, dass alle verwendeten Fallbeispiele anonymisiert wurden und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen völlig zufällig wären.Es ist schließlich unser Wunsch, denjenigen zu danken, die auf unter-schiedliche Weise ganz wesentlich zu dem Gelingen dieses Buches bei-getragen haben. Es sind dies vor allem die Autorinnen und Autoren, die ihre Ansätze zum größten Teil völlig neu entwickelt haben oder erstmalig vorstellen.Wir können hier leider nicht alle Kolleginnen und Kollegen, die uns unter-stützten und »empowert« haben, bedenken. Es ist uns aber ein besonde-res Anliegen, unsere Lehrerinnen und Lehrer Britt Krause, Alan Cooklin, Eia Asen, Roland Littlewood, Günsel Koptagel-Ilal, Alexander Boroffka, Jürgen Collatz, Dirck van Bekkum und Cornelia Oestereich, denen wir die Aufmerksamkeit und Sensibilität für dieses Thema verdanken, hier namentlich zu erwähnen. Ahmet Kimil und Leyla Ercan möchten wir für die Unterstützung beim Lektorieren danken. Dem Ethno-Medizinische Zentrum e. V. in Hannover und dem Bayerischen Zentrum für Transkul-turelle Medizin e. V. in München sowie deren Förderern danken wir für die infrastrukturellen Grundbedingungen ebenso wie dem Psychiatrie-Verlag für das Vertrauen und die Zusammenarbeit.

Thomas Hegemann und Ramazan Salman, im März 2010

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Von Kategorien zu KontextenPlädoyer für eine kultursensible PsychiatrieRoland Littlewood

»It is what you brought to be, you who played with strangers lives ... But at least have the humility to let others survive in their own way.«Wole Soyinka, Death and the King’s Horseman

Einleitung: Empirische anthropologische Psychiatrie

Im letzten Jahrzehnt hat sich vor allem in Nordamerika und Großbri-tannien unter dem Einfluss der Sozialanthropologie eine neue Sichtwei-se auf psychiatrische Konzepte und die praktische Umsetzung der psy-chiatrischen Versorgung entwickelt, die unter dem Begriff »New Cross Cultural Psychiatry« zusammengefasst werden kann. In diesem Beitrag werden die Hintergründe, Methoden, Ziele und Grenzen einer solchen kultursensiblen Psychiatrie vorgestellt.A. Kleinman (1978) widersprach mit seinem Ansatz einer New Cross Cultural Psychiatry der in der klassischen Psychiatrie verbreiteten Ansicht, dass sich depressive Reaktionen in unterschiedlichen Kultu-ren gleichartig darstellen, und dem darauf gründenden Bemühen der Psychiater, auch in nichtwestlichen Kulturen nach Phänomenen zu suchen, die aus der eigenen Kultur bekannt waren. Er forderte, den »kategorischen Irrtum«, dass (westliche) diagnostische Kategorien kulturunabhängige Variablen seien, zu vermeiden, und schlug dage-gen vor, (westliche) psychiatrische Erklärungsmodelle als spezifisch für einen bestimmten Kulturraum anzusehen. Kultur ist demnach je-ner Kontext, in dessen Rahmen jede psychische Krankheit zu denken ist, und keinesfalls darauf beschränkt, natürliche Phänomene nur zu »formen«.

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A. Kleinman setzte sich somit für eine radikale Modifizierung des theo-retischen und methodischen Paradigmas der Psychiatrie ein. Bevor eine vergleichende Beurteilung von Verhaltensweisen oder Phänomenen in verschiedenen Kulturen vorgenommen würde, gelte es Ansätze zu ent-wickelt, die tauglich seien, auch die lokal gültige Beurteilung von Ver-halten mit ähnlichem Verhalten in anderen Kulturen zu vergleichen. Diese Vorgehensweise solle zu einer neuen Einschätzung sowohl von »Universalität« wie auch von »Psychopathologie« führen. Hierzu sei die Differenzierung zwischen Krankheit im Sinn einer von außen beur-teilten biologischen oder psychologischen Fehlfunktion (auf Englisch disease) sowie Krankheit im Sinn von Krankheitserleben (auf Englisch illness) notwendig, also der persönlichen und interaktiven Reaktion (Kleinman 1978).Viel früher als die Psychiatrie hat die Anthropologie die Übertragbarkeit von Konzepten, wie denen von Familie, Ehe, Tabus etc., von der einen in eine andere Kultur infrage gestellt. Deshalb gehen Medizinanthropo-logen davon aus, dass auch psychiatrische Kategorien wie »Depressi-on«, »Selbstbeschädigung« oder »Suizidalität«, ganz zu schweigen von »Schizophrenie« oder »Neurose«, nicht a priori eine weltweite Gültig-keit haben können.Eine kultursensible Psychiatrie wird ohne Bezug zu anderen Wissensge-bieten kaum möglich sein.Als besonders hilfreich sind Bezugnahmen auf:

• Geschichte der Psychiatrie und der Medizin,• Affekt- und Kognitionspsychologie,• Erkenntnisphilosophie,• Verhaltensforschung,• kritische und interdisziplinäre Schulen wie Marxismus, Semiotik,

Strukturalismus und Konstruktivismus,• Philosophie, und hier insbesondere Denkschulen um L. Wittgenstein

und J. Lacan.

Notwendig ist eine deutliche Unterscheidung zwischen Theorie und Beobachtung, Tatsachen und Einschätzungen, Objektivität und Subjek-tivität (Bourdieu 2007). Es handelt sich also weniger um ein einheit-liches Wissenskonzept, sondern eher darum, neuere interpretative und hermeneutische Ansätze aus den Human- und Sozialwissenschaften mit dem Ziel zu integrieren, die Psychiatrie über den Bereich einer Natur-

Von Kategorien zu Kontexten

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wissenschaft hinauszuführen und in ihren Kategorisierungen, Theorien und Routinen in einen übergreifenden politisch-gesellschaftlichen und geschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Dieser Anspruch ist mit dem Fehlen einer konsistenten psychiatrischen Theorie über den Zusammen-hang biologischer und gesellschaftlicher Dimensionen des Menschen gut zu begründen und zu legitimieren.

Traditionelle transkulturelle Ansätze

E. Kraepelin entwickelte Anfang des vergangenen Jahrhunderts, aus-gehend von seinen deutschen Patientinnen und Patienten, seine psycho-pathologischen Kriterien, die bis heute Grundlagen der psychiatrischen Klassifikationssysteme bilden und die – ebenfalls bis heute – eine Ver-gleichende Psychiatrie begründen. Während seines Aufenthalts in Java stellten sich ihm Fragen der Vergleichbarkeit menschlicher Verhaltens-muster in unterschiedlichen Gesellschaften: Wie ähnlich muss Verhal-ten sein, damit wir es als gleich bezeichnen können? Wie können wir zwischen universellen und kulturell variablen Verhaltensmustern unter-scheiden?Den Psychosen galt sein bevorzugtes Interesse. Wie die meisten Psy-chiater seiner Zeit nahm er für sie biologische Ursachen an und wählte folgerichtig Unterscheidungskriterien wie Form und Inhalt. So vertrat er die Ansicht, dass es typische, universell auftretende Erscheinungs-formen der Schizophrenie gebe. Diese Differenzierungskriterien wurden inzwischen, aufgrund ihrer unvermeidlichen Willkürlichkeit, aufgege-ben (Littlewood 1986), denn es entspricht typisch westlichem, an Technikmodelle angelehntem Denken, ein Ganzes durch die Analyse seiner Teile zu erklären.Die hier am Beispiel E. Kraepelins beschriebenen biologistischen Sicht-weisen und Metaphern markieren zahlreiche Etappen der Psychiatrie. So entwickelte etwa E. Bleuler das Modell eines Kernsyndroms, das quasi wie eine russische Matrioschka-Puppe von einer Reihe kultureller Schalen umgeben sei; die von der psychiatrischen Forschung sozusagen abzuschälen seien (Littlewood 1986). K. Birnbaum (1923) meinte, dass pathoplastische Faktoren einer individuellen Erkrankung Färbung, Ausdruck und Kontur verleihen, dass deren Ursache aber biologisch zu

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erklären sei. L. Wittgenstein (2007) sprach von einer Artischocke, die es zu schälen gelte, um an das Herz zu kommen, und C. Geertz (1986) bezeichnete Krankheit als einen Kuchen und Kultur als eine Ver-zierung. Er meinte, dass das Gleichartige tiefgreifend und das Variable oberflächlich sei.Konsequenterweise konzentriert sich (westliche) psychiatrische For-schung auf diejenigen Symptome, die den definierten Kategorien am ehesten entsprechen. Weiche Phänomene wie Angst, Depression oder Schlaflosigkeit werden dagegen eher ignoriert, und es wird häufig dazu auf empirische Fundierung verzichtet, was nicht ohne Folgen für die Praxis der Psychiatrie bleibt (Kleinman 1977). Psychiater, die mit Pa-tienten aus anderen Kulturen arbeiten, beklagen dann, dass irritierende kulturelle Faktoren die Erkennung der wirklichen Krankheitsprozesse erschweren. Bei Patienten ihrer eigenen Kultur- oder Sprachgruppe ha-ben sie weniger Schwierigkeiten, auf universelle Krankheitserscheinun-gen zu stoßen, da eben kulturelle Hintergründe nicht störend wirken und deshalb zugunsten biologischer oder psychodynamischer Erklärun-gen ignoriert werden können.Für europäische Psychiater ergaben sich jedoch ganz neue Schwierig-keiten, als sie begannen, ihre westlich geprägten Kategoriesysteme auf Menschen anderer Gesellschaften oder kultureller Herkunft anzuwen-den. Verhaltensweisen, die im Westen als abnormal angesehen wurden, erschienen andernorts nicht immer als ungewöhnlich oder unerwünscht (Littlewood/Lipsedge 1986). Innen- und Außenbeschreibungen von Stammes- oder anderen Gesellschaften widersprachen häufig diametral den westlichen Krankheitskonzepten. Als der Anthropologe C. S. Selig-man (1929) berichtete, dass es in Neuguinea so etwas wie Schizophrenie gar nicht gebe, wurde er später für diesen »Seligman-Irrtum« kritisiert: Er habe die universellen Symptome übersehen, da diese vor Ort als rituelle oder übernatürliche Aktivitäten wahrgenommen worden seien.Selbst die als nichtwestlich beschriebenen und als fremd bewerteten Verhaltensmuster wurden immer wieder von Psychiatern nach westli-chen Kategorien klassifiziert. So vermutete beispielsweise E. Kraepelin (1904), dass es sich bei »Amok« entweder um Epilepsie oder Katatonie handeln müsse. Falls Verhaltensmuster jedoch in kein gängiges west-liches Klassifikationssystem passen, werden sie schließlich als »kul-turgebundene Syndrome« bezeichnet. Da aber alle Verhaltensweisen, so auch typisch westliche wie die Anorexie oder parasuizidale Hand-

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lungen, mehr oder weniger kulturabhängig sind, ist diese Bezeichnung nicht aussagekräftig, leistet Diskriminierungen einzelner Kulturen Vor-schub und ist daher zu vermeiden. Anstatt von westlichen Kategorien auszugehen, scheint ein Vorgehen nach dem in Tabelle 1 beschriebenen Schema sinnvoller.

Littlewood 1:

Die Abbildung »Bedeutung transkultureller/migrationsspezifischer Fak-toren in Diagnostik ...« gibt einen Überblick darüber, welche Faktorenauf die Diag nostik spezifisch bei Migrantinnen und Migranten Einflusshaben können. Hierbei sind die Sprachschwierigkeiten vorherrschend,und Dolmetscher lösen dieses Problem nur unvollständig, da sie, mit demzung nicht vornehmen können. Ferner bereitet uns die unter schiedlichePräsentiersymptomatik bei psychischen Erkrankungen (kulturge bunde-ner Syndrome, primär körperliches Erleben und körperliche Präsenta-tion psychischen Leidens) in der Diagnostik und Differenzialdiagnostikgroße Probleme; besonders schwierig ist es, die in der Strafrechtsbegut-achtung bedeutsamen Persönlichkeitsstörungen zu diagnostizieren undsie auch zu quantifizieren, da hier in besonderem Maße der soziokultu-relle Bezugsrahmen von großer Bedeutung ist (siehe den Beitrag von J. deJong in diesem Band).

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Diagnostische und kulturelle Konzepte

wissenschaftliche (biomedizinische) Konzepte

örtliche (ethnomedizinische) Beschränkung auf bestimmte universell oder in vielen KulturenKonzepte Kulturen bekannt

diskrete Auffälligkeiten A B

gesellschaftlich bedeutsam C D

nicht anerkannnt E F

Tiefgreifende wirtschaftliche, industrielle und ökonomische Transfor-mations- und damit verbundene Individualisierungsprozesse haben der westlich geprägten, stärker biologisch orientierten Psychiatrie in der »Dritten Welt« einen großen Einfluss beschert. Es überrascht daher nicht, dass die beobachtbaren Muster abnormen Verhaltens mit den ent-sprechenden Glaubenssystemen und sozialen Reaktionen den westlichen Vorbildern immer ähnlicher werden (Littlewood 1986). Zugleich wer-den Personen, die als Schamanen oder Geistheiler bei zahlreichen indige-nen Völkern fungieren, von europäischen Psychiatern häufig als abnorm beschrieben, während Ethnologen sie als normal einschätzen.Was von der westlichen Biomedizin als Krankheit bezeichnet wird, kann unter Umständen in traditionellen, von verwandtschaftlich oder mora-lisch dominierten Dimensionen geprägten Gesellschaften eine gänzlich andere Bedeutung haben. »Krampfanfälle« können in bestimmten Kul-turen zum Aufsuchen eines Schamanen führen (D in der Tabelle); das Vorhandensein übernatürlicher Kräfte kann als »psychogener Anfall« gesehen werden (C in der Tabelle); eine »Epilepsie«, die durchaus als eine Krankheit betrachtet werden kann, die nicht im Wirkungsfeld scha-manischen Handelns liegt, wäre dann in B anzusiedeln. Ein Phänomen wie »Couvade«, an dem angeblich die Hälfte aller US-amerikanischen

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Männer schwangerer Frauen mit leichten gastrointestinalen Beschwerden leidet, wofür dann, obwohl als Krankheit nicht anerkannt, medizinische Hilfe gesucht wird (Lipkin/Lamp 1982), wäre in E zu platzieren.Das Kraepelinsche Form-Inhalt-Modell hat sich jedoch trotz des ihm hier unterstellten »kategorischen Irrtums« als nützlich in all jenen Fäl-len erwiesen, in denen gleichbleibende biologische Ursachen für Verhal-tensabweichungen nachgewiesen werden konnten. Dies trifft auf den ganzen Bereich der Psychosyndrome zu. Die internationale Pilotstudie zur Schizophrenie (IPSS) (Sartorius u. a. 1986) dagegen, die ein schi-zophrenes Kernsyndrom in höchst unterschiedlichen Gesellschaften nachweisen wollte, kann nach A. Kleinman als ein klassischer Fall des »kategorischen Irrtums« angesehen werden, denn was sie nicht zeig-te, war das Ausmaß kultureller Einflüsse auf die Krankheit (Kleinman 1987). In dieser Studie erscheinen die Symptome der Schizophrenie als Manifestation eines zugrunde liegenden Krankheitsprozesses. Sie könn-ten aber genauso gut als Reaktion auf eine ganze Reihe neurologischer oder sozialer Beeinträchtigungen zurückgeführt werden. Die Untersu-chung umschriebener gesellschaftlicher Gruppen betont aufgrund der Stabilität der Umweltbedingungen die biologischen und genetischen Unterschiede zwischen einzelnen Individuen. Diese Unterschiede finden sich jedoch kaum noch bei Flüchtlingsgruppen oder anderen Populatio-nen, die starken gesellschaftlichen Umbrüchen ausgesetzt sind!Trotzdem konnte die IPSS-Studie zeigen, dass es nicht möglich ist, alle Fälle von Schizophrenie ausschließlich mit einem soziologischen Mo-dell zu erklären. Allerdings wurden soziologische Erklärungen auch allenfalls zu prognostischen Fragen herangezogen. Spekulativ ist bei-spielsweise der konstatierte Zusammenhang von Schizophrenie und In-dustrialisierung (Cooper/Sartorius 1977), Kapitalismus und Arbeits-losigkeit (Warner 1985) oder ein Konzept der »sozialen Reaktion«, wie es J. Leff und Kollegen (1987) in ihrem Expressed-Emotions-Mo-dell beschreiben. Historische und kulturelle Unterschiede verschiedener Syndrome schließen zwar eine biologische Ursache nicht aus, aber eine vergleichende Psychiatrie hat zu häufig versucht, exotische Muster in ein universalistisches, größtenteils biologistisches Modell zu pressen, wie das »Piblokto«, das früher als eine biologische Erkrankung ange-sehen wurde, heute aber ein kulturgebundenes Syndrom sein soll. Bei »Kuru«, für das mittlerweile eine biologische Ursache gefunden wurde, verhält es sich umgekehrt.

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Die Psychiatrie steht also vor der Aufgabe, zwei akademische Paradig-men miteinander zu vereinbaren: Im naturwissenschaftlichen Ansatz bestimmen biologische Prozesse Verhalten und Erfahrung; im sozialwis-senschaftlichen Ansatz wählen Gesellschaften und Gruppen bestimmte Dimensionen der natürlichen Welt aus und klassifizieren und bewerten diese (Scheper-Hughes/Lock 1987). Die einen betonen die biologi-sche Determiniertheit, die anderen die sozialen Wahlmöglichkeiten. Das Problem der Psychiatrie besteht nun darin, dass beide unverzichtbar erscheinende Paradigmen zur Analyse menschlichen Erlebens und Ver-haltens je begrenzt sind und dass sich mit einem allein nicht alle Verhal-tensauffälligkeiten erklären lassen. So schränken beispielsweise Opiate die Breite und Wahlmöglichkeiten menschlichen Verhaltens stärker ein als Alkohol oder Kat (Westermeyer 1982; Kennedy 1987; Douglas 1988). Trotzdem bleibt es eine willkürliche bzw. gesellschaftliche Ent-scheidung, festzulegen, ob eine psychoaktive Substanz das menschliche Verhalten lediglich beeinflusst oder sogar bestimmt und entsprechend sanktioniert oder auch nicht.Die Psychoanalyse schien zeitweise eine vielversprechende Alternative zu dieser pathogenetischen bzw. pathoplastischen Dichotomie anzubieten, denn sie integrierte die Idee eines dialektischen Austausches zwischen Biologie und Gesellschaft. Psychoanalytisch geprägte Anthropologen gehen allerdings bis heute weitgehend von bestimmten und bereits von S. Freud am Beispiel der in einer bürgerlichen Gesellschaft beobachteten und beschriebenen Verhaltensweisen aus und fanden diese dann auch in anderen Gesellschaften (Wallace 1983). Vergleichbar den biologisch orientierten Psychiatern wurden bekannte Konzepte – etwa der Ödipus-Komplex – auf andere Kulturen übertragen und Abweichungen davon als Varianten oder unreife Formen interpretiert.Beide, das biologische wie das analytische Konzept, waren und sind zutiefst in der Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts mit seiner Betonung von Evolution und Entwicklung verhaftet. So bezeichnete E. Kraepelin (1904) die von ihm auf Java beobachteten Krankheitserscheinungen als den Ausdruck eines niedrigeren intellektuellen Entwicklungsstadiums. S. Freuds Theorien basieren auf einem Stadienmodell von archaisch, primitiv, kindlich und neurotisch, die für ihn alle frühe oder unreife For-men der psychischen Entwicklung sind. Als Konsequenz daraus wurden ganze kulturelle Gruppen aus fremd erscheinenden Gesellschaften und ganze Populationen undifferenziert als »wahnhaft«, »zwanghaft« etc.

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definitorisch pathologisiert (Littlewood/Lipsedge 1997). Anthropo-logen dagegen haben weniger Interesse an Kindheitserfahrungen und sehen die Art und Weise der Erziehung von Kindern eher als Ausdruck kultureller Werthaltungen und weniger als deren Ursache.

Vorgehensweisen und Annahmen einer kultursensiblen Psychiatrie

Die Vorgehensweise eines solchen kultursensiblen Ansatzes entspricht dem der Sozialanthropologie: Durch die teilnehmende Beobachtung kleinerer sozialer Gemeinschaften werden detaillierte Informationen über menschliche Handlungsweisen und ihre Kommunikationsstruktu-ren gesammelt und diese aus unterschiedlichen theoretischen Perspek-tiven heraus interpretiert. Zu berücksichtigen sind hierbei ökologische Rahmenbedingungen, soziale Konflikte, Hintergründe und der Sinn lo-kaler Erklärungsmuster sowie die Beschaffenheit des Zusammenhalts örtlicher Sozialsysteme.Solange wir nicht von einer universellen biologischen oder psycholo-gischen Abnormalität ausgehen können, so lange müssen der gesamte Kontext einer bestimmten Erfahrung und ihre jeweilige Bedeutung be-rücksichtigt werden, selbst wenn uns das in Bereiche aktueller Politik und sozialer Verhältnisse führt, die westlich geprägten Psychiatern zu-nächst irrelevant vorkommen mögen.Ein gelungenes Beispiel für eine unter diesen Kriterien durchgeführte Studie findet sich über den ländlichen Raum im Iran. B. und M. Good (1982) begannen mit einer Untersuchung der örtlichen Kategorien von Leid (auf Englisch distress) und erforschten die gesamte Breite der lo-kalen Bedeutungen, die damit verbunden waren, um erst danach mit ihrer epidemiologischen Untersuchung zu starten. Die Bedeutung einer Krankheit für ein Individuum ist begründet – wenn auch nicht darauf reduzierbar – in dem Geflecht von Bedeutungen, die dieser Krankheit in einer bestimmten Kultur gegeben werden: den mit ihr verbundenen Metaphern, den ethnomedizinischen Theorien, den Grundwerten, den Konzeptbildungen und den Versorgungsformen, welche die Krankheits-erfahrung formen, genauso wie die Reaktion der Umwelt auf den Lei-denden. Im Iran konnte zum Untersuchungszeitpunkt eine Reihe von

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Beschwerden, wie familiäre Konflikte, Armut, Trauer, Schuld oder körperliche Leiden, zu Herzbeschwerden führen, die als Störung der Herzfunktion angesehen werden, was von Herzrasen über Ohnmacht bis zum Herzschlag reichen kann.Aus der galenischen Tradition entstammt im Iran die Sichtweise, die das Herz als das Organ der Emotionen ansieht. Auch in Europa wird traditionellerweise das Herz mit heftigen Affekten in Zusammenhang gebracht und selbst in der Biomedizin wird die koronare Herzkrank-heit mit bestimmten inneren Haltungen verbunden. Angehörige von Kulturen, die von der arabisch-galenischen Tradition geprägt sind, ar-tikulieren eine ganze Reihe von Beschwerden als eine Erfahrung des sinkenden Herzes (Krause 1998). »Sinkendes Herz« hat es zu früheren Zeiten auch in westeuropäischen Gesellschaften als eine fachliche me-dizinische Diagnose gegeben (MacDonald 1981). Zyklothyme Stim-mungsschwankungen werden bis heute zwischen Ärzten und Patienten in Metaphern eines »Auf und Ab« kommuniziert.Die Ähnlichkeit zwischen den historischen Krankheitsverständnissen in Europa und den gegenwärtigen Vorstellungen in verschiedenen Teilen der »Dritten Welt« unterstützt nicht automatisch die Idee eines Fort-schritts in Richtung eines wissenschaftsorientierten Modells. Genauso wenig müssen biomedizinische Modelle gezwungenermaßen mit der Industrialisierung zusammenhängen. Es ist auch durchaus fraglich, ob gegenwärtig populäre Stresskonzepte irgendwelche signifikanten Vor-teile gegenüber einem Konzept des sinkenden Herzes oder anderen lo-kalen Kategorien bieten. Da die lokalen Krankheitskategorien in vielen nichtwestlichen Gesellschaften weit in die nichtmedizinischen Bereiche des alltäglichen Lebens hineinreichen, kann eine kultursensible Psychi-atrie vielfach nur ein Aspekt einer breiteren anthropologischen Betrach-tung sein. Begriffe wie »Krankheit« und »Therapie« werden vielfach als zu eurozentristisch abgelehnt und Begriffe wie »Beschwerden«, »Ausdruck« (von sozialen Werten) und »Verständnis« halten zuneh-mend Einzug in die psychiatrische Literatur; Begriffe und Kategorien wie »medizinisches Wissen« oder »Psychopathologie« werden in den Hintergrund gedrängt.So werden Apriori-Urteile über eine Universalität vermieden, denn jede ethnografische Annahme bedeutet letztlich die Übersetzung eines All-tagsverständnisses einer bestimmten Kultur in eine andere. Da Medi-zinanthropologen ebenso wie Psychiater an eine eigene, an bestimm-

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te Kontexte gebundene Fachsprache gewöhnt sind, gilt es immer, eine Balance zwischen dieser und der Umgangssprache zu finden, um zu verständlichen Beschreibungen zu kommen. Dies betrifft insbesondere emotional besetzte Themen und Inhalte.

Themen einer kultursensiblen Psychiatrie

Konzeptualisierungen und Klassifikationen von Krankheiten

Was einst als magisches Denken angesehen wurde, wird heute eher unter der Frage des Warum statt des Wie betrachtet: Kulturen unter-scheiden sich nicht durch die kognitiven Fähigkeiten ihrer Mitglieder, sondern durch ihre Beobachtungsprämissen. Kulturen mit einem tech-nologischen Interesse an einem Wie bieten einem Individuum in einer konkreten akuten oder chronischen Krankheitssituation wenig Hilfe etwa bei der Frage »Warum gerade ich?« (Kleinman 1988 a). Auch in Fällen ernster psychischer Erkrankungen tut sich die westliche Medizin schwer, allgemein verständliche Erklärungen in einer Alltagssprache anzubieten.Die Ethnowissenschaften gingen ebenfalls ursprünglich davon aus, dass lokale Erklärungen (folk models) psychiatrischer Krankheiten den west-lichen Theoriemodellen ähneln, die eine klare Unterscheidung zwischen Symptomen und Syndromen, Ätiologie und Prognose vornehmen. Auch ging man von einem direkten Zusammenhang zwischen Krankheitsein-heit und dem dafür gewählten Namen aus (Good/Good 1982). Üb-licherweise wurden lokale Informanten nach den Eigenschaften einer Krankheit befragt und danach wurde eine Klassifizierung entsprechend der medizinischen Nosologie vorgenommen.Komplexer dagegen ist ein Vorgehen, das auch Klassifikationsaspek-te berücksichtigt, die nicht so offensichtlich erscheinen. In einer sol-chen propositionalen Analyse wird jede Krankheitskategorie entspre-chend allen verfügbaren Dimensionen in unterschiedlichen Kontexten überprüft. Während beispielsweise im ländlichen Trinidad körperliche Krankheiten unmittelbar nach ihren Heiß- und Kalt-Eigenschaften un-terschieden werden, werden Madness (Verrücktheit) und Malkadi (Epi-lepsie) nur auf ausdrückliche Nachfrage als »heiß« bezeichnet, was aber in der Alltagssprache gar nicht geschieht.

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Mit L. Wittgenstein (2007) lässt sich sagen, dass Beschreibungen im-mer einem Zweck dienen und dass Klassifizierungen nur ungefähre An-nährungen an eine psychiatrische Nosologie sein können, deren Logik tradierten Konventionen folgt. Ebenso wie es möglich ist, Konzepten zu folgen, die man nicht benennen kann, kann aus der Beobachtung des pragmatischen Umgehens mit Krankheiten auf die zugrunde liegen-den Konzepte rückgeschlossen werden. Krankheitsbezeichnungen sind daher sowohl Strategien wie auch Erklärungen, Ideen wie Realitäten. Denn Klassifikationen dienen immer auch einem praktischen Nutzen, dessen Stimmigkeit von Beziehungen geprägt ist, seien es jene zwischen den Geschlechtern, den Generationen oder zwischen sozialen Gruppen (Bourdieu 2007).Psychiatrische Konzepte beruhen auf ideologischen Annahmen, denen man öffentlich kaum widersprechen kann. In Trinidad antworten die Menschen zum Verlauf psychischer Krankheiten: »Einmal verrückt, im-mer verrückt«, und äußern sich damit klar zum Unterschied zwischen Gesundheit und Verrücktheit sowie zu der Unmöglichkeit, diese heilen zu können. Handelt es sich jedoch um einen Verwandten oder Freund, so werden durchaus Ideen des Übergangs mit Begriffen wie »halb ver-rückt« oder »Belastung« eingeführt. Eine derartige Vorsicht im Um-gang mit stigmatisierenden Bezeichnungen kann bei nahestehenden Personen in den meisten Gesellschaften beobachtet werden (Horwitz 1982). B. und M. Good (1982) betonen, dass die Logik eines Erklä-rungssystems nicht nur durch Bedeutungen, die einer Krankheitsbe-zeichnung zugemessen werden, deutlich wird, sondern ihren Sinn auch durch die verschiedenen Kontexte und Identitäten findet, an denen die Betroffenen teilhaben. Mehrfach konnte nachgewiesen werden, dass Entscheidungen und Bewertungen westlicher Psychiater weit mehr vom aktuellen sozialen Kontext und von moralischen Bewertungen abhin-gen als von den medizinischen Vorgaben der einschlägigen Lehrbücher (Gordon 1988).

Pluralismus der Behandlungsansätze

Für bestimmte Krankheiten sehen die verschiedenen Gesellschaften un-terschiedliche Behandlungsansätze vor. Diese organisieren sich um spe-zielle Ideen, Fachleute, Techniken und Ausbildungen. Betroffene haben dann in einem gewissen Spielraum auszuwählen. Auch wenn westliche

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Gesellschaften gerne von sich behaupten, bei ihnen bestünde das größte Angebotsspektrum, können die Menschen in den meisten Ländern der Dritten Welt aus einer viel größeren Breite medizinischer und religiö-ser Angebote auswählen. Im Westen unterliegt zwar die Versorgung schwerer psychischer oder körperlicher Krankheiten einem ärztlichen Monopol, für chronische Leiden und leichtergradige psychische Stö-rungen gibt es aber auch, wie in den Ländern der Dritten Welt, ein großes Angebot von Laientherapeuten. Besonders bei unerklärlichen Beschwerden haben Selbsthilfegruppen einen großen Einfluss, der, wie die Beispiele der amerikanischen Mental-Health-Bewegung oder der Anonymen Alkoholiker zeigen, weit über die Linderung persönlichen Leidens hinausgeht.

Die Idee der Person

Jedes Krankheitskonzept basiert auf einem Menschenbild. Die carte-sianische Idee des Selbst bildet gemeinsam mit der Vorstellung vom Körper die Grundlage der Symptomlehre nach K. Schneider (1966). Demnach ist der Körper der Sitz des Selbst. Diese Vorstellungen beru-hen auf gesellschaftlichen und kulturellen Annahmen. So werden auch körperliche Metaphern herangezogen, um gesellschaftliche Phänomene wie Homöostase, Genese, Periode oder Struktur zu erklären. Westliche Vorstellungen gehen davon aus, dass die Gesellschaft aus einer Anzahl ähnlicher und letztlich ersetzbarer Selbst besteht, die sich durch ihre jeweiligen sozialen Rollen unterscheiden. Der Ort der Psychopathologie ist demnach der Körper, der durch eine individuelle Konstitution, Ge-schichte und Persönlichkeit geprägt ist, weswegen er bei Störungen der geeignete Ansatzpunkt für Interventionen ist.Im Gegensatz dazu ist in zahlreichen traditionellen Gesellschaften die zentrale Einheit nicht der Körper eines Individuums, sondern die Ge-meinschaft, insbesondere die Familie, quasi als ein gemeinsamer Körper. Dieser ist dann nicht nur der Ort für das, was wir als Psychopathologie bezeichnen, sondern auch körperliche Symptome erklären sich aus der Beziehung des Einzelnen zu anderen. Eine Störung im Körper drückt demnach eine Disharmonie der sozialen Ordnung aus und die geeig-nete Behandlung ist daher eher somatisch oder moralisch und weniger psychologisch (Wu 1982). Ein solches Verständnis widerspricht der in westlichen Gesellschaften häufig vertretenen Ansicht, dass nichtwestli-

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che Gesellschaften über ein undifferenziertes Selbst verfügen. Es zeigt eher, dass das Selbst nach sehr unterschiedlichen Kriterien differenziert werden kann.

Affekte und Somatisierung

Eine der detailliertesten Studien über Affekt und Kultur hat A. Klein-man (1986) in China durchgeführt. Er untersuchte die Verwendung des Begriffs »Neurasthenie« und fand, dass dessen somatisches Modell sowohl der traditionellen chinesischen Medizin, also den aktuellen so-ziokulturellen Kontexten nach der Kulturrevolution, als auch der bio-logisch orientierten westlichen Medizin entsprach. Während der chi-nesischen Kulturrevolution war es nicht akzeptiert, persönliches Leid psychisch auszudrücken. Das Konzept der Neurasthenie bot sich des-halb an, psychische Probleme körperlich zu definieren, die dann soma-tisch behandelt werden konnten.Diese Erfahrung stellt westliche Konzepte, die von einer Reife-Entwick-lung, von der Somatisierung in Richtung Psychologisierung, ausgehen, infrage. In soziopolitischen Kontexten, die einen moralischen Konsens betonen oder gar erzwingen, können körperliche Beschwerden durchaus angemessener sein als psychische. In einem Fall wird auf das körperliche Symptom fokussiert und die sozialen wie persönlichen Kontextbedingun-gen werden ignoriert, im anderen Fall wird aufgrund des Primats westli-cher Psychologie das körperliche Erleben von Leid psychologisiert.

Die Frage der Universalität

Aus der Tatsache, dass A. Kleinmans »neurasthenische« Patientinnen und Patienten in China gut auf trizyklische Antidepressiva reagierten und 87 Prozent von ihnen die Kriterien für eine Major Depression er-füllten, kann jedoch nicht geschlossen werden, das Neurasthenie eigent-lich Depression ist, sondern allenfalls, dass beide Gemeinsamkeiten ha-ben. Um zu entscheiden, ob die Depression etwas Universelles ist (was ja der Ausgangspunkt unserer Diskussion ist), muss erst einmal geklärt werden, welche der Dimensionen dieses europäischen Begriffs gemeint ist: der Gefühlszustand, das Symptom oder das Syndrom.Es gibt durchaus Erkenntnisse (Kleinman/Good 1985), die nahelegen, dass die körperlichen Symptome einer endogenen Depression univer-

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sell zu sein scheinen, ohne dass dadurch schon klar wäre, ob für diese körperliche Krankheit »Depression« die geeignete Bezeichnung ist. Al-lerdings rückt das in westlichen Kulturen vorherrschende Erleben von Depressionen für die akademische Psychiatrie derart in den Vorder-grund, dass sie dies als charakteristisch für die Krankheit Depression ansieht. Anstatt davon auszugehen, dass die Biologie das grundlegende Bezugssystem für eine ganze Breite von phänomenologischen, sozialen und psychologischen Vorgängen ist, scheint es viel angemessener, nach der kulturell adäquaten Ausdrucksform für Leid als Bezugspunkt zu suchen, sei es nun Depression oder Seelenverlust.Obwohl eindeutige genetische Erklärungen für psychische Krankheiten selten sind (vielleicht mit Ausnahme einiger seltenen neurologischen Erkrankungen) und obwohl Neurosen im Kulturvergleich eine beein-druckende Breite an Verhaltensvarianzen aufzeigen, herrscht in der Psychiatrie die Meinung vor, dass universell gleiches Verhalten eine bio-logische Ursache beweist. In bestimmten Fällen mag es durchaus biolo-gische Varianten geben, die signifikant sein können für Unterschiede im Verhalten von Menschen verschiedener Kulturen, sie werden uns aber kaum eine simple Ursache-Wirkung-Erklärung gestatten. A. Kleinman (1988 b) erinnert daran, dass die Evolution eher Argumente für die Zunahme von Variabilität als von Uniformität in menschlichen Gesell-schaften liefert.Die Annahme einer weitverbreiteten Universalität scheint schon allein deswegen für die Psychiatrie inadäquat zu sein, weil die Psychopatho-logie sowohl Verhaltensmuster beschreibt, die auf umschriebenen bio-logischen Prozessen beruhen, wie auch solche, die nur aus der individu-ellen Persönlichkeit, der jeweiligen Lebensgeschichte, der Zuschreibung für Symptome sowie aus den sozialen Reaktionen erklärbar sind. Die folgende Abbildung zeigt die beiden Extrempunkte dieses Interessen-gebietes auf einer Achse, die von Verhaltensauffälligkeiten, die am bes-ten durch individuelle biologische Gegebenheiten erklärt werden kön-nen, bis zu solchen reichen, die sich besser durch soziale, kulturelle oder lebensgeschichtliche Unterschiede erklären lassen.Die »Depression« kann auf unterschiedlichste Art und Weise, je nach-dem ob wir über eine Alltagsdysphorie (rechts in der Abbildung) oder über die körperlichen Symptome einer affektiven Psychose sprechen, verstanden werden. Kulturgebundene Syndrome passen eher zu einer soziologischen Interpretation, während Kuru nach der Entdeckung des

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Infektionsweges auf die linke Seite der Abbildung rutscht. Man kann sicherlich einwenden, dass alle Krankheiten durch ihr Erleben be-stimmt werden, welches von sozialen und kulturellen Werten abhängt, und dass auch Phänomene wie Agoraphobie oder Anorexie mit einer großen Breite symbolischer Assoziationen aus der westlichen Kultur psychophysischen Bedingungen unterliegen (Littlewood/Lipsedge 1997). Entgegen dem derzeit vorherrschenden bio-psycho-sozialen Mo-dell (Taussig 1980) fokussiert die hier vorgeschlagene neue Psychiatrie nicht auf psychologische Theorien, sondern betrachtet diese als folklo-ristische oder auf bestimmte Professionen beschränkte Erklärungsmo-delle, die sich eben aus einem sozialen Kontext heraus erklären.

Psychosomatik

Der für die westliche Medizin typische Leib-Seele-Dualismus führt zu Problemen bei bestimmten Krankheitsmustern, die mit diesem Modell nicht erklärt werden können. Nach C. Helman (1981) gilt diese für psychosomatische Krankheiten, Neurosen mit körperlichen Sympto-men, Hysterien, Simulation und Konversionssyndromen, die weniger natürliche Phänomene sind als vielmehr Ausdruck eines Versuchs, eine medizinische Krankenrolle einzunehmen. Sie ändern sich mit den vor-herrschenden Erklärungsmodellen je nach Lebensstil, Persönlichkeits-theorien oder psychodynamischen Moden. Selbst wenn die betroffenen Patientinnen und Patienten ausdrücklich ermutigt werden, ihr Leid psychologisch auszudrücken, bestehen diese üblicherweise darauf, ein körperliches Problem zu haben.

Littlewood 2:

Die Abbildung »Bedeutung transkultureller/migrationsspezifischer Fak-toren in Diagnostik ...« gibt einen Überblick darüber, welche Faktorenauf die Diag nostik spezifisch bei Migrantinnen und Migranten Einflusshaben können. Hierbei sind die Sprachschwierigkeiten vorherrschend,und Dolmetscher lösen dieses Problem nur unvollständig, da sie, mit demzung nicht vornehmen können.

Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Hegemann.

Roland Littlewood, war Professor für Anthropologie und Psychiatrieam University College in London; Abschlüsse in Biochemie, Medizin,Psychiatrie und Sozialanthropologie mit Feldstudien und Trinidad,Haiti, Libanon, Italien und Albanien; Past-President des Royal Anthro-pological Institute; umfangreiche Publikationen. Wichtige Veröffentli-chung: Pathology and Identity (1993), Cambridge.

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Spektrum möglicher Erklärungen für Symptome

Kuru-Psychosyndrom Schizophrenie Neurosen TabankaBulimie

SchuleschwänzenKleptomanie

õ õ õ õ

biomedizinische Erklärungen soziologische Erklärungen

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Klinische Nutzung

Die Psychiatrie hat im Kontext der anderen medizinischen Fachgebiete schon immer eine kritischere Haltung zu ihren eigenen Theoriemodellen gepflegt. Die medizinische Anthropologie bietet hier eine wissenschaft-liche Basis für die sozialen Dimensionen der Psychiatrie an (Kleinman 1982). Diese bewegt sich ja gerade deswegen am Rande des medizini-schen Hauptstroms, da sie sich – unter anderem – mit Fragen von Be-deutungen und Beziehungen beschäftigt, die mit biologischen Modellen nicht hinreichend erklärt werden können. Eine psychiatrische Beurtei-lung ist schlichtweg nicht möglich, ohne eine soziale und persönliche Anamnese zu erheben, der dann eine Interpretation folgt, die dem Vor-gehen in den Sozialwissenschaften ähnelt. Da die Anthropologie das Feld der traditionellen Epidemiologie erweitert und Beobachtungen aus unterschiedlichen Kontexten heranzieht, um soziale Einflüsse beurtei-len zu können oder um »Körper-Bilder« zu klären, sieht A. Kleinman (1977) ihren Nutzen gerade für die Behandlung und Servicegestaltung.Ethnografische Studien konnten klären, wie Patienten zu Psychopharma-ka stehen (Helman 1981), sie haben die unterschiedlichen Muster von Kindesmisshandlung erforscht (Scheper-Hughes 1987), haben psy-chotische Kommunikationsmuster aus einem sozialen Zusammenhang heraus verständlich gemacht (Swartz/Swartz 1987), das Verständnis von Angehörigen zur Schizophrenie untersucht (Jenkins 1988) und die Lebensmuster von Schizophrenen und alten Menschen erforscht (Est-roff 1981; Scheper-Hughes 1987). Eine anthropologisch orientierte Psychiatrie kann dazu beitragen, die Interessen ethnischer Minoritäten zu verbessern, indem sie beispielsweise die Zusammenarbeit mit Laien-heilern pflegt, die Forschung zu den Bedürfnissen örtlicher Gruppen fördert und auf den Ethnozentrismus der existierenden Servicedienste hinweist (siehe zu all diesen Stichworten die verschiedenen Beiträge im vorliegenden Buch).Im stationären Bereich konnten Anthropologen, die mit den psycho-sozialen Hintergründen der Patienten und mit ihren normativen und alltäglichen Symbolen vertraut sind, Nützliches zur Diagnostik, Be-gutachtung und Behandlung beitragen (Littlewood 1980). Wenn es überhaupt eine zentrale Rolle für die anthropologischen Ansätze in der Psychiatrie gibt, dann ist es die einer Sachwalterschaft, welche die Wer-te und Haltungen der Patientinnen und Patienten zum Ausdruck bringt.

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Auf diese Weise konnten Anthropologen zur Entwicklung einer patien-tenorientierten Medizin beitragen. Auch in der Krankenpflege kann sie viel dazu beitragen, häufig benutzte Begriffe wie Empathie oder Pflege zu operationalisieren.Anthropologen werden wohl kaum den Weg der Psychologen gehen und Behandler im eigentlichen Sinne werden. Sie bieten weniger ein Ver-ständnis von Leid und Krankheit, das auf individuellen Prozessen be-ruht, sondern eher eines, das sich auf einen erweiterten Kontext bezieht, der unmittelbaren Veränderungen nicht zugänglich ist. Trotzdem haben sich anthropologische Konzepte schon jetzt für die Arbeit in einer Reihe psychiatrischer Felder bewährt: Konsiliarwesen, Einzelpsychotherapie, Gruppen- und Milieutherapie sowie Psychosomatik.

Grenzen und Perspektiven

Der hier vorgestellte Ansatz wurde zuerst in den USA entwickelt und hat viel mit einer patientenorientierten Psychiatrie und einer Verhand-lungskultur und weniger mit starren hierarchischen Machtbeziehungen zu tun.Diagnosen und Krankheitserfahrungen sind nicht allein Ausdruck eines statischen Sozialsystems, sondern eher Ausdruck eines dynamischen Be-ziehungsgeflechts, zu dem Interpretationen, Neuinterpretationen, Op-tionen, Geheimhaltungen, Repressionen, Umdeutungen, Bewertungen und kulturelle Hegemonien gehören (Littlewood/Lipsedge 1997). Psychiatrische Krankenhäuser und Ambulanzen sind daher Orte, an de-nen Konflikte über unterschiedliche soziale Realitäten und Konzepte, über Fragen von Arbeitslosigkeit und ethnischem Status sowie über den Nutzen von Krankheitserfahrungen ausgehandelt werden.Eine der wichtigsten Leistungen dieses neuen psychiatrischen Ansatzes war es, aufzuzeigen, dass unsere stillschweigenden Unterscheidungen von Pathologie, Ätiologie und Therapie ziemlich willkürlich sind. Ver-haltensmuster wie Neurose oder Besessenheit könnten möglicherweise besser als Reaktion auf und weniger als Ausdruck von gesellschaftli-chen Prozessen verstanden werden, die dann nach den jeweils häufigs-ten Auftretensmustern benannt werden (ebd.). Tatsächlich ist es alles andere als offensichtlich, welche Form des Wissens als medizinisch zu

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bezeichnen ist und welche nicht. Angesichts der dramatischen Zunahme depressiver Störungen in westlichen Gesellschaften wären Bemühungen angebracht, sich verändernde Persönlichkeitskonzepte diesbezüglich zu operationalisieren.Solange wir psychiatrische Krankheiten lediglich als Defektzustände oder als Ausdruck einer Störung ansehen, verhindern wir die Chance zu erkennen, dass Psychosen auch alternative Sichtweisen bieten (Bock 2009), die irgendwann akzeptabel sein können.Die traditionelle transkulturelle Psychiatrie hat die kulturelle Variabili-tät neurologischer Störungen zugunsten einer Befürwortung der Univer-salität psychischer Krankheiten vernachlässigt.Jetzt bietet sich eine neue Verbindung zu den Neurowissenschaften an:

• Welche Veränderung erfährt das Körperbild durch neurologische Krankheiten?

• Haben die Erfahrungen einer Temporallappenepilepsie oder eines Tin-nitus etwas mit dem individuellen Selbstbild zu tun?

• Was hat der »Locus of Control« mit politischen Rahmenbedingungen oder mit Paranoia zu tun?

• Wie kulturspezifisch sind die Bezeichnungen für körperliche Krankhei-ten, die psychoneuroendokrinologisch erklärt werden (Greenwood 1989)?

• Passt das biomedizinische Modell von Sucht mit den wenigen Erkennt-nissen zusammen, die aus dem experimentellen Einsatz der entspre-chenden Substanzen gewonnen wurden?

• Gibt es universelle Gemeinsamkeiten im Erleben dysphorischer Stim-mungen und sind diese an bestimmte soziale Kontexte gebunden? Können sie für epidemiologische Studien operationalisiert werden?

Es scheint, dass je individualisierter und cartesianischer das Konzept des Selbst in einer Gesellschaft ist – als Konsequenz einer Industriali-sierung oder Verwestlichung –, desto mehr werden Ideen von Stress oder Druck eingeführt, um Einschränkungen der Autonomie erklären zu können.In ihrer extremsten Form bestreitet die medizinische Anthropologie jede Berechtigung eines vorherrschenden oder richtigen Erklärungsmodells in Psychologie und Psychiatrie und bezeichnet derartige Ansprüche als Ausdruck der aktuellen Haltung einer Person oder Gruppe. Unter dieser Annahme ist auch der hier vorgestellte Ansatz selbst kritisch zu

Von Kategorien zu Kontexten

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betrachten. Dennoch: Obwohl er einer bestimmten westlichen psychi-atrischen Tradition entstammt, bieten seine Erklärungsmodelle bessere Möglichkeiten für eine wertfreie Betrachtung menschlicher Erfahrungen an als Ansätze, die aus der Beschäftigung mit lediglich einer bestimm-ten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit gewonnen wurden. Ob dieser Ansatz dazu beitragen kann, die westliche Biologie-versus-Gesellschaft-Debatte zu einer umfassenderen Epistemologie psychiatrischer Theorie und Praxis zu führen, kann nur die Zukunft zeigen.

Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Hegemann.

Roland Littlewood, war Professor für Anthropologie und Psychiatrie am University College in London; Abschlüsse in Biochemie, Medizin, Psychiatrie und Sozialanthropologie mit Feldstudien in Trinidad, Haiti, Libanon, Italien und Albanien; Past-President des Royal Anthropologi-cal Institute; umfangreiche Publikationen. Wichtige Veröffentlichung: R. L. (1993): Pathology and Identity. Cambridge.

Roland Littlewood

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