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Kinderlegenden 1. Der heilige Joseph im Walde. – ATU 480: Mädchen: Das gute und das schlechte M. – KHM-Veröff.: 1819. – „Aus dem Paderbörnischen“ ist als Herkunftsangabe für dieses Legendenmärchen notiert, „erhalten durch die Güte der Familie Haxthausen, der wir so manches in dieser Sammlung verdanken“ (KHM 1856, 263). Kinderlegende (KL) 1 ähnelt in der Szene von der Begegnung der Kinder im Wald in vielem KHM 169: Das Waldhaus, in der Belohnung und Bestrafung der Kinder KHM 24: Frau Holle. Die Figur des gütigen, in einem abgeschiedenen Haus im Wald lebendenden Alten wird durch den heiligen Joseph verkörpert. Das Waldhaus bietet ihm als Einsiedler eine letzte Zuflucht und die Möglichkeit, die Welt kontemplativ zu betrachten. Sein mildtätiges Wirken gegenüber einem uneigennützig helfenden Kind steht im Einklang mit dem Bild Josephs als eines Mannes, der vor allem Kinder beschützt. Diese Vorstellung vom Nährvater Joseph, der selbst aus kleinen sozialen Verhältnissen stammt und daher für die Rolle eines Hel- fers der kleinen Leute prädestiniert ist, vermitteln zahlreiche Erzählungen seit der Gegenreformation. Der Heilige hat sich als Erzählfigur hier wie auch in anderen KHM (und Sagen) der Brüder Grimm unter den Bedin- gungen des 19. Jahrhunderts zu einer eher profanen Gestalt entwickelt und den kultisch-kirchlichen Bereich verlassen, wie Helmut Fischer (2001, 138–154) am Beispiel des heiligen Anno gezeigt hat. In der Figur der drei Kinder führt KL 1 exemplarisch richtiges und falsches Verhalten gegenüber Mensch und Tier vor und bietet wie ein Ex- empel erzieherische Leitbilder vom Standpunkt christlicher Morallehren dar. Das erste Kind entspricht in allem dem bescheidenen, freigebigen, barmherzigen und sich durch einen hohen Grad von Frömmigkeit aus- zeichnenden Wesen (rührselig: die Erwähnung des Schutzengels), das durch seine Tugendhaftigkeit und achtsames Verhalten höchstes Glück erreicht – symbolisiert durch materielle Werte wie den Sack voll Geld. Das zweite Kind kommt ebenso erzieherisch anzustrebenden Wertmaßstäben nahe, aber weniger, da es der Mutter nicht die ganze Belohnung abliefert wie das erste Kind. Das dritte Kind ist geleitet von Eigennutz und Hab- gier, so daß die Strafe für seine Hartherzigkeit nicht ausbleibt. Die Ein- sicht über das normwidrige Verhalten bewirkt zwar, daß der heilige Joseph die doppelt zugekommene Nase (Fortunatus-Motiv, s. EM 5, 10; EM 9, Brought to you by | Heinrich Heine Universität Düsseldorf Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 1/13/14 11:36 PM

Handbuch zu den "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm (Entstehung - Wirkung - Interpretation) || Kinderlegenden

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Kinderlegenden 1. Der heilige Joseph im Walde. – ATU 480: Mädchen: Das gute und das schlechte M. – KHM-Veröff.: 1819. – „Aus dem Paderbörnischen“ ist als Herkunftsangabe für dieses Legendenmärchen notiert, „erhalten durch die Güte der Familie Haxthausen, der wir so manches in dieser Sammlung verdanken“ (KHM 1856, 263).

Kinderlegende (KL) 1 ähnelt in der Szene von der Begegnung der Kinder im Wald in vielem KHM 169: Das Waldhaus, in der Belohnung und Bestrafung der Kinder KHM 24: Frau Holle. Die Figur des gütigen, in einem abgeschiedenen Haus im Wald lebendenden Alten wird durch den heiligen Joseph verkörpert. Das Waldhaus bietet ihm als Einsiedler eine letzte Zuflucht und die Möglichkeit, die Welt kontemplativ zu betrachten. Sein mildtätiges Wirken gegenüber einem uneigennützig helfenden Kind steht im Einklang mit dem Bild Josephs als eines Mannes, der vor allem Kinder beschützt. Diese Vorstellung vom Nährvater Joseph, der selbst aus kleinen sozialen Verhältnissen stammt und daher für die Rolle eines Hel-fers der kleinen Leute prädestiniert ist, vermitteln zahlreiche Erzählungen seit der Gegenreformation. Der Heilige hat sich als Erzählfigur hier wie auch in anderen KHM (und Sagen) der Brüder Grimm unter den Bedin-gungen des 19. Jahrhunderts zu einer eher profanen Gestalt entwickelt und den kultisch-kirchlichen Bereich verlassen, wie Helmut Fischer (2001, 138–154) am Beispiel des heiligen Anno gezeigt hat.

In der Figur der drei Kinder führt KL 1 exemplarisch richtiges und falsches Verhalten gegenüber Mensch und Tier vor und bietet wie ein Ex-empel erzieherische Leitbilder vom Standpunkt christlicher Morallehren dar. Das erste Kind entspricht in allem dem bescheidenen, freigebigen, barmherzigen und sich durch einen hohen Grad von Frömmigkeit aus-zeichnenden Wesen (rührselig: die Erwähnung des Schutzengels), das durch seine Tugendhaftigkeit und achtsames Verhalten höchstes Glück erreicht – symbolisiert durch materielle Werte wie den Sack voll Geld. Das zweite Kind kommt ebenso erzieherisch anzustrebenden Wertmaßstäben nahe, aber weniger, da es der Mutter nicht die ganze Belohnung abliefert wie das erste Kind. Das dritte Kind ist geleitet von Eigennutz und Hab-gier, so daß die Strafe für seine Hartherzigkeit nicht ausbleibt. Die Ein-sicht über das normwidrige Verhalten bewirkt zwar, daß der heilige Joseph die doppelt zugekommene Nase (Fortunatus-Motiv, s. EM 5, 10; EM 9,

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KL 2 Die zwölf Apostel 387

1222) wieder entfernt, doch hält die Reue des Kindes nur kurz an, da sie dann der Mutter vorflunkert, den erhaltenen Geldsack verloren zu haben. Das Legendenmärchen endet dramatisch: Eidechsen und Schlangen, ge-meinhin die Sendboten des Teufels, „stachen [die Mutter] in den Fuß“, bestrafen die Mutter für ihr Versagen als Erzieherin und töten die Tochter wegen ihrer Unbotmäßigkeit. Mit dieser Bestrafung gibt KL 1 ein beson-ders abschreckendes Beispiel für Erziehung im und durch Märchen.

Lit.: BP 3 (1918) 457–459; EM 7 (1993) 637–640 (G. Korff) (zur Figur des heiligen Joseph); Scherf 1995, 581–583; Uther 2006b; Ono 2007 (zur Waldsymbo-lik). 2. Die zwölf Apostel. – ATU 766: Siebenschläfer (Tubach, Nr. 4440) + Mot. V 232: Helfender Engel + Mot. V 292: Herkommen der Apostel. – KHM-Veröff.: 1819. – „Aus dem Paderbörnischen“, heißt es über die Herkunft dieser Legende, „erhalten durch die Güte der Familie Haxthau-sen, der wir so manches in dieser Sammlung verdanken“ (KHM 1856, 263); den Schluß der Legende bildet eine Ätiologie (Erklärungssage) über die Herkunft der zwölf Apostel. Im Anmerkungsband (KHM 1856, 263) wird nur auf die motivische Nähe zur Sage hingewiesen.

Die Erzählweise ist auf kindliches Verständnis abgestimmt. Nebensät-ze sind vermieden, kurze direkte Rede ist eingestreut und macht das Handlungsgeschehen lebendig. Der Stil zielt auf Verständlichkeit und Anschaulichkeit: „der Knabe war so schön wie ein Engel“.

Die Legende gehört zu der großen Gruppe von Erzählungen über Entrückungen, die davon handeln, wie Menschen (hier zwölf) für eine große Zeitspanne, die meist über das menschliche Leben hinausweist, ‚entrückt‘ werden, also den Zeitraum ihres Fernbleibens nicht wahrneh-men und bei ihrer Rückkehr in die Wirklichkeit vermeinen, nur eine kurze Zeit weggewesen zu sein. Die zwölf in großer Armut heranwachsenden Söhne sind keine heiligen vorbildhaften Heroen, sondern gewöhnliche Menschen und menschlich gezeichnete Heilige. Die anfangs geschilderte Mangelsituation betrifft Hungersnöte und damit verbundene Existenz-ängste, die eine Reminiszenz an überlieferte oder selbsterlebte Mangelsi-tuationen darstellen dürften (vgl. auch KHM 57 [1815]: Die Kinder in Hungersnoth). Die Legende überhöht das Geschehen mit der Aussicht auf ein besseres Leben nach dem Tode. Die Entrückung erfolgt unmittelbar und läßt sich als kausales Eingreifen Gottes – mit einem Engel als dessen Stellvertreter – begreifen. Die Menschen vermögen die zeitliche und räumliche Entfernung in den jenseitigen Raum nicht selbst zu überwin-den, sondern sie werden fortgenommen.

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Nachweise und Kommentare – Kinderlegenden 388

Das Wunder paraphrasiert den Begriff der schnell schwindenden Zeit im Vergleich zur göttlichen Zeit, der Ewigkeit: „Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache“ (vgl. Psalm 90,4 und 2. Petrus 3,8). In den von ihnen herausgegebenen Alt-deutschen Wäldern hatten die Brüder Grimm den ältesten deutschsprachigen Textzeugen, das mittelhochdeutsche Gedicht vom Mönch Felix (ca. 2. Hälfte 13. Jahrhundert), nach einer Gothaer Handschrift abgedruckt (Bd. 2 [1813] 70–82).

Die ursprünglich aus der arabisch-islamischen und indischen Überlie-ferung stammende Legende (vgl. Koran 18,9–26; Gramlich 1987, 77f., 103f., 119) wurde schon früh in Europa heimisch und ist in zahlreichen Versionen insbesondere in der Exempel- und Mirakelliteratur überliefert, aber auch in der Chronik- und Historienliteratur, und tauchte Ende des 18. Jahrhunderts in frühen Sagensammlungen auf, zumeist mit einem bestimmten Ort oder einem Kloster verbunden. So ist im Kloster Hei-sterbach (Uther 1994b, Nr. 156) die Sage von der ‚Relativität der Zeit‘ (Mot. D 2011) angesiedelt und soll von der Heiligmäßigkeit des Ortes zeugen. Die Sage handelt davon, daß ein Mönch an den Worten des Herrn zweifelt. Als er im Klostergarten seine Grübeleien fortsetzt, merkt er nicht, wie die Zeit vergeht, und übersteht wundersam einen Zeitsprung von mehreren Jahrhunderten. Bei seiner Rückkehr wird schließlich offen-bar, daß er jener vor drei Jahrhunderten Vermißte gewesen sein muß. Da „sank dem alten Mönch ein schwerer Schatten in die Augen; denn tausend Jahre sind ein Tag; und war gestorben, wie wenn Wind auf eine Kerze fällt“ (ATU 471A: Mönch und Vöglein). In einer anderen Sage aus dem Rheinland ist die Entrückung mit dem Siegburger Abt Erpho verbunden (Uther 1994b, Nr. 133).

In KL 2 ist jedoch die ursprüngliche Thematik verblaßt. Statt der nochmaligen Rückkehr auf die irdische Welt und dem anschließenden Tod gibt es einen (noch) versöhnlicheren Ausgang. Die zwölf vom Engel in einen 300jährigen Schlaf versenkten armen Kinder (nur das älteste Kind Petrus wird mit Namen erwähnt) überstehen den Zeitsprung unversehrt und entpuppen sich als die zwölf Apostel, die in der gleichen Nacht, in welcher Jesus geboren wird, aus ihrem Schlummer erwachen und ihn als die zwölf Apostel begleiten.

Die Thematik der Entrückung und wundersamen Wiederkehr ins Le-ben, auch wenn sie nur von kurzer Dauer ist, hat die Brüder Grimm als Sinnbild göttlichen Eingreifens so sehr fasziniert, daß sie ihre Deutschen Sagen mit einer Fassung aus dem Harz über verschüttete Bergmänner be-gannen (Die drei Bergleute im Kuttenberg) und die Entrückungsthematik gut ein dutzendmal aufgriffen (s. Grimm/Uther DS, Reg.). Im Märchen ent-spricht das Motiv des langen Schlafes, in welchem die Zeit für die Schla-

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KL 4 Armut und Demut führen zum Himmel 389

fenden stehenbleibt, aber in der Außenwelt weiterläuft, dem Zauberschlaf Dornröschens (KHM 50).

Lit.: Koch 1883; Huber 1910; BP 3 (1918) 460; Lüthi 1962, 19–30; Röhrich, Erzählungen, Bd. 1, 124–145, 274–280; EM 1 (1977) 678–680 (H. Lixfeld) (zur Darstellung der zwölf Apostel); Fuhrmann 1983; EM 4 (1984) 42–58 (C. Daxel-müller) (zur Entrückung); Verflex. 8 (21992) 1171f. (W. Williams-Krapp); Hansen 2002, 397–402; Uther 2006b; EM 12 (2007) 662–666 (H. Kandler); Hubrich-Messow 2000ff., Bd. 7, 270 (Varianten); Messerli 2004 (zu Raumvorstellungen). 3. Die Rose. – Mot. Z 142.1: Weiße Rose als Todeszeichen. – KHM-Veröff.: 1819. – „Aus dem Paderbörnischen“, heißt es über die Herkunft dieser Legende, „erhalten durch die Güte der Familie Haxthausen, der wir so manches in dieser Sammlung verdanken“ (KHM 1856, 263).

Die Rose erscheint in der kurzen Dialekterzählung als Vorbotin des Todes, ihr Aufblühen verheißt zugleich das Vergehen eines irdischen Le-bens und ist ein Zeichen dafür, daß das Kind die ewige Seligkeit erlangt hat. Das fremde Kind, das die Rose überreicht, ist nach Ansicht Jacob Grimms (Grimm DM 3, 786) ein Engel. Die Rose (besonders die weiße Rose, Lilie) als Todessymbol ist in Sagen des 17. Jahrhunderts (Grimm/Uther DS 264, 265) bekannt. Möglicherweise haben sich in dem Bild vom Übergang der Seele in Pflanzen ältere Vorstellungen von Seelen-wanderungen erhalten.

Der Todessymbolik allgemein kommt in allen Kinderlegenden wie in Legenden eine zentrale Bedeutung zu. Diese Thematik führt in die Nähe der Sage, wie auch die Brüder Grimm bereits erkannten (KHM 1856, 264). Der Mensch erfährt Leidvolles und muß eher passiv als aktiv das Geschehen über sich ergehen lassen, doch steht dahinter die Auffassung vom Tod als eines vorübergehenden Stadiums zum wahren Glück.

Lit.: Grimm DM 3, 786; BP 3 (1918) 460; HDA 7 (1935/36) 776–781 (H. Marzell); Meinel 1993, 88–103 (Texte); zur Symbolik der Rose in Volkserzählun-gen vgl. EM 11 (2004) 833–842 (S. Becker); Uther 2006b; EM 12 (2007) 489–493 (C. Tuczay) (zum Seelentier). 4. Armut und Demut führen zum Himmel. – Mot. K 1815.1.1, Q 523.4: Frommer lebt und stirbt unerkannt im Elternhaus (Tubach, Nr. 153) + Mot. A 2611.0.1: Grabpflanzen. – KHM-Veröff.: 1819. – „Aus dem Paderbörnischen“, so die Herkunftsangabe für dieses Legendenmär-

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Nachweise und Kommentare – Kinderlegenden 390

chen, „erhalten durch die Güte der Familie Haxthausen, der wir so man-ches in dieser Sammlung verdanken“ (KHM 1856, 263).

Die Nähe zur mittelalterlichen Legende von Alexius war im Anmer-kungsband schon angesprochen worden: „Der geduldige, der unter der Treppe liegende Aschensohn erwirbt sich die ewige Freude des Himmels“ (KHM 1856, 264). Der Stoff von KL 4 ist der Tat literarisch reich bezeugt und findet sich in den großen Legenden-, Exempel- und Mirakelsamm-lungen des Mittelalters (Gesta Romanorum, Legenda aurea); außerdem existier-ten epische und balladeske Gestaltungen. Entscheidend für die ungemeine Verbreitung und Nachwirkung bis ins 19. Jahrhundert war die Tatsache, daß in der Figur des demütigen und der Welt entsagenden Bettlers das mittelalterliche Asketenideal idealisierend dargestellt wurde. Die älteste Fassung (ohne Erwähnung des Alexius) ist als syrische Sage (lokalisiert in Edessa) für das 5./6. Jahrhundert bezeugt: Ein römischer Patrizier verläßt Braut und Eltern am Hochzeitstag und stirbt nach langem Bettlerdasein in Armut. Seit dem 9. Jahrhundert existierte eine erweiterte Form, wonach der unerkannte Bettler kurz vor seinem Tod von seinen Eltern wiederer-kannt wird. Daß seine Identität erst nach dem Ableben durch einen hin-terlassenen Brief offenbar wurde – wie in KL 4 –, entsprach späteren Bearbeitungen.

KL 4 ist einer der wenigen Texte, aus dessen Überschrift schon die Botschaft ersichtlich wird. Die Umformung der Legende zu einem Legen-denmärchen läßt sich daran festmachen, daß aus dem Römer Alexius ein Königssohn wird, der von einem Bettler zu asketischem Leben bekehrt wird. Neu war die Einbringung von Rose und Lilie als Grabpflanzen, die allgemein Symbole für die Reinheit und Unschuld des Gestorbenen sind. Der Vater bleibt eine blasse Figur; dies entspricht seiner Rolle in vielen anderen Volkserzählungen.

Die erste bildliche Gestaltung einer Kinderlegende ist Franz von Pocci (1807–76) zu verdanken, der in dem Sammelband Geschichten und Lieder mit Bildern (1843) als einzige Kinderlegende KL 4 aufnimmt und mit drei Fe-derlithographien ausstattet. Sie zeigen den Königsohn auf freiem Feld, dann in der Begegnung mit dem Einsiedler (die linke Hand in Richtung Königssohn ausgestreckt als Geste für den Ratschlag) und den unter der Treppe Sitzenden, dem ein junger Mann eine Schale mit Essen bringt, während eine andere weibliche Figur auf der Treppe mit einem Krug in der Hand zu ihm schaut. Eine stilisierte Rose im linken unteren Bildrand weist auf die Schlußszene. Poccis Lithographie findet sich gelegentlich auch als Bildschmuck in anderen Ausgaben.

Lit.: BP 3 (1918) 461; HDM 1 (1930–33) 113–115 (L. Mackensen); HDS 1, 334 (H. Schauerte); Stebbins 1973 (zu Alexius); (EM 1 (1977) 291–295 (F. Wag-

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KL 5 Gottes Speise 391

ner); EM 6 (1990) 72–78 (G. Meinel) (zu Grabpflanzen); Loeffler 1991 (zu Alexi-us); zu Pocci vgl. EM 10 (2002) 1089–1095 (I. Köhler-Zülch); Uther 2006b. 5. Gottes Speise. – ATU 751G*: Bread Turned to Stone (Tubach, Nr. 174, 3085). – KHM-Veröff.: 1819. – „Aus dem Paderbörnischen erhalten durch die Güte der Familie Haxthausen“ (KHM 1856, 263).

Der Konflikt zwischen Armut und Reichtum, in den KHM oft kon-trastreich beschrieben, wird hier personalisiert verdichtet in der Auseinan-dersetzung zweier Verwandter (s. auch KHM 87: Der Arme und der Reiche). Die Legende ist darauf ausgerichtet, das hartherzige unchristliche Verhal-ten der reichen Frau (bildhaft: „steinhart“) anzuprangern; das der Armen verweigerte Brot beginnt zu bluten und wird zum Bild der Sünde. Im Anmerkungsband (KHM 1856, 264) wird auf die motivische Nähe zum Volkslied hingewiesen.

Literarische Zeugnisse (auch Lieder: Erk/Böhme, Nr. 209 a–f) datie-ren vor allem aus dem 16./17. Jahrhundert. Der älteste Nachweis ist in den bei Johann Koler gedruckten Hundert christlichen Hausgesängen (um 1560) zu finden (Seemann 1932, 96–100, 104–107). Solche Exempla von der Hartherzigkeit der reichen Schwester sind zur Untermauerung der Glaubwürdigkeit auch öfter mit bestimmten Orten in Verbindung ge-bracht. Der Stoff wurde als Predigtmärlein dazu benutzt, den caritas-Gedanken in Anlehnung an 1. Johannes 4,20 herauszustellen: „Wie kan der Gott lieben, den er nicht sihet, so er seinen Bruder nicht liebet, den er sihet“ (Hondorff 1595, Blatt 291 b).

Entscheidend für die strukturell zwar ähnliche, aber doch in manchem umgestaltete Fassung KL 5 ist, daß (1) die Verwandlung des Brotes zum blutenden Laib kein Hostienwunder mehr ist, sondern Indikator für den verweigerten Leib Christi (Pars pro toto-Vorstellung; in den älteren Vari-anten geschieht die Transformierung zu Stein); daß (2) die arme Mutter und ihre Kinder nicht gerettet werden, sondern sterben, und daß (3) die geizige und hartherzige Frau für ihr unchristliches Verhalten straffrei aus-geht. Daher fehlt in KL 5 erstaunlicherweise die wirkungsvolle Sanktion, die als übernatürliche und göttliche Strafe in vergleichbaren Sagen (auch innerhalb der Deutschen Sagen, z.B. Grimm/Uther DS 241) wie in der ätio-logischen Sage über die Größe der Ähre (KHM 194: Die Kornähre) die Bedeutung des Geschehens unterstreicht. Anders orientiert, spiegeln viele didaktisch bestimmte Erzählungen den Gedanken der Selbstidentifikation Jesu Christi mit dem Brot des Lebens (Johannes 6,35) wider, der Barmher-zigkeit und Gastlichkeit gegenüber den Armen und auch gegenüber den Familienmitgliedern im weiteren Sinn einschließt (s. auch KHM 78: Der alte Großvater und der Enkel; KHM 145: Der undankbare Sohn).

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Nachweise und Kommentare – Kinderlegenden 392

KL 5 ist als Trostgeschichte gedacht. Zwar stirbt die Mutter mit ihren fünf Kindern infolge des hartherzigen Verhaltens ihrer reichen Schwester, aber im übertragenen Sinn erlangen Mutter und Kinder die ewige Selig-keit, die der Schwester infolge ihres untugendhaften Verhaltens versagt bleibt.

Die erste illustrative Gestaltung stammt von Bertall (i.e. Charles Albert d’Arnoux, 1820–93) und findet sich in einer KHM-Ausgabe von 1855 aus dem katholischen Frankreich. Die Erklärung liegt auf der Hand: In Frank-reich war die Verehrung von Heiligen traditionell stärker verankert als im (damals) überwiegend evangelischen deutschsprachigen Gebiet, so daß Märchen mit christlicher Thematik dort auf ein größeres Interesse stießen. Die Nachwirkung der Kinderlegenden in Deutschland hingegen blieb bis heute bescheiden. Bertalls Holzstiche werden später auch für englische und deutsche Ausgaben (teilweise koloriert) verwendet, auch wenn die Aussagekraft der bildlichen Darstellung eher gering ist, nur die Hand-lungsträger zeigt und die ausgewählte Szene nicht identitätsstiftend für spätere Illustratoren wird, so daß sich insgesamt auch keine Bilddominan-zen herausgebildet haben.

Lit.: BP 3 (1918) 461–463; HDM 2 (1934–40) 655 (L. Mackensen); HDS, 381 (Varianten); Schade 1966, 85–87 (zu Hondorffs Exemplum); Rehermann 1977, 558f., Nr. 7 (Variante von 1556); EM 2 (1979) 805–813 und 816–821 (D.-R. Moser) (zur Bedeutung von Brot und zu Brotlegenden); Moser 1981, 409–427; Bluhm/Rölleke 1997, 163f. (zu Redensarten, Formeln, usw.); Uther 2006b. 6. Die drei grünen Zweige. – ATU 756A: Eremit: Der selbstgerechte E. – KHM-Veröff.: 1819. – „Aus dem Paderbörnischen erhalten durch die Güte der Familie Haxthausen“ (KHM 1856, 263).

Die Legende paraphrasiert das öfter vertretene Thema von Gottes unbegreiflicher Gerechtigkeit (vgl. auch Kommentare zu KHM 178, 180 und KL 8, 9). Menschen ist die Gerechtigkeit nicht ohne weiteres einsich-tig und läßt sie – wie im Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner (Lukas 18, 9–14) – zu Sündern werden, selbst wenn sie sich um ein heiligmäßiges Leben wie der Einsiedler in KL 6 bemühen. Allerdings zeigt der im Ein-klang mit der christlichen Lehre stehende tröstliche Ausgang, daß tätige Reue und Buße über die unbedachte Äußerung die Verdammung des zweifelnden und mit seinem Schicksal hadernden Sünders aufheben kön-nen. Diese Vorstellung spiegelt symbolisch das Bild der Trias, der drei ergrünenden Zweige (Glaube, Liebe, Hoffnung), wider. Nicht nur der büßende Eremit kommt in den Genuß der Vergebung seiner Sünde, auch

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KL 7 Muttergottesgläschen 393

die Räuber, die seine Geschichte gehört haben, lassen sich zur Umkehr ihres bisherigen Lebens bewegen.

Obwohl Erzählungen und insbesondere Erzähllieder über bußfertige Sünder, die das Bußsakrament popularisierten (Moser 1977), besonders seit dem 16. Jahrhundert in Europa ungemein verbreitet waren und ein-zelne Züge bereits in anderen Motivzusammenhängen begegneten (vgl. ATU 755: Sünde und Gnade; ATU 756: Zweig: Der grünende Z.; ATU 756B: Räuber Madej; ATU 756C: Erzsünder: Die zwei E.), läßt sich für KL 6 keine langanhaltende ältere Überlieferung feststellen. Die Legende gilt als eigenständige Gestaltung dieser Thematik.

Abgesehen von Bertalls Holzstich (s. Kommentar zu KL 5: Gottes Spei-se) findet sich unter frühen illustrativen Gestaltungen nur ein Bilderbogen, erschienen 1886 innerhalb der Münchner Bilderbogen (Nr. 894), in dem das Büßerthema der drei grünen Zweige aufgegriffen ist. Für den verkürzten Text von KL 6 hatte Rudolf Geißler (1834–1906) fünf Zeichnungen ge-schaffen. Sie zeigen den Einsiedler mit dem Engel (Bild 1, Bild 3), bei der Begegnung mit dem zum Galgen geführten Angeklagten – die nach unten zum Verurteilten ausgestreckt weisende Hand soll die Mißbilligung aus-drücken (Bild 2), allein auf dem Weg „in die Welt zurück“ (Bild 4) und aufgebahrt mit gefalteten Händen in der Höhle mit den bekehrten Räu-bern (Bild 5). Geißlers Bilderbogenszenen sind gelegentlich für andere Märchenausgaben verwendet worden.

Lit.: BP 3 (1918) 463–471; Ranke 1955ff., Bd. 3, 99f. (Varianten); Schwarz-baum 1968, 128; Moser 1977, 30, 33–54; EM 4 (1984) 174–179 (M. Belgrader); Uther 2006b; Rölleke 2007, 123f. (zu religiös-moralischen Differenzierungen). 7. Muttergottesgläschen. – Mot. A 2655: Ursprung der Ackerwinde + Mot. A 2711.4.3: Maria vergibt Pflanzennamen. – KHM-Veröff.: 1819. – „Aus dem Paderbörnischen“, heißt es über diese Legende, welche die wundersame Begegnung eines Fuhrmanns mit der Muttergottes schildert und in eine Pflanzensage mit einer Erklärung zur Entstehung des Namens Muttergottesgläschen für die Ackerwinde (convolvulus arvensis) mündet. Die Erzählung hatten die Brüder von der Familie von Haxthausen erhal-ten (KHM 1856, 263).

Seit alters haben Götter und Heilige in den verschiedensten Religio-nen als Inspiratoren für die Wirksamkeit bestimmter Pflanzen oder als Namengeber für deren Aussehen gedient.. In der Neuzeit sind diese Fäh-igkeiten vor allem in katholischen Gebieten mit der Jungfrau Maria in Verbindung gebracht worden. Die Gabe, Tiere und Fuhrwerk aus einer

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Nachweise und Kommentare – Kinderlegenden 394

ausweglosen Situation zu befreien, erweist die Macht Gottes und seiner Vertreter auf Erden über Mensch und Materie (Bestätigungswunder).

Die Bezeichnung Muttergottesgläschen für die Ackerwinde und die Erklärung hierzu, wie sie KL 7 bietet, sind jedoch offenbar erst im 19. Jahrhundert entstanden.

Lit.: Grimm DM 3, 1146; Dähnhardt, Natursagen, Bd. 2 (1909) 260; BP 3 (1918) 471f.; HDA 9 (1938–41) 656–658 (H. Marzell); Uther 2006b. 8. Das alte Mütterchen. – ATU 934C: Todesprophezeiungen. – KHM-Veröff.: 1819. – „Aus Hessen“, heißt es im Anmerkungsband (KHM 1856, 264). Näheres über die Herkunft der Sage (KHM 1856, 264) ist nicht auszumachen. Zwar sind zahlreiche Formulierungen des Textes durchaus in legendenhaftem Ton gehalten, thematisch aber ist die Affini-tät zu entsprechenden Sagen von der Geister- oder Totenmesse nicht zu verkennen, worauf Wilhelm Grimm in der knappen Anmerkung selbst aufmerksam machte, indem er auf die Deutschen Sagen verwies (Grimm/ Uther DS 176: Geisterkirche).

KL 8 gründet auf der Vorstellung eines Gottesdienstes der Toten, die auch nach ihrem Ableben der Kirche verbunden bleiben und eigene Got-tesdienste feiern (ATU 779F*: Geistermesse). Nur besonders begnadete Menschen könnten Zeugen dieser Messen werden und gingen hernach in die ewige Seligkeit ein, ist die Botschaft vor allem der älteren Versionen. Seit dem 4. Jahrhundert ist der Stoff zunächst innerhalb von Heiligenviten überliefert und im hohen Mittelalter im Kontext von Mirakelberichten und Exempelsammlungen weiter verbreitet worden. Seit der Frühen Neu-zeit besteht öfter eine Verbindung zum Arme Seelen-Glauben (Erlö-sungsgedanke). Im Gegensatz zu Sagen über Totenmessen, welcher die zufälligen Besucher unter unfreiwilliger Zurücklassung eines Kleidungs-stücks (eingeklemmt in die Kirchentür: Kleiner Fehler, kleiner Verlust) entkommen (so Grimm/Uther DS 176), spiegelt KL 8 mit der Schilde-rung des Todes der Kirchenbesucherin seit der Antike geläufige Vorstel-lungen von der Geistersichtigkeit wider, die für die Seherin schlimme Folgen nach sich zieht.

KL 8 läßt sich wie KL 6: Die drei grünen Zweige als Erzählung auffassen, die Gottes unbegreifliche Gerechtigkeit demonstriert. Auf sein Wirken müsse man vertrauen, heißt es an anderer Stelle unter Anspielung auf ältere Spruchweisheit seit 1815 in KHM 96: De drei Vügelkens, als der Kö-nig hört, daß seine Schwiegertochter Hunde geboren habe: „Wat Gott deiet, dat is wole dahn.“ Obwohl das alte Mütterchen mit ihrer Einsamkeit gehadert hatte, erkennt sie durch die Vision, daß über ihrer Trauer, moch-

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KL 8 Das alte Mütterchen 395

KL 8: Das alte Mütterchen. Federzeichnung von Otto Ubbelohde (ca. 1909)

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Nachweise und Kommentare – Kinderlegenden 396

te sie noch so schmerzlich sein, göttliche Gerechtigkeit waltet. Mit dieser Erkenntnis geht sie in die ewige Seligkeit ein. Wie in KL 9: Die himmlische Hochzeit klingt das Thema der unschuldigen Kinder an, die unter dem besonderem Schutz Gottes stehen (z.B. Matthäus 18, 1–6; Markus 10, 13–16; Lukas 18, 15–17; Galater 3, 26).

Zur bildlichen Gestaltung s. Kommentar zu KL 5: Gottes Speise.

Lit.: BP 3 (1918) 472–474; Denecke 1958; HDS 1, 10–16; Röhrich 1976, 134; EM 5 (1987) 933–939 (I. Köhler) (zur Geistermesse) und EM 5 (1987) 939–944 (G. Grober-Glück) (zur Geistersichtigkeit); Bluhm/Rölleke 1997, 164 (zu Re-densarten, Formeln, usw.); Uther 2006b; EM 13 (2010) 726–731 (R. W. Brednich) (zu Todesprophezeiungen). 9. Die himmlische Hochzeit. – ATU 767: Kruzifix gefüttert (Tubach, Nr. 761, 1379, 2115). – KHM-Veröff.: 1815 (Nr. 35), 1819 (KL 9). – „Aus dem Meklenburgischen, doch auch im Münsterland bekannt“, heißt es im Anmerkungsband (KHM 1856, 264) über diese Legende. Der Einsender/ Verfasser der mecklenburgischen Variante ist nicht bekannt. Die offenbar später erhaltene münsterländische Legende, die nicht mit der aus dem Mecklenburgischen stammenden kontaminiert wurde, stammt von Ludo-wine von Haxthausen und befindet sich in der Staatsbibliothek Berlin, Preuß. Kulturbesitz (Nachlaß Grimm 1800, C1,1,5; Abdruck bei Schulte Kemminghausen 1963, 132f.). Im Anmerkungsband (KHM 1856, 264) wird auf die motivische Nähe zu Sage und Mythos hingewiesen.

Die Legende ist seit Anfang des 12. Jahrhunderts bekannt und läßt sich seit dem 13. Jahrhundert in den großen mittelalterlichen Legenden-, Exempel- und Mirakelbüchern nachweisen. Von der Struktur her handelt es sich um eine zweigliedrige Wundererzählung: (1) Ein einfältiger Bauern-junge nimmt die Worte des Herrn wörtlich (Motiv des geraden Weges), (2) bietet einer Statue Speise an und erlangt die himmlische Seligkeit.

Der erste Teil scheint literarisch erstmals in KL 9 vorzuliegen. Mit dem zentralen Motiv der Statuenverehrung – in KHM 139: Dat Mäken von Brakel als naiver Wunderglaube verspottet –, das in der Darbietung von Speisen gipfelt, die auch angenommen werden, kann KL 9 als Paraphrase des Bibelworts von den unschuldigen Kindern, welche besonders nahe bei Gott sind, aufgefaßt werden (z.B. Matthäus 18, 1–6; Markus 10, 13–16; Lukas 18, 15–17; Galater 3, 26). Der KHM-Titel Die himmlische Hochzeit deutet an, daß der Tod keineswegs als Endpunkt aufgefaßt werden soll, sondern daß die Aufnahme des Jungen als Belohnung für sein mildtätiges Verhalten zu werten ist, wie auch die mittelalterlichen Beispielgeschichten nahelegen.

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KL 10 Die Haselrute 397

Lit.: BP 3 (1918) 474–477; Szövérffy 1957, 141–151; Karlinger 1984–87; EM 8 (1996) 517–521 (G. Tüskés/Eva Knapp); Uther 2006b. 10. Die Haselrute. – Mot. A 2711.4.1: Haselbaum gewährt Maria Schutz + Mot. D 1402.10.2: Haselzweig als Schutz vor Kriechtieren. – KHM-Veröff.: 1850. – Erst 1850 mit dem Erscheinen der 6. Großen Ausgabe wur-de die Zahl der Legenden aufgestockt und schloß mit der Rundzahl Zehn. Als Vorlage diente eine Legende aus Franz Josef Vonbuns (1824–70) mehrfach aufgelegten Volkssagen aus Vorarlberg (Vonbun 1847, 7: D’ hasla-ruetha, ab 1858 dort unter dem Titel: Die Muttergottes und die Natter), die als ätiologische Sage (Erklärungssage) schließt. Vonbun, der in Feldkirch und seit 1850 in Schruns im Montafon tätige Arzt, schätzte besonders Jacob Grimm und dessen Deutsche Mythologie. Die zweite erweiterte Auflage der Vorarlberger Märchensammlung von 1850 hatte Vonbun Jacob Grimm gewidmet. Die Legende hatte Vonbun in Nüziders (bei Bludenz) aufge-nommen. Wilhelm Grimm übertrug sie ins Hochdeutsche, wie auch bei anderen Übernahmen zwar sinngemäß, aber syntaktisch mit einigen Um-stellungen, sprachlich wirkungsvoller und mit Hervorhebung der Zeitan-gaben.

KL 10 gehört zwar thematisch zu den Marienlegenden, ist aber zu-gleich eine Pflanzensage (vgl. auch KL 7: Muttergottesgläschen), weil sie eine Begründung für bestimmte Eigenschaften des Haselstrauchs gibt. Seit alters galt die Hasel als wirksamer Schutz gegen Schlangen und als Zau-berpflanze (Funktion der Wünschelrute). Vonbun vermutete, daß derarti-ge pagane Vorstellungen in dieser christlichen Umformung zur Marienlegende weitergewirkt hätten, was durchaus denkbar wäre, da gera-de seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts Erklärungssagen legendenhaf-ten Charakters die aufkommenden nationalen Zeugnisse der Dichtkunst bereicherten. Die weitergehendere Folgerung Vonbuns, die Heiden selbst hätten die thematische Umstrukturierung vorgenommen, um den „alther-gebrachten Glauben“ „gegen das aufkeimende Christenthum“ zu wahren (Vonbun 1850, XV), erscheint aber angesichts fehlender älterer literari-scher Zeugen – auch für vergleichbare Texte – wenig stichhaltig.

Lit.: Hamann 1906, 106; BP 3 (1918) 477; Marzell 1953; Rölleke 1985, 88–97; Schenda 1988, 79–81 (zu Vonbun); Strasser 1993, bes. 47–49 (zu Vonbun und Grimm); Uther 2006b.

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