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6 Aufklärung und Kritik 2/2002 Die gegenwärtige Philosophie pflegt man in zwei große Richtungen einzuteilen: zum einen gibt es die „Kontinentalen“, die in Heidegger ihren Meister verehren, die der formalen Logik und den Ergebnissen der Naturwissenschaften eher skeptisch ge- genüberstehen und die glauben, über eine „echte“ und „verstehende“ Vernunft zu verfügen; zum anderen gibt es die „Ana- lytiker“, die Nachkömmlinge des Neopo- sitivismus, die die Wissenschaften und die bloß „rechnende“ Vernunft zu schätzen wissen. Man könnte aber auch gute Ar- gumente gegen diese Einteilung (in die Kontinentalen und die Analytiker) vor- bringen, vor allem, weil es diese beiden unterschiedlichen Einstellungen (gegen- über Vernunft und Wissenschaft) in der Geschichte der Philosophie immer wieder gegeben hat. Schon Kant hat in diesem Sinne einen Kampf gegen die „Schwär- merei“ geführt! Wenn die Rede auf Hans Albert und sei- ne Auffassungen kommt, wird die Sache schwieriger, weil es nicht so einfach ist, den kritischen Rationalismus, den er ver- tritt, in einen dieser Rahmen zu stellen. Worum handelt es sich bei diesem kriti- schen Rationalismus? Die erste Antwort darauf ist gewissermaßen zu naiv: Albert wurde häufig als „Vertreter“ der Popper- schen Philosophie im deutschen Sprach- bereich angesehen, eine Einordnung, die viel zu grob ist, wie der Leser dieses In- terviews gleich sehen wird. Hans Albert hat vielmehr eine kohärente und systema- tische philosophische Auffassung erarbei- tet, die nicht nur Resultate von Poppers Dr. Lorenzo Fossati (Mailand) »Wir sind alle nur vorläufig!« Interview mit Hans Albert Untersuchungen, sondern auch die Leh- ren von Max Weber und vielen anderen ernst nimmt. Er ist vor allem Wissen- schaftstheoretiker und Sozialwissen- schaftler, und seine Einwände gegen an- dere philosophische Auffassungen haben meist wissenschafts- bzw. erkenntnistheo- retischen Charakter: So z.B. auch im so genannten „Positivismusstreit“ der 60er Jahre. Diese Auseinandersetzung, bei der Albert einem breiten Publikum bekannt wurde, liefert uns ein gutes Beispiel für das übliche Vorgehen der Gegner des kri- tischen Rationalismus, oft mit einer Ver- fälschung bzw. einer Umdeutung zu ar- beiten, um sich den Diskussionspartner etwas „einfacher“ zu machen. Es klingt schon etwas seltsam, wenn Popper und Albert „Positivisten“ genannt werden, weil gerade Popper den Neupositivismus be- kanntlich sehr scharf kritisiert hat, ohne natürlich die gemeinsame Wertschätzung von Wissenschaft und Logik zu verwer- fen. Wenn wir die Naturwissenschaften und ihre Erfolge betrachten, dann stellt sich die Frage, wozu wir eine „höhere“ oder „an- dere“ Vernunft brauchen, um über den Menschen etwas sagen zu können. Pop- per folgend ist Albert der Meinung, dass es in den Geistes- und in den Real- wissenschaften eigentlich nur eine Metho- de gibt, weil die Vernunft immer von dem- selben kritischen Verfahren der Forschung (conjectures and refutations) Gebrauch macht. Eine Kernaussage ist, dass Ver- nunft und Kritik zusammengehören, und wenn das eine fällt, fällt auch das andere.

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Die gegenwärtige Philosophie pflegt manin zwei große Richtungen einzuteilen: zumeinen gibt es die „Kontinentalen“, die inHeidegger ihren Meister verehren, die derformalen Logik und den Ergebnissen derNaturwissenschaften eher skeptisch ge-genüberstehen und die glauben, über eine„echte“ und „verstehende“ Vernunft zuverfügen; zum anderen gibt es die „Ana-lytiker“, die Nachkömmlinge des Neopo-sitivismus, die die Wissenschaften und diebloß „rechnende“ Vernunft zu schätzenwissen. Man könnte aber auch gute Ar-gumente gegen diese Einteilung (in dieKontinentalen und die Analytiker) vor-bringen, vor allem, weil es diese beidenunterschiedlichen Einstellungen (gegen-über Vernunft und Wissenschaft) in derGeschichte der Philosophie immer wiedergegeben hat. Schon Kant hat in diesemSinne einen Kampf gegen die „Schwär-merei“ geführt!Wenn die Rede auf Hans Albert und sei-ne Auffassungen kommt, wird die Sacheschwieriger, weil es nicht so einfach ist,den kritischen Rationalismus, den er ver-tritt, in einen dieser Rahmen zu stellen.Worum handelt es sich bei diesem kriti-schen Rationalismus? Die erste Antwortdarauf ist gewissermaßen zu naiv: Albertwurde häufig als „Vertreter“ der Popper-schen Philosophie im deutschen Sprach-bereich angesehen, eine Einordnung, dieviel zu grob ist, wie der Leser dieses In-terviews gleich sehen wird. Hans Alberthat vielmehr eine kohärente und systema-tische philosophische Auffassung erarbei-tet, die nicht nur Resultate von Poppers

Dr. Lorenzo Fossati (Mailand)

»Wir sind alle nur vorläufig!« Interview mit Hans Albert

Untersuchungen, sondern auch die Leh-ren von Max Weber und vielen anderenernst nimmt. Er ist vor allem Wissen-schaftstheoretiker und Sozialwissen-schaftler, und seine Einwände gegen an-dere philosophische Auffassungen habenmeist wissenschafts- bzw. erkenntnistheo-retischen Charakter: So z.B. auch im sogenannten „Positivismusstreit“ der 60erJahre. Diese Auseinandersetzung, bei derAlbert einem breiten Publikum bekanntwurde, liefert uns ein gutes Beispiel fürdas übliche Vorgehen der Gegner des kri-tischen Rationalismus, oft mit einer Ver-fälschung bzw. einer Umdeutung zu ar-beiten, um sich den Diskussionspartneretwas „einfacher“ zu machen. Es klingtschon etwas seltsam, wenn Popper undAlbert „Positivisten“ genannt werden, weilgerade Popper den Neupositivismus be-kanntlich sehr scharf kritisiert hat, ohnenatürlich die gemeinsame Wertschätzungvon Wissenschaft und Logik zu verwer-fen.Wenn wir die Naturwissenschaften undihre Erfolge betrachten, dann stellt sich dieFrage, wozu wir eine „höhere“ oder „an-dere“ Vernunft brauchen, um über denMenschen etwas sagen zu können. Pop-per folgend ist Albert der Meinung, dasses in den Geistes- und in den Real-wissenschaften eigentlich nur eine Metho-de gibt, weil die Vernunft immer von dem-selben kritischen Verfahren der Forschung(conjectures and refutations) Gebrauchmacht. Eine Kernaussage ist, dass Ver-nunft und Kritik zusammengehören, undwenn das eine fällt, fällt auch das andere.

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Im kritischen Rationalismus spielt also dieKritik die Rolle, die der Rechfertigungs-prozess in der traditionellen Philosophiegespielt hat: Das Streben nach Wahrheitbesteht nicht mehr darin zu versuchen,einen „notwendigen“ Grund für unserenTheorien anzugeben, sondern darin, nachder Überwindung des Gegebenen zu stre-ben, d.h. die Tradition, die üblichen Theo-rien, die einfachen Lösungen in Zweifelzu ziehen. Hier stoßen wir auf jenen „My-thos des Gegebenen“, der viele Denker inseinem Bann hält, und den der kritischeRationalismus als seinen „Feind Nr. 1“betrachtet.Mit dem Verzicht auf Wahrheitsgründesind nun Wahrheit und Gewissheit nichtnur zweierlei Dinge, sondern sie sind dar-über hinaus oft auch Gegensätze: Was unsgewiss erscheint, d.h. klar bzw. evident,kann bloße Folge unserer Denkgewohn-heiten sein und ist möglicherweise nuretwas, an dem wir fast „zwanghaft“ alsunser Wissen festhalten wollen.In dem vorliegenden Interview stellt HansAlbert seine intellektuelle Entwicklungvor, die immer von der Suche nach besse-ren, vernünftigen Alternativen geprägtwar, und er erklärt darin die wichtigstenKomponenten seiner Auffassung; vor al-lem betont er seine Hauptthese, den kon-sequenten Fallibilismus, der das klassische„Offenbarungsmodell der Erkenntnis“ er-setzt. Aus dem wird dann klar, wie un-verzichtbar für seinen kritischen Rationa-lismus die Konfrontation und die Diskus-sion mit anderen philosophischen Strö-mungen sind: Der methodische Revisio-nismus, der auf die Existenz verschiede-ner Alternativen angewiesen ist, ist dereinzige Weg, der uns offen ist, um ver-nünftig zu sein.

Das gilt nicht nur für philosophische De-batten, sondern auch für die politischenund öffentlichen Diskussionen. Hier zeigtsich die allgemeine Relevanz einer solchenkritischen Einstellung – besonders heute,wo man die Unterschiede zwischen Welt-auffassungen und Traditionen betont unddiese als unvergleichbar hinzustellenpflegt und worin jener zweite Mythos zumAusdruck kommt, gegen den Albertkämpft: der „Mythos des Rahmens“, denwir der Hermeneutik bzw. der Postmoder-ne zu verdanken haben und der sich alsbesonders gefährlich erweist. Einen Ver-gleich zwischen den verschiedenen, inunterschiedliche Rahmen eingebundenenModellen hält er auf theoretischem wie aufpraktischem Gebiet nicht nur für möglich,sondern auch für nötig, wenn wir nacheiner akzeptablen Lösung suchen.Natürlich stellt sich hier auch die Frage,welches Verhältnis zu Dogmatismus, In-toleranz und Religion einzunehmen ist, –ein Problem, mit dem Hans Albert sichschon sehr früh beschäftig hat. Obwohler Atheist ist, möchte er niemanden aufseine Kritik an Religion und Theologieverpflichten; er fordert aber, dass Kritikauch innerhalb der Religion geübt wird.Sein Ziel ist hier wie immer eine Erklä-rung des menschlichen Lebens und Han-delns, die auf einer allgemeinen Voraus-setzung beruht: Es gibt keinen Bereichmenschlichen Handelns und Denkens, dervon Vernunft ausgenommen wäre, d.h. esgibt keine Aspekte, die nicht revidiert undkorrigiert werden könnten. In AlbertsWorten: „Wir sind alle nur vorläufig. Wirmüssen unsere Auffassungen immer wie-der revidieren“.Aus vielen Gründen ist Hans Albert einerder einflussreichen Philosophen im deut-schen Sprachbereich geworden. Und

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wenn wir nun zu unseren Anfangsthemazurückkehren, nämlich zur Stellung deskritischen Rationalismus in der heutigenPhilosophie, dann kann man feststellen,dass Albert für sich die Rolle einersokratischen „lästigen Stechmücke“ inAnspruch nimmt. Es wird irgendeine The-se vorgebracht, und Alberts Interesse anihr ist immer: Können wir mit ihr inner-halb der anstehenden Problemsituationeine bessere Lösung als mit den Entge-gengesetzten erreichen? Was kann unsereTheorie leisten?Aber eine noch bessere Definition für ihnist wohl: Hans Albert ist ein geistigerNachfolger der Aufklärung.

Fossati: Die erste Frage lautet natürlich:Wie sind Sie zum kritischen Rationalis-mus gekommen?Albert: Bis zum Ende des zweiten Welt-krieges war ich Anhänger der pessimisti-schen Geschichtsphilosophie OswaldSpenglers. Dann hat sich mein Weltbildvöllig verändert. Zunächst habe ichBenedetto Croce gelesen, und er hat michüberzeugt. Danach habe ich andere Phi-losophen gelesen, zum Beispiel Kant, Rus-sell, Hartmann, Scheler, Gehlen, Carnap,Bergson, Heidegger und bin in große Ver-wirrung geraten, denn jeder hatte anschei-nend gute Argumente, aber ihre Auffas-sungen waren miteinander unvereinbar.Während meines Studiums der Ökonomiestieß ich auf den logischen Positivismusdes „Wiener Kreises“, der von Hutchisonzur Kritik der neoklassischen Ökonomieverwendet worden war1 . Ich akzeptiertediese Kritik, hatte mir aber inzwischeneine philosophische Auffassung gebildet,die auf den deutschen Pragmatismus zu-rückging: auf die Handlungslehre ArnoldGehlens, die Wissenssoziologie Max

Schelers und den KonventionalismusHugo Dinglers und seine Lehre von derLetztbegründung. Diese Auffassung ex-plizierte ich in meiner Dissertation, die denTitel hatte Rationalität und Existenz. Po-litische Arithmetik und politische Anthro-pologie2 und die unter anderem eine ra-dikale Kritik der reinen Ökonomie ent-hielt.Inzwischen hatte ich eingesehen, dass ichdie moderne Logik lernen müsste, umweiterzukommen. Ich las Tarski und ent-deckte das Buch Victor Krafts Mathema-tik, Logik und Erfahrung3 , das eine über-zeugende Widerlegung der DinglerschenLehre enthielt. Kraft hatte auch ein Buchüber den Wiener Kreis geschrieben4 , zudem er sich selbst und auch Karl Popperzählte. Ich las Karl Poppers Logik derForschung5 und die Arbeiten des WienerKreises und ging zum logischen Positivis-mus über, dem ich zunächst auch diePoppersche Auffassung zurechnete. Ichakzeptierte Poppers Wissenschaftslehreund verband sie mit der positivistischenAuffassung, dass Metaphysik sinnlos sei.Alles schien nun sehr einfach zu sein, bisich entdeckte, dass Poppers Kritik an denAuffassungen des „Wiener Kreises“ sehrviel weiterging, als ich angenommen hat-te, und dass die These der Sinnlosigkeitder Metaphysik nicht akzeptabel ist, undzwar schon deshalb, weil es logische Zu-sammenhänge zwischen metaphysischenAussagen und den Aussagen der Real-wissenschaften gibt, zum Beispiel zwi-schen dem allgemeinen Kausalprinzip,den Kausalgesetzen und singulären Kau-salaussagen. Es war sehr schmerzlich fürmich, meine antimetaphysische Auffas-sung aufgeben zu müssen, aber es warunvermeidlich. Ich ging zu Poppers kriti-schem Rationalismus über.

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Ich habe dann Karl Popper 1958 auf dem„Europäischen Forum Alpbach“ in Tirolpersönlich kennen gelernt. Wir korrespon-dierten seitdem miteinander und wurdenFreunde. Als im Jahre 1968 mein Traktatüber kritische Vernunft erschienen war6 ,schrieb er mir, das sei die beste Gesamt-darstellung seiner philosophischen Auf-fassungen. Allerdings sind in diesem Bu-che auch Ideen enthalten, die nicht beiPopper zu finden sind, zum Beispiel dieKritik von Letztbegründungen mit Hilfedes Münchhausen-Trilemmas, die Mög-lichkeit der Kritik ethischer Auffassungenmit Hilfe von Brücken-Prinzipien undmeine Kritik an den theologischen Auf-fassungen Bultmanns und anderer Theo-logen.Fossati: Auch Bartley hat Poppers Kriti-zismus in einer persönlichen Weise ver-treten.Albert: Bartley habe ich dann auch ken-nen gelernt und er hat mich beeinflusst.Er hat eine Darstellung der PopperschenPhilosophie geliefert, die Popper später biszu einem gewissen Grade anerkannt hat.Allerdings hatte er etwa 10 Jahre langwegen großer Differenzen keinen Kontaktmit Popper.Fossati: Was haben Sie über den Positi-vismusstreit – den Streit zwischen demkritischen Rationalismus und der Frank-furter Schule – zu sagen?Albert: Der Ausgangspunkt dieser Kon-troverse war bekanntlich das Referat KarlPoppers über die Logik der Sozialwissen-schaften auf der Tübinger Tagung derdeutschen Gesellschaft für Soziologie imOktober 1961 und das Korreferat Theo-dor W. Adornos. Eine echte Diskussionkam aber auf dieser Tagung nicht zustan-de. Sie begann erst damit, dass JürgenHabermas in einem Aufsatz Popper als

Positivisten attackierte7 . Popper selbst hatsich an ihr kaum beteiligt. Er warnte michdavor, „in diesen Sumpf zu geraten“. Aberich habe mich nicht davon abbringen las-sen, die Auffassungen von Habermas,Apel, Gadamer, Heidegger usw. kritischzu untersuchen. Karl Popper hatte andereProbleme. Er beschäftigte sich mit Kant,mit der modernen Physik, mit der evolu-tionären Erkenntnistheorie, mit denVorsokratikern. Ich kann gut verstehen,dass er seine Zeit nicht an andere Fragenverschwenden wollte.Fossati: Haben Sie Habermas auch per-sönlich kennengelernt?Albert: Natürlich! Als ich 1963 nachMannheim berufen wurde, war HabermasProfessor an der Universität Heidelberg.Wir haben uns 1964 auf dem Max We-ber-Kongress in Heidelberg getroffen. Erhat mich damals besucht und BartleysBuch The Retreat to Commitment8 vonmir geliehen. Ich sagte ihm, dass ich ge-rade dabei sei, eine Erwiderung auf seinePopper-Kritik zu schreiben. Auch späterhabe ich ihn ein paar mal gesehen.Ich habe mich immer bemüht, ihn zu ver-stehen und auf seine Auffassungen ein-zugehen. Er hat sich immer wieder mitamerikanischen und französischen Den-kern auseinandergesetzt. Seine deutschenKritiker und ihre Einwände hat er weni-ger beachtet.Fossati: Karl-Otto Apel haben Sie auchscharf kritisiert.Albert: Herr Apel ist ein freundlicherMann, und er pflegt auch auf scharfe Kri-tik freundlich zu antworten. Wir habenöfter miteinander diskutiert. Er meint,meinen konsequenten Fallibilismus wider-legt zu haben. Und ich bin der Auffas-sung, dass ich seine Letztbegründungs-position ad absurdum geführt habe. An-

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dere haben sich dazu geäußert, zum Bei-spiel zuletzt Nilsson in seinem Buch TheRevisability of Cognitive Standards, derauf meiner Seite ist9 .Fossati: Und nun kommen wir zu IhrerAuseinandersetzung mit der Transzenden-talpragmatik. Die Frage lautet: Warummuss man für den Fallibilismus allgemei-ne Geltung beanspruchen? Es wäre viel-leicht schon genug, den Fallibilismus nurmit Bezug auf unser wissenschaftlichesoder tatsächliches Wissen zu vertreten. Inder Logik könnte man zum Beispiel eineAusnahme sehen.Albert: Die Frage ist, warum man eineAusnahme machen sollte. Woher soll manwissen, dass eine bestimmte Lösung ei-nes Problems niemals revidiert werdenkann? Lesen Sie einmal Bertrand RussellsBuch Die Entwicklung meines Denkens10.Er sagt da an einer Stelle, dass er früherdie Mathematik als die letzte Provinz derGewissheit angesehen hatte, aber seit derEntdeckung der Paradoxien der Mengen-lehre sei er davon abgekommen. Späterhat Imre Lakatos gezeigt, dass einefallibilistische Auffassung des mathema-tischen Denkens akzeptabel ist11 . Werhätte das früher geglaubt? Auch in derLogik gibt es Kontroversen, zum Beispielüber das Gesetz vom ausgeschlossenenDritten. Und es werden sogar parakon-sistente Logiken angeboten.Fossati: Ihre Auffassung ist sicher sehrkohärent: Man kann darin keinen Wider-spruch finden, wie einige Kritiker meinen.Albert: Ja, aber eine konsistente Auffas-sung kann natürlich auch falsch sein. Umkonsequent zu sein, muss ich meinenFallibilismus natürlich auch auf meine ei-gene Auffassung beziehen. Ich kann dieMöglichkeit logisch nicht ausschließen,dass es Ausnahmen gibt. Wer meine Po-

sition kritisiert, müsste aber solche Aus-nahmen nachweisen.Fossati: Das Problem könnte auf dieseWeise dargestellt werden: Von einem em-pirischen Standpunkt hat eine Sache vie-le Beschaffenheiten, über die wir sprechenkönnen und in bezug auf die wir uns irrenkönnen. Man könnte aber sagen, dass wiretwas zur Verfügung haben, über das wiruns nicht irren können, nämlich die Be-schaffenheit, viele Beschaffenheiten zuhaben. Ich kann mich irren über die Far-be meiner Hose, aber nicht darüber, dassmeine Hose eine Farbe hat. Dass es eineFarbe gibt, ist doch nicht zu bezweifeln.Albert: Dazu ist zunächst zu sagen, dasses vieles gibt, was man üblicherweise alsgewiss und als unbezweifelbar anzusehenpflegt. Aber diese Gewissheit ist keinWahrheitskriterium. Dass ihre Hose eineFarbe hat, könnte eine Illusion sein. DieFarbe könnte ein reines Phänomen IhresBewusstseins sein. Dann gäbe es, so könn-ten Sie entgegnen, zumindest Farben inihrem Bewusstsein. Aber sogar dessenExistenz wird mitunter in Frage gestellt,wenn auch nicht von mir. Auch darüberwird sich der konsequente Fallibilist aufeine Diskussion einlassen und sich nichtauf die Gewissheit als Wahrheits-Kriteri-um berufen.Popper würde Ihnen vielleicht in bezugauf sogenannte „triviale Wahrheiten“ zu-gestimmt haben. Aber auch solche „tri-viale Wahrheiten“ sind möglicherweisefalsch. Der common sense kann sich ir-ren, obwohl er mitunter gegenüber philo-sophischen Auffassungen recht hat.Dass es Dinge gibt, die Eigenschaften zuhaben scheinen, könnte übrigens eine Fol-ge unserer Grammatik sein, auf die wirnicht verzichten können, obwohl sie unsin dieser Hinsicht in die Irre führt. Auf

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ontologische Fragen gibt es bekanntlichganz verschiedene Antworten. Wenn mangenügend spekulative Phantasie hat, wer-den viele Selbstverständlichkeiten proble-matisch.Fossati: Wahrheit und Gewissheit passenalso nicht gut zusammen?Albert: Wahrheit und Gewissheit sindjedenfalls zweierlei. Man pflegt sie übri-gens auch im Alltagsdenken zu unterschei-den. Und sogar, dass Gewissheit kein si-cheres Indiz der Wahrheit ist, ist im all-täglichen Leben selbstverständlich. Aller-dings glaubt man da viele Dinge sicher zuwissen. Zum Beispiel die einfachen Wahr-heiten der Arithmetik, die man in derSchule gelernt hat. Dass 1 + 1 = 2 ist,scheint doch zum Beispiel selbstverständ-lich zu sein. Wenn man aber danach fragt,ob es wirklich eine Zahl „1“ und eine Zahl„2“ und eine Summe von Zahlen gibt odervielleicht nur Zahlzeichen, mit denen manpraktisch operieren kann, kommt maneventuell in Schwierigkeiten.In bezug auf solche Probleme hat michübrigens, soviel ich mich erinnere, derheute wohl vergessene katholische Exi-stenzphilosoph Peter Wust mit seinenBuch Ungewissheit und Wagnis be-einflusst12 , den ich als Student gelesenhabe, lange bevor ich Popper entdeckthabe. Er war für mich viel interessanterals zum Beispiel Martin Heidegger.Fossati: Nach Ihnen und Apel muss dasWiderspruchsfreiheitsprinzip anerkanntwerden, sonst wäre es möglich, jede be-liebige Konsequenz zu ziehen. Obwohl Siediesem Prinzip eine andere Begründunggeben als Apel, sind Sie wie er bereit, ihmeine „praktische“ Rolle zuzuschreiben.Albert: Ich akzeptiere in der Tat wie Apeldas Prinzip der Widerspruchsfreiheit. Nurbehaupte ich nicht, es begründet zu ha-

ben. Und die These, dass man sonst be-liebige Konsequenzen ziehen könnte, giltnur, wenn man bestimmte logische Regelnakzeptiert. Ein Dialektiker könnte daraufverweisen, dass man andere Regeln an ihreStelle setzen könnte, so dass es nicht mehrmöglich wäre, beliebige Konsequenzen zuziehen. Auf die Möglichkeit parakon-sistenter Logiken habe ich schon hinge-wiesen.Ich halte an der klassischen Logik fest.Ich halte sie für akzeptabel und habe michbisher wenig um diese Entwicklungengekümmert. Bisher habe ich jedenfallsnichts gehört, was mich davon abbringenkönnte.Fossati: Bisher! Immer nur vorläufig.Albert: Ja, warum nicht? Wir sind auchalle nur vorläufig. Wir müssen unsereAuffassungen immer wieder revidieren.Zum kritischen Rationalismus gehört dermethodologische Revisionismus.Fossati: Sie haben öfter über die „deut-sche Ideologie“ gesprochen. Ist sie immernoch die herrschende Auffassung?Albert: Damit habe ich die hermeneuti-schen und dialektischen Richtungen ge-meint. Wenn man sie Ideologien nennt, hatman sie natürlich damit noch nicht erle-digt. Ich habe mich nicht darauf be-schränkt, sie so zu charakterisieren, son-dern habe gegen sie argumentiert.Sie wollen offenbar, dass ich etwas überden Zustand des deutschen Denkens sage.Im Gegensatz zu der Zeit kurz nach demzweiten Weltkrieg gibt es heute im deut-schen Sprachbereich eine Vielfalt philo-sophischer Auffassungen. Und es gibtDiskussionen zwischen den verschiedenenRichtungen, an denen auch ich mich be-teiligt habe. Von einer Dominanz be-stimmter Auffassungen kann nicht dieRede sein.

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Kurz nach dem zweiten Weltkrieg war dasanders. Zunächst dominierten Heideggerund seine Schüler. Dann kamen die„Frankfurter Schule“ Max Horkheimersund Theodor W. Adornos dazu und die„Erlanger Schule“ Paul Lorenzens undschließlich Wolfgang Stegmüller mit deranalytischen Philosophie und der kritischeRationalismus Karl Poppers. Nun ist dasBild noch vielfältiger geworden.Fossati: Sie haben über die Marxistengesprochen, Popper wird oft eine „Anti-Marx“-Haltung zugeschrieben. In seinemBuch Die offene Gesellschaft und ihreFeinde kann man aber eine teilweise po-sitive Beurteilung der Werke von Marxfinden13. Man könnte sagen, dass Popperim allgemeinen positiv über die Ziele vonMarx und negativ über seine Methodespricht. Marx habe zwar eine problemati-sche Wissenschaftstheorie vertreten, aberseine Analyse der Gesellschaft sei trotz-dem interessant.Albert: Da haben Sie vollkommen recht.Auch für mich ist Karl Marx einer der be-deutendsten deutschen Soziologen undÖkonomen. Wir haben ihm Einsichten zuverdanken, und er hat sich in manchenPunkten geirrt. Und seine Irrtümer habenteilweise Wirkungen gehabt, die er sichernicht gewünscht hätte. Vor allem die Idee,dass man durch die Beseitigung des Pri-vateigentums an den Produktionsmitteln,des Marktes und des Geldes eine freie Ge-sellschaft erreichen kann, war ein schwer-wiegender Irrtum, der katastrophale Wir-kungen hatte. Die Dogmatisierung desMarxismus ist aber vor allem Lenin zuverdanken. Man kann sich übrigens leichtvorstellen, dass ein Mann wie Marx in derSowjetunion liquidiert worden wäre.In Deutschland haben die Revisionisten –vor allem Eduard Bernstein – Marx durch-

aus kritisch behandelt. Bernstein war nichtnur politisch sondern auch theoretischRevisionist. Er hat die Marxsche Auffas-sung der Kritik unterworfen und sie revi-diert.Fossati: Sie schreiben, dass Parteien ineiner offenen Gesellschaft sich kaum ei-ner bestimmten philosophischen Überzeu-gung verschreiben können14. Aber der kri-tische Rationalismus hatte Einfluss auf dasprogrammatische Denken in der deut-schen Sozialdemokratie. Sind Sie Sozial-demokrat?Albert: Eine positive Antwort auf dieseFrage würde heute geringe Bedeutunghaben. Ralf Dahrendorf hat mit Rechtgesagt, dass sich nach dem zweiten Welt-krieg in Europa so etwas wie „ein sozialde-mokratischer Kompromiss“ durchgesetzthat, den alle großen Parteien akzeptiert ha-ben. In Deutschland hat zunächst die CDUim Namen einer „sozialen Marktwirtschaft“Reformen herbeigeführt, die in diese Rich-tung gehen. Später fand vieles, was dieGrünen anstreben, Aufnahme in die Pro-gramme der anderen Parteien.Was den kritischen Rationalismus angeht,so haben Personen aus allen großen Par-teien sich auf Karl Poppers Ideen bezo-gen, vor allem Helmut Schmidt, aber auchHelmut Kohl und sogar Franz JosefStrauß. Popper selbst hat sich einen Libe-ralen genannt. So würde auch ich micheinordnen. Ich habe von Adam Smith ge-lernt und von John Stuart Mill, der einvorzügliches Buch über die Freiheit ge-schrieben hat, aber auch von Karl Marxund von Max Weber, einem seiner großenKritiker.Fossati: John Stuart Mill war ein Philo-soph, den Ihr Freund Paul Feyerabend sehrgeschätzt hat. Sie haben einmal die „An-archie“ der „Anomie“ gegenübergestellt.

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Albert: Ja, wir beide haben positiv überMill geschrieben, der den Fallibilismus indie politische Philosophie eingeführt hat.Was nun die Anarchie angeht, so ist sieein zwar herrschaftsloser, aber keineswegsohne weiteres rechtloser Zustand. Aberohne einen Staat, der das Monopol legiti-mer Gewaltanwendung beansprucht, lässtsich vermutlich in modernen Gesellschaf-ten tatsächlich keine Rechtsordnung auf-rechterhalten.Auch die Herrschaft selbst kann rechtlichgezähmt werden, und das ist unter demEinfluss der Aufklärung in modernenStaaten teilweise geschehen. Sie hat ge-wissermaßen zur Zähmung des Staatesund im Zuge der Säkularisierung auch zurZähmung der Religion beigetragen.Fossati: Heute leben wir in einer Welt-krise. Und es stellt sich die Frage, ob einAusgleich zwischen der europäischenWeltauffassung und anderen Weltauf-fassungen möglich ist. Man weist zumBeispiel darauf hin, dass im Islam bisherkeine Säkularisierung stattgefunden hat.Albert: Es ist in der Tat problematisch,dass im Islam die Religion die Rechtsord-nung bestimmt. Das kann zu großenSchwierigkeiten führen. In Europa fanddie erste Gewaltenteilung zwischen Kai-ser und Papst statt, mit großen Konsequen-zen für die europäischen Rechtsordnun-gen. Diese Art der Gewaltenteilung gibtes offenbar im Bereiche des Islam nicht.Was die heutige internationale Krise an-geht, so würde ich wünschen, dass sichauf die Dauer eine internationale Rechts-ordnung durchsetzen lässt, etwa im Sinnedes seinerzeit von Immanuel Kant charak-terisierten Ideals. Das scheint aber ohneein zentrales Gewaltmonopol schwierig zusein. Und ein solches Monopol ist schwerzu realisieren. Um akzeptabel zu sein,

müsste eine solche Rechtsordnung wohlein starkes föderales Element haben.Dass sich ein in verschiedenen Kulturkrei-sen akzeptabler gemeinsamer Rechts-rahmen finden lässt, ist meines Erachtensauf lange Sicht nicht ausgeschlossen. Esgibt ja schon viele Staaten, in denen An-gehörige verschiedener Religionen fried-lich zusammenleben. Auch Anhänger desIslam scheinen sich teilweise an eineRechtsordnung unserer Art gewöhnen zukönnen.Fossati: Man gewinnt mitunter den Ein-druck, dass Sie Religion, Intoleranz, Dog-matismus und Theologie als Synonymebenutzen.Albert: Das ist natürlich nicht richtig. Ergibt meines Erachtens mehr oder wenigertolerante Religionen und mehr oder we-niger dogmatische theologische Auffas-sungen. Paulus war, wie ein bekannterTheologe festgestellt hat, ein Klassiker derIntoleranz. Auch Luther und Calvin darfman wohl so charakterisieren. Von AlbertSchweitzer kann man das Gegenteil be-haupten. Aber es gibt Intoleranz und Dog-matismus bekanntlich auch in säkularisier-ten Weltanschauungen. Ich möchte nichtso verstanden werden, dass ich Theologiemit Intoleranz oder Dogmatismus identi-fiziere.Fossati: Sie haben den Fallibilismus ge-gen das „Offenbarungsmodell der Er-kenntnis“ gestellt, das aber keine erkennt-nistheoretische, sondern eine theologischeKategorie ist.Albert: Mein „Offenbarungsmodell“ ent-spricht etwa dem, was Popper „manifesta-tion theory of knowledge“ nennt. Ob daseine gute Übersetzung ist, kann man na-türlich bezweifeln. Aber die scharfe Un-terscheidung, die Sie zwischen erkennt-nistheoretischen und theologischen Kate-

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gorien machen, halte ich für problema-tisch. Gott spielt bekanntlich, wie Röd inseinem Buch Der Gott der reinen Vernunftgezeigt hat15, in der vorkantischen Er-kenntnislehre eine wichtige Rolle. AuchPopper hat auf die erkenntnistheoretischeBedeutung der „veracitas dei“ hingewie-sen.Fossati: Vielleicht interpretieren wir Wör-ter wie „Offenbarungsmodell“ ganz ver-schieden, und dann könnte unter Umstän-den eine Klärung sprachlicher Missver-ständnisse weiterführen. Jedenfalls hörtsich Ihre Kritik am religiösen Denken inunseren Ohren sehr scharf an. Sind IhrerAnsicht nach kritischer Rationalismus undReligion unvereinbar?Albert: Albert Schweitzer hat sich ein-mal einen „kritischen Rationalisten“ ge-nannt, allerdings als das noch kein Namefür eine bestimmte Richtung war. Aber erhat betont, dass man dem kritischen Den-ken innerhalb der Religion sein Recht ver-schaffen müsse. Ich möchte ihn daher ger-ne für die von mir vertretene Version deskritischen Rationalismus in Anspruchnehmen. Er selbst hat sich in seiner Ge-schichte der Leben Jesu-Forschung in die-sem Sinne verhalten und hat darin sogarKritik an der jesuanischen Ethik geübt16.Fossati: Kann man nicht sagen, dass derkritische Rationalismus als moderne Welt-auffassung keinen Gott braucht?Albert: Es gibt verschiedene Versionendes kritischen Rationalismus, so dass dieAntwort auf diese Frage wohl verschie-den ausfallen muss. Karl Popper hat sichnicht als Atheist, sondern als Agnostikerbetrachtet. Andere kritische Rationalistensind wie ich Atheisten. Es gibt aber zumBeispiel auch Vertreter des kritischen Ra-tionalismus, die sich zum Katholizismusbekennen.

Ich möchte keinen von ihnen auf meineKritik an Religion und Theologie ver-pflichten. Sie folgt nicht logisch aus demkritischen Rationalismus, sondern siegründet sich auf weitere Voraussetzungen,denen sie wohl nicht zustimmen können.Die These der Existenz Gottes ist einemetaphysische Hypothese, die ich ausbestimmten Gründen nicht akzeptierenkann, vor allem deshalb, weil sie mit demweitgehend durch wissenschaftliche Er-kenntnisse bestimmten modernen Weltbildnicht harmoniert. Es geht dabei nicht umeine Ablehnung der Metaphysik, sondernum eine Zurückweisung einer bestimm-ten These.Fossati: Bartley stimmte darin mit Ihnenüberein. Man könnte denken, dass derkritische Rationalismus in diesem Punktden Geist von heute ausdrückt – einenGeist, der sich ohne einen höheren Geistwohlfühlt.Albert: Es geht hier nicht darum, ob mansich wohlfühlt, sondern darum, wie übermetaphysische Hypothesen entschiedenwerden kann, ein zugegebenermaßenschwieriges Problem. Man kann sie janicht ohne weiteres durch empirische For-schung prüfen. Wer anerkennt, dass me-taphysische Hypothesen schwer zu beur-teilen sind, kann natürlich nach Gründenfür die These suchen, dass es einen Gottbestimmter Art gibt, etwa den Gott, an dendie Christen glauben. Ich habe bisher kei-ne guten Gründe dafür gefunden, wohlaber Gegengründe, zum Beispiel im Zu-sammenhang mit dem Theodizeeproblem.Was das „wissenschaftliche Weltbild“ an-geht, so läuft seine Anerkennung als ad-äquate Auffassung wirklicher Zusammen-hänge selbst auf einen metaphysischenRealismus hinaus. Vielfach pflegen daherLeute, die an Gott glauben, wissenschaft-

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liche Theorien instrumentalistisch zu deu-ten, als bloße Werkzeuge der Lebens-bewältigung ohne reale Bedeutung.Fossati: Also ist Metaphysik nicht sinn-los, aber metaphysische Thesen sind nichtwiderlegbar. Wie kann man dann mit gu-ten Gründen den Realismus vertreten?Albert: Zunächst ist der Realismus derStandpunkt des Alltagswissens, und dieFrage ist, warum man diese Position über-haupt aufgeben sollte. Zwar hat die Wis-senschaft immer wieder Bestandteile desAlltagswissens der Kritik unterzogen unddas Alltagswissen in vielen Punkten revi-diert, aber das ist mit dem Realismusdurchaus vereinbar.Die Alternativen zum Realismus, die bis-her aufgetreten sind, haben sich als sehrkünstlich erwiesen und zu großen Schwie-rigkeiten geführt. In Mode ist heute zumBeispiel der radikale Konstruktivismus,der behauptet, die Wirklichkeit sei unsereKonstruktion. Man kann dann fragen,wessen Konstruktion sie ist. Die Antwort:Eine Konstruktion unseres Gehirns führtzu der Frage, ob denn dieses Gehirn selbstauch nur eine Konstruktion ist. Wir gera-ten dann schnell zu absurden Konsequen-zen. Wenn diese Position auf Schwierig-keiten stößt, ziehen sich ihre Vertreter oftauf die These zurück, dass unsere Theori-en über die Wirklichkeit von uns konstru-iert seien, eine These, die kaum jemandbestritten hatte. Sie ist mit dem Realismusvereinbar.Wir haben in der Metaphysik zwischenalternativen Auffassungen zu wählen undtun gut daran, dabei auch die Ergebnisseder Wissenschaften zu berücksichtigen.Das erfordert Überlegungen, die nicht inein paar Zeilen wiedergegeben werdenkönnen. Der Teufel steckt dabei gewisser-maßen im Detail.

Möglicherweise ist, wie Popper einmalgesagt hat, die Welt zu kompliziert für uns,so dass wir niemals zu einer völlig irrtums-freien Erkenntnis ihrer Beschaffenheitvordringen können. Wir können dann be-stenfalls einige Erkenntnisfortschrittemachen, die uns vielleicht der Wahrheitetwas näher bringen.Fossati: Die Idee der Annäherung an dieWahrheit wurde für die Wissenschaft ge-prägt. Könnte man sagen, dass es echtesWissen nur in der Wissenschaft gibt?Albert: Keineswegs, denn auch unserAlltagswissen scheint oft durchaus akzep-tabel zu sein. Aber aus den wissenschaft-lichen Forschung ergeben sich immer wie-der Verbesserungen – Korrekturen oft sehrradikaler Art, Vertiefungen und Erweite-rungen –, die wir akzeptieren sollten.Fossati: Die Metaphysik hat also für denkritischen Rationalismus sozusagen nur„sekundäre“ Bedeutung?Albert: Auch das wäre ein Missverständ-nis. Schon die Erkenntnisprogramme derRealwissenschaften enthalten, wie Popperzu zeigen suchte, metaphysische Annah-men. So ist der vorsokratische Atomismusebenso wie andere Konzeptionen dieserZeit zu einem erfolgreichen Forschungs-programm der Realwissenschaften gewor-den. Wenn man anerkennt, dass derartigeErkenntnisprogramme in den Wissen-schaften eine wichtige Rolle spielen, mussman einräumen, dass es keine scharfeGrenze zwischen Wissenschaft und Me-taphysik geben kann. Und wenn behaup-tet wird, dass es außerhalb des wissen-schaftlichen Wissens besondere Er-kenntnisarten gibt, dann muss man dieseBehauptung diskutieren.So kann man zum Beispiel GadamersThesen zum Problem des Verstehens imZusammenhang mit der Entwicklung der

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Wissenschaft diskutieren. Es stellt sichdann heraus, dass er zum Beispiel dieBeiträge von Karl Bühler, Heinrich Gom-perz und Max Weber zur Lösung diesesProblems nicht berücksichtigt und daherwichtige Unterschiede nicht in Betrachtgezogen hat, auf die von diesen und an-deren Theoretikern hingewiesen wordenwar. Seine einseitige Sicht der Problem-situation hat ihn daran gehindert, dieMöglichkeit einer Erklärung des Verste-hens in Betracht zu ziehen, wie sie schonin den Ansätzen zu einer allgemeinenHermeneutik im 18. Jahrhundert ins Augegefasst wurde. Sein Versuch, alle mögli-chen Arten der Einsicht unter einen allge-meinen Begriff des Verstehens zu bringen,leistet überhaupt nichts.Fossati: Machen Sie selbst nicht in Be-zug auf das Erklären einen Anspruch, derzu dem von Gadamer gewissermaßen„spiegelbildlich“ ist?Albert: Nein, keineswegs! Ich akzeptie-re zum Beispiel ein Verstehen im Sinneeiner Zeichendeutung, das nicht als einErklären charakterisiert werden kann. DieWahrnehmung und Deutung von Zeichenist zwar selbst kein Erklären, aber sie kannunter Umständen durch eine Theorie desVerstehens erklärt werden. Dazu müssteman die Gesetzmäßigkeiten des Verste-hens finden. Das Gleiche gilt für das Ver-stehen von Motiven, für dessen Erklärunges interessante Ansätze im psychologi-schen Denken gibt.Martin Heidegger, für dessen Philosophiedie Sprache und das Verstehen von gro-ßer Bedeutung sind, hat die Darstellungs-leistung der Sprache, die vor allem KarlBühler herausgearbeitet hat, überhauptnicht berücksichtigt. Er spricht zwar wiewir alle ununterbrochen „über“ etwas undmacht es damit zum Objekt seiner Dar-

stellung, tut aber gleichzeitig so, als ob erden Objektivismus überwinden könnte.Schließlich landet er in einem philosophi-schen Expressionismus und benutzt dieSprache nur noch als „musica dei voca-boli“. Diese Art von Philosophie ist eineZumutung für die Vernunft. Wenn RichardRorty Heidegger, Wittgenstein und Deweyals die drei wichtigsten modernen Philo-sophen in Verbindung miteinander bringt,so nehme ich zu seinen Gunsten an, dasser seine Kenntnis der deutschen Sprachefalsch eingeschätzt hat.Fossati: Auch Carnap hatte Heideggerscharf kritisiert. Manche Ihrer Kritikersagen, der kritische Rationalismus vertre-te dieselbe „Tatsachenontologie“ wie der„Wiener Kreis“.Albert: Die Carnapsche Heideggerkritikkann ich gut verstehen. Was aber den„Wiener Kreis“ angeht, so wurden in ihmverschiedene Auffassungen vertreten. Imseinen Buch Der logische Aufbau derWelt17 vertritt Carnap de facto eine phä-nomenalistische Metaphysik, die zumBeispiel Karl Popper scharf kritisiert hat.Der Phänomenalismus mit seinem Rück-gang auf Sinnesdaten ist ein Erbe des klas-sischen Empirismus, das auf Grund derEntwicklung der Wahrnehmungspsycho-logie als überholt gelten darf. Später istCarnap zum Physikalismus übergegangen.Weder der Phänomenalismus noch derPhysikalismus ist für den kritischen Ra-tionalismus akzeptabel. Die Benutzungdes Ausdrucks „Tatsachen“ ist nicht aneine bestimmte Ontologie gebunden.Fossati: Man spricht heute von „kontinen-taler“ und von „analytischer“ Philosophie.Was ist die Stellung des kritischen Ratio-nalismus in dieser Debatte?Albert: Diese groben Einteilung der phi-losophische Strömungen ist meines Erach-

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tens nicht sehr fruchtbar. In der Entwick-lung der analytischen Philosophie sindungefähr alle früheren philosophischenPositionen und Probleme wieder aufge-taucht, gewissermaßen in „analytischerMaskerade“. Sie werden jetzt nur mit denMitteln der modernen Logik behandelt.Man kann heute im Rahmen der analyti-schen Philosophie Neoempirist, Kantianeroder sogar Existenzialist sein.Die kontinentale Philosophie hat eine Zeitlang nicht nur auf die Benutzung der Mit-tel der modernen Logik, sondern darüberhinaus teilweise überhaupt auf logischstringente Argumentation verzichtet. Auf-fassungen dieser Art sind aber wohl sel-tener geworden.Der kritische Rationalismus gehört sichereher zum Umkreis des analytischen Den-kens. Aber zu seinen Vorläufern zählt zumBeispiel auch Oswald Külpe, ein Kantia-ner, der zum transzendentalen Realismusübergegangen war und die moderne Lo-gik nicht benutzt hat.Fossati: Die Analyse der Sprache ist we-sentlich für die analytische Philosophie.Man könnte sagen, dass das auch für denkritischen Rationalismus gilt. Die Spra-che ist zum Beispiel ein Mittel der For-mulierung von Theorien, die man kritisie-ren kann. Auch das „Münchhausen-Trilemma“ bezieht sich auf Aussagen. DieSprache wäre der philosophische Aus-gangspunkt, um das Denken und die Er-kenntnis zu betrachten.Albert: Es gibt viele Ausgangspunkte.Ein Vertreter des Empirismus muss imZusammenhang mit dem Erkenntnis-problem vor allem auch über Wahrneh-mungen sprechen. Er benutzt ja zum Bei-spiel Wahrnehmungen, um Theorien zukritisieren. Natürlich müssen sie dazu inAussagen transformiert werden.

Wenn man übrigens die vorliegenden For-schungen über höher organisierte Affenzu Rate zieht, wird man wohl zu der Auf-fassungen kommen müssen, dass es auchbei diesen Tieren Erkenntnisse gibt, ohnedass sie über eine Sprache verfügen. Auchneuere Forschungen über das Lernen klei-ner Kinder führen zu ähnlichen Konse-quenzen. Sie sind offenbar imstande, et-was zu erkennen und ihre Erkenntnisse zurevidieren, bevor sie über sprachliche Mit-tel verfügen.Zwar spielt die Sprache eine bedeutendeRolle für die alltägliche und die wissen-schaftliche Erkenntnis, aber den Begriffder Erkenntnis von vornherein so zu be-stimmen, dass vorsprachliche Erkenntnis-se ausgeschlossen werden, halte ich fürbedenklich.Fossati: Schließlich: Fühlen Sie sich alsein Schüler von Karl Popper?Albert: Ich war mit Karl Popper befreun-det, und wenn ich einen Philosophen nen-nen soll, dem ich für mein Denken Ent-scheidendes verdanke, dann muss ich ihnnennen. Aber ich habe auch viel von MaxWeber und von Victor Kraft gelernt undvon Albert Schweitzer und von vielenanderen, die ich nicht alle nennen kann.

Anmerkungen:

1 T.W. Hutchison, The Significance and BasicPostulates of Economic Theory, Macmillan,London 1938.2 Vgl. dazu H. Albert, Ökonomische Ideologieund politische Theorie. Das ökonomische Argu-ment in der ordnungspolitischen Debatte, Mo-nographien zur Politik, Heft 4, Schwartz, Göt-tingen 1954, 19722, (überarbeiteter zweiter TeilAlberts Dissertation von 1952).3 V. Kraft, Mathematik, Logik und Erfahrung,Springer, Wien 1947.4 Ders., Der Wiener Kreis. Der Ursprung desNeopositivismus, Springer, Wien 1950.

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5 K.R. Popper, Logik der Forschung, JuliusSpringer, Wien 1935, 19766.6 H. Albert, Traktat über kritische Vernunft,Mohr (Siebeck), Tübingen 1969, 19915.7 Vgl. dazu T. W. Adorno, K. R. Popper, R.Dahrendorf, J. Habermas, H. Albert, H. Pilot,Der Positivismusstreit in der deutschen Sozio-logie, hrsg. von H. Maus, F. Fürstenberg und F.Benseler, Luchterhand, Neuwied/Berlin 1969.8 W.W. Bartley III, The Retreat to Commitment,Open Court, La Salle/London, 1962, 19842,(Flucht ins Engagement, Mohr (Siebeck), Tü-bingen 1987).9 J. Nilsson, Rationality in Inquiry. On the Re-visability of Cognitive Standards, Umeå Studiesin Philosophy, Umeå 2000.10 B. Russell, My Philosophical Development,Allen & Unwin, London 1959, (Philosophie. DieEntwicklung meines Denkens, Fischer, Frankfurta.M. 1988.11 Vgl. dazu I. Lakatos, Proofs and Refutations.The Logic of Mathematical Discovery, hrsg. vonJ. Worrall, E. Zahar, Cambridge University Press,Cambridge 1976, (Beweise und Widerlegungen:die Logik mathematischer Entdeckungen, Vie-weg, Braunschweig u.a. 1979).12 P. Wust, Ungewissheit und Wagnis, AntonPustet, Salzburg 1937.13 K.R. Popper, The Open Society and Its Ene-mies, Routledge & Kegan Paul, London 1945,(Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Mohr(Siebeck), Tübingen 19927).14 Vgl. dazu H. Albert, Kritische Vernunft undmenschliche Praxis. Mit einer autobiografischenEinleitung, Reclam, Stuttgart 1977, pp. 30-31(siehe auch 2. ergänzte Auflage 1984).15 W. Röd, Der Gott der reinen Vernunft. DieAuseinandersetzung um den ontologischen Got-tesbeweis von Anselm bis Hegel, Beck, München1992.16 A. Schweitzer, Geschichte der Leben-JesuForschung, Mohr (Siebeck), Tübingen 19516.17 R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt,Weltkreis, Berlin 1928.

Das Interview wurde vom Autor mit HerrnProf. Dr. Albert am 5. Dezember 2001 inHeidelberg geführt. Der Autor danktHans-Joachim Niemann und CarmeloCasucci dafür, dass sie frühere Versionendieses Textes gelesen und nützliche Hin-weise gegeben haben.

Lorenzo Fossati, geb. 1974 in Savona/Ita-lien, hat Philosophie an der KatholischenUniversität Mailand studiert. Dort pro-moviert er zur Zeit über die Frage des Apriori in der Ontologie und Logik vonBernard Bolzano. Seit einigen Jahrenbefasst sich Fossati mit dem philosophi-schen Denken von Hans Albert. Die Er-gebnisse seiner Forschungsarbeiten, dievorwiegend Alberts Reflexion über Theo-logie und Hermeneutik betreffen, werdendemnächst im Buch Albert critico dellateologia beim Guida Verlag (Neapel) er-scheinen.