Hans-Jürgen Krahl - Fünf Thesen zu Herbert Marcuse

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  • 8/14/2019 Hans-Jrgen Krahl - Fnf Thesen zu Herbert Marcuse

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    Hans-Jrgen KrahlFnf Thesen zu Herbert Marcuse als kritischer Theoretiker der Emanzipation*

    aus: Konstitution und Klassenkampf. Frankfurt/m 1971, S.298ff

    I. Marcuse interpretiert die Emanzipationsprinzipien mglicher sozialrevolutionrer Prozesse in den sptkapitalistischenIndustriemetropolen in dem Sinne, dass die empirische Basis der Selbstentfremdung nicht mehr die mittelbare Erfahrungunmittelbaren Elends, sondern die bewusst zu erfahrende soziale Widersprchlichkeit, Apathie und Integration ist. Im 2entrum derMarcuseschen Revolutionstheorie steht die Frage: wie kann unter den Bedingungen einer repressiven Befriedigung der materiellelementaren Bedrfnisse das Bedrfnis nach Emanzipation entfaltet werden? Wie knnen die Bedrfnisse nach einem Reich derFreiheit, des Friedens und des Glcks ins Bewusstsein der Massen und zur politischen Erscheinung drngen, wenn sie nicht mehrin den materiell vitalen Bedrfnissen nach der Beseitigung von Hunger, materieller Not und physischem Elend verankert sind?

    II. Die Tatsache der Arbeit an sich selber ist die Erscheinungsform der Ausbeutung in dersptkapitalistischenGesellschaftsformation. Marcusezufolgestellt sich nicht mehr die Frage nach berflssiger und notwendiger Arbeit und damit nachberflssiger und notwendiger Unterdrckung, vielmehr erffnet der Fortschritt in der Automation des Maschinenwesens dierealutopische Perspektive nach derAbschaffungvon Arbeit berhaupt.

    III. Wenn die Emanzipation vom Zwang der Arbeit derart mit dem technischen Fortschritt gekoppelt ist, sind die kapitalistischenMachthaber gezwungen, die reibungslos funktionalisierte Demokratie in den Dienst der Eliminierung jeglicher emanzipativerRegungen zu stellen. Die Liquidation des wie immer auch ideologisch entstellten Emanzipationsbedrfnisses, die den bergang

    des Konkurrenz- in den Monopolkapitalismus kommentiert, fordert Marcuse zufolge eine Eindimensionalisierung der Ideologienin dersptkapitalistischen Epoche.

    IV. Die Antwort darauf ist die Negation des Systems durch die privilegiert sensiblen oder die unterprivilegiert gequltenRandgruppen - notwendig abstrakte Negation einem hermetisch geschlossenen System gegenber in der Gestalt ohnmchtigerVernunft, des emprten Protests der grossen Verweigerung.

    V. Die sptkapitalistische Gesellschaftsformation schlgt alle institutionalisierten Organisationsformen der Opposition, desWiderstandes und der Revolution mit dem Signum der Integration. Der anschauliche Beweis dafr ist das massenorganisatorischdeformierte Schicksal der Leninschen Kaderpartei in der Naturgeschich te der westeuropischen Arbeiterbewegung; als derenabstrakte Negation lehrt Marcuse die emanzipatorische Renitenz des sich triebstrukturell umwlzenden Individuums und des seinebedrftige Vitalitt revolutionierenden Einzelsubjekts.

    ad I.-IV. Mit diesen Theoremen formulierte Marcuse das reine Vernunftprinzip des Befreiungskampfes in der sptkapitalistischenZivilisation: eine Idee der Machtergreifung im politischen Zentrum, die, ber die blosse Sozialisierung der Produktionsmittel -

    geschweige denn ihre blosse Verstaatlichung - hinausgehend, eine konkrete Utopie des Kommunismus, also des herrschaftsfreienVerkehrs solidarischer und von den Naturschranken

    urwchsig berlieferter Arbeitsteilung entbundenen Individuen. Marcuse ist der kritische Theoretiker der Emanzipation.Emanzipation ist die bestimmte Negation des sowjetmarxistisch entstellten Begriffs vom Sozialismus, der diesen an das Bildtechnologisch reibungslos funktionierender und staatlich kontrollbefugt geplanter sowie brokratisch rationalisierter Produktionfestmachte. Dagegen opponierte der kritische Marxismus des Westens im revolutionstheoretischen Rckgriff auf den wie immerauch von den Ideologen der herrschenden Klasse anthropologisch und theologisch deformierten jungen Marx der PariserManuskripte und der Deutschen Ideologie. ber das Konzept eines technologisch verengten Produktionsbegriffs hinaus wird derKampf um die Macht im Staate und die Enteignung der Inhaber an den Produktionsmitteln nicht als Endziel, sondern alsBedingung der Mglichkeit eines Vereins freier Menschen behandelt; das heisst, Kommunismus behandelt die Vergesellschaftungder Produktions mittel als Bedingung zur Organisation eines solidarischen Verkehrs freier Individuen. Der Emanzipationsbegriff,den Marcuse in der Tradition des westlichen Marxismus von Lukcs ber Horkheimer bis Merleau-Ponty entfaltet, hebt insBewusstsein, was die Strategien des sozialdemokratischen Reformismus und der sowjetmarxistischen Orthodoxie verdrngthaben, die Reduktion des emanzipativen auf den technischen Fortschritt, der sozialen auf die industrielle Revolution. Auf dem

    Erfahrungsgrund der sozialrevolutionren Befreiungshewegungen der Dritten Welt erffnet sich sowohl wieder eine Perspektivekompromissloser Politik und Gewalt als auch eine Vorstellung von Befreiung, die ber die industrielle Intensivierung vonFnfjahresplnen hinausgeht. Marcuse als Philosophiekritiker der Emanzipation entfaltet einen Begriff der Befreiung, der dieMenschen nicht wiederum den objektiven Bedingungen der totgeschlagenen Materie, also den Produktionsmitteln, unterwerfenwill, sondern die Funktion der Produktionsmittel in der Revolution wieder geschichtsphilosophisch zurechtrckt: die vereinigteArbeiterklasse in den hochindustrialisierten Kapitalmetropolen kmpft nicht um die Verfgungsgewalt ber das Maschinenwesenals solches, sondern um den kollektiven Besitz an den Produktionsmitteln als Bedingung von herrschaftsfreien Beziehungen derMenschen untereinander. Marcuse hat den Emanzipationsbegriff aus seiner naturgeschichtlichen Verblendung, die er im Schicksalder Arbeiterbewegungen erfahren hat, befreit; Emanzipation meint mehr als eine Vernderung der Eigentumsverhltnisse, die dentechnisch industrialisierten Stoffwechsel zwischen Menschen und der Natur regeln, Emanzipation meint eine Vernderung derEigentumsverhltnisse, der Verfgungsgewalt von Menschen ber Dinge, um die Verhltnisse der Menschen untereinander zubefreien.

    Philosophisch ausgedrckt: Sozialdemokratie und Sowjetmarxismus haben den Entwurf einer sozialistischen Verkehrsform auf

    eine Vernderung des industriellen Eigentumsverhltnisses zwischen den Menschen und der Natur verkrzt. Die Geschichte hatauf die Tagesordnung gesetzt, was Marcuse ebenso philosophisch wie naiv formulierte: die Verkrzung des revolutionrenBefreiungsprozesses auf industrielle Revolution schleppt das Elend der Verdinglichung mit sich fort und unterwirft die Individuen

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    der unpersnlichen Knechtschaft der materiellen Produktionsmittel. Emanzipation hingegen will, dass die Individuen dieindustriellen Produktionsmittel organisieren um miteinander glcklich verkehren zu knnen. Der verkrzte Emanzipationsbegriffzielt nur auf ein verndertes Eigentumsverhltnis der Menschen zu den dinglichen Produktionsmitteln, nicht aber auf einverndertes Verkehrsverhltnis der geschichtlichen Individuen untereinander. Emanzipation ist nicht primr eine vernderteEigentumsorganisation der Industrie, sondern eine vernderte Verkehrsorganisation der Gesellschaft. Dieser revolutionrselbstverstndliche Sachverhalt ist vom sozialdemokratischen Reformismus staatlich verraten, vom antiimperialistischenMachtkampf der Sowjetunion naturwchsig verdrngt und vom antifaschistischen Abwehrkampf der kommunistischen Parteien

    bndnispolitisch und parlamentsbeflissen verdrngt worden. Fr einen Revolutionsbegriff in den Metropolen war es notwendig,dass Marcuse wieder aussprach: Emanzipation ist nicht die Befreiung der technischen, Maschinen, sondern die Befreiung dergesellschaftlichen Menschen. Allein auf dem Hintergrund dieses evidenten Vernunftprinzips kann das unertrgliche Moment anUnterdrckung in den scheinsozialen Sicherheitsgarantien des autoritren Staates und den keynesianistisch auf Rezessionenverkrzten Krisen der monopolen Wirtschaftsweise den lohnabhngigen Massen einsichtig werden. Marcuse fordert einanschaulicheres Bild der objektiven Mglichkeiten einer knftigen Gesellschaft: wenn Arbeit durch Automation in dem Maasseabschaffbar und Unterdrckung in dem Maasse berflssig geworden ist, wie dies Industrie und Demokratie des Sptkapitalismusanzeigen so muss die bestimmte Negation des reibungslos funktionierenden ausbeuterischen Systems an Bestimmtheit gewinnen:wenn die Menschen nicht unmittelbar hungern, mssen sie wissen knnen, warum sie in der Revolutiorl ihr Leben aufs Spielsetzen sollen und mehr zu verlieren haben als ihre Ketten. Doch Marcuses Theorie selber kommt diesem Erfordernis bestimmterNegation nicht nach, seine Aufforderung zur grossen Weigerung bleibt abstrakt, ausserstande, ein politisches Realittsprinziptaktischer Regeln, strategischer Maximen und organisatorischer Imperative zu entfalten. Gleichwohl ist die grosse Weigerungmehr als die romantisch beseelte Parole der ersten Stunde; sie ist die notwendige Konsequenz aus einem Emanzipationsbegriff, derin allen Spuren des objektiven Geistes der Verwaltungen und Institutionen, der Brokratien und Meinungsmedien, der

    betrieblichen Mitbestimmungskonzepte und autoritren Hochschulreformen die unwiderstehliche Gewalt technokratischerVerblendungen entdeckt.

    Andererseits teilt Marcuse das Elend der kritischen Theorie und das ungeschichtliche Selbstbewusstsein entstehenderrevolutionrer Bewegungen; er ist unfhig, die Kriterien einer revolutionren Realpolitik, bndnispolitischer Kompromisse,organisationspraktischer Stabilisierungen studentischer Protestbewegungen und klassentheoretischer Analysen zu formulieren. Zulinksradikalistischen Kinderkrankheiten entstehender revolutionrer Bewegungen zhlt die im Anfang gleichwohl notwendigeVerwechslung derabstrakten Demonstration des reinen Emanzipationsprinzips mit dessen konkreter Entfaltung. Marcuse teilt alsTheoretiker der ersten Erscheinung dieses revolutionren Vernunftprinzips mit den freiheitsbewussten Studentenbewegungen derMetropolen deren Kinderkrankheiten in allen Formulierungsstadien seiner Theorie. Seine Ideologiekritik der Eindimensionalittliess die emprten Intellektuellen in Ungewissheit darber, ob die Integration der Arbeiterklasse unwiderrufliches Schicksal oderaufhebbarer Schein sei. Doch als der deutsche SDS die Isolierung politischer Intellektuellenbewegungen an sich selber erfahrenhatte und die Prinzipien 1es proletarischen Klassenkampfs praktisch zu erneuern suchte, beriet er in einen Widerspruch, der bisheute unaufgelst ist und ber seine revolutionre Entwicklung entscheiden wird: mit der Kri:ik an den emanzipationsrigiden undrandgruppengebundenen Prinzipien der grossen Verweigerung, d.h. mit dem Versuch, ein politisches Realittsprinzip in die

    emanzipative Systemnegation einzufhren und dem nach wie vor bestehenden, wie immer auch wesentlich verndertenKlassenantagonismus in den Metropolen Rechnung zu tragen, geriet der SDS in Gefahr, sich blindlings in einer verschwiegenenOrthodoxie zu verstricken und in eine undurchschaute Tradition des verzerrten Klassenkampfs zrckzuallen. Die notwendigeHinwendung der Studentenbewegung zum Proletariat drohte mit dem Versuch, die Revolution mit den berlieferten Kategoriendes Klassenkampfes zu artikulieren, zugleich die Prinzipien der revolutionren Emanzipation zu ersticken. Anders gesagt, dieStudentenbewegung steht vor dem objektiven Dilemma, dass ihr historisch neues Vernunftprinzip der Emanzipation sichrealpolitischen und klassenspezifischen Kriterien versagt und dass andererseits die traditionelle Substanz des proletarischenKlassenkampfes blind ist gegen die neuen Prinzipien kompromissloser Befreiung. Das entscheidende Schicksal, das derrevolutionre Protest in den Metropolen bewusst zu vermeiden hat, ist, dass er mit der Einfhrung tradierterKlassenkampfkategorien und taktischer Realittsprinzipien den kompromisslosen Impetus revolutionrer Ngation erstickt, dass erber der klassenbewussten Realpolitik die Revolution vergisst. Das notwendig anachronistische Bewusstsein der westdeutschenProtestbewegung im gegenwrtigen Stadium ist die Verkleidung des neuen emanzipatorischen Vernunftprinzips ins alte Gewandtraditionalistischer Klassenkampfkategorien, der Begriff des Klassenkampfs, mit dem die Bewegung ebenso pragmatisch wiedogmatisch hantiert, entspricht weder der Klassenrealitt noch der Emanzipationsnotwendigkeit der hochindustrialisierten

    Kapitalmetropolen.*) Diese Thesen entstanden im Zusammenhang mit Vorarbeiten zu einem Artikel ber Marcuse fr die Zeitschrift konkret im Sommer 1969 als Antwortauf einen unqualifizierten Angriff von R. Hochhuth gegen Marcuse in derselben Zeitschrift.