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Harmonisch entgegengesetzt: Zur Darstellung und ...docshare04.docshare.tips/files/23473/234739744.pdfNature et poésie. LaVersanne 1997, sowie Jean-Luc Nancy: »Th e Calculation of

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  • HERMAEAGERMANISTISCHE FORSCHUNGEN

    NEUE FOLGE

    HERAUSGEGEBEN VONJOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF M�LLER

    BAND 118

  • MARION HILLER

    ›Harmonisch entgegengesetzt‹

    Zur Darstellung und Darstellbarkeitin Hçlderlins Poetik um 1800

    nMAX NIEMEYERVERLAG

    T*BINGEN 2008

  • Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung f0r Geisteswissen-schaften in Ingelheim am Rhein.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    DieDeutscheNationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschenNational-bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet 0ber http://www.d-nb.deabrufbar.

    ISBN 978-3-484-15118-5 ISSN 0440-7164

    ; Max Niemeyer Verlag, T0bingen 2008Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KGhttp://www.niemeyer.deDas Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch0tzt. Jede Verwertungaußerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ver-lages unzulGssig und strafbar. Das gilt insbesondere f0r VervielfGltigungen, *bersetzun-gen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischenSystemen. Printed in Germany.Gedruckt auf alterungsbestGndigem Papier.Satz: Johanna Boy, BrennbergGesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

  • V

    Vorwort

    Die vorliegende Arbeit entstand zwischen 2002 und 2005 und wurde von der Neuphilologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen als Dis-sertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie überarbeitet und an die neue Rechtschreibung angepasst.

    Besonderer Dank gilt meinem langjährigen Lehrer Prof. Dr. Dr. h. c. Hans-Georg Kemper, der durch die Förderung an seinem Lehrstuhl, während des Stu-diums als Wissenschaftliche Hilfskraft, dann als Wissenschaftliche Mitarbeiterin, diese Arbeit ermöglicht hat. Ihm danke ich insbesondere auch für seine vorbild-lichen Führungsqualitäten und seine Toleranz verschiedenen Ansätzen gegenüber.

    Ihm sowie den weiteren Betreuern und Gutachtern, Prof. Dr. Klaus-Detlef Müller, Prof. Dr. Bernhard Greiner und Prof. Dr. Georg Braungart, bin ich überdies zu Dank für die genaue und intensive Lektüre der Arbeit, die ausführ-lichen, eindringlichen und würdigenden Gutachten, die Anregungen und die Unterstützung während der Entstehungsphase sowie für die weitergehende För-derung verpfl ichtet. Dem Zweitbetreuer, Prof. Dr. Klaus-Detlef Müller, sowie Prof. Dr. Joachim Heinzle danke ich auch für die Aufnahme in die Reihe.

    Sebástian Ochoa bin ich zu Dank für seine Hilfe bei der Einrichtung des Manuskripts verpfl ichtet, Prof. Dr. Wilfried Kürschner für Hinweise bezüglich der neuen Rechtschreibung, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und ihrem Wissenschaftlichen Beirat, insbesondere der Vorsitzenden Dr. Ute Oelmann, für den Druckkostenzuschuss und Frau Birgitta Zeller-Ebert sowie Margarete Trinks vom Max Niemeyer Verlag für die umsichtige und kooperative Betreuung bei der Drucklegung.

    Eine wissenschaftliche Arbeit entsteht nicht in Isolation, und so danke ich darüber hinaus für Vorträge, Gespräche, Workshops, Seminare … so unter-schiedlichen ›Wissenschaftlern‹ wie Prof. Dr. Lawrence Ryan (Amherst/Tübin-gen), PD Dr. Violetta Waibel (Wien), PD Dr. Manfred Koch (Gießen/Tübin-gen), Prof. Dr. Günter Figal (Freiburg/Br.), Prof. Dr. Rainer Nägele (New Haven), Prof. Dr. Johann Kreuzer (Oldenburg), Prof. Dr. Gerhard Kurz (Gie-ßen), Prof. Dr. Ulrich Gaier (Konstanz), PD Dr. Annette Hornbacher (Mün-chen) sowie Valérie Lawitschka (Tübingen) für alle Bemühungen.

    Privat danke ich meiner Familie und meinen Freunden, insbesondere Vero-nika Wasner, Katrin Volle, Adreana DiAdriano mit Sohn und – zuerst und zuletzt – Dietmar Koch.

    Tübingen und Vechta, im April 2008

  • VI

    Einig zu seyn, ist göttlich und gut; woher ist die Sucht dennUnter den Menschen, daß nur Einer und Eines nur sei?

    Friedrich Hölderlin: ›Wurzel alles Übels.‹

  • VII

    Inhaltsverzeichnis

    Einleitung und methodische Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

    A. Annäherung an die Grundstruktur der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . 15

    I. Herausarbeitung der Grundstruktur an ›Hyperion oder der Eremit in Griechenland‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

    1. Zu ›Hyperion‹ im Kontext der neueren Narratologie (Genette) . . 17 2. Exzentrizität des Zentralen: Zur Verortung der ›Athenerrede‹ . . . . 22 2.1 Die Orte der ›Athenerrede‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2.2 Die ›Athenerrede‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.3 Zusammenführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3. Weiterentwicklung nach der ›Athenerrede‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3.1 Der ›Athenerbrief‹ nach der ›Athenerrede‹: Diotimas Korrekturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3.2 Der letzte Brief im Vergleich zum ›Athenerbrief‹ . . . . . . . . . . . . . . 37 3.3 Der Kontext des Monologs im letzten Brief . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 4. Zusammenführung: Gesamtroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 4.1 Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4.2 Die Refl exionsstruktur des Selbstbewusstseins in �Seyn, Urtheil, Modalität� und Hölderlins Fichte-Kritik . . . . . . . . 45 4.3 Zeitstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4.4 Einholungsstrukturen und die ›Mitten‹ als Übergänge . . . . . . . . . 50 4.5 Die ›Mitten‹ als Zäsuren und ihre Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . 53 4.6 Implikationen des Schlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 4.7 Paratextuelles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 4.8 Zur Ineinanderstaff elung der Einholungsstruktur und zur Bedeutung der ›Athenerrede‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 4.9 Vergleich der endgültigen Fassung mit den Vorreden zu früheren Fassungen des ›Hyperion‹: Fazit zur ›Teleologie‹ des Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 5. Intertextuelle Bezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 5.1 Die Einholungsstruktur als Erotisches: ›Hyperions‹ Verweise auf Platons ›Symposion‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

  • VIII

    5.2 Das Verhältnis von Wissen und Nicht-Wissen als Triebfeder des Tragischen: Zum Verhältnis ›Hyperions‹ zu Sophokles’ ›König Ödipus‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

    II. Bogen und Leier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

    1. Bezüge des ›Hyperion‹ und der ›Diotima‹-Gedichte auf Heraklitische Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1.1 Die Heraklit-Bezüge in der ›Athenerrede‹ mit einem Exkurs zu ›Geschichte der schönen Künste unter den Griechen. Biß zu Ende des Perikleischen Zeitalters‹ . . . . . . . . . . 72 1.2 ›Saitenspiel‹ im ›Hyperion‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 1.3 ›Harmonie‹ im ›Hyperion‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 1.4 Die ›Diotima‹-Gedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1.5 ›An Diotima‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2. ›Bogen‹ und ›Leier‹ in ihren strukturellen Verhältnissen . . . . . . . 90 2.1 Bogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2.2 Zu einer anderen Betrachtung von ›Kreis‹, ›Schönheit‹ und ›Harmonie‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2.3 Leier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

    III. Tragische Schönheit? Verweise auf das Tragische . . . . . . . . . . . . . . . . 100

    1. Hölderlins ›Sophokles-Anmerkungen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. »Das untergehende Vaterland …« und »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3. »Die Bedeutung der Tragödien …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4. »Die tragische Ode …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.1 ›Allgemeiner Grund‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.2 ›Grund zum Empedokles‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

    B. Th eoretische Durchführung der Grundstruktur der Darstellung . . . . 121

    IV. ›Harmonisch entgegengesetzt‹: Zu den Einholungsstrukturen des poetischen Geistes in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

    1. Zum Aufbau des Entwurfs »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2. Die zweite Phase des poetischen Prozesses und der Übergang in die dritte Phase: Selbsteinholung des poetischen Geistes . . . . . 127 2.1 Der erste Schritt in der zweiten Phase: die ›subjektive Begründung des Gedichts‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2.2 Vorausgreifender Exkurs: die ›subjektive Begründung‹ ›angewandt‹ verstanden: zu ›Wirkungskreis‹ und ›Element‹ . . . . . . 129

  • IX

    2.3 Die poetische Verfahrungsweise als ›metaphorisch‹ und ›hyperbolisch‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 2.4 Der zweite Schritt in der zweiten Phase: Die ›objektive Begründung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2.5 Der dritte Schritt in der zweiten Phase: Übergang zur dritten Phase als Selbstauff assung der poetischen Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3. Nachtrag und Rekapitulation anhand der allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes und genauere Bestimmung der dritten Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3.1 Nachtrag zur ersten Phase und Rekapitulation der zweiten . . . . . . 141 3.2 Der Übergang zur dritten Phase und nähere Bestimmung dieser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 4. Der letzte Abschnitt des Entwurfs: ›Wink für die Darstellung und Sprache‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 4.1 Die dritte Phase und das Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 4.2 Die Aporie des ›göttlichen Moments‹ und das Gedicht zwischen Auto- und Heteroreferentialiät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4.3 ›Rezeption‹, ›Zeichen‹, ›Sprache‹ und ›Leben‹ . . . . . . . . . . . . . . . 156 4.4 Exkurs zum �Fragment philosophischer Briefe� . . . . . . . . . . . . . 161 4.5 Der ›göttliche Moment‹ anders gefasst: Das Ende des Entwurfs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

    C. Durchführung der Grundstruktur hinsichtlich der Th eorie der Töne sowie konkreter Dichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

    V. Die Darstellungsstruktur hinsichtlich der ›Töne‹ in der ›Verfahrungsweise‹ und weiteren poetologischen Entwürfen . . . . . . . . 171

    1. Zum Status und zum Verhältnis der poetologischen Entwürfe untereinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 2. Rekapitulation der für den Tönewechsel relevanten Ausführungen in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 3. »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« in Verbindung mit »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 4. »Die Empfi ndung spricht …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 5. Das ›tragische Gedicht‹ in »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 6. Bezug zu den Erörterungen im Kontext des ›Empedokles‹- Dramas sowie Übergang zu »Löst sich nicht …« . . . . . . . . . . . . . 208

  • X

    7. �Poetologische Tafeln� und ihr Bezug zu den Erörterungen im Umkreis des ›Empedokles‹-Dramas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 8. ›Poetische Darstellung‹ und ›Stoff ‹ ausgehend von Hölderlins �Rezension zu Siegfried Schmids ›Heroine‹�. . . . . . . . . . . . . . . . . 225 9. Ansatz zur Herausarbeitung des Töneschemas an dem lyrischen Entwurf »Wie wenn am Feiertage …« . . . . . . . . . . . . . . 230 10. Zum Status der poetologischen Refl exionen in Bezug auf konkrete Dichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 11. Methodologische Vorüberlegungen zur Betrachtung der Dichtungen und zum Verhältnis von diskursivem und poetischem Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

    VI. Exemplarische lyrische Dichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

    1. »Wie wenn am Feiertage …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 2. ›Hälfte des Lebens‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

    VII. Ausblick und Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

    Siglen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

    Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

  • 1

    Einleitung und methodische Grundlegung

    Die Hölderlinforschung ist von Dichotomien geprägt. Bereits die Einteilung der Schriften Hölderlins in bestimmte Phasen und deren inhaltliche Begrün-dung führt in das Zentrum der unterschiedlichsten Sichtweisen auf Hölder-lin. Wurde immer wieder Hölderlins Revision seiner poetologischen Position um 1799 in den späteren Schriften, sei es in den Oden1 und ›Gesängen‹ oder hinsichtlich der Tragödienkonzeption in den ›Anmerkungen zur Antigonä‹ und zum ›Oedipus‹,2 konstatiert, so kristallisieren sich an diesen Einteilungen grundsätzlich verschiedene Hölderlin-Bilder, die beispielsweise auf Entgegenset-zungen von Romantik und Klassik, Klassizismus und ›vaterländischer Wende‹,

    1 Vgl. beispielsweise Jochen Schmidt: Hölderlins später Widerruf in den Oden »Chiron«, »Blö-digkeit« und »Ganymed«. Tübingen 1978, und Wolfgang Lange: »Das Wahnsinns-Projekt oder was es mit einer ›antiempedokleischen Wendung‹ im Spätwerk Hölderlins auf sich hat«. In: DVjs 63 (1989), S. 645–678, sowie Jochen Schmidt: »Stellungnahme«. In: DVjs 63 (1989), S. 679–711, und Wolfgang Lange: »Replik«. In: DVjs 63 (1989), S. 712–714. Anders als Schmidt auch Wolfgang Binder: »Hölderlins Dichtung Homburg 1799«. In: Friedrich Hölderlin. Stu-dien von Wolfgang Binder. Hrsg. v. Elisabeth Binder u. a. Frankfurt/Main 1987, S. 157–177, vgl. v. a. S. 163f. und 176. Im Sinne eines späten ›Antiklassizismus‹ vgl. ebenso die wirkungs-mächtigen Aufsätze von Th eodor W. Adorno: »Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins«. In: Über Hölderlin. Aufsätze von Th eodor W. Adorno u. a. Hrsg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt/Main 1970, S. 339–378, sowie Peter Szondi: »Überwindung des Klassizismus. Hölderlins Brief an Böhlendorff vom 4. Dezember 1801«. In: Über Hölderlin. Aufsätze von Th eodor W. Adorno u. a. Hrsg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt/Main 1970, S. 320–338. Nach 2005 erschienene Lite-ratur konnte nicht mehr eingearbeitet werden.

    2 Diese Schriften wurden in Frankreich hinsichtlich der ›Zäsur‹ ›anti-idealistisch‹ intensiv rezi-piert, vgl. etwa Philippe Lacoue-Labarthe: »Die Zäsur des Spekulativen«. In: HJb 22 (1980/81), S. 203–231; Françoise Dastur: Hölderlin – le retournement natal. Tragédie et modernité & Nature et poésie. LaVersanne 1997, sowie Jean-Luc Nancy: »Th e Calculation of the Poet«. In: Th e solid letter. Readings of Friedrich Hölderlin. Ed. by Aris Fioretos. Stanford/California 1999, S. 44–73 (»poetics, that is to say, the thought of poetry or, more precisely, the thought of poetic thought, is understood here as the other of thought, as non-Idealism itself. Poetry, or the un-doing of Idealism«, S. 52). Auch Karlheinz Stierle (»Sprache und die Identität des Gedichts. Das Beispiel Hölderlins«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Th omas Roberg. Darmstadt 2003, S. 19–34) sieht in dem Übergang von »Wenn der Dich-ter einmal des Geistes mächtig …« zu den ›Sophokles-Anmerkungen‹ eine Überführung der »substantialistische[n] Poetik des Geistes in eine Poetik der psychischen Vermögen« (S. 25). Eine ertragreiche Zusammenfassung und Diskussion fi ndet sich in Rodolphe Gasché: »Der unterbrechende Augenblick: Hölderlin über Zäsur, Zeit und Gefühl«. In: »Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes«. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Hölderlins. Hrsg. v. Christoph Jamme u. a. München 2004, S. 419–445. Vgl. auch Patrick Primavesi: »Das Reißen der Zeit. Rhythmus und Zäsur in Hölderlins ›Anmerkungen‹«. In: Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten. Hrsg. v. Patrick Primavesi u. a. Schliegen 2005, S. 205–220.

  • 2

    Idealismus und Mythologie, Idealismus und Moderne, Dichtung und Philo-sophie etc. beruhen.

    Verbunden mit der Problematik der Einteilung der Schriften sind die viel-fältigen Möglichkeiten ihrer Kontextualisierung. Neben diskursanalytischen und historischen Verortungen bietet Hölderlins biographisch off ensichtliche, intensive Auseinandersetzung sowohl mit zeitgenössischen als auch mit antiken philosophischen, poetologischen, poetischen und theologischen Quellen3 vielfäl-tige Perspektiven, die in der Forschung die unterschiedlichsten Schwerpunkt-bildungen hervorgebracht haben. Zahlreiche Versuche, Hölderlins Schriften in dem philosophischen Kontext seiner Zeit zu verorten,4 ihren Bezug zur Antike herauszustellen5 oder sie hinsichtlich der theologischen Diskurse6 zu lesen, ste-hen neben Schwerpunktbildungen im politischen7 oder biographischen Bereich (beispielsweise hinsichtlich Hölderlins ›Wahnsinn‹8).

    Zudem konnte immer wieder eine Konzentration auf entweder die theo-retischen Schriften – und diese dann oftmals, nicht ausschließlich, auf ide-alistischem Hintergrund gelesen – oder aber auf die Dichtungen festgestellt werden, wobei sich in beiden Extremen wie auch in den Vermischungen die unterschiedlichsten Ansätze und Schwerpunktbildungen fi nden. Von philo-sophischer Seite wären (zum Teil durchaus unter Einbezug der Dichtungen) eine stärker idealistisch-transzendentalphilosophisch ausgerichtete Lesart, eine dekonstruktivistische sowie eine phänomenologisch-hermeneutisch orientierte

    3 Diese Auseinandersetzung ist auch im lebensweltlichen Kontext durch die Forschung bestens belegt, vgl. die ›Texturen‹-Bände (Hölderlin Texturen. Hrsg. von der Hölderlin-Gesellschaft Tübingen in Zusammenarbeit mit der Deutschen Schillergesellschaft Marbach. Ulrich Gaier u. a. Bd. 1.1: »Alle meine Hoff nungen«. Lauff en, Nürtingen, Denkendorf, Maulbronn 1770–1788. Tübingen 2003; Bd. 2: Das »Jenaische Project«. Das Wintersemester 1794/95 mit Vorbereitung und Nachlese. Tübingen 1995; Bd. 3: »Gestalten der Welt«. Frankfurt 1796–1798. Tübingen 1996; Bd. 4: »Wo sind jezt Dichter?«. Homburg, Stuttgart 1798–1800. Tübingen 2002) sowie Hölderlin und der Deutsche Idealismus. Dokumente und Kommentare zu Hölderlins philo-sophischer Entwicklung und den philosophisch-kulturellen Kontexten seiner Zeit. Dargestellt und hrsg. v. Christoph Jamme u. a. 4 Bände. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003.

    4 Zentral dafür Dieter Henrich mit zahlreichen Monographien und Aufsätzen, aber auch Michael Franz, Violetta Waibel, Wolfgang Janke, Christoph Jamme, Peter Reisinger und Margarethe Wegenast, um hier nur einige zu nennen. Hinzu kommen historisch breit angelegte Arbeiten wie beispielsweise die von Gerhard Kurz und Ulrich Gaier. Zum Verhältnis von Hölderlin und Rousseau vgl. v. a. Jürgen Links Schriften.

    5 Vgl. beispielsweise die Arbeiten von Uvo Hölscher, Wolfgang Schadewaldt, Bernhard Böschen-stein oder Jochen Schmidt.

    6 Vgl. hier v. a. Arbeiten zum Pietismus.7 V. a. in Bezug auf die Französische Revolution bzw. – teilweise davon ausgehend – hinsichtlich

    ›Utopie‹ und ›Revolution‹.8 Vgl. Pierre Bertaux: Friedrich Hölderlin. Frankfurt/Main 1978. Gerade nicht unter biographi-

    schem Aspekt, sondern unter Einbezug der traditionellen Topik des ›Dichterwahnsinns‹ sowie der ›Diätetik‹ betrachtet Christian Oestersandfort (Immanente Poetik und poetische Diätetik in Hölderlins Turmdichtung. Tübingen 2006) Hölderlins späteste Gedichte.

  • 3

    Herangehensweise herauszustellen, wobei letztere nicht mit Heideggers Lesart gleichgesetzt werden muss.

    In der Literaturwissenschaft haben sich im 20. Jahrhundert die unter-schiedlichsten Ansätze an Hölderlins Schriften in so auff älliger und oft auch verkrampfter Weise manifestiert, dass die Aufarbeitung der Forschungslitera-tur einem Überblick über die (auch, aber nicht nur historisch) verschiedenen Ansätze gleichkommt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich der Streit um Hölderlin angesichts der größtenteils bloß handschriftlichen Überlieferung seiner Schriften ab den 1970er-Jahren in einer Auseinandersetzung um die ange-messene Edition der Texte niedergeschlagen hat. Für beide Historisch-kritische Ausgaben, die Stuttgarter wie die Frankfurter, lässt sich jedoch festhalten, dass sie für die Editionsphilologie jeweils weitreichende Innovationen darstellten.9

    Aus der Disparatheit der Forschungsansätze und ihrer Ergebnisse lässt sich jedoch ein Zentrum des Streits ersehen, so meine erste Th ese, die Frage nach der Bewertung des Verhältnisses von Einheit und Diff erenz. Diese Problema-tik durchzieht nicht nur die unterschiedlichen theoretischen Ansätze als sol-che und ihre Auseinandersetzung miteinander, sondern sie kristallisiert sich gerade deshalb eminent in der Hölderlinforschung, weil dieses Verhältnis die Hölderlin’schen Schriften zentral, wenn auch oftmals unausdrücklich, bestimmt. Die Disparatheit der Forschung kann somit unter anderem auch als Refl ex auf die Verfasstheit der Hölderlin’schen Schriften, sowohl hinsichtlich ihrer Th ema-tik als auch ihres Vollzugs,10 betrachtet werden.11 Denn neben ihrem oftmals unausdrücklichen Bestimmtsein von der Einheits- und Diff erenzproblematik erscheinen die handschriftlichen Notizen Hölderlins in den meisten Fällen als Selbstvergewisserungen im Schreiben innerhalb eines Prozesses thematischer

    9 Die Problematik der Historisch-kritischen Ausgaben wird in dem noch nicht erschienenen Aufsatz der Verfasserin am Beispiel von »Wie wenn am Feiertage …« behandelt (»Historisch-kritische Hölderlinausgaben. Ein Problemaufriß am Beispiel von ›Wie wenn am Feiertage …‹«. Erscheint in: Beihefte zu Editio) und soll hier nicht wiederholt werden.

    In der vorliegenden Arbeit werden Hölderlins Texte sowohl nach den beiden Historisch-kritischen Editionen als auch nach der ›Münchner Ausgabe‹ zitiert. Diese enthält im Gegensatz zu anderen Lese- und Studienausgaben, die sich zumeist sehr weitgehend an einer der Histo-risch-kritischen Editionen orientieren, teilweise abweichende Lesarten. Weichen die konstitu-ierten Texte der Ausgaben voneinander ab, so wird die Abweichung in Klammern hinzugefügt und hinsichtlich einer eventuellen Sinnänderung diskutiert.

    10 ›Vollzug‹ wird in der gesamten Arbeit einerseits als ein Akt in zeitlicher Erstreckung, als Lese-akt bzw. Akt des ›Textes‹ resp. ›Diskurses‹ verwendet, wobei ein (performatives) Geschehens-moment impliziert ist. Dieses wird in der Arbeit eigens expliziert, so dass die Termini ›Dis-kurs‹ und ›Performanz‹ in ihrer spezifi schen Bedeutung in Bezug auf Hölderlins Texte deutlich werden. Andererseits bildet ›Vollzug‹ einen Gegen- und Bezugsbegriff zu ›Darstellung‹ in dem Sinne, wie im narratologischen Kontext mit Todorov ›discours‹ im Verhältnis zur ›histoire‹ (vgl. Tzvetan Todorov: »Les catégories du récit littéraire«. In: Communications 8 [1966], S. 125–151) bestimmt werden könnte.

    11 Letzteres bezieht sich vor allem auf die Unabgeschlossenheit des überwiegenden Teils der hand-schriftlichen Notizen Hölderlins.

  • 4

    Durcharbeitung und sind somit in sich und untereinander oftmals zu keiner Homogenität zu bringen.

    Ziel der vorliegenden Abhandlung ist es, die teilweise immanenten Konzep-tionen der Einheits- und Diff erenzthematik als Zentrum der poetologischen Refl exionen Hölderlins um 1800 in ihren Übereinstimmungen und Brüchen aufzuzeigen und im Zusammenhang der poetischen Darstellungsproblematik12 zu explizieren. Wird das Verhältnis von Einheit und Diff erenz am Beginn der abendländischen Philosophie zum ersten Mal bei Heraklit und Parmenides thematisch und zeichnen sich bereits in diesen unterschiedlichen Konzeptionen zwei grundsätzliche Stränge ab, nach denen das Verhältnis gefasst werden kann – tendentiell eine stärkere Betonung der Einheit bei Parmenides, eine paradoxe Fassung bei Heraklit –, so durchzieht die Problematik des Verhältnisses von Einheit und Diff erenz, mit aller Vorsicht gesprochen, die ›abendländische‹13 Kultur. Dabei steht dieses Verhältnis nicht lediglich im Zentrum zahlreicher philosophischer und poetologischer Abhandlungen, sondern bestimmt in seiner jeweiligen Ausprägung unausdrücklich auch das Denken, Handeln und Fühlen des Einzelnen.

    Die Vorherrschaft des Einheitsdenkens hat im Kontext einer ›metaphysisch‹ genannten Denkungsart, die verdichtet als ›neuplatonisch-aristotelisch-scholas-tisch‹ apostrophiert werden könnte, Auswirkungen bis in das heutige technisch-funktionale Perfektibilitätsdenken hinein, in dem ›Negativität‹ in der Regel als zu überwindender Mangel aufgefasst wird. Die Weise, wie das Verhältnis von Einheit und Diff erenz in seiner abstrakten Ausprägung bestimmt wird, ent-scheidet somit nicht zuletzt auch über eine lebenspraktische Haltung gegenüber Negativitätsphänomenen wie ›Entzug‹, ›Krankheit‹, ›Scheitern‹, ›Tod‹ etc. und im sozialen und ethischen Kontext über eine Bestimmung von ›angemessen‹ oder ›unangemessen‹ bzw. ›richtig‹ oder ›falsch‹. Das philosophisch oftmals sehr

    12 ›Darstellung‹ wird einerseits in dem umfassenden Sinne gebraucht, wie der Ausdruck im Laufe des 18. Jahrhunderts poetologische Relevanz gewinnt (vgl. beispielsweise Klopstocks Verwen-dungsweise in »Von der Darstellung«. In: Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften. Hrsg. v. Winfried Menninghaus. Frank-furt/Main 1989, S. 166–173), andererseits als relativer Gegenbegriff zu ›Verweis‹. ›Darstellung‹ zeichnet sich im Gegensatz zum Verweis dadurch aus, dass das ›Dargestellte‹ in seiner ›Dar-stellung‹ tatsächlich auch ›da‹ ist, während der ›Verweis‹ von sich weg auf ein ›wirklich‹ ande-res ›verweist‹.

    13 Diese Formulierung ist nicht ausgrenzend gemeint, sondern soll in ihrer relativen Unbestimmt-heit gerade die Grenze des ›Abendländischen‹ off en halten. Von einer ›anthropologischen Konstante‹ wird hier bewusst nicht gesprochen. Stellt die Arbeit vorwiegend den Bezug der Hölderlin’schen Schriften zur antiken Dichtung und Philosophie sowie zum zeitgenössischen Kontext heraus, so wurde neuerdings auch das Verhältnis Hölderlins zum jüdischen Denken beleuchtet, vgl. Robert Charlier: Heros und Messias. Hölderlins messianische Mythogenese und das jüdische Denken. Würzburg 1999.

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    abstrakt-strukturell gefasste Verhältnis von Einheit und Diff erenz wirkt somit eminent im konkreten Lebensvollzug des Einzelnen als auch in einer politi-schen, sozialen und kulturellen Gemeinschaft nach.

    Ist die Einheits- und Diff erenzproblematik von Anfang an mit der Prob-lematik der Darstellung verbunden (vgl. das Verhältnis von ›Sein‹ und ›logos‹ bei Parmenides und Heraklit sowie das Verhältnis von Idee und Erscheinung, somit die ›mimesis‹-Problematik bei Platon), so wird dieser Komplex in Höl-derlins poetologischen Refl exionen bestimmend, die sich konzentriert um 1800 fi nden. Doch bereits vorher sind Hölderlins Notizen, Schriften und Dichtun-gen – entsprechend seinem Bildungskontext – von dieser Th ematik mehr oder weniger ausdrücklich geprägt.14

    Die poetologischen Entwürfe um 1800 nun verfolgen – so die weiterge-hende Th ese – das Ziel, den Anspruch des poetischen Sprechens gegenüber einem philosophischen nicht bloß zu rechtfertigen, sondern ihn grundlegend zu erfragen und zu begründen. Das Zentrum der Erörterungen Hölderlins ist somit die Frage, ob, inwiefern und aufgrund welcher Voraussetzungen das poetische Sprechen in der Lage ist, ›das Höchste‹ angemessener darzustellen bzw. angemessener auf es zu verweisen – und darin ›Darstellung‹ zugleich zu

    14 So ist die dichotomische Anlage der frühen ›Tübinger Hymnen‹ ein fast unbestrittener Topos der Forschung, und auch die nicht-poetischen Entwürfe sind von dem Verhältnis von Einheit und Diff erenz geprägt. So fi ndet sich im offi ziellen theologischen Kontext, in der »vermutlich ersten religiösen Ansprache Hölderlins« (MA, Bd. 3, S. 370), ›Prooemium habendum …‹, sogar bereits die für Hölderlin eminente sprachliche Bildung des Oxymoron »Gottmensch« (MA, Bd. 2, S. 10; FHA, Bd. 17, S. 39; StA, Bd. 4,1, S. 172).

    Des Weiteren sind die zentralen Th emen Hölderlins, in denen er sich von einem orthodox-christlichen Kontext löst, in der christlich-theologischen Problematik strukturell vorbereitet (vgl. das zentrale Verhältnis von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit und die verschiedenen Modi der Präsenz des Göttlichen, die noch in ›Brod und Wein‹, ›Friedensfeier‹, ›Der Einzige‹ und vor allem ›Patmos‹, jeweils in den verschiedenen Fassungen, Th ema sind). Aus diesem Grund erscheint es auch nicht abwegig, Bezüge zur mittelalterlichen Th eologie und Philosophie her-zustellen (vgl. Johann Kreuzer: »Philosophische Hintergründe der Christus-Hymne ›Der Ein-zige‹«. In: HJb 32 [2000/01], S. 69–104), abgesehen davon, dass die Nennung des »Afrikaners« in dem Schluss der zweiten Fassung von ›Der Einzige‹ (vgl. MA, Bd. 1, S. 459; FHA, Bd. 8, S. 787; StA, Bd. 2,1, S. 159) auf Augustinus bezogen werden kann. In ›Prooemium habendum …‹ fi nden sich die Abstufungen und Modi der göttlichen Präsenz als »unmittelbare Off enbahrung und Erscheinungen« (MA, Bd. 2, S. 9; FHA, Bd. 17, S. 37; StA, Bd. 4,1, S. 171; vgl. dazu auch den �Predigtentwurf�, MA, Bd. 2, S. 43–45; FHA, Bd. 17, S. 125f.; StA, Bd. 4,1, S. 173–175), als die Lehre »durch Propheten« (ebd.) sowie als das Entsenden des Sohnes als »Gottmensch« (MA, Bd. 2, S. 10; FHA, Bd. 17, S. 39; StA, Bd. 4,1, S. 172) und als »zweyte Person der heiligen Dreyeinigkeit« (MA, Bd. 2, S. 9; FHA, Bd. 17, S. 38; StA ebd.).

    Die Bezüge der Tübinger Magisterarbeit ›Geschichte der schönen Künste …‹ zu der Ein-heits- und Diff erenzthematik werden in Kapitel II.1.1 erörtert. In dem ›Versuch einer Parallele zwischen Salomons Spruchbüchern und Hesiods Werken und Tagen‹ fi ndet sich das Verhältnis von ›Stoff ‹ und ›Form‹ (vgl. MA, Bd. 2, S. 30; FHA, Bd. 17, S. 73; StA, Bd. 4,1, S. 179), und die Auseinandersetzung ›Zu Jakobis Briefe über die Lehre des Spinoza‹ bezieht sich zwangsläufi g auf das Verhältnis von Einheit und Vielfalt, indem Hölderlin den ›Spinozismus‹ Lessings als ›Hen kai pan‹ fasst (vgl. MA, Bd. 2, S. 39; FHA, Bd. 17, S. 108; StA, Bd. 4,1, S. 207).

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    überschreiten – als ein ›diskursives‹15 und speziell ›philosophisches‹ Sprechen. In eins damit steht zur Debatte, was überhaupt ein ›Höchstes‹ oder ›das Höchste‹ sein könnte, ebenso ›Darstellung‹ und ›Verweis‹.

    In Hölderlins Schriften zeichnet sich in dieser Hinsicht eine bedeutende Wende zwischen den Vorfassungen des ›Hyperion‹ und der endgültigen Ver-sion ab, in der die ›Ideale‹, die in den Vorreden der früheren Fassungen noch eine zentrale Stellung einnehmen, dispensiert werden und einer spezifi schen Auff assung von Negativität als Zentrum und Ursprung weichen (vgl. Kapitel I.4.9). Diese veränderte Konzeption kommt in dem zentralen poetologischen Fragment »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« explizit zum Aus-druck und hält sich in der grundlegenden Stoßrichtung bis in die ›Sophokles-Anmerkungen‹ hinein durch.

    Doch zeichnet sich bereits in den Frühschriften die Tendenz zu einer zen-tralen Rolle der Diff erenz bzw. Negativität ab. So deutet die Weise, in der Hölderlin die Fichte’sche Konzeption des Selbstbewusstseins in �Seyn, Urtheil, Modalität� sowie in dem sachlichen Umfeld kritisiert, auf eine grundsätzliche Aufwertung der Diff erenz hin. Bleibt die Refl exionsstruktur zwar grundsätz-lich dieselbe (vgl. Kapitel I.4.2), so bildet die Auff assung Hölderlins, nach der Selbstbewusstsein nur vermittels eines grundsätzlich anderen als ›Objekt‹ bzw. ›Nicht-Ich‹ (und nicht vermittels einer bloßen Abspaltung des ›Nicht-Ich‹ vom absoluten Ich) zu begründen ist, den Beginn einer radikaleren Fassung der Rolle der Diff erenz. Diese tritt jedoch erst in der Endfassung des ›Hyperion‹ sowie den späteren poetologischen Entwürfen in ihrer ganzen Tragweite hervor.

    Gerade in den Letzteren manifestieren sich die Umwertungen besonders deutlich. Denn fasst Hölderlin in �Seyn, Urtheil, Modalität� die ›intellectuale Anschauung‹ noch als Organ zur Erfassung einer Einheit des ›Seyns schlecht-hin‹, so erscheint sie (und mit ihr die zu erfassende Einheit) in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« sowie in den Entwürfen zu den Tönen in deutlicher Relativierung ihres Anspruchs lediglich als eine von drei mögli-chen Begründungen bzw. Grundtönen des Gedichts (vgl. Kapitel V).16

    15 ›Diskursiv‹ bzw. ›philosophisch‹ wird hier als relativer – und nur in diesem Bezug ist die Kon-statierung möglich – Gegensatz zum ›poetischen‹ Sprechen verwendet. Die Sprachverwendung orientiert sich somit an dem behandelten Th ema ›harmonischer Entgegensetzung‹ und Dar-stellung.

    16 Lawrence Ryan (Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960) sieht diese grund-sätzliche Umwertung nicht und betrachtet die Konzeption des ›göttlichen Moments‹ ›transzen-dentaler Empfi ndung‹ sowie das in dem ›Wechsel der Töne‹ Darzustellende durchgängig und zum Teil unausdrücklich von �Seyn, Urtheil, Modalität� her. Eine damit einhergehende Über-bewertung der ›intellectualen Anschauung‹ in Bezug auf die späteren poetologischen Entwürfe fi ndet sich auch bei Jochen Schmidt (»Hölderlin: Die idealistische Sublimation des naturhaf-ten Genies zum poetisch-philosophischen Geist«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der For-schung. Hrsg. v. Th omas Roberg. Darmstadt 2003, S. 115–139; in Bezug auf »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« vgl. S. 125f., auf ›Hyperion‹ S. 127f., auf ›Über den Unterschied der Dichtarten‹ S. 128).

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    Ebenso nimmt das ›Höchste‹ und ›Darzustellende‹ – und darin besteht das Hauptanliegen der folgenden Ausführungen – einen veränderten Charakter an, der mit der grundsätzlichen Aufwertung der Negativität bzw. Diff erenz ein-hergeht. Denn wird dieses ›Höchste‹ in den früheren Konzeptionen, in �Seyn, Urtheil, Modalität� sowie in den Vorreden zu den Vorfassungen von ›Hyperion‹, noch als absolute Einheit des ›Seyns schlechthin‹ bzw. als ›Ideal‹ bestimmt, so scheint zwar die Stoßrichtung von »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« einerseits – ganz idealistisch – auf die unendliche Durchdrin-gung von Ich und ›Welt‹ bzw. (poetischem) ›Geist‹ und ›Göttlichem‹ zu gehen, andererseits zeigt sich in der Weise der Konzeption des Einheitsmomentes, des ›göttlichen Moments‹ ›transzendentaler Empfi ndung‹, jedoch ein Geschehen an, das in Hölderlins Schriften zwar nicht explizit so benannt wird, das jedoch als der Moment des Umschlags von Identität in Diff erenz und von Diff erenz in Identität gefasst werden muss.

    Dieses augenblickliche Geschehen kann als transzendentales nicht mehr in den Kategorien des Übergangs beschrieben werden, wie das noch für den Ent-wurf »Das untergehende Vaterland …« möglich ist (wobei auch da ein Moment des bloßen Umschlags bzw. der Anfänglichkeit angenommen werden muss), sondern dieser Augenblick des Umschlags verhält sich zur Darstellung, die stets in zeitlicher Erstreckung erfolgt, radikal diskontinuierlich. Zugleich ›begrün-det‹ und ›ermöglicht‹ dieser Umschlag von Identität und Diff erenz ineinander

    Diese Übertragung hat insbesondere Auswirkungen auf das Verständnis der Hölderlin’schen Tragödienkonzeption, wie sie sich beispielsweise bei Jürgen Söring (Die Dialektik der Recht-fertigung. Überlegungen zu Hölderlins Empedokles-Projekt. Frankfurt/Main 1973, vgl. z. B. S. 61) und Helmut Bachmaier (»Th eoretische Aporie und tragische Negativität. Zur Genesis der tragischen Refl exion bei Hölderlin«. In: Helmut Bachmaier, Th omas Horst, Peter Reisin-ger: Hölderlin. Transzendentale Refl exion der Poesie. Stuttgart 1979, S. 83–145, vgl. v. a. S. 133 und 136) fi ndet.

    Auf die Diff erenz zwischen den Konzeptionen der intellektuellen Anschauung geht Th o-mas Horst (»Wechsel und Sein. Die Ambivalenz des Absoluten in Hölderlins Poetik«. In: Hel-mut Bachmaier, Th omas Horst, Peter Reisinger: Hölderlin. Transzendentale Refl exion der Poe-sie. Stuttgart 1979, S. 146–187) ein, jedoch lediglich, um sie als ›ambivalente‹ zu begreifen (vgl. S. 178f.).

    Als »schließlich suspendiert« (S. 233) betrachtet Xavier Tilliette (»Hölderlin und die intel-lektuale Anschauung«. In: Philosophie und Poesie. Otto Pöggeler zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert. Stuttgart-Bad Cannstatt. Bd. 1 1988, S. 215–234, vgl. v. a. S. 229 und 231) die ›intellectuale Anschauung‹. In dieselbe Richtung weist Winfried Menninghaus (»Geist, Sein, Refl exion und Leben: Hölderlins Darstellungstheorie«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Th omas Roberg. Darmstadt 2003, S. 49–66).

    Patrizia Hucke (»›Seyn schlechthin‹ und ἕν διαϕέϱον ἑαυτῷ. Zur Beziehung von Einheit und Diff erenz in Jenaer Texten Friedrich Hölderlins«. In: Erfahrungen der Negativität. Fest-schrift für Michael Th eunissen zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Markus Hattstein u. a. Hildesheim u. a. 1992, S. 95–114) geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn sie die Struktur des ›Einen in sich selber unterschiednen‹ auf die Problematik von ›Urteil und Sein‹ rückbezieht (vgl. S. 102). Vgl. dazu auch Félix Duque: »›Es ereignet sich aber / Das Wahre‹. De la vérité transcenden-tale à la vérité poétique chez Hölderlin«. In: La vérité. Antiquité – Modernité. Publ. par Jean-François Aenishanslin. Lausanne 2004, S. 221–245.

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    jedoch die Darstellung als die Wechselwirkung von Einheit und Diff erenz in der Zeit, wobei dieses Verhältnis der ›Begründung‹ und ›Ermöglichung‹ selbst als diskontinuierliches und somit nicht im Sinne einer kausalen oder fi nalen Ableitung, sondern als in sich paradoxes und ›sprunghaftes‹, gefasst werden muss. So ist es jener Moment, der einerseits die Sprachfi ndung des Gedichts begründet und auf den andererseits nicht als ›absolute Identität‹, sondern viel-mehr als der besagte ›Umschlag‹, somit als die ›absolute Identität‹ und die ›absolute Diff erenz‹ von Identität und Diff erenz verwiesen werden muss.17

    Die eben erfolgte, diskursive Rede über den ›göttlichen Moment‹ ›transzen-dentaler Empfi ndung‹ ist nur in diesen Aporien als Verweis möglich, denn das Sagen des Augenblicks des Umschlags sagt ihn als Rede in zeitlicher Erstreckung und in der Diff erenz von Einheit und Diff erenz immer auch schon nicht. Noch deutlicher ist diese Unmöglichkeit in dem zweiten hier angebrachten Verweis, denn weder kann die absolute Einheit noch die absolute Diff erenz gesagt wer-den, und am wenigsten als Zusammengehendes, als zugleich ›absolute‹ Einheit und ›absolute‹ Diff erenz von Identität und Diff erenz.18

    Die Grenzen diskursiven Sprechens zeigen sich hier deutlich an. Zugleich ist die Darstellung dieses Augenblicks die Aufgabe des poetischen Sprechens nach Hölderlin. Diese gegenüber einer absoluten Einheit veränderte Auff as-sung des ›göttlichen Moments‹ ›transzendentaler Empfi ndung‹, bei dem ›das Göttliche‹ (entsprechend der Fichte-Kritik) zwar als grundsätzlich Diff erentes zum Menschen gefasst wird, jedoch nicht in dem Sinne eines Absoluten zum Relativen, sondern als in konstitutivem Wechselverhältnis sich befi ndend, ent-spricht der gesamten Darstellungsproblematik und dem Verhältnis von Iden-tität und Diff erenz in den zentralen poetologischen Schriften. In den auch immer wieder gebrochenen Verhältnissen ist im Ganzen die konstitutive Rolle der Negativität im Sinne einer Wechselwirkung des ›einen‹ und des ›anderen‹ als auch vor allem die Unaufhebbarkeit der Diff erenz bzw. Negativität in der Einheit zu verzeichnen.

    Dabei ist in den Konzeptionen der Darstellungsstruktur, die mit Recht als ›Identität (1) der Identität (2) und der Diff erenz‹ angezeigt werden können,19

    17 Inwiefern diese paradoxe Formulierung lediglich ›Verweis‹ sein kann und inwiefern ›absolut‹ hier zugleich gerade ›nicht absolut‹ bedeuten muss, wird im Verlauf der Abhandlung deut-lich.

    18 ›Einheit‹ und ›Identität‹ werden hier synonym verwendet.19 Diese ›Darstellungsweise‹ geht einerseits auf zeitgenössische Verwendungen zurück (vgl. der

    Sache nach bei Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriff e, § 15 und 16 und Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre [1794], § 3 und als Bestimmung des Absoluten in eben dieser Ausdrucksweise in Bezug auf Fichte bei Hegel: »Diff erenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie«. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke 2: Jenaer Schriften [1801–1807]. Frankfurt 1970, S. 96), andererseits ist es die Darstellungs- bzw. Verweisform, die das dynamische Verhältnis (als Oxy-moron) gerade als in sich paradox gekehrte Bewegung der In- und Exklusion auf zwei Ebenen und damit dessen Selbstrefl exivität und -perpetuation am deutlichsten anzeigt. Dieses ›Verhält-

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    die erste Identität nicht als das alles begründende und ermöglichende ›eine‹ konzipiert, das die Diff erenz sowie das Wechselverhältnis von Identität (2) und Diff erenz immer schon umfassen und aufheben würde. Vielmehr erscheint die-ses ›eine‹ als Refl ex des Wechselverhältnisses der Entgegengesetzten oder aber als identisch mit diesem und ist somit lediglich im strukturellen, nicht aber im qualitativ bestimmten Sinne als Einheit zu fassen. Gegenüber einer – grob gesprochen – ›vereinigungsphilosophischen‹ Perspektive sind die Begründungs-verhältnisse somit vertauscht. Anstatt des ›einen‹ als dem Begründenden und Umfassenden erscheint hier das Gegensatzverhältnis selbst als das strukturell ›eine‹, das nicht anders denn als die Dynamik wechselseitiger Konstitution zu denken ist.20

    Bildet das strukturelle ›Zusammen‹ der Entgegengesetzten jedoch das ›Zugrundeliegende‹, so ist damit der Möglichkeit der Deduktion aus einem Prinzip eine Absage erteilt. Entsprechend operiert die ›Verfahrungsweise‹ zwar mit transzendentalem Anspruch, wird diesem im Kantischen Sinne jedoch nicht gerecht. An die Stelle transzendentaler Deduktion muss – in Korrespondenz zum ›göttlichen Moment‹ – der augenblickliche ›Ursprung‹ als das plötzliche Zugleichsein und das gegenseitige Sich-Setzen des ›einen‹ und des ›anderen‹ treten, das als Geschehen kausallogisch nicht ableitbar ist. Dieses Verhältnis wird in den poetologischen Schriften als ›Entspringen‹, als ›Geburt‹ und in den Dichtungen auch als ›Zeugen‹ bezeichnet.21

    Geschieht in dem ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfi ndung‹ der Ursprung der Dichtung und vollzieht und stellt die Dichtung diesen Moment

    nis‹ steigert sich als poetische Darstellung eigens, und aus diesem Grund wird die ›Struktur‹ an einigen Stellen der Arbeit als Zusammenhang mehrerer solcher Verhältnisse ›ausgeschrie-ben‹ (vgl. beispielsweise Kapitel V.11). Erscheint diese ›Darstellungsweise‹ einerseits ungelenk und formalistisch, so ist sie doch andererseits die Weise, die – gerade aufgrund ihres extremen Gegensatzes zu dem, worauf sie verweisen soll, nämlich auf die inkommensurable und nicht darstellbare Gesamtdynamik wechselseitiger Verhältnisse – am genauesten und treff endsten auf dieses Nicht-Darstellbare als das extrem andere verweist. Gerade darin folgt diese Verweisart selbst der Dynamik der Einheit der Einheit und der Diff erenz.

    20 Eine andere Auff assung von ›Einheit‹ zieht einen höheren Stellenwert der ›intellectualen Anschauung‹ nach sich, vgl. die Angaben oben.

    Eine Abgrenzung zu Hegel hinsichtlich der Negativitätsthematik zieht Dieter Henrich (Hegel im Kontext. Frankfurt/Main 1971), nach dem Hölderlin in der Homburger Zeit »die Entfaltung der Gegensätze über die Idee der Wiederholung der Einheit des Ursprungs gestellt« (S. 31) habe. Ob der Bezug auf Einheit jedoch in diesem Sinne ›gründenden‹ Charakter hat, bleibt fraglich: »Auch im steten Bezug des Wechsels kann Hölderlin also die gründende Ein-heit nicht entbehren, wenn er auch den Weg in die Trennung als endgültig und die innige Ursprungseinheit als verloren, und zwar glücklich verloren anerkennt« (S. 33). In einer jüngeren Publikation (»Hölderlins Philosophische Grundlehre. In der Begründung, in der Forschung, im Gedicht«. In: Anatomie der Subjektivität. Bewußtsein, Selbstbewußtsein und Selbstgefühl. Hrsg. v. Th omas Grundmann u. a. Frankfurt/Main 2005, S. 300–324) fasst er dieses Grund-verhältnis ausdrücklich in Bezug auf Erinnerung (vgl. v. a. S. 311f.).

    21 Vgl. beispielsweise »Wie wenn am Feiertage …«, St. 6, V. 5 (MA, Bd. 1, S. 263; FHA, Bd. 8, S. 558; StA, Bd. 2,1, S. 119).

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    so dar, dass er in dieser, als anderer, ›erneut‹ zu ›seinem‹ Geschehen drängt, so zeigen sich die ästhetisch relevanten Konzeptionen von ›Schönheit‹, ›Harmonie‹, ›Einheit‹, ›Ruhe‹, ›Gleichgewicht‹, ›Maß‹, ›Telos‹, ›Zu-sich-Kommen‹, ›Selbst‹ etc. als jeweils relative und radikal geschichtliche, die nur von dem Streit der Gegensätze her gedacht werden können und die in eins damit gängige neuzeit-lichen Dichotomien, beispielsweise von ›Schönem‹ und ›Erhabenem‹ oder die Gegensatzkonstruktion von ›Klassik‹ und ›Romantik‹,22 unterlaufen.

    Der Ansatz der Arbeit versteht sich als phänomenologisch, wobei damit gerade kein ›methodisches‹ Bekenntnis, sondern der Versuch, sich in die Vor-aussetzungen der ›Sache‹ zu stellen gemeint ist. Damit befi ndet sich der Ansatz jedoch in einer Aporie, die bereits in Platons Dialog ›Menon‹ als bohrende Frage formuliert ist, wie nach etwas gefragt werden könne, was gerade nicht bekannt sei. Kommt eine jede Auslegung über das konstitutive Wechselverhältnis der eigenen Voraussetzungen mit der ›Sache‹ nicht hinaus – und ist damit genau die in sich widerstrebige23 Struktur angesprochen, um die die Arbeit kreist – so folgt daraus, dass der Auslegende in erster Linie darauf verwiesen sein muss, sein Vorgehen auf übergeordneter Ebene zu refl ektieren, um so vermittels der Wechselwirkungen seine eigenen Voraussetzungen von denen der ›Sache‹ relativ abheben und so das eine wie das andere – relativ – ›fassen‹ zu können.

    Aus diesem Grund teilt sich die Arbeit in drei große Teile und deshalb ist in jedem Abschnitt ein Neuansatz und eine Durcharbeitung der Darstellungs-struktur aus veränderter Perspektive intendiert. Dabei stellt sich die Auslegung einerseits in die Voraussetzungen der Texte, um diese andererseits von innen

    22 Vgl. dazu auch unter kulturhistorischer Perspektive Alexander Honold: Hölderlins Kalender. Astronomie und Revolution um 1800. Berlin 2005, v. a. S. 169 und 294, und Stefan Metzger: Die Konjektur des Organismus. Wahrscheinlichkeitsdenken und Performanz im späten 18. Jahrhundert. München 2002, v. a. S. 348.

    23 Die neologistisch anmutende Ausdrucksweise leitet sich von Übersetzungen von ›palintropos‹ bzw. ›palintonos harmonia‹ (Transkriptionen aus dem Griechischen erscheinen ohne Akzente) in Heraklits Fragment B 51 ab, das die Fügung des Bogens und der Leier (vgl. auch Kapitel II) beschreibt. So übersetzt Bruno Snell: »Sie verstehen nicht, wie das Unstimmige mit sich übereinstimmt: des Wider-Spännstigen Fügung wie bei Bogen und Leier« (Heraklit: Fragmente. Griechisch und Deutsch. Hrsg. v. Bruno Snell. Lizenzausgabe. Darmstadt 1995, S. 19). Her-mann Diels übersetzt ›palintropos harmonia‹ mit »gegenstrebige Vereinigung« (Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels. Hrsg. v. Walther Kranz. 12., unveränderter Nachdruck der 6. verbesserten Aufl age. Zürich u. a., Bd. 1 1985, S. 162), Uvo Hölscher mit »gegengespannte Fügung« (Anfängliches Fragen. Studien zur frühen griechischen Philosophie. Göttingen 1968, S. 144) und Th omas Buchheim mit »gegenwendige Fügung« (Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Porträt. München 1994, S. 80). Die Textvariante ›palin-tonos‹ statt ›palintropos‹ übersetzt Buchheim mit ›rückgespannt‹ (vgl. ebd., S. 82) und fasst das Verhältnis umschreibend auch als »auseinanderstrebende[s] Zusammenstehen[…]« (ebd.), als »Gegenstrebigkeit« (ebd., S. 81) sowie »Gegenwirksamkeit« (ebd.). Die Gegensätze in die-ser Fügung bezeichnet er als »kehrseitig Gegenwirksames« (S. 99). Im Zusammenhang eines anderen Fragmentes geht Buchheim auf dieselbe Struktur ein, indem er sie als das »gegenstre-bige[…] Verhältnis[…]« (ebd.), »den zusammenhaltenden Streit der Kehrseitigen« und »das Zusammenhaltende der aneinander sich Kehrenden« (ebd.) bezeichnet.

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    her zu überschreiten. Diese ›Überschreitung‹ ist jedoch nicht im Sinne einer Transzendierung oder eines ›angemesseneren‹ Verständnisses des Autors aufzu-fassen, vielmehr wird sie Teil des Wechselgeschehens von Einheit und Diff erenz im Lesen des Textes bleiben müssen. Denn nur dieses Geschehen kann sich in sich selbst auf verschiedenen Ebenen reproduzieren und sich somit einholen, das heißt, die zunächst unentfaltete Wechselwirkung von Einheit und Diff erenz ›des Lesens‹ und ›des Textes‹ – relativ und unabschließbar – auseinanderlegen und so ›das eigene Lesen‹ und ›das Geschriebene‹ voneinander diff erenzieren.

    In eins damit wird es – gewissermaßen als ›Negativ‹ zu dem beschriebenen Geschehen – allererst möglich, das Augenmerk auf die Diff erenzen innerhalb der Texte zu legen. Nur in diesem Wechselprozess von Einheit und Diff erenz, so können die Überlegungen zusammengefasst werden, ist es möglich, die Grenzen des ›eigenen Lesens‹ und die des ›Gelesenen‹ relativ zu unterscheiden, und nur so kann mit dem Text gegen ihn über ihn hinaus und zu ihm zurück gegangen werden, was genau der Struktur der Darstellung24 entspricht, um die die Arbeit kreist und worin sich ihre ›methodische‹ Forderung einlöst.

    Entsprechend diesem Ansatz nähert sich die Arbeit in dem ersten Teil A der Grundstruktur der Darstellung an, indem sie von einer strukturellen Ana-lyse25 des 30. und des 60. Briefes (d. h. des letzten Briefes des ersten Bandes und des letzten Briefes des Romans) sowie des Gesamtromans ›Hyperion oder der Eremit in Griechenland‹ in der endgültigen Fassung ausgeht. Darauf folgt die Herausarbeitung intertextueller Bezüge auf Platon und Sophokles, in der eine nicht-traditionelle Lesart Platons26 impliziert ist. Diese Perspektive wird im folgenden Kapitel in Bezug auf Heraklit fortgesetzt, jedoch ohne einen ›historischen‹ Einfl uss nachweisen zu wollen. Vielmehr werden Strukturanalo-gien aufgezeigt und die Veränderung der Negativitätskonzeption anhand der verschiedenen Fassungen der ›Diotima‹-Gedichte aufgewiesen. Der zweite Teil des Kapitels arbeitet die strukturellen Verhältnisse von ›Darstellung‹ an den zentralen Phänomenen des Bogens und der Leier heraus.

    Der erste Hauptteil A schließt mit Analogien zwischen ›Hyperion‹ und poe-tologischen Schriften Hölderlins ab, wobei vor allem die aufgewiesenen Bezüge zu den ›Sophokles-Anmerkungen‹ einen programmatischen Status einnehmen insofern, als sie diese späteren Schriften mit ›Hyperion‹ in Verbindung brin-

    24 ›Darstellung‹ wird in der Arbeit entsprechend der Strukturverhältnisse bei Hölderlin auch als ›Einholung‹, ›Refl exion‹ und ›Erinnerung‹ gefasst. Sämtliche in der Arbeit verwendeten Bezeichnungen sind Darstellungsverhältnisse in dem Sinne der herauszuarbeitenden Relation von Einheit/Identität und Diff erenz/Negativität.

    25 Die jeweiligen Abweichungen von der Forschung werden in den Kapiteln diskutiert und kön-nen hier nicht im Einzelnen genannt werden.

    26 Auch die in der Arbeit immer wieder angegebenen Parallelen zu Platons Konzeptionen ori-entieren sich an einer nicht-traditionellen Lesart Platons. Die Verweise dienen in erster Linie dazu, Hölderlins Ausführungen in der Auslegung historisch zu beziehen und somit nicht als bloß singuläre oder ›moderne‹ erscheinen zu lassen.

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    gen – ein Bezug, der in der Forschung aufgrund einer starken Unterscheidung zwischen einem ›früheren‹ und ›mittleren‹ ›idealistischen‹ und einem ›späteren‹ ›anti-idealistischen‹ Hölderlin oftmals geleugnet wird.27 Im Ganzen dient dieser Teil bereits der Anzeige der ausgezeichneten Bedeutung der Darstellungsstruk-tur für das Tragische.

    Nach diesem annähernden Durchgang folgt der zweite, zentrale Teil der Arbeit mit einer ausführlichen Analyse des poetologischen Entwurfs »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«, der in der Hölderlin’schen Konzeption poetischer Darstellung eine Scharnierstellung einnimmt. In diesem Teil wird die Grundthese der Arbeit herausgearbeitet und ›begründet‹.

    Eröff nen sich in diesem Mittelteil aus dem genauen Nachvollzug des Textes heraus die größeren philosophisch-poetologischen Züge, so wendet sich der dritte Teil C dem ›Kleingedruckten‹ der Hölderlin’schen Poetologie zu, den speziellen Erörterungen zu den ›Tönen‹. Dazu nimmt die Arbeit eine veränderte und zunächst nochmals basale Perspektive auf »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« ein und begründet die ›Töne‹-Th eorie aus diesem Entwurf heraus. Die weiteren Ausführungen beziehen sich auf kürzere poetologische Skizzen und Fragmente zu den ›Tönen‹, die Durcharbeitungen möglicher poe-tischer Darstellungsweisen des ›göttlichen Moments‹ im Kontext der Einheits- und Diff erenzproblematik sind und somit für die Hölderlin’sche Poetologie wie für den Zusammenhang und die Diff erenzierung der Gattungen einen zentralen Status beanspruchen.28

    Diese Ausführungen sind mit grundsätzlichen Folgerungen, vor allem in Kapitel V.5 und V.6 durchsetzt. Der Abschnitt V.11 schließlich bezieht die Dynamik von Einheit und Diff erenz auf das Verhältnis von ›Darstellung‹ und ›Vollzug‹ im Gedicht und arbeitet daran Wegmarken für eine grundsätzliche Betrachtung der Diff erenz von diskursivem, speziell philosophischem, und poe-tischem Sprechen heraus.

    Diese fi nden ihre Fortsetzung und Einlösung in den abschließenden Analy-sen der exemplarischen Gedichte »Wie wenn am Feiertage …« und ›Hälfte des Lebens‹, so dass der Zielpunkt der Hölderlin’schen Durcharbeitungen durch die poetische Darstellungsthematik an den Gedichten selbst eingeholt wird. Bewusst beginnt und endet die Arbeit mit der Analyse von Dichtungen. Die Auswahl der abschließenden Gedichte begründet sich mit deren konstitutiver

    27 Selbst Ausrichtungen, die den zentralen Status der ›Sophokles‹-Anmerkungen hervorheben (vgl. die oben skizzierte ›französische‹ Rezeption) scheuen sich mitunter, diese Bezüge herzustellen. Rainer Nägele sieht demgegenüber einen durchgängigen Kantbezug sowohl in den poetischen wie den poetologischen und philosophischen Schriften Hölderlins (vgl. Hölderlins Kritik der poetischen Vernunft. Basel u. a. 2005, z. B. S. 6).

    28 Trotzdem werden sie in der Forschung oft nur rudimentär oder oberfl ächlich behandelt. Eine Ausnahme bildet die grundlegende Arbeit von Lawrence Ryan (Hölderlins Lehre vom Wech-sel der Töne. Stuttgart 1960), mit der sich die entsprechenden Kapitel (vgl. Kapitel V) auch zentral auseinandersetzen und eine teilweise abweichende Deutung formulieren.

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    Zwischenstellung, indem sie einerseits in den zeitlich-sachlichen Rahmen der zentralen poetologischen Erörterungen gehören, andererseits jedoch in spezifi -scher Weise über diesen hinausweisen. Das ist bei »Wie wenn am Feiertage …« – auch als Fragment – als erster Ansatz der ›Gesänge‹, bei ›Hälfte des Lebens‹ aufgrund der späteren Entstehung im handschriftlichen Kontext des Abbruchs der ›Feiertagshymne‹ der Fall. Eine Analyse des Verhältnisses von ›griechi-scher‹ und ›hesperischer‹ Dichtung sowie eine eingehendere Untersuchung der ›Sophokles-Anmerkungen‹ kann und soll hier nicht geleistet werden.29 In dem Kapitel »Ausblick und Schluss« fi nden sich jedoch Hinweise zu einer Fortfüh-rung der Darstellungsstruktur in der späteren Dichtung.

    Die Arbeit verfährt entsprechend ihrem phänomenologischen Ansatz weit-gehend immanent,30 doch zeigt sich die Hölderlin’sche Poetik darin zugleich als Konzeption, die in Beziehung zu wesentlichen Problemstellungen jüngerer Th eorien, und zwar sowohl in poetologischer als auch kulturwissenschaftlicher Perspektive, steht. Die off ensichtlichsten Bezüge stellen hierbei der dynamische Text- und Sprachbegriff , das Verhältnis von Auto- und Heteroreferentialität sowie das Konzept von Selbstrefl exivität dar. Doch impliziert die genaue Fas-sung der Struktur und Dynamik von ›Darstellung‹ – gerade auch in Hinsicht auf deren Grenzen sowie die relative Diff erenz von ›diskursivem‹ und ›poeti-schem‹ Sprechen – auch Positionen in Bezug auf ›Pragmatisierung‹, ›Perfor-manz‹, ›Wirklichkeit‹, ›Konstruktion‹, ›Repräsentation‹, ›Alterität‹, ›Zeichen‹ und ›Medialität‹. Diese Bezüge werden in der Arbeit zwar nicht eigens expli-ziert, doch kann Hölderlins Poetik gerade auch für diese Problemstellungen nicht nur aufschlussreich sein, sondern auch produktiv gemacht werden. Eine eingehende historische und kulturgeschichtliche Verortung der Hölderlin’schen ›Position‹ ist nicht intendiert, wenngleich im Verlauf der Arbeit immer wieder Bezüge und Konstellationen aufgezeigt werden.

    29 Zur Verbindung beider vgl. etwa Anke Bennholdt-Th omsen: »›Wir müssen die Mythe … beweisbarer darstellen‹. Hölderlins moderne Rezeption der Antigone«. In: Mythenkorrektu-ren. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Hrsg. v. Martin Vöhler u. a. Berlin u. a. 2005, S. 181–199.

    30 Zum weiteren Kontext der Th ematik vgl. auch den Band Darstellbarkeit. Zu einem ästhetisch-philosophischen Problem um 1800. Hrsg. v. Claudia Albes u. a. Frey. Würzburg 2003.

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    A. Annäherung an die Grundstruktur der Darstellung

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    I. Herausarbeitung der Grundstruktur an ›Hyperion oder der Eremit in Griechenland‹

    1. Zu ›Hyperion‹ im Kontext der neueren Narratologie (Genette)

    Genettes Th eorie der Erzählung1 gilt heute immer noch – und nicht bloß wegen der verspäteten deutschen Übersetzung – als »theoretisch anspruchvollste, aus-gewogenste und kohärenteste, zugleich aber auch […] hochgradig ›praktikable‹ Th eorie der literarischen Erzählung«.2 Der letzte Punkt hat nicht zuletzt darin seine Ursache, dass die allgemein narratologischen Beobachtungen in ›Diskurs der Erzählung‹ ihren Ausgangs- und Endpunkt in der Analyse von Prousts ›A la recherche du temps perdu‹ haben, somit am Text gewonnen werden und zu ihm zurückführen sollen. Diese äußerst überzeugende Herangehensweise, die »nicht vom Allgemeinen zum Besonderen schreiten [soll], sondern gerade vom Besonderen zum Allgemeinen«,3 bleibt somit im besten Sinne in dem »Paradox« »jede[r] Poetik, ja überhaupt jede[r] Erkenntnistätigkeit«4 befangen, »wonach es Gegenstände nur als singuläre gibt, Wissenschaft aber nur vom Allgemeinen«.5 ›Poetischer‹, jedoch zugleich genauer ausgedrückt, bedeutet dies, dass »das All-gemeine im Herzen des Singulären wohnt und folglich – entgegen dem übli-chen Vorurteil – das Erkennbare im Herzen des Mysteriums«.6

    Genette ist sich somit darüber bewusst, dass die von ihm vorgeschlagenen ›Kategorien‹ heuristisch sind und sich an dem jeweiligen Text ›bewahrheiten‹ bzw. an diesem ›abgewandelt‹ werden müssen. Zugleich können derartige Ein-teilungen gerade in den (statischen) Grenzziehungen, die sie bedeuten, über sich hinaus auf anderes verweisen, das dann als das Jeweilige, d. h. lediglich im Ausgang von diesen ›Kategorien‹ beschrieben werden muss. Sowohl dieser Ansatzpunkt einer Relativierung in Bezug auf einen Text als auch die Wahl der ›Recherche‹ als Genettes Leittext machen – in allen Übereinstimmungen und Diff erenzen – den Ansatz für ›Hyperion‹ ›geeignet‹.

    Ein weiteres positives Argument für den Bezug dieser Th eorie auf den ›Hyperion‹ besteht in Genettes triadischer Unterteilung nicht nur in ›Erzäh-

    1 Zum Verständnis von ›Th eorie‹ vgl. Genettes Vorwort in ›Diskurs der Erzählung‹ (Gérard Genette: Die Erzählung. 2. Aufl age München 1998, S. 11–13).

    2 Jochen Vogt in seinem Nachwort von 1994 (vgl. ebd., S. 300).3 Gérard Genette: Die Erzählung. 2. Aufl age München 1998, S. 12.4 Ebd.5 Ebd.6 Ebd.

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    lung als Diskurs‹ und ›Erzählung als Geschichte‹,7 sondern in ›Erzählung‹ (›récit‹), ›Geschichte‹ (›histoire‹) und ›Narration‹ (›narration‹),8 und zwar unter Betonung der wechselseitigen Konstitution,9 die unausdrücklich an einem Pierceschen triadischen Zeichenmodell orientiert zu sein scheint. Dabei wird unter ›Erzählung‹/›récit‹ der ›Signifi kant‹, die ›Aussage‹ (›énoncé‹), der ›narra-tive Text‹ oder ›Diskurs‹,10 somit der Erzähltext als solcher, aufgefasst, unter ›Geschichte‹/›histoire‹ die ›erzählte Geschichte‹, das ›Signifi kat‹, der ›narrative Inhalt‹11 und unter ›Narration‹/›narration‹ der ›produzierende narrative Akt‹ bzw. die ›reale oder fi ktive Situation, in der er erfolgt‹.12 Diese Unterscheidung ist insofern wichtig, als mit der Narration die ›Stimme‹ mit einbezogen wird und die jeweilige Erzählinstanz nicht bloß auf der Ebene des ›discours‹ ange-siedelt sein kann, sondern gerade – wie bei ›Hyperion‹ der Fall – als ›Teil‹ des Diskurses sich mit diesem in konstitutiver Wechselwirkung befi ndet.

    ›Hyperion‹ realisiert die paradox in sich verschränkte, dynamische Wechsel- und Konstitutionsstruktur von Verschiedenen, die in dem ›Einen in sich selber unterschiednen‹ als auch in dem Motto des Romans, »Non coerceri maximo, contineri minimo, divinum est«,13 angegeben ist, auf allen Ebenen und in allen Hinsichten der Erzählung. Diese Dynamik ist eine, die sich in sich immer schon überschreitet, aber darin zugleich in sich bleibt. Genau dies ist v. a. in Bezug auf – mit Genette – die ›Stimme‹ bzw. die ›Ebenen der Erzählung‹ sowie hinsichtlich der Zeitstruktur gegeben. Inwiefern darin auch eine Überschreitung der Grenzen von ›Erzählung‹, ›Geschichte‹ und ›Narration‹ stattfi ndet, wird sich ausgehend von dem Versuch der Anwendung der einzelnen ›Kategorien‹ in Bezug auf ›Stimme‹ und ›Zeit‹ zeigen.

    Auff älligerweise lassen sich sämtliche Probleme dynamisch-paradoxer Wech-selwirkungen auf die Zeitstruktur des Romans zurückführen. Denn diese teilt sich nicht nur in ›erzählte Zeit‹ und ›Erzählzeit‹, sondern die ›erzählte Zeit‹ ist in sich nochmals diff erenziert und in der Erzählung ›gedoppelt‹: in die Zeit, die Hyperion vor dem Briefeschreiben ›durchlebt‹ (die ›intradiegetische‹, ›erzählte‹ Zeit) und die Zeit, in der die Erzählerfi gur Hyperion nicht bloß die Briefe schreibt, sondern in der er als Eremit lebt. ›Erzählt‹ ›der Roman‹ zwar hauptsächlich von den Erlebnissen Hyperions in dem erstgenannten Zeitraum, so befasst er sich explizit jedoch auch mit den (v. a. inneren) Geschehnissen zur Zeit des Eremitenlebens. In dieser Hinsicht wäre das Verhältnis zwischen

    7 Vgl. ›discours‹ und ›histoire‹ bei Tzvetan Todorov: »Les catégories du récit littéraire«. In: Com-munications 8 (1966), S. 125–151.

    8 Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. 2. Aufl . München 1998, S. 16. 9 Vgl. ebd., S. 17.10 Vgl. ebd., S. 16.11 Vgl. ebd.12 Vgl. ebd.13 MA, Bd. 1, S. 610; FHA, Bd. 11, S. 578; StA, Bd. 3, S. 4.

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    Erzähltem und Erzählen ein ›eingeschobenes‹, während die Schilderung der Ereignisse vor dem Beginn des Schreibens der Briefe durchgehend als ›späteres Erzählen‹ zu bezeichnen wäre. Die beiden Ebenen erzählter Zeit sind textwelt-lich chronologisch miteinander verbunden und bilden entsprechend der inver-siven Erzählstruktur14 in der Erzählung stets zwei Ebenen erzählter Zeit.

    Wie Lawrence Ryan jedoch gezeigt hat15 – und dafür spricht auch der Untertitel des Romans – stehen insgesamt nicht die vergangenen oder die zu dem Schreiben der Briefe fast gleichzeitigen ›Erlebnisse‹ im Mittelpunkt des Romans, sondern vielmehr der Akt des Erzählens selbst sowie dessen Eff ekt auf den Erzählenden, d. h. auf Hyperion, der als ›Eremit in Griechenland‹ die Briefe an Bellarmin schreibt. Die Unterteilung in ein ›erzählendes und erzähltes Ich‹16 sowie in ›Geschichte‹ und ›Narration‹ ist somit nur bedingt möglich und im Falle des ›Hyperion‹ noch problematischer als bei sonstigen autodiegetischen Erzählungen in dissonanter Form. Denn mit der Überschrei-tung und dem Unterlaufen der Diff erenzierung in ›Geschichte‹ und ›Narration‹ geht auch die Unmöglichkeit einer – immer statischen – Zuordnung zu den Ebenen der ›Stimme‹ einher. So kann der erzählende, die Briefe schreibende Hyperion nicht als ›extradiegetisch‹ bezeichnet werden, gerade weil seine Ver-änderung im Erzählen/Schreiben in Wechselwirkung mit dem ›Erzählten‹ das eigentliche ›Zentrum‹ der Erzählung bildet. Ist die »narrative Instanz einer ersten Erzählung« nach Genette »per defi nitionem extradiegetisch«17 und ist die ›Diegese‹ »nicht die Geschichte, sondern das Universum, in dem sie spielt«18 und somit der ›extradiegetische Erzähler‹ ein Narrator, der »als Erzähler! – nie in einer Diegese auftritt, sondern, mag er auch fi ktiv sein, unmittelbar dem (realen) extradiegetischen Publikum gleichgestellt ist«,19 so kann der ›Erzähler‹ Hyperion nicht als solcher bezeichnet werden, denn er ist gerade als Erzähler Hauptgegenstand der Diegese, obwohl er die ›narrative Instanz einer ersten Erzählung‹ bildet.

    Zudem ist bei einer solchen Konstellation nicht deutlich, ob die Refl exionen des erzählenden Hyperion auf die Eff ekte seines Schreibens auf ihn selbst auch als ›Geschichte‹ bzw. als Erzählung von Ereignissen gelten sollen oder nicht. Im Sinne der Genett’schen ›Minimalerzählung‹ könnte das der Fall sein, denn demnach liegt, »sobald es auch nur eine einzige Handlung oder ein einziges Ereignis gibt, eine Geschichte vor, denn damit gibt es bereits eine Veränderung,

    14 Vgl. Michael Knaupp: Friedrich Hölderlin: Hyperion. Stuttgart 1997, S. 76.15 Vgl. Hölderlins »Hyperion«. Exzentrische Bahn und Dichterberuf. Stuttgart 1965, sowie »Höl-

    derlins ›Hyperion‹: Ein ›romantischer‹ Roman?«. In: Über Hölderlin. Frankfurt/Main 1970, S. 175–212.

    16 Zur Ich-Struktur und zur Konstitution des Selbstbewusstseins vgl. auch Kapitel I.4.2.17 Gérard Genette: Die Erzählung. 2. Aufl . München 1998, S. 163.18 ›Neuer Diskurs der Erzählung‹, ebd., S. 201.19 Ebd., S. 249.

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    einen Übergang vom Vorher zum Nachher«.20 Würden Genettes Kategorien dahingehend spezifi ziert, dass die ›Geschichte‹ gleichbedeutend mit dem expli-zit ›Erzählten‹ wäre und die ›Diegese‹ auch das implizite Geschehen umfassen würde, so wären beide in sich mehrfach unterteilt, und vor allem könnte in den Briefen, die mit Ausnahme der Paratexte den ›Roman‹ bilden, kein narra-tiver Standpunkt jenseits der Diegese ausgemacht werden. Vielmehr wäre der Erzählakt als solcher, die Narration, deren ›Hauptgegenstand‹.

    Die weitere Möglichkeit, einen Erzähler ›erster Ordnung‹ als extradiegeti-schen auszumachen, besteht in dem Einbezug der Paratexte (und nicht umsonst beschäftigt sich Genette mit diesen eigens), so dass das ›Ich‹ der Vorrede mit dem ›extradiegetischen‹ Erzähler, das explizit genannte ›Publikum‹ mit dem extradiegetischen Adressaten und der erzählende, schreibende Hyperion mit dem intradiegetischen Erzähler zu identifi zieren wäre. Bezieht sich die Vor-rede aber auf reale Geschehnisse, v. a. auf den realen zeitlichen Abstand des Erscheinens der beiden Bände des ›Hyperion‹ (»Ich bedaure, daß für jetzt die Beurteilung des Plans noch nicht jedem möglich ist. Aber der zweite Band soll so schnell, wie möglich, folgen«, reale Erscheinungsdaten: 1. Band: 1797, 2. Band: 1799), so wird die Grenze zwischen realem Autor und fi ktivem Erzäh-ler eingerissen.

    Zudem können diesem ›extradiegetischen Erzähler‹ zunächst nur sämtliche ›Paratexte‹ zugeschrieben werden, zugleich gibt er sich in der ›Vorrede‹ jedoch als Autor des Briefromans zu erkennen:

    Der Schauplaz, wo sich das Folgende zutrug, ist nicht neu, und ich gestehe, daß ich einmal kindisch genug war, in dieser Rüksicht eine Veränderung mit dem Buche zu versuchen, aber ich überzeugte mich, daß er der einzig Angemessene für Hyper-ions elegischen Charakter wäre, und schämte mich, daß mich das wahrscheinliche Urtheil des Publikums so übertrieben geschmeidig gemacht.21

    Darin werden die darauf folgenden Briefe als ›fi ktiv‹ gekennzeichnet, zugleich fi ndet sich in der Weise der Ineinanderstaff elung und Verbindung der Erzähl- und Zeitebenen jedoch der Hinweis darauf, dass die Figur Hyperion nicht bloß zugleich der die Briefe schreibende, erzählende Hyperion ist, sondern zum Autor des gesamten Briefromans wird. In dieser Konstellation überkreuzen sich somit sowohl intra- und extradiegetisches Erzählen als auch ›Fiktives‹ und ›Reales‹, so dass auch die Paratexte nicht als ›rein‹ ›extradiegetisch‹ gelten kön-nen. Es ›gibt‹, so die strukturellen Implikationen der Erzählung, keine Instanz jenseits der ›erzählten Welt‹, der ›Diegese‹ und bloß den relativen, ›harmoni-schen‹ Gegensatz zwischen ›Poetisch-Fiktivem‹ und ›Realem‹. Dem entspricht genau die Stoßrichtung der Hölderlin’schen Poetik mit ihrer Spannung des ›Poetischen‹ zwischen Auto- und Heteroreferentialität (vgl. Kapitel IV.4.2).

    20 Ebd., S. 202.21 MA, Bd. 1, S. 611; FHA, Bd. 11, S. 579; StA, Bd. 3, S. 5.

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    In Bezug auf das Ineinander der verschiedenen Ebenen in ›Hyperion‹ kann mit Genette jedoch nur unter Einschränkung von einer ›Metalepse‹ gesprochen werden, da die Grenze zwischen den Erzählebenen an keiner Stelle eigens über-schritten wird. Denn lässt sich der erzählende, die Briefe schreibende Hyper-ion nicht als ›extradiegetisch‹ bezeichnen, so kann auch das »Eindringen des extradiegetischen Erzählers […] ins diegetische Universum«,22 so die leitende Bestimmung der Metalepse, nicht stattfi nden, da diese Trennungen im ›Hyper-ion‹ immer auch schon aufgehoben sind. Will man den Ausdruck dennoch zur Anwendung bringen, so müsste man von einer grundsätzlich metaleptischen Anlage des Romans sprechen insofern, als dessen narrative Struktur von Grund auf die Verschränkungen der Ebenen realisiere.

    So wird das dynamische und in sich diff erenzierte Ineinander auch aus-schließlich in dem Durchdringen und Fortdenken der in dem Roman inhären-ten Refl exions- und Darstellungsstruktur durch den Leser deutlich. Angemesse-ner für ›Hyperion‹ wäre Genettes lediglich hypothetisch formulierte Folgerung, wonach das

    Verwirrendste an der Metalepse […] sicherlich in dieser […] Hypothese [liegt], wonach das Extradiegetische vielleicht immer schon diegetisch ist und der Erzähler und seine narrativen Adressaten, d. h. Sie und ich, vielleicht auch noch zu irgen-deiner Erzählung gehören.23

    Dadurch werden jedoch die von Genette zuvor eingeführten Kategorien der ›Narrativen Ebenen‹ kaum mehr anwendbar. Ähnliches gilt für die Erörterung des ›eingeschobenen Erzählens‹, bei dem ein ähnlicher Eff ekt auszumachen ist, den Genette aber ebenfalls nicht konsequent ausarbeitet.

    Überall, wo es somit – nach Genettes eigenen Angaben – zu einem ›Rei-bungseff ekt‹ zwischen ›Erzählen‹ und ›Erzähltem‹ kommt,24 und das ist der eigentliche Gegenstand, die ›Aussage‹ (›énoncé‹), des ›Hyperion‹, greifen die entworfenen und auch von Genette als heuristisch apostrophierten ›Erzählkate-gorien‹ nur als zugleich ›überwundene‹ und ›unterlaufene‹. Gerade die Unmög-lichkeit eindeutiger Zuordnungen, deren permanente ›Überschreitung‹ sowie das dynamisch-paradox verschlungene Ineinander der Ebenen verweisen auf die Verfasstheit des Romans gemäß des ›Einen in sich selber unterschiednen‹ im Sinne des »Non coerceri maximo, contineri minimo, divinum est«.25

    Im Folgenden soll dieser paradoxen, in sich gekehrten und dynamischen Struktur des ›Einen in sich selber unterschiedenen‹, der ›harmonischen Entge-gensetzung‹, der ›widerstrebigen‹ Fügung, die in sich immer zugleich ein ›Sich-Überschreiten‹ und gerade darin ein ›In-sich-Bleiben‹ und ›Zu-sich-Kommen‹

    22 ›Diskurs der Erzählung‹, S. 168.23 Ebd., S. 169.24 Vgl. ebd., S. 155.25 MA, Bd. 1, S. 610; FHA, Bd. 11, S. 578; StA, Bd. 3, S. 4.

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    bedeutet, an dem Roman ›Hyperion‹ nachgegangen werden. Diese Dynamik zeigt sich in Hölderlins Roman jedoch nicht nur als Verfasstheit von Erzähl-texten, sondern als Grundstruktur jeden Sprechens, und gesteigert – und in diesem deshalb eigens hervortretend – des poetischen Sprechens. Diese paradox-dynamische ›Struktur‹ ist die Dynamik von Sprechen und von ›Darstellung‹ im umfassenden sowie das Verhältnis von Darstellung und Vollzug im engeren Sinne. Sie ist – wie die ›Verfasstheit‹ von ›poetischen‹ bzw. narrativen Texten, gerade auch hinsichtlich der neueren Narratologie – nichts als das Verhältnis der ›Identität der Identität und der Diff erenz‹.

    2. Exzentrizität des Zentralen: Zur Verortung der ›Athenerrede‹

    2.1 Die Orte der ›Athenerrede‹

    Die einzige Stelle in Hölderlins Texten, an der explizit auf Heraklits ›hen dia-pheron heauto‹26 Bezug genommen wird, ist die ›Athenerrede‹ Hyperions.27 Dieser kommt sowohl hinsichtlich der Entwicklung der Figur Hyperion28 als auch in Bezug auf ihre strukturelle Stellung im Roman eine zentrale Bedeutung zu. Beruft Diotima bei dem darauf folgenden Besuch in Athen Hyperion zum »Erzieher unsers Volks«29 und bestimmt diese Berufung Hyperions weiteren Weg maßgeblich, so bildet die ›Athenerrede‹ im 30. von insgesamt 60 Briefen strukturell-arithmetisch jedoch nicht die Mitte30 des Romans, sondern lediglich das Ende des ersten Bandes, somit der ersten Hälfte. Eine analoge Stellung nimmt die ›Athenerrede‹ innerhalb des 30. Briefes als letzter Teil seiner ersten Hälfte ein. In beiden Zusammenhängen bildet das ›zentral‹ Scheinende nicht die Mitte, sondern grenzt lediglich an sie an. Die ›Zentralität‹ stellt sich somit jeweils als exzentrische dar.31

    26 Transkriptionen aus dem Griechischen erscheinen ohne Akzente.27 Im 30. Brief des Gesamtromans bzw. im letzten Brief des ersten Bandes des Romans.28 ›Figur‹ ist hier angesichts der Überschreitung der ›Erzählebenen‹ (vgl. voriges Kapitel) nicht im

    Sinne einer bloß intradiegetischen Instanz, sondern vielmehr als ›Person‹ aufgefasst, die zum ›Erzähler‹ und letztlich zum ›Autor‹ wird.

    29 MA, Bd. 1, S. 693; FHA, Bd. 11, S. 691; StA, Bd. 3, S. 89.30 Dies ist auch noch bei dem erzählenden Hyperion der Fall, und zwar als unmittelbare Hin-

    leitung zur ›Athenerrede‹: »Schon lange war unter Diotimas Einfl uß mehr Gleichgewicht in meine Seele gekommen; heute fühlt’ ich es dreifach rein, und die zerstreuten schwärmenden Kräfte waren all’ in Eine goldne Mitte versammelt« (MA, Bd. 1, S. 681; FHA, Bd. 11, S. 675 »[…] Diotima’s […]«; StA, Bd. 3, S. 77 »[…] Diotima’s […]«).

    31 Auf den Begriff der »exzentrische[n] Bahn«, der sich sowohl in der Vorrede zum ›Fragment von Hyperion‹ (vgl. MA, Bd. 1, S. 489; FHA, Bd. 10, S. 47; StA, Bd. 3, S. 163) als auch in der Einleitung zur vorletzten Fassung (vgl. MA, Bd. 1, S. 557–559, hier S. 558; FHA, Bd. 10, S. 276f., hier S. 276; StA, Bd. 3, S. 235–237, hier S. 236), jedoch nicht in der Vorrede zur endgültigen Fassung fi ndet, geht das Kapitel I.4.9 ein. Als ausführlichere Erörterungen, auch unter Ein-bezug kosmologisch-astronomischer Implikationen vgl. Alexander Honold: »Krumme Linie,

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    Dieser strukturellen Stellung der ›Athenerrede‹ innerhalb des ›Athenerbriefs‹ sowie dieses Briefs im Gesamtzusammenhang des Romans entsprechen auf der Ebene der Textwelt die raum-zeitlichen Verortungen, in denen Hyperion sei-nen Monolog über die antiken Athener spricht.32 So fi ndet die ›Athenerrede‹ nicht unter dem Eindruck des zeitgenössischen Athen statt, sondern während der Überfahrt von Kalaurea nach Athen. In beiden Hinsichten, zeitlich wie räumlich, befi ndet sich die ›Athenerrede‹ somit in einem ›Zwischen‹, und sie konstituiert sich lediglich in diesem, denn mit der Ankunft endet auch die Rede: »So weit war ich, als wir landeten an der Küste von Attika. Das alte Athen lag jezt zu sehr uns im Sinne, als daß wir hätten viel in der Ordnung sprechen mögen«.33

    Findet der Monolog räumlich zwischen Kalaurea und Attika statt, so dif-ferenziert sich dieses ›Zwischen‹ darüber hinaus in den Gegensatz von Land und Meer, und dieser ist in dem Ausgangs- und Zielpunkt in sich nochmals diff erenziert,34 denn sowohl die Insel Kalaurea als auch die Halbinsel Attika

    exzentrische Bahn: Hölderlin und die Astronomie«. In: Erschriebene Natur: Internationale Per-spektiven auf Texte des 18. Jahrhunderts. Hrsg. v. Michael Scheff el. Bern u. a. 2001, S. 309–333; Justus Fetscher: »Korrespondenzen der Sonne. Kosmologische Strukturen in Hölderlins Hyper-ion«. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 10 (2000), S. 77–107; Alexander Honold: »Hype-rions Raum. Zur Topographie des Exzentrischen«. In: »Hyperion« – terra incognita. Expedi-tionen in Hölderlins Roman. Hrsg. v. Hansjörg Bay. Opladen 1998, S. 39–65, v. a. S. 45–52; unter Einbezug Rousseaus vgl. Jürgen Link: »Spiralen der inventiven ›Rückkehr zur Natur‹. Über den Anteil Rousseaus an der Tiefenstruktur des ›Hyperion‹«. In: »Hyperion« – terra inco-gnita. Expeditionen in Hölderlins Roman. Hrsg. v. Hansjörg Bay. Opladen 1998, S. 94–115, v. a. S. 112–114; Michael Franz: »Hölderlins Platonismus. Das Weltbild der ›exzentrischen Bahn‹ in den ›Hyperion‹-Vorreden«. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 22/2 (1997), S. 167–187; Margarethe Wegenast: Hölderlins Spinoza-Rezeption und ihre Bedeutung für die Konzeption des »Hyperion«. Tübingen 1990, S. 96–106; Jürgen Link: »Asymmetrie und Exzentrizität bei Hölderlin«. In: kultuRRevolution 6 (1984), S. 56–58; Michael Franz: Das System und seine Entropie. ›Welt‹ als philosophisches und theologisches Problem in den Schriften Friedrich Höl-derlins. Diss. Saarbrücken 1982, S. 143–151; Ulrich Gaier: »Hölderlins ›Hyperion‹: Compendium, Roman, Rede«. In: HJb 21 (1978/79), S. 88–143, v. a. S. 109f.; Friedrich Strack: Ästhetik und Freiheit. Hölderlins Idee von Schönheit, Sittlichkeit und Geschichte in der Frühzeit. Tübin-gen 1976, S. 188f.; Wolfgang Schadewaldt: »Das Bild der exzentrischen Bahn bei Hölderlin«. In: HJb 5 (1952), S. 1–16.

    32 Hyperions Monolog wird als Sprechen dargestellt, das weniger in dem ›Subjekt‹ Hyperion als vielmehr in der Situation des Übersetzens nach Athen gründet. So schließt Hyperions Rede mit der Beobachtung der Unverfügtheit der eigenen Rede: »[…] ich wunderte mich jezt selber über die Art meiner Äußerungen. Wie bin ich doch, rief ich, auf die troknen Berggipfel gerathen, worauf ihr mich saht?« (MA, Bd. 1, S. 687; FHA, Bd. 11, S. 683f.; StA, Bd. 3, S. 83f.).

    33 MA, ebd.; FHA, Bd. 11, S. 683; StA, Bd. 3, S. 83.34 Diese wechselseitige kontrastive Bezogenheit von Land und Meer wird in dem späteren ›Gesang‹

    ›Der Archipelagus‹ hinsichtlich eines möglichen Versinkens einer Insel eigens dargestellt: »Alle leben sie noch, die Heroënmütter, die Inseln, / Blühend von Jahr zu Jahr und wenn zu Zei-ten, vom Abgrund / Losgelassen, die Flamme der Nacht, das untre Gewitter / Eine der holden ergriff und die Sterbende dir [dem Archipelagus, M. H.] in den Schoos sank, / Göttlicher! Du, du dauertest aus, denn über den dunklen Tiefen ist manches schon dir auf und untergegan-gen« (MA, Bd. 1, S. 296; FHA, Bd. 3, S. 232; StA, Bd. 2,1, S. 103).

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    realisieren sich als solche jeweils lediglich in diesem Gegensatz. Das Übersetzen von Kalaurea nach Attika ist somit keine Bewegung in dem ›reinen‹ Gegensatz zwischen Land und Meer, sondern in der Spannung verschiedener Relationen dieses Gegensatzes. Doch sind auch diese nicht ausgeglichen. Denn stellt der Ausgangspunkt, die Insel Kalaurea, ein Übergewicht des Meeres gegenüber dem Land dar und bildet sie somit das eine Extrem des Gegensatzverhältnisses, so bildet das Ziel der Bewegung, die Halbinsel Attika, nicht das andere Extrem dieses Verhältnisses, das Festland, sondern vielmehr ein Mittleres, eine Halb-insel. Auch die Gegensätzlichkeit der Proportionen zwischen Meer und Land befi ndet sich zwischen dem Ausgangs- und dem Zielpunkt der Bewegung nicht im Gleichgewicht.

    Ein analoges Verhältnis zeigt sich in Bezug auf die Zeit. Ist die ›Athener-rede‹ von dem bevorstehenden Besuch des zeitgenössischen Athen motiviert, beruht sie somit auf einer zeitlichen Vorwegnahme, so behandelt sie thematisch ausschließlich die Verhältnisse des antiken Athen. Die Rede begründet sich als präsentische durch die zeitliche Vorwegnahme, die die Rückwendung in das (idealisierte) vergangene Athen bewirkt. Dieser inneren Gegenstrebigkeit ent-sprechen die beiden Konstituenten der Rede. Darin, dass sie überhaupt statt-fi ndet, in ihrer Tatsächlichkeit, geht die Rede auf die Vorwegnahme zurück, in dem, was sie sagt, jedoch auf das vergangene Athen.35

    Die Ambivalenz dieser Zeitverhältnisse sowie deren Wahrnehmung (›im Sinne‹) wird auch in der Beschreibung des Endens der Rede bei der Ankunft deutlich: »So weit war ich, als wir landeten an der Küste von Attika. Das alte Athen lag jezt zu sehr uns im Sinne, als daß wir hätten viel in der Ordnung sprechen mögen«.36 Denn kann sich ›im Sinne‹ tatsächlich auf die (geistige) Vergegenwärtigung des alten Athen beziehen, so legt die Ankunft auf Attika ebenso die spannungsvolle Erwartung der bevorstehenden sinnlichen Wahrneh-mung der Überreste des vergangenen im zeitgenössischen Athen nahe.

    Auch in Bezug auf die zeitlichen Spannungsverhältnisse lässt sich– entspre-chend der quantitativen Exzentrizität der Rede innerhalb des dreißigsten Briefs sowie des ›Athenerbriefs‹ innerhalb des Gesamtromans – ein Ungleichgewicht in den Relationen feststellen. Umfasst die Rückwendung die Zeit bis zur Antike, so erstreckt sich die Vorwegnahme über nur wenige Stunden. Kann hier ein Gleichgewicht festgestellt werden, so lediglich ein qualitativ-proportionales, kein quantitativ-arithmetisches,37 und zwar in dem Sinne, dass die historische Größe Athens zu ihrem zeitlichen Abstand von über 2000 Jahren zum erzählten

    35 Vgl. dieselbe Struktur in dem Schluss der dritten Strophe der Elegie ›Brod und Wein. An Heinze.‹ �Erste Fassung�: »Dort ins Land des Olymps […] Dorther kommt und zurük deutet der kommende Gott« (V. 16 und 18, MA, Bd. 1, S. 374; FHA, Bd. 6, S. 249; StA, Bd. 2,1, S. 91).

    36 MA, Bd. 1, S. 687; FHA, Bd. 11, S. 683; StA, Bd. 3, S. 83, H. v. m.37 Vgl. die im griechischen Denken nicht ungewöhnliche Unterscheidung zum Beispiel bei Ari-

    stoteles: Nikomachische Ethik, 5. Buch, Kapitel 6 und 7 (1131a bis 1132b).

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    Hyperion38 in demselben Verhältnis steht wie die Bedeutung des zeitgenössi-schen Athens zu seinem zeitlichen Abstand von wenigen Stunden.

    In zeitlicher wie räumlicher Hinsicht konstituiert sich die ›Athenerrede‹ somit in dem Spannungsfeld zweier Relationen, die ihre Gegensätzlichkeit zu unterschiedlichen Graden ausprägen. Diese Verhältnisse bilden – entsprechend der verschobenen Mitte der ›Athenerrede‹ und des ›Athenerbriefs‹ – kein quan-titatives Gleichgewicht von Zweien, sondern allenfalls ein qualitativ-proportio-nales Gleichgewicht zweier (Gegensatz-)Relationen und somit von vier Teilen in einem Spannungsverhältnis.39

    2.2 Die ›Athenerrede‹

    Dieser Kontext der ›Athenerrede‹ steht in spezifi schem Spannungsverhältnis zu dem, was der erzählte Hyperion in seinem Monolog über die antiken Athe-ner expliziert. Doch zeigen sich nicht nur in dieser Hinsicht Verwerfungen, sondern auch innerhalb der Rede selbst, zwischen ihrem Verfahren und dem in ihr Verhandelten. Die antiken Athener werden in Hyperions Rede als ideal gezeichnet, wobei dieses Ideal gleich zu Beginn von Hyperions Ausführungen mit der Freiheit von Negativität gleichgesetzt wird:

    Ungestörter in jedem Betracht, von gewaltsamem Einfl uß freier, als irgend ein Volk der Erde, erwuchs das Volk der Athener. Kein Eroberer schwächt sie, kein Kriegsglük berauscht sie, kein fremder Götterdienst betäubt sie, keine eilfertige Weisheit treibt sie zu unzeitiger Reife. Sich selber überlassen, wie der werdende Diamant, ist ihre Kindheit.40

    Diese Freiheit von Negativität in dem Sinne eines Mangels oder einer Negativ-erfahrung wird hier erweitert hin zu einer Freiheit von der Konfrontation mit Fremdem. Das ›Werden zu sich‹, das den Athenern gelingt, erscheint möglich aufgrund des völligen Bleibens in sich ohne Relation zu einem anderen. Was die Athener wurden und waren, wird de