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CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Die Aktualitàt der »Dialektik der Aufldãrung« : zwischen Moderne und Postmodeme I Harry Kunneman ; Hent de Vries (Hg.). Frankfurt/Main ; New York : Campus Verlag, 1989 ISBN 3-593-34012-7 NE: Kunneman, Harry [Hrsg.] Das Werk einschliefilich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulãssig. Das gilt insbesondere fur Vervielfáltigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 1989 Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main Umschlaggestaltung: Atelier Warminski, Búdingen Satz: Norbert Czermak, Geisenhausen Druck und Bindung: Druckhaus Beltz, Hemsbach Printed in Germany Inhalt Vorwort 7 Harry Kunneman/Hent de Vries Einleitung 9 Herbert Schnâdelbach Die Aktualitàt der Dialektik der Aufklãrung 15 Martin Seel Plãdoyer fur die zweite Moderne 36 Gunzelin Schmid Noerr Unterirdische Geschichte und Gegenwart in der Dialektik der Aufklãrung 67 Peter Dews Foucault und die Dialektik der Aufklãrung 88 WiUem van Reijen Der Flaneur und Odysseus 100 5

Harry Kunnemann - Hent de Vries (Hg.) - Die Aktualität der Dialektik der Aufklärung

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Page 1: Harry Kunnemann - Hent de Vries (Hg.) - Die Aktualität der Dialektik der Aufklärung

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Die Aktualitàt der »Dialektik der Aufldãrung« : zwischen Moderne und Postmodeme I Harry Kunneman ; Hent de Vries (Hg.). —

Frankfurt/Main ; New York : Campus Verlag, 1989 I S B N 3-593-34012-7

N E : Kunneman, Harry [Hrsg.]

Das Werk einschliefilich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulãssig. Das gilt insbesondere fur Vervielfáltigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung

und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 1989 Campus Verlag G m b H , Frankfurt/Main

Umschlaggestaltung: Atelier Warminski, Búdingen Satz: Norbert Czermak, Geisenhausen

Druck und Bindung: Druckhaus Beltz, Hemsbach Printed in Germany

Inhalt

Vorwort 7

Harry Kunneman/Hent de Vries Einleitung

9

Herbert Schnâdelbach Die Aktualitàt der Dialektik der Aufklãrung

15

Martin Seel Plãdoyer fur die zweite Moderne

36

Gunzelin Schmid Noerr Unterirdische Geschichte und Gegenwart in der

Dialektik der Aufklãrung 67

Peter Dews Foucault und die Dialektik der Aufklãrung

88

WiUem van Reijen Der Flaneur und Odysseus

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Helga Geyer-Ryan Von der Dialektik der Aufklãrung zur Dialektik der Odyssee.

Gegen eine puristische Moderne bei Adorno und Horkheimer 114

Christine Kulke Die Kritik der instrumentellen Rationalitãt —

ein mãnnlicher Mythos 128

Harry Kunneman Dialektik der Aufklãrung, Mikrophysik der Macht und die Theorie

des kommunikativen Handelns 150

Gianni Vattimo Das Ende der Geschichte

168

Hent de Vries Die Dialektik der Aufklãrungxmà die Tugenden der »Vernunftskepsis«.

Versuch einer dekonstruktiven Lekture ihrer subjektphilosophischen Zúge

183

Jan Baars Kritik ais Anamnese:

Die Komposition der Dialektik der Aufklãrung 210

Jan Baars Seitenkonkordanz

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Vorwort

Aus Anlafi des 40. Jubilãumsjahres der Verõffendichung der Dialektik der Aufklãrung beim Querido-Verlag in Amsterdam wurde vom 10. bis 11. Dezember 1987 an der Universitãt von Amsterdam ein inter-nationaler Kongrefi zum Thema Dialektik der Aufklãrung: zwischen Moderne und Postmoderne veranstaltet. Die Beitráge dieses Sammel-bandes sind grõfitenteils úberarbeitete Referate, die, mit wenigen Ausnahmen, auf diesem Kongrefi vorgetragen wurden, teils aber neu geschrieben oder, wegen ihrer Relevanz fur das Thema, auf unsere Bitte úbersetzt wurden.

Wir mõchten den Teilnehmern der Konferenz fur die freundliche Uberlassung der Manuskripte und den folgenden Institutionen fur die Finanzierung der Tagung bzw. die Erstattung von Druckbeihilfen danken, ohne die eine Verõffendichung des vorliegenden Bandes nicht móglich gewesen wáre: der Faculteit Wijsbegeerte der Universi-teit van Amsterdam, der Faculteit Godgeleerdheid der Rijksuniversi-teit Leiden, dem Goethe-Institut Amsterdam und der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Den Haag. Das Bildnis des Kyklo-pen und des Odysseus auf dem Umschlag wurde vom Prentenkabi-nett in Leiden dankenswerterweise zur Verfugung gestellt. Last but not least mõchten wir aufs herzlichste Noortje Evertsen und Marétte Flipse danksagen, die uns unermúdlich und mit manchen Anregun-gen bei der Vorbereitung und der Organisation der Tagung im schõnsten Sinn geholfen haben.

Harry Kunneman/Hent de Vries

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H A R R Y K U N N E M A N / H E N T D E V R I E S

Einleitung

Vor etwa vierzig Jahren erschien eine der widerspenstigsten philoso-phischen Schriften unseres Jahrhunderts: die Dialektik der Aufklã­rung, entstanden aus der Zusammenarbeit von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Die darin aus einer gleichsam idiosynkratí-schen Mischung der Traditionslinien von Nietzsche, Marx, Freud und Weber geschmiedete Kritik der instrumentellen Vernunft, die in einer Reihe von auf den ersten Blick disparaten philosophischen Fragmenten von den Autoren entwickelt wurde, envies sich ais ein gleichermafien an Ausdruck und Stringenz, Ambivalenz und kon-struierter Einheit reicher geschichtsphilosophischer und anthropolo-gischer Rúckblick auf das durch grauenhaften Katastrophen geprágte Zeitalter der Moderne.

Die prãgnanten und oft mehrdeutigen Denkfiguren des Buches verhalfen nãmlich einerseits einem tiefgreifenden Pessimismus zum Wort — und dies sicherlich nicht nur hinsichdich des damaligen, im Zeichen des Faschismus, des Stalinismus und der Massenkultur stehenden Zustands, den die Autoren aus der Ferne des Exils um so schãrfer wahrzunehmen schienen. Die Schrift umrifi auf den ersten Blick eine einzige — anhand einer Konstellation von geschichtsphilo-sophischen Exkursen retrospektiv handfest gemachte — Idee, nãm­lich die Idee einer von der Urgeschichte der Subjektivitat her fast gradlinig verlaufenden Selbstzerstõrung der okzidentalen Zivilisa-tion insgesamt. Andererseits aber zeichnete sich der Text nicht weni-ger aus durch den entschlossenen Versuch, dennoch festzuhalten an

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der befreienden Kraft der Vernunft, welche sich in der philosophi-schen Reflexion offenbaren und durchsetzen sollte — allerdings we-der aufgrund eines der Vernunft angedichteten Versõhnungspoten-tials, im Sinne etwa des idealistisch stilisierten Hegelschen objektiven Geistes, aber wohl auch kaum in der Hoffhung auf eine Entwicklung, die die nachhegelschen Materialisten mit dem umgestulpten, aber nicht weniger geschlossenen Dialektikbegriff verbunden hatten.

Vierzig Jahre spãter hat diese Analyse nichts an suggestiver Kraft eingebufit — und an Aktualitàt hat sie eher gewonnen. Obwohl sich im Verstehenshorizont der heutigen Leser zweifellos tiefgreifende Wandlungen vollzogen haben, scheint das heutige geistige Klima die zeitdiagnostischen Zúge dieses vielschichtigen Buches schãrfer her-vortreten zu lassen ais je zuvor. Namendich im Lichte der Debatte um Moderne und Postmoderne kõnnte eine erneute Lekture der Dia­lektik der Aufklãrung nach mehreren Seiten hin ertragreich sein. Die Ambivalenzen, die in der Auseinandersetzung um den sogenannten Diskurs der Moderne von seinen postmodernen Widersachern her-vorgehoben werden, kõnnten, so scheint uns, anhand des (ehemali-gen) Grundbuches der Kritischen Theorie wohl nicht beantwortet, aber denn doch schãrfer, ais bis es jetzt geschehen ist, gefafit und da-mit erhellt werden. Umgekehrt dagegen kõnnen die Fragen, um die es in dieser Debatte geht, eine fruchtbare Perspektive auf die Interpre-tation und Wúrdigung der Dialektik der Aufklãrung erõffhen. Fúhrt man beide Linien zusammen, so ergibt sich etwa folgendes.

Die Faszination, welche die Dialektik der Aufklãrung erneut ausúbt, hãngt offenbar damit zusammen, dafi dieses Buch auf úberzeugende Weise eine Grunderfahrung vieler heutiger Intellektueller auf den Begriffbringt. Es artikuliert das weitgehende Auseinandertreten von Rationalitãt einerseits und Versõhnung und Freiheit andererseits — aber zu gleicher Zeit wird dieses augenscheinliche Faktum von Hork-heimer und Adorno leidenschaftlich angeklagt im Namen einer nor-mativen Perspektive, die in der Vernunftkonzeption der Aufklãrung zum ersten Mal klar angesprochen worden ist.

Damit zeigt das Buch eine fundamentale Spannung auf, die auch fur die Debatte um Moderne und Postmoderne charakteristisch ist. Zum ersten findet sich diese Spannung im Feindbild, das die wichtig-sten Kontrahenten in dieser Debatte voneinander konstruiert haben.

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So zum Beispiel, wenn Jean-François Lyotard in La Conditionpostmo­derne Habermas den Vorwurf macht, seine Rationalitãtskonzeption sei auf Konsensus ausgerichtet und reproduziere damit letzdich nur die imperialistische und terroristische Grundstruktur der okzidenta-len Vernunft; oder, umgekehrt, wenn Habermas den Postmodernis-mus mit dem Neokonservatismus assoziiert und damit sowohl philo-sophisch wie politisch denunziert.1 In beiden Fãllen wird dem Gegner vorgeworfen, eine philosophische Position zu vertreten, die der nor-mativen Perspektive von Versõhnung und Freiheit nicht gerecht wird, ja dieser Perspektive sogar entgegenwirkt und auf diese Weise das verhángnisvolle Band zwischen Rationalitãt und Gewalt auf phi-losophischer Ebene perpetuiert.

Aber das gleiche Spannungsverhãltnis findet sich, zum zweiten, auch innerhalb des breiten Spektrums postmoderner Positionen selbst, étwa in der Form der Gegensãtze zwischen der von Lyotard in Le Différend entwickelten Perspektive und Baudrillards Zeitdiagnose, wie er sie in Les stratégies fatales entfaltet hat. Wo Baudrillard den sinn-los wuchernden Krebs ais die paradigmatische Grundstruktur unserer Zeit und ais die unentrinnbare Verkõrperung aller aufklãrerischen Vernunftutopien anvisiert, da entwirft Lyotard eine philosophische Perspektive, die zwar auf der Annahme basiert, dali Sprechen einer­seits und Gewalt und Unrecht andererseits unvermeidlich miteinan-der verbunden sind, die aber nichtsdestoweniger auch mit der Mõg-lichkeit und der Notwendigkeit rechnet, diesem Unrecht zur Stimme zu verhelfen und es anzuklagen.

Es liegt also die Vermutung auf der Hand, dafi die wichtigsten postmodernen Diagnosen unseres Zeitalters und der Spielráume un-seres Denkens und Handelns, ungeachtet des unmifiverstãndlichen und tiefgehenden Unbehagens in die von unleugbaren Verzerrungen geprãgte Kultur der Moderne, immer schon oder trotz alledem auf bestimmtè kritische Aufklãrungsideale verwiesen bleiben, obwohl die Anspriiche der Kritik im Zwielicht der noch immer fortwàhren-

1 Vgl. Jean-François Lyotard, La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979, S. 106 und J. Habermas, Die neue Uniibersichéchkeit. Kleine Poli-tische Schriften V, Frankfurt 1985, S. 49

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den Dialektik der kulturellen und gesellschaftlichen Rationalisierung nur noch abgeschwãcht vorgetragen werden kõnnen. Aus dieser Per­spektive gesehen liefert die Dialektik der Aufklãrung nicht nur Mate­rial zur Unterstiitzung beider Positionen. Sie macht vor aliem auch den Blick frei auf die fur beide Positionen fundamentale Spannung zwischen Vernunftkritik bzw. Vernunftskepsis einerseits und einer in der Tradition der Aufklãrung verwurzelten normatíven Perspektive andererseits. Beschrãnken wir uns zur Illustration dieser »Arbeits-hypothese« auf jene wichtigen kontroversen Punkte, die auch in dem vorliegenden Sammelband ihre Spuren hinterlassen haben.

Dafi die Dialektik der Aufklãrung bestimmte moderne Intentionen verfolgt, wird wohl kaum ernsthaft bestritten werden kõnnen. Die Vermutung, sie zeige aber dessen ungeachtet im Vexierbild der jetzt herrschenden Kontroversen und Fragerichtungen Bruchlinien und Spuren auf, die eine unbeabsichtigte, heimliche Verwandtschaft na-helegen kõnnten mit bestimmten postmodernen Themen, die vor al­iem im Kontext der franzõsischen Gegenwartsphilosophie geltend gemacht worden sind, steht zur Diskussion. So lãfit sich in der narra-tíven Struktur des Buches zum einen die Totalisierung einer zum »singulãren Referenzobjekt«, zum »Abendland«, zur »Moderne« oder zur »Aufklàrung« geronnenen geschichtlichen Wirklichkeit nachwei-sen, was von H. Schnãdelbach ais ein Indiz fur ihren Úbergang zu ei-nem durch Rousseau geprãgten Sozialmythos endarvt und von H. Geyer-Ryan ais ein Rúckfall in ein organisches Entwicklungsmodell mit negativem Vorzeichen diagnostiziert wird. Zum anderen aber bleibt die heuristische Perspektive der Dialektik der Aufklãrung doch auch an jenen der positiven oder negativen Totalitãt widersprechen-den Motiven des Leidens, des Besonderen, Ephemeren fixiert, ob­wohl sie sich damit noch nicht in der Nãhe einer radikal diskonti-nuierlichen Geschichtsphilosophie befindet, wie (aus unterschiedli-chem Blickwinkel) von G. Schmid Noerr xmà J. Baars hervorgehoben wird. Die úberschwenglichen Riickprojektíonen wàren dann aber nicht nur ein Specimen von narrativ erzeugtem Schein, wie die gro-fien Erzãhlungen der »klassischen Moderne« es waren, sondem sie wurden doch wohl auch lesbar sein ais eine — weniger ontologisierte ais fragmentarisch erzãhlte und zuletzt doch nur hypothetische — Re-

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konstruktion eines im Grunde genommen kontingenten Gesche-hens. Denn daí? die anamnetische Kritik nur mõglich ist in und durch Erzãhlungen, wird von jeder Zeile der Dialektik der Aufklãrung suggeriert. G. Vattimo geht in seiner Betrachtung úber die «Verwin-dung« der Metaphysik und des klassisch-modernen Geschichtsver-stándnis ausfuhrlich auf die Konsequenzen einer solchen Denkfigur ein. Wenn die Postmoderne sich ais pauschale Verabschiedung der Moderne verstehen wurde, wiirde sie unter das Verdikt der Dialektik der Aufklãrung fallen.

Die Dialektik der Aufklãrungkònnte in unserer Epoche aktuell sein, weil sie eben das Ineinanderspielen vom Versõhnungspathos der ein-mal substantiellen, nun restmetaphysischen Vernunft und einer plu-ralistisch transformierten sowie einer perspektivisch ironisierten, aber nie ganz verabschiedeten Vernunft in sich reflektiert. Aí. Seel geht in seinem Beitrag der Frage nach, wie eine diesen unterschiede-nen Traditíonslinien entsprechende Typologie der Verfolgung von Einheit bzw. Entzweiung oder Heterogenitãt aussehen kõnnte und wie eine plausible Entscheidung zwischen diesen, nicht immer in Reinkultur vorhandenen Vernunft- und Lebensformen begriindet werden kõnnte.

Fragen liefie sich allerdings, welche Theorieformation oder welche nicht mehr in jeder Hinsicht theoretisch formulierbare Geste das Er-be von welchen versprengten Zúgen der Dialektik der Aufklãrung an-treten kõnnte. Wãre das eine Transformation der Ansãtze der fruhen Kritischen Theorie zu einer komplexen, formal-pragmatischen Ra-tionalitàtstheorie, die sich von inhaltlichen Fragen des guten Lebens, im Unterschied zu der moralischen Frage nach der prozeduralen Rechtfertigung von Normen, dispensiert, aber doch von bestimmten Motiven der Dialektik der Aufklãrung und der Machttheorie von Foucault bereichert und modifiziert werden kõnnte, ohne freilich ih­re paradigmatischen Zúge widerrufen zu mússen, wie der Beitrag von H. Kunneman zu zeigen versucht? Oder wãre das eine durch »Frank-furter« Einsichten bereicherte feministische Perspektive, die sich je-doch kritisch verhãlt gegen patriarchalische Zúge, die auch hier noch zu vermerken sind, wie Chr. Kulke vorschlãgt? Oder wãre das viel-mehr ein an Benjamin (vgl. die Beitràge von H. Geyer-Ryan und W. van Reifen), dem spàten Adorno und an den Franzosen (im besonde-

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ren an Foucault—wie P. Dews zu zeigen versucht—aber auch an Lyo­tard, Derrida und Levinas) geschulter mikrologischer Blick, der den Spuren des Anderen der Vernunft nachspúren mõchte und je nach Bedarf eine ethische Haltung oder den stoischen Blick der Mikrophy-sik der Macht úbernehmen kõnnte, ohne daíur eine weitere argu-mentative Begriindung zu fordern? Ist es nicht gerade die Abweisung der (Re-)Konstruktion von positiven Alternativen fiir die Moderne und eine gleichsam stoisch verharrende Negativitàt, worin die Denk-figur von Horkheimer und Adorno in diesem Buch der postmoder­nen Skepsis unbeabsichtigt nahekommt? Damit freilich scheinen sich vorsichtíg auch neue Perspektiven in der Rezeptions- und Wir-kungsgeschichte anzukiindigen. Die in diesem Band verõffendichen Beitráge von G. Vattimo und H. de Vries versuchen aus verschiedenen Perspektiven Vorschláge in dieser Richtung zu entwickeln.

Wie man die Fragen, die in den verschiedenen Beitrãgen aufge-worfen werden, auch beantworten mõchte und welche der mõgli-chen Rezeptionsstrategien man auch vorzieht, klar ist jedenfalls, dafi das in der Dialektik der Aufklãrung exemplifizierte Spannungsverhãlt-nis zwischen Vernunftverzweiflung und dennoch anvisierter ver-núnftiger Normativitãt in ali diesen Alternativen auf verschiedene Weise zuruckgefunden werden kann. Die Inspiration und die Aktua­litàt dieses faszinierenden Buches beruhen so gesehen vor aliem dar-auf, dafi dieses Spannungsverháltnis nicht verneint, sondem bewufit festgehalten wird.

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H E R B E R T S C H N À D E L B A C H

Die Aktualitàt der Dialektik der Aufklãrung

A3B

Dafi wir uns vierzigjahre nach dem Erscheinen eines Buches an sei-nem ersten Erscheinungsort zu einem Kongreís versammeln, ist eine Tatsache, die fur sich spricht: Die Dialektik der Aufklãrung ist aktuell, und dieser Kongreís fande nicht statt, wenn dies nicht der Fali wãre. So kann die Aktualitàt der Dialektik der Aufklãrung — zumindest in unserem Kreis — wohl nicht sinnvoll bestritten werden; viel schwerer ist es freilich, genauer zu bestimmen, worin sie besteht. Gerade die jiingere Rezeptionsgeschichte ist eine Geschichte radikaler Kritik der Dialektik der Aufklãrung gewesen, und von den wichtigsten Argumen-ten dieser Kritik wird heute und morgen noch die Rede sein. Sicher wird man sich der Aktualitàt einer Kritischen Theorie auch nur kri-tisch versichern kõnnen — affirmative Musealisierung und defensive Orthodoxiebildung sind mit ihrem eigenen Sinn unvereinbar — aber die Frage bleibt doch erlaubt, was nach der Kritik der Kritischen Theorie ais Dialektik der Aufklãrung am Ende noch von ihr úbrig bleibt. Bleibt sie nur dadurch aktuell, dafi sie ihre eigene Kritik anreg-te und im Feuer, das sie speiste, selbst verbrannte? Ist das Buch also nur noch ein historisches Dokument, das in die Geschichte der Kriti­schen Theorie gehõrt und einen inzwischen úberholten Entwick-lungsstand bezeugt? Sind die darin entwickelten Gedanken nur noch in der kritisch gefilterten und verwandelten Form prãsent, in der die geistigen Sõhne, Enkel und Urenkel auf Horkheimer und Adorno Bezug nehmen?

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Ich mõchte zeigen, da& es zumindest zwei Griinde gibt, die Dialek­tik der Aufklãrung neu zu lesen ais ein, wenn auch verãndert, aktuelles Buch. Freilich ist in rpapçhprlpj Hjnsicht historisch geworden. vor aliem wenn man seinen real- und wissensc^fohistc|risch«i Kontext ÍÍÍfèrult7^^ Diale^JiaiSkiâ-

jun^selber, ist es nicht; die dasgtj^iMéj^L^kM^ W a s l c h da" mit meine, HrucKen die Autoren der Dialektik der Aufklãrung so aus: »Schon der Mythos ist Aufklãrung, und: Aufklãrung schlãgt in My-thologie zuriick«. »Wie die Mythen schon Aufklãrung vollziehen, so verstrickt Aufklãrung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mytholo-gie^1 Fúr die Wahrheit der zweiten These scheint der heutige Post-modernismus der aktuelle Beleg zu sein, aber dariiber werden hier Kompetentere sprechen. Mich beschãftigt die Vermutung, dafi sich in dem Buch Dialektik der Aufklãrung selbst die Dialektik der Aufklã­rung in der von Horkheimer und Adorno formulierten Weise voll-zieht, d.h. dafi sich in ihm Mythos und Aufklãrung »verschlingen«, aber anders ais dies Júrgen Habermas beschrieb2; dem mõchte ich im ersten Teil meines Vortrags nachgehen. Dariiber hinaus freilich scheint mir ein weiterer unabweisbarer Grund dafur zu bestehen, sich mit unseremjubilãumswerkerneut zu befassen: seine Interpreta-tion vermag Elemente einer dialektischen Strukturtheorie der Aufklã­rung zutage zu fbrdern, an die wir angesichts einer immer massiver werdenden Gegenaufklãrung anknúpfen kõnnen, um die Sache der Aufklãrung zu vertreten. Davon soll im zweiten Vortragsteil die Rede sein.

I

Wenn es wirklich zutràfe, dafi in der Dialektik der Aufklãrung selber Mythos und Aufklãrung dialektisch ineinander úbergehen, dann ent-hielte dieses Buch auf ironische Weise seinen eigenen Wahrheitsbe-weis; die Aporie wãre perfekt und der Mythos unentrinnbar. Die Fra­ge ist nur, ob sich hier úberhaupt mythische Elemente identifizieren lassen, die man auf den zweiten Blick der Aufklãrung zurechnen kann, wie es Horkheimer und Adorno mit dem alten Mythos taten.

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Viel provozierender freilich wãre die Behauptung; dafi die Aufklã­rung in der Dialektik der Aufklãrung selbst in Mythologie »zuriick-schlãgt«, und dafi sie »mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mytholo­gie» verstrickt; sollte dies tatsãchlich der Fali sein, dann bedeutete dies eine Erklãrung fur die beklemmende Aktualitãt, die dieses Werk heute aufgrund seiner Nãhe zu Nietzsche und zu Grundthesen des von Nietzsche bestimmten Poststrukturalismus gewonnen hat. Wer vor zwanzig Jahren die Dialektik der Aufklãrung las, tat dies in einer von Marx und dem fruhen Lukács bestimmten Perspektive, und der heimliche Nietzscheanismus wurde gar nicht bemerkt; heute hinge-gen haben wir Schwierigkeiten, Horkheimer und Adorno von Fou-cault zu unterscheiden und die Punkte genau zu bezeichnen, an de-nen sie trotz aller herrschaftsentlarvenden Kritik doch an der Ver­nunft und am Subjekt festhalten. Was also ist in der Dialektik der Auf­klãrung mythisch und mythologisch?

U m dies nãher bestimmen zu kõnnen, gehe ich von einem forma-len Begriff des Mythos aus, ohne sogleich zur Frage seines Wahr-heitsgehaltes Stellung zu nehmen. Ich verstehe diesen Begriff ais Ty-penbegriff, und zwar ais Inbegriff einer bestimmten Art von Weltin-terpretation, Weltdeutung und Welterklãrung. Das griechische Wort fivõoç — Bericht, Erzãhlung — verweist auf das Wesendiche: der My­thos ist Weltinterpretation, -deutung und -erklãrung mit narrativen Mitteln. Der jiidische Schõfungsmythos beginnt mit dem Satz »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde«, und der olympische Schõp-fungsmythos beginnt so: »Am Anfang aller Dinge tauchte Mutter Er-de aus dem Chãos und gebar im Schlaf ihren Sohn Uranos. Er blickte von den Bergen liebevoll auf sie herab und spriihte fruchtbaren Re-gen úber die geheimen Õffhungen ihres Leibes. Da gebar sie das Gras, die Blumen und die Bãume und auch die Tiere und Vogel, die dazu gehõren.. .«. 3 Schon diese Beispiele zeigen, was in der Literatur wohl unbestritten ist: der Mythos ist der Bericht von einem Gesche-hen ais Erzãhlung einer Handlung, die das Geschehen selbst ais Hand-lungsereignis und ais Handlungs/ô^je verstãndlich machen soll. In mei-nen Beispielen geht es um den Weltanfang und die Weltentstehung; beide Mythen berichten davon, indem sie von Handlungen be-stimmter Handlungssubjekte erzãhlen, und sie versuchen, das Ge­schehen, von dem sie erzãhlend berichten, durch die Erzãhlung deu-

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tend zu erkláren. Die Bibel sagt uns am Anfang, daS die Welt ist, weil Gott sie schuf, und zwar ais seine ihm wohlgefàllige Schõpfung; der olympische Mythos prãsentiert uns die Welt ais Ergebnis naturlicher Vorgãnge, die uns von unserer eigenen Natalitãt her wohlbekannt sind. Auf ein weiteres Merkmal des Mythos haben vor aliem Eliade und van der Leeuw hingewiesen: das mythische Geschehen, von dem uns erzáhlt wird, ist nicht datierbar. Wann war das: »Am Anfang.. .«? Es war am Anfang der Zeit selber, nicht in der Zeit. Zugleich ist das mythische Geschehen ein ewiges Geschehen, wie es die júdisch-chrisdiche Theologie in der Einheit des Schõpfers mit dem Erhalter der Welt ausdriickt; in der griechischen Welt sorgte die Verknúpfung des Mythos mit dem Ritus fur die stàndige Aktualitàt des im Mythos Erzãhlten, und auch wir singen mit unseren Kindern: »Alle Jahre wie-der kommt das Christuskind . . . « Daí? das mythische Geschehen au-fíerhalb aller Zeit liegt, erklárt sich aus einer Funktion, die der My­thos ihm zuweist: es kann nicht in der Zeit liegen, weil es das in der Zeit Liegende, d.h. die rãumlich-zeitliche Welt in ihrem Dasein und Sosein verstãndlich machen soll; gleichzeitig bleibt es in dieser Welt immer auch prãsent ais ihre ewige Struktur oder ihr Gesetz. Diese úber die Phãnomenalitàt des Rãumlichen und Zeidichen hinausrei-chende aufier- und úberzeidiche Wahrheit, die der Mythos bean-sprucht — die genau genommen auch nicht bkalisierbar ist, trotz aller Versuche, an den Orten des mythischen Geschehens Tempel zu bauen — ist eine Antizipation der Wahrheit des philosophischen Lo-gos, von dem es ja auch seinem eigenen Anspruch nach nicht sinn-voll ist zu fragen, wann und wo sie gilt oder nicht gilt. Wichtiger ist mir der Hinweis der Dialektik der Aufklãrung, dafi der Mythos selbst schon »Produkt« der Aufklãrung ist, wenn man unter Aufklãrung das deutende und erklàrende Hinausgehen iiber das versteht, was blofi auf der Hand liegt. Die mythische und die »logische« (im Sinne von Aóyoç) Aufklãrung unterscheiden sich nur durch die Wahl der Mittel.

Wenn man mit diesem Vorbegriff des Mythos die Dialektik der Aufklãrung erneut betrachtet, so ist unúbersehbar, dafi sie in der Ab-sicht, úber die Aufklãrung aufzuklàren, mythische Elemente enthàlt. Erzãhlt wird die Urgeschichte des Subjekts ais die Geschichte der tàti-gen Selbstbefreiung durch Naturbeherrschung und der Folgen, die

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das fur das Subjekt notwendigerweise zeitigt. Nicht zufallig gilt die Odyssee ais Leitfaden: selbst ein Mythos. Das Erzàhlte ist historisch nicht datierbar, denn hier konstituiert sich úberhaupt erst historische Zeit; vorher gibt es gar keine Wesen, die eine Geschichte haben und erzãhlen kõnnten. Zugleich bleibt das Erzàhlte immer aktuell — zu-mindest so lange, wie die Geschichte ais »Vorgeschichte« andauert — denn es exemplifiziert schon den dialektischen Mechanismus, dem Horkheimer und Adorno zufolge alie bisherige Geschichte unter-worfen war: »Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Na­tur gebrochen wird, gerãt nur um so tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europãischen Zivilisation verlaufen«.4 Wichtig ist aber, dafi auch dieser Mechanismus erzãhlend prãsentiert und bestã-tigt wird; es soll sich ja nicht um ein ewiges Gesetz im Sinne der Na-turgesetze handeln, sondem um eine Verwicklung und Verstrickung, in die die Menschen, die so und nicht anders gehandelt haben, aus verstãndlichen Grúnden geraten sind, und so etwas kann man nur er­zãhlen. Andererseits liegt das Erzàhlte auch nicht auf der Oberflãche der im úblichen Sinne erzàhlbaren Geschichte; es soll deren Tiefen-struktur betreffen und sie aufklàren — ganz analog zu dem Satz von Marx und Engels: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkãmpfen«.5 Auch Horkheimer und Ador­no wollen nicht einfach die Geschichte der Zivilisation selbst erzãh­len, sondem sie erzãhlen etwas, was diese Geschichte selbst deutet und erklãrt: die Geschichte dieser Geschichte, die wahre Geschichte des Ge-schichtlichen, die immer noch aktuelle Urgeschichte.

Diese Intention teilt die Dialektik der Aufklãrung mit der gesamten Tradition der narrativen Geschichtsphilosophie der Neuzeit, die sich ais Aufklãrung úber die Geschichte verstand. Legt man die formalen Charakteristika des Mythos zugrunde, die ich angefuhrt habe, so wird man sagen mússen, dafi diese Geschichtsphilosophien, soweit sie narrativ vorgehen, mythisch sind: sie erzãhlen ja nicht die Ge­schichte selbst, sondem etwas, was sie verstãndlich machen und in ihrem Ablauf erklãren soll, was Prognosen meist ausdrúcklich ein-schliefit — die immer noch wahre Hintergrundgeschichte. Diese Ge­schichte hinter der Geschichte in aufklàrerischer Absicht mõchte ich ais Sozialmytbos bezeichnen. Sozialmythen sind Mythen nach der Aufklãrung, d.h. sie unterscheiden sich von Naturmyxh&n dadurch,

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dafi sie die Entzauberung der Natur voraussetzen und rein immanent verfahren, d.h. sie rechnen bei der erzãhlenden Deutung und Erklã­rung der Menschenwelt nicht mehr mit handelnden Eingriffen ir-gendwelcher Naturmãchte, sondem begreifen das Natiirliche ais In-begriffblofier Rahmenbedingungen des Menschlichen. Gleichzeitig sind die Sozialmythen aber auch keine Theorien — obwohl sie manch-mal so genannt werden — denn seit Aristóteles bis zur Entstehung der modernen Sozialwissenschaften bestand immer Konsens dariiber, dafi Theorien im strengen Sinne des Wortes nur mõglich sind von Dingen, die nicht in unserer Macht stehen, und das sind die Naturer-scheinungen, wãhrend wir von unseren individuellen und kollekti-ven Handlungen, sofern sie sich von Natiirlichem unterscheiden, nur erzãhlend Rechenschaft geben kõnnen. Die Sozialmythen sie-deln sich somit zwischen Geschichte und Theorie an; sie versuchen buchstãblich, hinter die Geschichte zu kommen, ohne aber bei einer Theorie ankommen zu diirfen, denn dies wãre mit dem Handlungs-charakter des zu deutenden und zu erklãrenden Gegenstandsbereichs unvereinbar. Die Theorieverweigerung der narrativen Geschichts-philosophen folgt der Befurchtung, durch theoretische Erklãrung der Geschichte verwandle sich die Menschenwelt zuriick in blofie Natur.6

In der doppelten Frontstellung gegen den Naturalismus der Natur-mythen und der Naturwissenschaften sind die Sozialmythen konse-quent kulturalistisch. Ein prominentes Beispiel dafur bietet die Tradi-tion der sogenannten Vertragstheorien. Hier wird erzàhlt, die Men-schen hãtten den Naturzustand verlassen und seien durch Uberein-kuníte in den Gesellschaftszustand eingetreten. Datierbar ist dieses Ereignis nicht; darauf wird auch kein Wert gelegt, und auf Nachfrage wird uns manchmal erklàrt, das sei ohnehin nur ein »Modell« oder ei­ne »Idee«. Gleichwohl halten die Vertrags»theoretiker« das ganze fur unverãndert aktuell oder sogar wahr, denn die Vertragsfigur soll ja nicht nur die Entstehung, sondem—was viel wichtiger ist—auch den Fortbestand und die Legitimitãt der Tatsache der Vergesellschaftung und ihrer staadichen Form erklàren; in diesem Sinne soll die narrativ eingefuhrte Vertragslehre »immer wahr« sein, so lange es Gesellschaft gibt. Zugleich versteht sich diese Lehre nicht ais Theorie im Sinne des klassischen Terminus fteupía, denn dies bedeutete, man kõnne

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den Ausgang der Menschen aus dem Naturzustand genauso mit Hil-fe von Gesetzen erklãren wie den Aufgang der Sonne; die Menschen seien aber gerade nicht wie die Planeten auf ihren Bahnen, sondem aufgrund vernunftiger Uherlegungen und in diesem Sinne aus freien Stiicken in den búrgerlichen Zustand hinúbergewechselt, wird uns versichert. Dafi dabei theoretische Hintergrundannahmen úber die natúrliche Ausstattung und die natúrlichen Interessen der Menschen im Spiel sind, ist dagegen kein Einwand: beim Vertragsabschlufi ha­ben die Menschen gehandelt, und das ist mehr ais kausale oder teleo-logische Determination. — Das berúhmte Modell eines kulturkriti-schen Sozialmythos, das unzàhlige Nachahmer fand, ist Rousseaus Zweiter Discours iiber den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen. Rousseau erkannte, dafi die herkõmmlichen Vertragstheorien inso-fern zirkulãr verfuhren, ais Vertragsabschlússe selbst schon vergesell-schaftete.Vertragspartner voraussetzen, d.h. die Tatsache der Verge­sellschaftung nicht zu erklãren vermõgen. Trotzdem weicht er nicht in den Naturalismus aus; der Beginn der Geschichte und die Dyna-mik ihres Fortgangs sind nach Rousseau nichts Naturgesetzliches, sondem das Resultat des »zufàlligen Zusammenwirkens mehrerer àu-fierer Ursachen«, die auf den natúrlichen Menschen und seine Fãhig-keiten einwirkten und ihn dazu brachten, den Naturzustand zu ver­lassen: eines »Zusammenwirkens«, »das ebenso gut auch nie hãtte stattfinden kõnnen und ohne das er ewig in seinem ursprúnglichen Zustand verblieben wãre«.7 Der geschichtliche Anfang ist kein Natur-ereignis, das nach Gesetzen erklàrbar wãre, aber auch keine absichdi-che Tat von Menschen, die schon sozial handeln kõnnten — die exi-stieren im Naturzustand noch nicht—, sondem ein »verhãngnisvoller Zufall«8, wie Rousseau sagt. Diese Kontingenz des Einmaligen ist das objektive Gegenstúck dessen, was der Kulturalismus generell der Menschenwelt ais deren subjektives Konstituens zugrunde legt: die auf úbematúrliche und naturgesetzliche Determination nicht redu-zierbare und in diesem negativen Sinne freie Handlung der Men­schen selber. So hãngen fur Rousseau Kontingenz und menschliche Freiheit notwendig zusammen; Kontingenz ist selbst die Mõglichkeit der Freiheit, und die Kultur erscheint so ais die Ausfullung der Frei-ráume, die der Zufall in der Ordnung der Natur erõffhete. Gemessen an dieser Ordnung aber ist die Kultur selbst zufallig.

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Alie grofien Sozialmythen nach Rousseau — von Hegels listigen Intrigen des Weltgeistes tiber den Marxschen Gãnsemarsch der histo-rischen Produktionsweisen, Wagners Ring des Nibelungen, Nietzsches Geneabgie der Moral, Freuds Totem und Tabu bis hin zu den narrativen Passagen der Dialektik der Aufklãrung — legen diesen Konnex von Kontingenz und Freiheit zugrunde. Er ist die wahre Basis des ge-schichtsphilosophischen Narrativismus. Von dem, was Menschen aus freien Stiicken und mit Bewufitsein taten, gibt es ihm zufolge kei­ne Erklãrung aufier der durch Erzãhlung; die ais Móglichkeit menschlicher Freiheit aufgefafite Kontingenz des Kulturellen, die sich der nomologischen Erklãrung entzieht, erscheint so ais die Ne-gativfolie, vor der das Historische ais das allein narrativ Fafibare her-vortritt. Denn generell gilt: Von Zufállen, die unsere nomologische Erklàrungskraft úbersteigen, kõnnen wir nur erklãrend berichten. Dem Kulturalismus zufolge sind Handlungen genau von dieser Art; die Nichterklãrbarkeit genúgt, um sie ais menschliche Handlungen zu charakterisieren. Die narrativistische Ontologie lautet: Das Kon-tingente kõnnen wir nicht erklãren, sondem nur erzãhlen. Gemessen an der erklãrbaren Natur ist die Menschenwelt kontingent. Also kann nur das Erzãhlbare zu ihr gehõren.

Diese narrativistische Ontologie der modernen Sozialmythen wurde im 19. Jahrhundert durch den methodologischen Narrativis­mus mãchtig verstãrkt. Ihm liegt die hermeneutische Maxime zu­grunde, derzufolge wir etwas nur dann verstehen kõnnen, wenn wir verstehen, wie es geworden ist.9 Dieses Werden kann aber kein Ent-stehen nach Naturgesetzen sein, denn das erklãren wir; historisches Werden hingegen steht unter den Bedingungen jenes Zusammen-hanges von Kontingenz und Freiheit, durch den sich das spezifisch Menschliche ais das einzig Verstãndliche allererst konstituieren soll. Den Hermeneutikern zufolge ist dieses historische Werden das Wesen des Verstãndlichen selber; sein Verstehen schõpft dieses Wesen aus, wãhrend Erklàrungen bestenfalls Rahmenbedingungen betreffen. Wie aber versteht man dieses Werden anders ais da-durch, dafi man es erzãhlt? Aus dem Gegensatz von Erklãren und Verstehen zieht der methodologische Narrativismus dieselbe Konse-quenz wie der ontologische: Nur das Erzãhlbare gehõrt zur Men­schenwelt.

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Der Narrativismus ist somit die Basis der modemen Sozialmy­then. Sie suchen nicht generelle Bedingungen der erzãhlbaren Ge­schichte auf, denn das fuhrte ja zu Theorien und Erklãrungen, son­dem die Bedingungen, die sie in aufklàrender Absicht aufsuchen, sol-len selbst schon historische, d.h. verstãndliche Bedingungen sein, und davon kann man nur erzãhlen. Trotzdem ist diese Uberzeugung noch nicht zureichend, um daraus den Úbergang von der narrativen Geschichtsphilosophie zum Sozialmythos zu erklãren; man kann viele Geschichten erzãhlen, auch Hintergrundgeschichten úber die Geschichte, ohne dafi man schon dadurch zum Mythologen wurde. Entscheidend ist das Pathos des Singulars: » 0 Mensch, aus welcher Gegend du auch immer stammst, was fur Meinungen du auch immer habest, hõre! Dies ist deine Geschichte, wie ich sie zu lesen glaubte, und zwar nicht in den Búchern von deinesgleichen, die Lúgner sind, aber in der Natur, die niemals lúgt. Alles was darin von ihr sein wird, wird wahr sein. Nur in dem, was ich von mir aus, ohne es zu wollen, hineingemischt habe, wird es Falsches geben«. 1 0 Rousseau bean-sprucht, die eine wahre, authentische, durch die Natur selbst beglau-bigte Geschichte zu erzãhlen. Diese eine Geschichte — »die« Ge­schichte — hat ein singulares Referenzobjekt: die geschichdiche Men­schenwelt ais ganze. Nun haben Geschichten immer ein singulares Referenzobjekt; wechseln wir es aus, erzãhlen wir eine andere Ge­schichte. Narrative Geschichtsphilosophien, die »aufs Ganze« gehen, kõnnen darum gar nicht anders, ais die geschichdiche Welt durch Totalisierung zu eben diesem singulãren Referenzobjekt zu machen, um dann von ihm die eine, wahre, authentische Geschichte erzãhlen zu kõnnen; so zieht sich das Geschichdiche zu »der« Geschichte zu­sammen, die dann ais der singulãre Gegenstand einer narrativen Grofistruktur erscheint: eben der alies Geschichdiche umfassenden und verstãndlich machenden Geschichte, die der Sozialmythos sein will.

Diese Totalisierung des Geschichdichen zum singulãren Referenz­objekt »die Geschichte« ist es also, die den Úbergang von der narrati­ven Geschichtsphilosophie zum Sozialmythos stiftet. Totalisierung heifit auch, dafi man Anfang und Ende dieses Objekts mit ins Auge fafit, sonst ist es nicht singular. (Was das Ende betrifft, so genúgt auch die Figur »Geschichte ais Vorgeschichte« oder irgend eine utopische

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Perspektive.) Diese Totalisierung folgt nur den methodischen Zwãn-gen des Narrativismus selber, denn verfolgt man das Programm einer erzâhlenden Aufklárung úber die geschichdiche Welt, so mufi man totalisieren; anders gewinnt man nichts Singulares, von dem man er­zãhlen kõnnte. Genau dies aber fuhrt zur Mythisierung der Ge­schichte, d.h. zur Verschlingung von Mythos und Aufklãrung in den narrativen Geschichtsphilosophien. Mythisierung der Geschichte ist Mystifikation der Geschichte, und die ist schon bei Rousseau mit Hãnden zu greifen: wer kann in der Natur selbst lesen, »die niemals lúgt«? Wie kõnnte man in Rousseaus Geschichte unterscheiden zwi­schen dem, was von ihr ist und was von ihm? Offenbar mufi der So-zialmythologe einen privilegierten Zugang zu der wahren, nur in der Natur lesbaren Geschichte voraussetzen, den er sich selbst zuspricht, und damit beginnt schon die Mystifikation. — Richard Wagner hat den wohl bedeutendsten Mythos des 19. Jahrhunderts geschaffen: den Text von Der Ring des Nibelungen. Dieser ais Lõsung des Problems des Musiktheaters konzipierte Kunstmythos wird von ihm auf dem Umweg einer romantischen Kúnsder-Ideologie zur Lõsung aller Rat-sel der sozialen Welt stilisiert und mit Erkenntnisansprúchen ausge-stattet, die auch noch die der Philosophie hinter sich lassen sollen. — Diese quasi-ãsthetische Attitúde des Sehers, der die empirische und historische Wissenschaft ais beschrãnkt verachtet und entschlossen auf die ganze Wahrheit zugeht, bestimmt auch Nietzsches Genecdogie der Moral die eben nicht nur bestimmte Herkunfts-Hypothesen, sondem das ganze «englische Hypothesenwesen«n hinter sich lãfit und »die Richtung zur wirklichen Historie der Moral« anzugeben beansprucht; wir erfahren nicht, wie er sich das erschliefit: »das Urkundliche, das Wirklich-Feststellbare, das Wirklich-Dagewese-ne, kurz die lange, schwer zu entziffernde Hieroglyphenschrift der menschlichen Moral-Vergangenheit«.12 Nietzsche ahmt hier Rousseau nach, und viele haben Nietzsche nachgeahmt; die Verbin-dung von souveràner Wissenschaftsverachtung mit dem Anspruch des unmittelbaren Zuganges zur wirklichen Wahrheit úber die Geschichte kennzeichnet sie alie — ich nenne nur Spengler, Klages und Heidegger. Elemente davon sind auch in der Dialektik der Aufklã­rung zu finden, deren Autoren sich eine diagnostizierende Refle-xions-Kompetenz zuschreiben, úber die sie, wenn ihre Diagnose

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des totalen Verblendungszusammenhanges zutrifft, gar nicht verfu-gen dúrften.

Die modemen Sozialmythen laufen durch ihre narrative Binnen-struktur auf eine Mythisierung der Moderne hinaus. »Die Moderne«, »die Aufklãrung«, »die Vernunft« — solche singulãren Grofiobjekte der «grofien Rahmenerzãhlungen« (Lyotard) sind narrativ erzeugter Schein, der es dann auch nahelegt, dramatisch vom Ende der Moder­ne, der Aufklãrung und der Vernunft zu sprechen. Diese Singulare setzen spekulative Totalisierungen dessen voraus, was in der moder-nen wissenschaftlichen Kultur, sofem sie sich selbst thematisiert, al-lein Thema sein kann: die in vielerlei Weise ausdifterenzierte und nur in einer Vielzahl von Perspektiven fafibare soziale und kulturelle Welt selber. Diese Welt wird mystifiziert, wenn sie zum singulãren Grofi-Referenzobjekt der einen grofien Rahmenerzãhlung stilisiert wird; die Moderne selbst ist ein Plural. Zugleich mússen wir einse-hen, dafi wir nur Geschichtsschreibung und Theorie haben, und nicht dazwischen oder dariiber, was beides zu einer hõheren Einheit oder gar zur Totalitãt des Geschichdichen zusammenschlõsse. Wir kõnnen vieles erzãhlen und manches klãren. Jede Geschichte ist nur eine Geschichte unter anderen mõglichen und sei es von demselben Referenzobjekt. Theorien hingegen mõgen allgemein sein, aber sie betreffèn eben immer nur bestimmte Aspekte, die im Prinzip an un-endlich vielen verschiedenen Einzelobjekten identifizierbar sein kõnnen. Der Sozialmythos ais die grofie Hintergrundserzàhlung ist keine Utopie der Erkenntnis, sondem eine selbsterzeugte Illusion; er ist Gegenaufklàrung und sei er auch in bester aufklãrerischer Absicht konzipiert worden.

I I

Soweit die Dialektik der Aufklãrung narrativ organisiert ist und in der Tradition des Rousseauismus steht, ist sie nicht zu retten; ais Sozial­mythos, der úber die Aufklãrung aufklãren will, bestãtigt sie nur die Aporie: »Wie die Mythen schon Aufklãrung vollziehen, so verstrickt Aufklãrung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie«. Nicht

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das Reflexivwerden der Aufklãrung fuhrt schon zur Ortlosigkeit der aufklãrenden Vernunft 1 3 — Aufklãrung úber die Aufklãrung ist kein logisches Problem — sondem erst, wenn unter narrativistíschen Vor-zeichen »die« Vemunft und »die« Aufklãrung zu singulãren Referenz-objekten einer grofien Erzãhlstruktur stilisiert worden sind, ist die Selbstanwendung tõdlich. Unabhãngig davon kann man mit jenen Ausdrúcken Vielfaltiges mit Familienàhnlichkeiten assoziieren; offe-ne Konzepte erzeugen in der Selbstanwendung keine Antinomien. Ich meine also, dafi auch die faszinierende oder erschreckende Selbstdementierung der Vernunft in der Dialektik der Aufklãrung nar­rativ erzeugter Schein ist; es handelt sich um eine negative Dialektik im Hegelschen Sinne des Wortes, die sich aus der reflexiven Selbst­anwendung eines durch spekulative Totalisierung gewonnenen Kon-zepts notwendig ergibt. Diesen Schritt mússen wir nicht tun; wenn wir »Vemunft« und »Aufklãrung« ais Begriffe mit offenem Anwendungs-bereich verstehen, kõnnen wir sie auch auf sich selbst anwenden, oh­ne dafi dies zu aporetischen Konsequenzen fiihren múfite. Freilich fragt sich dann, was man danach noch ais Dialektik der Aufklãrung soll bezeichnen kõnnen.

Eine Antwort auf diese Frage habe ich schon angedeutet: diese Dialektik mufi theoretisch und darf nicht narrativ verfahren. Dies ist nur mõglich, wenn sie ihren Gegenstãnde durch theoretische Begrif­fe einfuhrt und nicht lãnger durch Eigennamen. »Die Moderne«, »die Aufklàrung«, »die Vernunft« — das gibt es nicht, sondem es gibt man­ches, was sich unter die in bestimmten theoretischen Kontexten kon-zipierten Begriffe »Moderne«, »Aufklãrung« und »Vernunft« sinnvoll subsumieren lãfit. Der Aspektcharakter jeder Theoriebildung ohne spekulativen Selbstabschlufi schliefit die Totalisierung des Gegen-standes aus; keine nichtspekulative Theorie kann beanspruchen, das Ganze ihres Gegenstandsfeldes auszuschõpfen. Damit ist auch die vôllige Koinzidenz des Historischen mit dem Systematischen ausge-schlossen. Hegels Dialektik war sicher, sich im narrativen Kontext der Geschichtsphilosophie bewãhren zu kõnnen, weil sie ais Dialek­tik des Absoluten, ais absolute Dialektik auftrat. In einer solchen Dia­lektik fallen System und Geschichte zusammen; der Weltgeist, von dessen Handeln — und Intrigen — die Philosophie der Weltgeschich-te erzãhlt, ist ja nichts anderes ais die Objektivitãt der absoluten Idee

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selber, und die ist der InbegrifT wahrer logisch-spekulativer Struktu-ren. Die gesamte Tradition des Hegel-Marxismus bis zu Lukács und Sartre kann man ais Abfolge von Versuchen verstehen, das philoso­phische Begreifen der wirklichen Geschichte am Hegelschen IndifTe-renzpunkt des Historischen und Systematischen zu halten und zu si-chern, ohne freilich die Prãmissen des absoluten Idealismus teilen zu wollen. Dies kann nicht gelingen; unter materialistischen Vorzei-chen mufi jene Hegelsche Einheit notwendig in systematisierende Theorie und narrative Geschichte zerfallen.

Daraus folgt, dafi auch eine Dialektik der Aufklãrung, die sich dem mythologisierenden Sog der Erzãhlung zu entziehen trachtet, Theo­rie im nichtspekulativen Sinn des Wortes sein mufi: Strukturtheorie der Aufklãrung. Das narrativ bereitgestellte historische Material, dem wir unsere Informationen úber wirkliche Aufklãrungsprozesse ent-nehmen, ist dabei nicht bedeutungslos, sondem es erfullt die Funk-tion der quasi-empirischen Basis, anhand deren generelle Vermutun-gen struktureller und prozessualer Art úberprúft werden kõnnen. Es ist keine Frage, dafi solches Material selbst immer schon im Lichte bestimmter theoretischer oder Typenbegriffe gewonnen ist; in die­sem Sinne gibt es keine theoriefreie Geschichte. Gleichwohl berech-tigt dies nicht dazu, auf der Darstellungsebene Theorie und Ge­schichte kurzzuschliefien und zu behaupten, die Theorie sei selbst die Darlegung der wahren Geschichte ihres Gegenstandes. In diesem Sinne mufi der Begriff »Aufklãrung« enthistorisiert werden; nur ais Strukturbegriff mit historischer Anwendung kann er in einem aufklà-rerischen Kontext ohne gegenaufklàrerische Konsequenzen vorkom-men. Halten wir uns nicht an diese Einschrànkung, geraten wir wie-der in das narrative Fahrwasser der spekulativen Geschichtsphiloso­phie mit der Folge, dafi dann die Dialektik der Aufklãrung genau den Umschlag von Aufklãrung in Mythos exemplifiziert, den sie einmal erkennen und vermeidbar machen wollte.

Konkret gesprochen: die Dialektik der Aufklãrung mufi den Riick-weg von der Gescbichtsphibsophie zur GeseUschaftstbeorie antreten. Der Preis daflir ist, dafi man nicht lãnger von »der« Aufklãrung im Singu­lar sprechen und hoffen darf, ihr »Wesen« auszuloten; aber dafur ge-winnt man einiges. Mit dem offenen Konzept »Aufklãrung« kann man in verschiedenen historischen und kulturellen Zusammenhãn-

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gen Aufklãrungsphànomene, -potentiale und -bedarfe identifizieren; man kann deren Dynamik vergleichend untersuchen und vielleicht sogar deren Realisierungschancen einschãtzen. Auch historische Re-konstruktionen von Aufklãrungsprozessen sind auf diesem Wege mõglich, d.h. der theoretische Begriff »Aufklárung« vermag auch nar­rative Darstellungen anzuleiten. Dasselbe gilt fur den Terminus »Mo-derne«; hàtte man dies immer beachtet, dann hãtten wir uns den grõfiten Teil der Postmoderne-Debatte schenken kõnnen. Die Rede vom Ende der Aufklãrung und der Moderne ergibt dann keinen rech-ten Sinn mehr: Wie will man ein fur allemal kúnftige Aufklãrungs-und Modernisierungsschube ausschliefien wollen?

Gegenúber der Diakktik der Aufklãrung sind dies keine leeren For-derungen; sie sind von ihr implizit schon erfullt. Ihr leitender, von Max Weber endehnter Aufklãrungsbegriff gehõrt in den Kontext ei­ner theoretischen oder zumindest idealtypischen Auffassung von Modernisierung ais Rationalisierung, die die Autoren des Buches Dialektik der Aufklãrung in der abendlàndischen Zivilisation dialek-tisch vor sich gehen sehen: es kann gar nicht fraglich sein, daí? so et­was sich auch anderswo unter ãhnlichen Bedingungen ãhnlich voll-ziehen kõnnte. Gleichgultig, ob man die Webersche »Entzauberung« und »Rationalisierung« ais theoretische Begriffe oder historische Idealtypen versteht oder nicht — auf keinen Fali sind dies singulàre Termini, und daním mússen wir Horkheimers und Adornos Kon-zept »Aufklãrung« auch nicht so verstehen, obwohl sie dieses Ver-stãndnis hãufig genug nahelegen und an solchen Stellen in den my­thologisierenden Narrationsstil verfallen. Dies gilt auch fur die Ele­mente der Autonomisierung des Subjekts und der Naturbeherr-schung, mit denen sie das Webersche Rationalisierungsmodell anrei-chern. Ich behaupte, dal? das systematische Mií?verstándnis jener Ausdriicke ais singulárer Termini auch ein Grund fur die von Júrgen Habermas zu Recht kritisierte Nivellierung der Komplexitãt und des vernúnftigen Gehaltes der kulturellen Moderne ist, die die Dialektik der Aufklãrungkennzeichnet14; sie ist auch eine Folge ihrer begriffli-chen Monotonie. Auch historisch fállt so vieles unter den Tisch: »Einheit bleibt die Losung von Parmenides bis auf Russell. Beharrt wird auf der Zerstõrung von Gõttern und Qualitáten«.1 5 Man kann nicht bestreiten, daí? dieser Satz einen Aspekt von Rationalisierung

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genau trifft; ais pars pro toto genommen ist er schlicht falsch. Weder beriicksichtigt er die Tatsache, daí? die antike Naturwissenschaft ais bildende und nicht technikerzeugende in der von Bacon aus zuriick-projizierten Vorgeschichte des modernen Positivismus nicht vor-kommt — es trifft einfach nicht zu, daí? seit Parmenides alies auf Rus­sell zulàuft (diese Formei erinnert an Poppers »von der Amõbe bis Einstein«) — noch erkennt er an, daí? in modernen Kulturen die Er-fahrung der Gõtter und Qualitáten an andere Kulturbereiche verwie-sen wird ais an den wissenschaftlichen: alies von einem und demsel-ben kulturellen Sektor zu erwarten, ist gerade prãmodern. Man kann also nicht bestreiten, daí? die Geschichte der Wissenschaft und Tech-nik ungefáhr so verlaufen ist, wie Horkheimer und Adorno sie be-schreiben — von den Gõttern úber die Wesenheiten, die blof?en Be­griffe hin zu den reinen Zahlen und Formeln — aber dies ist nicht die Geschichte der Aufklãrung insgesamt. Vielmehr hat die Formalisie-rung und Technisierung des wissenschaftlichen Umgangs mit der Natur gerade andere, alternative Umgangsformen allererst freige-setzt. So bleibt ais rationaler Kern der Formei »Einheit bleibt die Lo­sung von Parmenides bis Einstein« nur der besorgte Hinweis auf die Tendenz einer Dominierung aller Kulturbereiche durch den Ratio-nalitãtstypus, der den technisch-wissenschaftlichen Bereich be-stimmt, und die Macht dieser Tendenz ist nicht zu úberschãtzen. Trotzdem formuliert man sie besser in gesellschaftstheoretischer ais in historisch-narrativer Weise — etwa in Analogje zur »Kolonialisie-rung der Lebenswelt« — und dann erscheint die rationalisierende Ver-einheitlichung von aliem und jedem ais ein Prozeí?, der unter identi-fizierbaren Bedingungen steht und nicht ais unser unausweichliches Kulturschicksal.

Das Wort »Dialektik« ist doppeldeutig. Bei Kant und Hegel be-zeichnet es zugleich eine »Antithetik«, d.h. einen widersprúchlichen Prozeí? in der Sache selbst, und die Theorie dieser Antithetik: ihre Logik oder ihre logische Rekonstruktion. Auch die Dialektik derAuf-klãrungverwenáet das Wort so; auch sie will die antinomische Dyna­mik der Aufklãrung selbst prãsentieren — insofern ist die Dialektik der Aufklãrung ihr Thema — und gleichzeitig versteht sie sich ais de­ren Theorie. Horkheimer und Adorno pflegten dies ais die Einheit von Methode und Sache zu bezeichnen und zu vertreten. Diese Ein-

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heit aber hat sich nach Hegel lángst ais eine hehre Illusion herausge-stellt; von der Dialektik ais der »Ontologie des falschen Zustandes«1 6

zu sprechen, ist entweder das Ergebnis der Ontologisierung logischer Figuren, die sich nur unter absolut-idealistischen Prâmissen rechtfer-tigen lãfit, oder eine logische Metapher. Die »Widersprúche« in der »Sache selbst«, von denen Adorno zu sprechen pflegte, sind keine lo-gischen Phánomene, sondem Antagonismen, Ambivalenzen, Selbst-zerstõrungstendenzen, Aporien etc, die sich aus dem intemen Zu-sammenhang von Aufklãrung und Gegenaufklârung unter bestimm­ten Prâmissen und Rahmenbedingungen ergeben. Horkheimer und Adorno bestanden stets darauf, dafi diese Prâmissen und Rahmenbe­dingungen kontingent sind, d.h. im Prinzip ganz anders sein kõnn-ten. Darum exemplifizieren jene »Widerspriiche« der Aufklãrung kei­ne hõhere oder gar absolute Logik; sie sind nicht notwendig in einem logischen oder gar metaphysischen Sinne, sondem sie ergeben sich notwendig nur unter genau angebbaren historischen und sozialen Voraussetzungen. So ist die Aufklãrung nur in einem úbertragenen Sinne dialektisch; darum sollte man unter Dialektik der Aufklãrung auch nicht einen objektiven Prozefi verstehen, der nach logischen Gesetzen ablãuft, sondem ausschliefilich die dialektische Theorie, die die »widerspriichliche« Struktur und Dynamik des intemen Zu-sammenhanges von Aufklãrung und Gegenaufklârung aus ihren hi­storischen und sozialen Bedingungen rekonstruiert. Eine objektive Dialektik der Aufklãrung ist immer das Ergebnis einer Rekonstruk-tion und nichts einfach Vorfindbares, von dem man umstandslos er­zãhlen kõnnte; selbst Erzãhlungen sind schon Rekonstruktionen, wie uns die analytische Geschichtsphilosophie gezeigt hat. Ohne diese erkenntnistheoretische Erinnerung verfállt auch die Theorie, die sich Dialektik der Aufklãrung nennt, der Rousseauschen Mythisierung der Geschichte — so ais kõnnten wir sie »in der Natur selbst« lesen, ohne sie zuvor in sie hineingeschrieben zu haben.

Ansãtze fur eine in diesem Sinne dialektische Theorie der Aufklã­rung enthàlt das Buch Dialektik der Aufklãrung in reichem Mafie; auf sie griindet sich seine unverminderte Aktualitãt, und dies in einer Si-tuation, in der sich die Aufklãrung zu Tode gesiegt zu haben scheint: ». . . die vollends aufgeklãrte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils«. 1 7 So scheint fur viele Zeitgenossen das Heil in der Gegen-

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aufklãrung zu liegen. Eine dialektische Aufklãrungstheorie wird sich, angeleitet von Horkheimer und Adorno, auf eine solche schlichte Al-ternative nicht fesdegen lassen; dazu besteht auch kein Anlafi, denn heute tritt die Gegenaufklârung in der Regei ais Aufklãrung úber die Aufklãrung auf: wer noch ungebrochen an ihrem Programm festhãlt, gilt ais naiv und borniert, d.h. ais unaufgeklãrt. Darum hãtte die Dia­lektik der Aufklãrung heute zunàchst einmal das Phànomen zu erklã­ren, dafi sich »unsere« Gegenaufklârung ais letzter Schrei der Aufklã­rung selbst kostúmiert; sie múfite die Frage beantworten, unter wel-chen Bedingungen das Reflexivwerden der Aufklãrung Gegenaufklâ­rung produziert, und unter welchen Bedingungen das nicht der Fali ist. Handelt es sich hier nur um eine Frage der subjektiven Intentio-nen der jeweiligen Theoretiker? Von Horkheimer und Adorno wird immer wieder gesagt, sie hàtten im Unterschied zu anderen Aufklà-rungskritikern an den Zielen der Aufklãrung festgehalten; aber ge­núgt dies wirklich, um zu verhindern, dafi ihre Analysen ais Wasser auf die postmodernen Múhlen der Gegenaufklârung geleitet werden? Entscheiden lãfit sich dies nur, wenn man sich die Einzeltheoreme ihrer Dialektik der Aufklãrung genauer ansieht, denn sie zeigen selbst, dafi der Umschlag von Aufklãrung in Gegenaufklârung sich nur unter angebbaren Bedingungen vollzieht und nicht schlechthin oder an sich. Darum besteht auch kein Grund zum Fatalismus oder zur dialektischen Selbstaufhebung der Aufklàrungskritik, so pessimi-stisch man auch deren Chancen einschàtzen mag. Das Ende der Auf­klãrung in ihrem Reflexivwerden ist kein Fatum; ja es ist nicht einmal ein Faktum, das unabhãngig von bestimmten Annahmen und Pro-gnosen schlechthin gesichert wãre, sondem es ist nur der Gegenstand einer Befúrchtung, die uns allerdings hõchst triftige Analysen und Diagnosen des Zustandes unserer Kultur dringend nahelegen.

Belegen mõchte ich dies anhand einer zentralen Figur der Dialek­tik Horkheimers und Adornos selber. Sie verknúpft Aufklãrung und Mythos, Vernunft und Herrschaft, Emanzipation und Selbstverskla-vung, Fortschritt und Regression in der Form von Behauptungen, dafi das eine das andere nicht nur provoziere oder erzeuge, sondem dafi jedes sein eigenes Anderes sei. Diese coincidentia oppositorum be­steht aber nicht an sich, sondem die Dialektik der Aufklãrung macht sehr deudich, dafi sie unter identifizierbaren Bedingungen steht, die

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letztlich kontingent sind und prinzipiell Alternativen offenlassen, mógen wir sie auch im Gattungsmafistab aus empirisch-historischen Griinden verfehlen. Nicht die Vernunft selbst ist das Prinzip von Herrschaft, sondem sofem sie Instmment der Naturbeherrschung ist, ist sie dies; niemand kann behaupten — und die Autoren der Dia­lektik der Aufklãrung weisen dies selbst ausdriicklich zuriick 1 8 — die Vemunft sei nichts anderes und nicht auch »Eingedenken«, reflexives Innesein ihres Zusammenhanges mit der Geschichte der Menschen-gattung ais Geschichte des »Stoffwechsels« mit der Natur. Lãfit man jene einschrãnkende Bedingung weg, wird solche Selbstreflexion der naturbeherrschenden Vemunft zu einem reinen Wunder, das sich aus der Logik der Naturbeherrschung nicht erklãren lãfit. Ãhnliches gilt fur die These, dafi sich die Konstitution von Subjektivitàt in die­sem Prozefi immer zugleich ais Selbstverlust des sich konstituieren-den Subjekts herausstelle; hier folgen Horkheimer und Adorno der Hegelschen Entfremdungsfigur, derzufolge die durch die Herrschaft bedingte Entffemdung vom Objekt der Herrschaft notwendig in Selbstentfremdung úbergehe, weil das Subjekt nur durch Selbstbe-herrschung der Herrschaft úber die Natur mãchtig sei. Nicht unter al-len Bedingungen bedeutet die Selbstkonstitution des Subjekts dessen Selbstverlust, sondem nur so lange, wie sie im Zeichen eines forma-len oder abstrakten Modells von Selbsterhaltung steht; genau dies, und nicht Selbsterhaltung schlechthin, fuhrt zur Selbsterhaltung oh­ne Selbst. Insofem dieses Modell mit einem Freiheitskonzept ver-knúpft ist, das Souverànitãt meint und nichts sonst, ist der Úbergang von Emanzipation in Selbstfesselung wohl unvermeidlich, aber ge­nau dieses Freiheitskonzept ist es nicht; wir sind auch der Hegelschen Idee der Freiheit ais »Beisichsein im Anderssein« mãchtig, mag auch unsere Geschichte von der Besessenheit durch das Souverãnitãtsideal bestimmt sein. Wieder gilt: der antinomische Zusammenhang von Selbstbefreiung und Selbstversklavung ist nicht schon mit dem blo-fien Gedanken der Freiheit gesetzt, sondem er ergibt sich, wenn ein bestimmtes Modell von Freiheit unter angebbaren historischen Be­dingungen zum Signum einer ganzen Kultur wird. Was den orthodo-xen Frankfurtem ais Entschãrfung, ja Verharmlosung der Dialektik der Aufklãrung erscheinen mag, ist nichts anderes ais die Hypotheti-sierung ihrer starken geschichtsphilosophischen, d.h. narrativen Be-

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hauptungen, wodurch sie úberhaupt erst gesellschaftstheoretisch dis-kutierbar und úberprúfbar werden. Die Alternative zu solchen »Wenn . . . dann . . .«-Strukturen ist die grofie Erzãhlung, die nur wahr oder falsch sein kann, von der man aber nicht weifi, was sie ef-fektiv wahr macht. Der Abschied vom Narrativismus ist der Preis fur die Rúckkehr der Dialektik der Aufklãrung von der spekulativen Ge­schichtsphilosophie zur Gesellschaftstheorie; nur die gesellschafts-theoretischen Elemente des Dialektik der Aufklãrung genannten Bu­ches sind aktuell, nicht ihre narrativen, die es zum Exempel eines modernen Úberganges von Aufklãrung in Mythologie werden lassen.

Weitere Modelle einer solchen gesellschaftstheoretischen Dialek­tik, die sich bei Horkheimer und Adorno finden lassen, seien hier zu-mindest genannt: der Zusammenhang von Individualisierung und Identitãtsverlust der Menschen in der kulturindustriellen Massenge-sellschaft; die (heute besonders aktuelle) Selbstverkehrung der Auf­klãrung in Massenbetrug; die Remythisierung sozialer Verhãltnisse unter dem Faszinosum der blofien Macht; »die Absurditãt des Zu-standes, in dem die Gewalt des Systems úber die Menschen mit je­dem Schritt wãchst, der sie aus der Gewalt der Natur herausfuhrt«20 — um Horkheimer und Adorno noch einmal selbst zu zitieren. Die Ak­tualitàt dieser Modelle, denen man noch viele hinzufúgen kõnnte, kann gar nicht bestritten werden; sie zu entwickeln und mit Inhalt zu fullen, bleibt eine lohnende Aufgabe, die mein Vortrag nicht erfullen kann. Lassen Sie mich mit dem Hinweis schliefien, dafi die so aktuali-sierte Dialektik der Aufklãrung nur ais negative Dialektik im Sinne Adornos mõglich ist. An anderer Stelle habe ich darzulegen versucht, dafi sich Adornos Dialektikkonzept von dem Hegels, Lukács' und Sartres vor aliem dadurch unterscheidet, dafi es von dem Gesichts-punkt der Totalitãt keinen konstitutiven, sondem einen kritischen Gebrauch macht 2 1 ; im úbrigen bedeutet Adornos Negative Dialektik gegenúber der Dialektik der Aufklãrung einen philosophisch-metho-dologischen Neuanfang und nicht blofi das Zuendedenken der Apo-rien des Nullpunkts, auf dem sich Horkheimer und Adorno einmal dialektisch festreflektiert hatten.2 2 Die Totalitãt des Verblendungszu-sammenhanges nicht ontologisch wie Heidegger, sondem kritisch zu verstehen setzt voraus, dafi man sie ais etwas prinzipiell Kontingentes und Historisches auffafit, und dieses Verstãndnis schliefit eine her-

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metische Systemdialektik aus, die auch noch den Dialektiker in sich einbegreift. Ais reflektierte Theoretiker der reflexiv gewordenen Auf­klãrung sind wir úber deren Strukturlogik immer schon hinaus. Ge-nau diese irreduzible Distanz zum Gegenstand, die die Dialektik der Aufklãrung nur beansprucht, versucht die Negative Dialektik Adornos zu begrúnden; dies geschieht durch eine Reformulierung von Dialek­tik ais kritischer Hermeneutik des Individuellen, in deren Vollzug sãmdiche totalisierenden Selbstabschlússe der Theorie immer wieder gesprengt werden mússen. Solche kritische Hermeneutik der Aufklã-rungsphànomene wãre mit der gesellschaftstheoretischen Theoriebil-dung endlich zusammenzufuhren; eine in diesem Sinne philoso-phisch angeleitete Gesellschaftstheorie kõnnte dann bestãtigen, was hier nur eine These sein kõnnte: dafi nàmlich die Dialektik der Auf­klãrung nur ais negative aktuell ist.

Anmerkungen

1 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklãrung (im folgenden: DA), Am­sterdam 1947; jetzt in: Max Horkheimer, Gesammelte Schrifien, Band 5, Frankfurt 1987, 21 und 34

2 Vgl. Júrgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt 1985, V. Die Verschlingung von Aufklãrung und Moderne: Horkheimer und Moderne, 130 ff.

3 Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie I , Reinbek 1980, 26 4 DA, 35 5 Karl Marx, Die Fruhschriften (ed. S. Landshut), Stuttgart 1953, 525 6 Schon Kants »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbúrgerlicher

Absicht« exponiert dieses Problem: vgl. Werke (ed. W. Weischedel) VI, Darmstadt 1964, 33 f.

7 Jean-Jacques Rousseau, Schrifien zur Kulturkritik (ed. K. Weigand), 2. Aufl. Hamburg 1971, 189

8 Ebd., 209 9 Vgl. dazu meine Abhandlung »Etwas Verstehen heifit Verstehen, wie es

geworden ist — Variationen iiber eine hermeneutische Maxime«, in: Her­bert Schnãdelbach, Vernunft und Geschichte. Vortrãge und Abhandlungen, Frankfurt 1987, 125 ff.

10 Rousseau [wie Anm. 7], 81

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11 Friedrich Nietzsche, Sãmtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bãn-den, Band 5, Munchen 1980, 254

12 Ebd. 13 Vgl. Habermas [wie Anm. 2], 141 14 Vgl. ebd., 137 f. 15 DA, 30 16 TheodorW. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt 1966,20; zum folgen­

den vgl. auch meine Abhandlung »Dialektik ais Vernunftkritik. Zur Kon-struktion des Rationalen bei Adorno«, in: H.S. [wie Anm. 9], 179 ff.

17 DA, 25 18 Vgl. ebd., 62 ff. 19 »Im Augenblick ihrer Vollendung ist die Vernunft irrational und dumm

geworden. Das Thema dieser Zeit ist Selbsterhaltung, wàhrend es gar kein Selbst zu erhalten gibt« (Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt 1967, 124). In «Vernunft und Selbsterhaltung« heifit es: » . . . der Selbsterhaltung entschwindet ihr Subjekt« (Horkheimer, Ge­sammelte Schrifien 5 [wie Anm. 1], 335)

20 DA, 62 21 Vgl. H.S., «Sartre und die Frankfurter Schule«, in: Traugott Kõnig (Hg.),

Sartre. Ein Kongrefi, Reinbek 1988, 13 ff. 22 Vgl. Anke Thyen, «Negative Dialektik und Erfahrung. Zur Rationalitãt

des Nichtidentischen bei Adorno«, Hamburg (Diss.) 1987

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28 Vgl. z.B. J. Barth, »The Literature of Replenishment. Postmodern Fic-tion«, in: The Adantic 245/1980, 65-71

29 Vgl. meinem am Beispiel der »Korrektur« von Thomas Bernhard orien-tierten Versuch: M.S., »Úber einige Beziehungen der Vernunft zum Hu­mor*, in: Akzente 33/1986,420-432. - Ein anderes Meisterstúck gegen-wãrtigen âsthetischen Humors ist Robert Coovers Roman Gerald's Party, New York 1985.

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G U N Z E L I N S C H M I D N O E R R

Unterirdische Geschichte und Gegenwart in der

Dialektik der Aufklãrung1

Die geschichtsphilosophischen Grundlagen der Kritischen Theorie gelten ais briichig. Soweit dies ihre íruhere Gestalt betriffi, wie sie in den Aufsãtzen dei• Zeitschrift fur Sozialforschung reprásentíert ist, ha­ben bereits Horkheimer und Adorno selbst indirekt, aber entschei-dend zu dieser Einschàtzung beigetragen. In der Dialektik der Aufklã-rung findet sich eine Aufzeichnung, die der >Kritik der Geschichtsphi-Iosophie< gewidmet ist. Gemeint ist dabei der Hauptstrom europã-ischen Geschichtsdenkens, vom Christentum úber den Idealismus bis zum Materialismus von Marx und Engels. Die Kritik daran lãfit sich aber auch noch ais Selbstkritik an jener írúheren Gestalt der Kri­tischen Theorie verstehen, die mit der Marxschen Theorie die Grundannahme einer objektiven Fortschrittsdialektik von Produktiv-kràften und Produktionsverhàltnissen teilte.

Das Argument der Dialektik der Aufklãrung gegenúber solcher Ge­schichtsphilosophie ist ein zweifaches: Diese verfehle sowohl den wirklichen Gang der Geschichte ais auch diejenigen Kràfte, die die­sem Zwangszusammenhang Widerstand entgegenzusetzen scheinen. Diese Kràfte, etwa die Ideen der Freiheit und der Gerechtigkeit, er-weisen sich, so die Autoren, vor dem Hintergrund einer Geschichte der fortschreitenden Naturbeherrschung ais allzu peripher: Kultur dient vorwiegend der Einúbung in die Arbeitsteilung zwischen geisti-ger und kõrperlicher Arbeit und damit dem Úberlebenskampf der Gattung, den diese zuletzt, nachdem die Natur nahezu resdos unter-worfen ist, gegen sich selbst ausficht. Die Geschichtsphilosophien

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unterstellten jedoch, in einer Mischung aus Wunschdenken und An-passung an das Prinzip der Macht, dafi jene Kràfte den Fortgang der Geschichte selbst bestimmen und zuletzt in ihr auch triumphieren. Sie deuten das ohnmãchtige Gute ais reale Macht und objektives Gesetz.

Dabei entgeht Horkheimer und Adorno nicht, dafi auch sie selbst eine Geschichtsphilosophie entwerfen, die mit der úberkommenen mindestens ein entscheidendes Merkmal gemeinsam hat: Auch sie konzipieren die Geschichte ais einheidiche und zielgerichtete Welt-geschichte, die mit einer einheidichen Theorie korrelieren soll. Aber im Unterschied zu Hegel und Marx sehen sie das Gesetz der Ge­schichte selbst ais »das Grauen«2 an. Die «philosophische Konstruk-tion der Weltgeschichte«3 hat diese in einem verhángnisvollen Kon-tinuum mit der Naturgeschichte des Fressens und Gefressen-Wer-dens aufzuzeigen. Die negativ-teleologische Geschichtsphilosophie der Dialektik der Aujklârung ist also insofern antirationalistisch und antiuniversalistisch, ais sie das vernúnftig Einsehbare in der Geschich­te nicht mit der Vernunft selbst identífiziert: Was ais Allgemeines und Mãchtiges die Geschichte bestímmt, kann eben deshalb nicht das Vernunftige oder Gute sein. 4 Dieses liegt demgegenúber allenfalls im Individuellen, das schwach und vergãnglich ist, im geschichtlich Unwahrscheinlichen, in der unerwarteten Respekdosigkeit gegen-úber den objektiven Bewegungsgesetzen der Geschichte. Auch diese Vernunft hat natiirliche Quellen: »die unendliche Geduld, [den] nie erlõschendefn] Trieb der Kreatur nach Ausdruck und Licht«.5

Aber sie bleibt ephemer und ohne Rúckhalt in einem objektiven Bewegungsgesetz: »Das erste Aufleuchten von Vernunft, das in sol-chem Trieb sich meldet und im erinnernden Denken des Menschen widerscheint, trifft auch am glúcklichsten Tage seinen unaufhebba-ren Widerspruch: das Verhàngnis, das Vernunft allein nicht wenden kann«.6

Vernunft im emphatischen Sinn erweist sich in der Geschichte ais ohnmãchtig. Mit dieser Grundthese wendet sich die Kritische Theo­rie gegen die neuzeidichen Entwúrfe geschichtlich notwendigen Fortschritts, deren Scheitern sie aufzuzeigen sucht, ohne doch den emanzipatorischen Impuls der Fortschrittsidee, Freiheit, Autono-mie, Gerechtigkeit, preiszugeben. Die dialektische Kritik daran liefie

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' ! ch , Adornos Diktum zur Metaphysikkritik variierend, charakteri-lieren ais »solidarisch mit Geschichtsphilosophie im Augenblick Ihres Sturzes«.7 Wie diese hãlt sie an der Mõglichkeit einer Deutung der geschichtlichen Totalitãt fest, aber ais negativer. Damit unter-icheidet sie sich, auch ais Verfallsgeschichte, strukturell von denje-nigen postmodernen Geschichtstheorien, welche »die« Geschichte xunehmend in diskontinuierliche, raum-zeitlich oder systemtheo-•Jfetisch zu lokalisierende Elemente aufzulõsen sucht. U m diese Mittelstellung der Kritischen Theorie zwischen neuzeitlicher und liachneuzeitíicher Geschichtsauffassung zu bezeichnen, fuhrt Carl-Friedrich Geyer den Begriff einer «Inversion der Geschichtsphilo-$ophie« ein. Dieser zufolge ist Geschichtsphilosophie »nicht mehr weiterhin konstitutioneller Rahmen, die fortschreitende Verwirk-lichung menschlicher Freiheiten (durch die Geschichte) zu themati-lieren, sondem umgekehrt der Ort der Erkenntnis der Unmõglich-kcit derartigen Progresses; [...] an die Stelle der Fortschrittstheoreme [treten] solche vom >Ende der Geschichte<.«8

Im folgenden mõchte ich die Struktur dieser geschichtsbezogenen Reflexion nãher umreifien und ihre Legitimitãt uberprufen. Im er­sten Abschnitt zeige ich, dafi die «Inversion der Geschichtsphiloso­phie* der Erfahrung der modernen Barbarei in der Mitte des 20. Jahr-hunderts nicht nur im Sinne eines ãufieren Anstofies geschuldet ist, sondem dafi dieser Ausgangspunkt einer Gegenwartsdiagnose Me-thode und Gegenstand der Erkenntnis bis in ihr Innerstes hinein be­stimmen. Die negative Geschichtsphilosophie — darum geht es im zweiten Abschnitt — schliefit kritisch an das Marxsche Verfahren an, das durch die Metapher »die Anatomie des Menschen ist ein Schlús-sel zur Anatomie des Affen« gekennzeichnet ist. Freilich kann sie sich, wie abschliefiend im dritten Abschnitt gezeigt werden soll, nicht aus gewissen, dem Verfahren anhaftenden Aporien befreien. Deren Gmndform ist, dafi die geschichtsphilosophische Absage an den »Fortschritt im Bewufitsein der Freiheit« (Hegel) sich in eben die­ser Desillusionierung ais Stufe eines solchen Fortschritts behaupten mufi. U m nicht hinter den Erkenntnisgewinn der Dialektik der Auf-Wãir««^zuruckzufallen und doch diese Aporie zu vermeiden, scheint es notwendig zu sein, die Horkheimer-Adornosche Geschichte des »Grauens« in ihrem substantialistischen, geschichtsphilosophischen

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Geltungsanspruch zu kritisieren und auf ein heuristisches Prinzip herunterzuschrauben.

1. Das Prisma des Faschismus

Versucht man, den Gegenstandsbereich der Dialektik der Aufklãrung genauer zu umgrenzen, dann sieht man sich alsbald damit kon-frontiert, dafi vertraute Grenzziehungen durch sie selbst in Frage gestellt werden. Natur und Geist, Geist und Gesellschaft, Gesell-schaft und Geschichte verlieren ihre eindeutigen Konturen gegen-einander und scheinen sich zu verflússigen. Die Quellen der Inter-pretationen sind primar Zeugnisse der europàischen Geistesge-schichte: Homers Odyssee, de Sades Romane, Kants und Nietzsches Philosophie. Aber es geht, wie die Kapitel úber das Verhãltnis von Mythos und Vernunft, úber Kulturindustrie und úber Antise-mitismus zeigen, nicht allein um Geistes-, sondem um Sozialge-schichte, um den Prozefi der europàischen Zivilisation, ja der Zivi­lisation ais Verhãltnis von Gesellschaft und Natur úberhaupt. Je­doch befriedigt auch eine solcherart weit gefafite Bestimmung nicht; sie liefie die Analysen der Dialektik der Aufklãrung nur noch ais nahezu zufállige Aperçus erscheinen. Es geht nicht um materiale Beitrãge zu einer Geschichte der Zivilisation in ihren ge-sellschaftlichen, d.h. õkonomischen, psychischen, institutionellen und geistigen Bereichen, auch nicht um ein allgemeines Bewe-gungsgesetz der Geschichte, sondem um den Mechanismus der Verflechtung von Naturbeherrschung und Naturverfallenheit am Schnittpunkt von subjektiver Vemunft und gesellschaftlicher Ra­tionalisierung.

Dieser Mechanismus wird der Analyse des gegenwãrtigen Zeital-ters zugmndegelegt. Dafi die historischen Darstellungen primar auf das Begreifen der Gegenwart ausgerichtet sind, macht schon der for-male Umstand deutíich, dafi die beiden historischen Kapitel úber die Odyssee und úber de Sade zu Exkursen herabgesetzt sind. Die Exkurse blicken zurúck auf zwei entscheidende Schwellen der Entwicklung im Verhãltnis von Aufklãrung und Herrschaft im homerischen Grie-

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chenland und im Mitteleuropa des 18. Jahrhunderts. Sie sollen die Vorgeschichte der Pathologie der Gegenwart erhellen, wie sie im Syndrom des Faschismus zum Ausdruck kommt. Umgekehrt wird so gezeigt, dafi der Faschismus nicht nur aus spezifischen Entwicklungs-problemen des Kapitalismus resultiert, sondem in seinen Quellen bis in den Urbestand der abendlãndischen Zivilisation zurúckreicht. Ge­schichte und Gegenwart bilden ein eigentúmliches wechselseitiges Verweisungsverhàltnis.

Der Faschismus ais hochzivilisierter Rúckfall in die Barbarei ist also nicht allein der geschichtlich-situative Hintergrund der Kriti­schen Theorie, vielmehr liefert er die entscheidende Bestimmung ihrer Fragestellungen. Die Dialektik der Aufklãrung ist die Suche nach der »faschistischen« Tiefenstruktur der Gattungsgeschichte. Der staatlich organisierte Schrecken, die Eliminiemng zivilisatorisch er-rungener, individueller Freiheitsrechte war nicht ais einmaliger Be-triebsunfall der abendlãndischen Geschichte hinwegzuerklàren, aber auch nicht bruchlos in diese einzuordnen und so gleichsam noch theoretisch zu normalisieren. In der Sicht der Kritischen Theorie stellte er vielmehr einen Kulminationspunkt in den geschichdichen Linien der Rationalitãt und des Schreckens dar, von dem aus auch andere Schwellen der abendlãndischen Zivilisationsgeschichte in einem neuen Licht erschienen.9 Eine Vergeschichdichung des zeit-genõssisch-gegenwãrtigen Schreckens mufite, wenn sie nicht zur Verharmlosung geraten sollte, zugleich eine Vergegenwàrtigung der Geschichte der Rationalitãt ais einer Geschichte des Schreckens dar-stellen.

Die Dialektik der Aufklãrung stellt somit den Entwurf zu einer Ge­schichte der Herrschaft unter der Perspektive der kulturellen Selbst-zerstõrung dar. In diesem Prozefi schreiben Horkheimer und Ador­no der zivilisatorischen Formung des Kõrpers eine entscheidende Rolle zu. Diese ist immer auch Deformation, Unterdrúckung, Ver-leugnung und ais solche der irrationale »Kem aller zivilisatorischen Rationalitãt«.10 Ich mõchte an dieser zentralen These erlãutem, in-wiefem der Faschismus ais eine Art Prisma dient, durch das die Ge­schichte der Vemunft in ihre Anteile zerlegt wird und so den Blick auf die hinter der ofBziellen Geschichte verborgene »unterirdische Geschichte«n freigibt.

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Das Bild des Kõrpers ist im Faschismus durch eine ausgeprãgte Hafiliebe gefárbt.1 2 Der Kõrper wird einerseits aufgewertet und von iiberkommenen zivilisatorischen Anspruchen freigesetzt, anderer­seits aber erfolgt diese Aufwertung streng im Dienst der Machtsteige-rung zentralistíscher Instanzen wie Staat oder Partei, denen gegen-úber der individuelle Kõrper in seinem Eigen-Sinn zur Bedeutungs-losigkeit herabgesetzt wird. Die Vereinzelung findet ihre schlechte Aufhebung in der imaginierten Verschmelzung mit anderen Ver-einzelten. Der Kõrper zãhlt allein ais Kõrper in der Masse und fur die Masse. Die Autoren beziehen sich des õfteren auf die national-sozialistische Propagierung der Kõrperlichkeit unter rassisch-erb-biologischer, bevõlkerungspolitischer Zielsetzung, die mit der Auf­hebung bestimmter Tabus gegenúber der sexuellen Privatsphãre einherging («Kraft durch Freude«, «Lebensborn e.V.« u.a.): »Die deutschen Neuheiden und Verwalter der Kriegsstimmung wollen die Lust wieder freigeben. Da sie aber im Ausdruck der Jahrtausende sich hassen gelernt hatte, bleibt sie in der totalitãren Emanzipation durch Selbstverachtung gemein und verstummelt«.1 3 Hinter der Lobpreisung der starken und schõnen Kõrper im Dienst der lebens-verachtenden Macht steht der Hafi auf die erfullte Geschlechdich-keit, den Eros, um den der Kõrper sich insgeheim geprellt weifi. Dieser Hafi bestimmt die faschistische Propaganda und Praxis. Die Herrschenden bedienen sich der Feindschaft der Beherrschten ge-gen das Leben, in der die unbewufite Sehnsucht nach dem nicht reduzierten Kõrper verborgen ist. Diese kann sich jedoch mit dem Objekt ihrer Begierde nur paranoisch und destruktiv in Beziehung setzen.

Der Faschismus ist eine terroristische Antwort auf die Krise des li-beralen Konkurrenzkapitalismus, auf den Zerfall traditionaler Le-bensformen unter dem Druck von Industrialisierung und Anpas-sung an monopolistische Formen der Produktion. Insofern ist er mit ãlteren, vorkapitalistischen Formen unmittelbarer Machtaus-úbung keineswegs gleichzusetzen. Aber er greift doch zur Durchset-zung seiner Ziele auf Formen und Mechanismen zurúck, die sich nicht aus der õkonomischen Notwendigkeit allein ableiten lassen, sondem in tíeferen Schichten des zivilisatorischen Gefuges wurzeln. Er stellt nicht nur propagandistisch úberlegene Kórperkraft zur

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Schau, sondem reduziert auch administrativ die von ihm Verfolgten auf unterlegene Kõrper. Auf allen Stufen der sozialen Kontrolle bedarf er der Schergen und ihrer entstellten Leidenschaften. Er macht sich ein Potential von Grausamkeit und Zerstõrung zunutze, das, erzeugt durch die von der Kultur auferlegten Versagungen, schon vor der eigendich totalitãren Verwaltung làngst bereitsteht. Er lãfit nur offen zutage treten, was der Zivilisation seit je eigen war: die systematische Entstellung der Instinkte und Leidenschaften. Die Hafiliebe zum Kõrper ist die verdrãngte Rebellion gegen dessen Ver-põnung.

In der Anatomie des Faschismus liegt ein Schlússel fur die Anato­mie des abendlãndischen Geistes. Dabei geht es nicht nur um die in der Geschichte dem Kõrper auferlegten Leistungen der Arbeit und des Konformismus, sondem um die kulturellen Formen, in denen diese Anspriiche durchgesetzt werden, um den Machtkern des Geisti-gen. Im Rahmen einer solchen Phãnomenologie der Verdinglichung hat auch die Kritik am identifizierenden Begriff, dieser sublimsten und zugleich alltãglichsten Gestalt der instrumentellen Vernunft, ih-ren Ort. Der identifizierende Begriff, der das je Besondere der sinnli-chen Vielfalt unter allgemeine Schemata subsumiert, ist das Grund-muster der Verdinglichung sowohl der Natur ais auch der sozialen Welt. In der faschistischen Maschinerie kommt es am brutalsten zur Geltung — nicht zufallig finden sich zentrale Abschnitte der Zivilisa-tionstheorie der Dialektik aer Aufldãrung innethaib des Kapitels úber den Antisemitismus — und enthúllt damit zugleich seine Wirksam-keit seit die Menschen sich handelnd und denkend vom Naturzu-sammenhang distanzierten. Obwohl die Aufklãrung wãhnte, selbst erst diese Distanz gegen die Mythen zur Geltung zu bringen, enthiel-ten diese ihrerseits schon die Leistung der Distanzierung. Bereits sie liefem Darstellungen und Erklãrungen, die sich zunehmend zu be-grifflichen Systemen abstrakten Denkens verselbstàndigen. Dadurch wird Natur verobjektiviert, bis sie zuletzt im mathematisch begrún-deten und organisierten Verfugungswissen von Naturwissenschaft und Technik entzaubert und zum blofien Material der gesellschaftli-chen Reproduktion herabgesetzt wird: »Der Mythos geht in die Auf­klãrung úber und die Natur in blofie Objektivitãt. Die Menschen be-zahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem,

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woruber sie die Macht ausúben. Die Aufklãrung verhált sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. Der Mann der Wissenschaft kennt die Dinge, insofern er sie machen kann. Dadurch wird ihr An sich Fúr ihn. In der Verwandlung enthullt sich das Wesen der Dinge ais je schon das-selbe, ais Substrat von HerrschafW 4

2. »Die Anatomie des Menschen ist ein Schlussel zur Anatomie des Affen«

Der Gebrauch der Anatomie-Metapher in bezug auf die Analyse des Faschismus legt den Vergleich mit dem Marxschen Ansatz nahe. Die »unterirdische Geschichte« der Dialektik der Aufklãrung nimmt das Bild der Anatomie in gewissem Sinn wõrtlich, insofern sie den Nie-derschlag der gesellschaftlichen Herrschaft in der »Physiologie« der entstellten Instinkte und Leidenschaften nachzuweisen sucht. Damit durchbricht sie die Grenzen des Marxschen Gegenstandsbereichs, der objektiven Struktur der Gesellschaft. Auch die Geschichte der Produktionsverháltnisse, der Arbeitsteilung und der darauf auf-bauenden Herrschaftsformen sowie der Klassenkàmpfe ist noch Teil einer manifesten Geschichte, die ohne die ãonenalte »Erniedrigung des Fleisches durch die Macht« 1 5 nicht denkbar wãre. Die Analyse des Faschismus stellt die Kategorien einer Geschichte der Verdrãn-gung und der Wiederkehr des Verdrãngten bereit, das dort — gewifi nicht zum ersten Mal, aber besonders deudich — ans Licht tritt. Die­ses Licht gestattet, hinter der manifesten Geschichte deren Nachtsei-te an den Subjekten selbst aufzuspúren.

Marx versteht die von ihm gebrauchten Kategorien der Kritik der politischen Õkonomie ais begrifrliche Abstraktionen, die ais solche erst auf dem Hintergrund realer Abstraktionsverhãltnisse formulier-bar sind. Diese stellen ein durch die Imperative der Kapitalverwer-tung bestimmtes soziales System dar, das zuvor bestehende, traditio-nell-kulturelle Determinanten und Schranken des Handelns beseitigt hat. Das Handlungsgefuge wird so einerseits erweitert, andererseits gleichsam in seine elementaren Bestandteile zerlegt. Daraus resultiert

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das retrospektive ,Potential, das Marx jenen Kategorien zuschreibt: »Die búrgerliche Gesellschaft ist die entwickeltste und mannigfal-tigste historische Organisation der Produktion. Die Kategorien, die ihre Verhãltnisse ausdriicken, das Verstãndnis ihrer Gliederung, ge-wãhrt daher zugleich Einsicht in die Gliederung und die Produk­tionsverháltnisse aller der untergegangenen Gesellschaftsformen, mit deren Trummern und Elementen sie sich aufgebaut, von denen teils noch uniiberwundene Reste sich in ihr fortschleppen, blofie Andeutungen sich zu ausgebildeten Bedeutungen entwickelt haben etc. Anatomie des Menschen ist ein Schlussel zur Anatomie des AfTen«.lé

Mit seiner beruhmten Anatomie-Metapher der Sozialgeschichte kehrt Marx ironisch die darwinistisch-evolutionistische Perspektive um, nach der Funktion und Gestalt gegenwãrtiger Elemente aus ihrer naturgeschichdichen Génese zu erklãren seien. Dabei greift er auf die Hegelsche Figur zuriick, die Geschichte in ihrer »Logik« von ihrem Ende her — und sei dies auch ein erst zu antizipierendes Ende — zu entschlússeln. Hegel interpretierte die Weltgeschichte ais «Darstel-lung des Geistes [ . . . ] , wie er sich das Wissen dessen, was er an sich ist, erarbeitet«.17 Die Geschichte erschliefit sich demzufolge aus der Perspektive ihres inneren Endzwecks: »Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewufitsein der Freiheit — ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben«. 1 8 Marx úbernimmt diese Struktur der Erkenntnisbildung. Die Geschichte zu begreifen setzt auch fur ihn voraus, die Struktur der Gegenwart ais entwickelte Ge­stalt zu erfassen. Aber er legt der Entwicklung ein anderes Substrat zugrunde. An die Stelle, die in Hegels Geschichtsphilosophie der spekulative Begriff einnahm, tritt bei Marx die gesellschaftliche Ar-beit: «Das Grofie an der Hegelschen Phànomenobgie und ihrem End-resultat — der Dialektik der Negativitãt ais dem bewegenden und er-zeugenden Prinzip — ist also einmal, dafi Hegel die Selbsterzeugung des Menschen ais einen Prozefi fafit, die Vergegenstàndlichung ais Entgegenstãndlichung, ais Entãufierung und ais Aufhebung dieser Entãufierung; dafi er also das Wesen der Arbeit fafit und den gegen-stãndlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, ais Re­sultai seiner eigenen Arbeit begreift. [. . . ] Hegel steht auf dem Stand-punkt der modernen Nationalõkonomie. Er fafit die Arbeit ais das

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Wesen, ais das sich bewáhrende Wesen des Menschen; er sieht nur die positive Seite der Arbeit, nicht ihre negative. Die Arbeit ist das Fiir-sichwerden des Menschen innerhalb der Entãufierung oder ais entdufierter Mensch. Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige.«19

Die Marxsche retrospektive Figur, die Geschichte aus der Struktur der Gegenwart zu entschlússeln, ist úber Hegel mit der traditionsrei-chen chrisdichen Vorstellung verwandt, nach der der Mensch sich ais Ziel der Schõpfung betrachtete, ais legitimer Nutzniefier der Viel-falt seiner natúrlichen Vorlãufer, die seine Umwelt bilden. Ais Kriti-ker der politischen Õkonomie setzt er sich gegen die idealistische Te-leologie zur Wehr, zugleich aber unterlegt er der Geschichte eine an­dere, funktional àquivalente Substanz, die wiederum deren Einheit und Ziel verbúrgen soll. Marx' Argumentation ist also zwiespãltig. Ei-nerseits kritisiert er eine naiv teleologische Deutung vergangener Epo-chen ais hlofier Vorlãufer der kapitalistischen Gesellschaftsformen. Diese widerspràche gerade der Einsicht in das historische Produziert-sein real abstrakter Kategorien wie der der Arbeit. Marx lehnt die Konstruktion der Geschichte ais geschlossener Stufenfolge ab. Er un-terscheidet den heuristischen Einsatz der Kategorien der búrgerli-chen Õkonomie, ihre retrospektive Funktion, von ihrer identifizie-renden Anwendung, die ihm zufolge selbst ein Kennzeichen der Ideologie im Kapitalismus darstellte: »Die búrgerliche Õkonomie liefert so den Schlussel zur antiken etc. Keineswegs aber in der Art der Òkonomen, die alie historischen Unterschiede verwischen und in allen Gesellschaftsformen die búrgerlichen sehen. Man kann Tribut, Zehnten etc. verstehen, wenn man die Grundrente kennt. Man mui? sie aber nicht identifizieren«.20 Spãtere Formen der histori­schen Entwicklung kõnnen prinzipiell ebenso Differenzierungen wie Verkúmmerungen frúherer Formen darstellen. Dies zu erkennen setzt voraus, die gegenwãrtige Form der Produktionsverhãltnisse nicht ais letzte Stufe einer geschlossenen Evolution zu hypostasieren. Ein nicht verzerrtes Verstãndnis der Vorgeschichte der búrgerlichen Gesellschaft wãre deshalb, so Marx, in deren Selbstkritik zu fun-dieren.

Andererseits aber erweitert er sein erkenntnistheoretisches Postulat, nach der die Realabstraktion der Arbeit erst erlaubt, deren Funktion

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auch in vorkapitalistischen Zusammenhãngen zu rekonstruieren, zu einem geschichtsphilosõphischen Dogma. Geschichte erscheint nun ais Stufenfolge von Metamorphosen der einen Substanz Arbeit, diese ais die universelle Grundlage jeglicher gesellschaftlicher Formation. Ais abstraktes Prinzip der physiologischen Verausgabung bildet die Arbeit den Wesenskern der Geschichte, auch wenn die real-abstrakte Arbeit erst im Kapitalismus hervortritt. Die Kategorie der abstrakten Arbeit soll es nicht nur erlauben, die Verflechtung von õkonomi-schen und kulturellen Verhãltnissen in den verschiedenen Stadien der Entwicklung aufzulõsen, sie soll auch deren universelles Bewe-gungsgesetz definieren. In der Form der Arbeit und den daraus resul-tierenden Produktionsverhàltnissen, den Verhãltnissen von Eigentú-mern und unmittelbaren Produzenten, erblickt Marx »das innerste Geheimnis, die verborgene Grundlage der ganzen gesellschafdichen Konstruktion«.21

Die Dialektik der Aufklãrung verhàlt sich zu dieser Marxschen Ge­schichtsphilosophie ais eine Art immanenter Kritik. Mit Marx be-greifen Horkheimer und Adorno die búrgerliche Gesellschaft ais hi-storisch am hõchsten entwickelte Organisation der Produktion, úber ihn hinausgehend sehen sie jedoch die Geschichte der Produktion ais Teil eines umfassenderen Prozesses der Destruktion an. Wãhrend es bei der Kritik der politischen Õkonomie um eine Geschichte der ka-pitalistisch-rational geordneten Faktizitãt geht, handelt es sich bei der Dialektik der Aufklãrung auch um eine Geschichte der Ausgrenzun-gen und des Verstummens. Dabei vertreten auch deren Autoren den erkenntnistheoretischen Primat der Struktur vor der Geschichte. Horkheimer bezieht sich andernorts explizit auf die durch die Ana­tomie-Metapher bezeichnete Marxsche Methode, wãhrend er zu­gleich den Marxschen Klassenbegriff in seiner historischen und be-grifflichen Geltung beschneidet, indem er ihn auf den Konkurrenz-kapitalismus im engeren Sinn eingrenzt und ihm eine umfassendere Theorie des »Rackets« ais »Grundform der Herrschaft«2 2 entgegen-stellt: »Unter den Bedingungen des Monopolismus und der totalen Herrschaft wird die Bestãndigkeit der Unterdrúckung, ihr parasitares Wesen, offenkundig. Jede herrschende Klasse ist immer insofern mo-nopolistisch gewesen, ais sie sich von der úberwãltigenden Mehrheit der Menschen abriegelte. Die Struktur entsprach der konkurrieren-

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der Rackets. [. . .] Der moderne Begriff trãgt dazu bei, gesellschaftli-che Beziehungen der Vergangenheit zu beschreiben. >Die Anatomie des Menschen ist der Schlussel zur Anatomie des Affen<«.23 Die Herrschaftsform des Racket ist historisch ein Element des monopoli-stischen Kapitalismus und zugleich ein Grundmodell von Herrschaft úberhaupt: einer gesellschaftlichen Einheit, die die unter ihr befafi-ten einzelnen zugleich beschútzt und verstúmmelt, sie formt, indem sie sie verformt.

Der Dialektik der Aufklãrung zufolge enthúllt sich also die Verflech-tung von Rationalitãt und Schrecken in der Geschichte úber die Ana­lyse der zeitgenõssischen totalitãren Herrschaft. Die Anatomie des Faschismus bildet einen Schlussel zur Anatomie der Zivilisation ais ganzer. Der faschistische Diktator ist in dem spezifischen Sinn eine Gestalt der Vernunft, ais er diese am Ende des Prozesses gesellschaft-licher Rationalisierung und mit der Fúlle der gattungsgeschichdich erworbenen Techniken auf ihren naturgeschichdichen Kern redu-ziert. In der Geschichte geht es, darin pflichten Horkheimer und Adorno Hegel bei, tatsãchlich vernúnftig zu; aber eben das ist das Schlimme, das im Faschismus seine bizarrste Gestalt annimmt. »So-lange die Weltgeschichte ihren logischen Gang geht, erfullt sie ihre menschliche Bestimmung nicht«. 2 4 Die Naturgeschichte des Kamp-fes um Leben und Macht setzt sich auch im Prozefi der Gesellschafts-formationen durch. Das treibende Moment dieses Prozesses — und darin folgen die Autoren der Marxschen materialistischen Umdeu-tung Hegels — ist die gesellschaftliche Arbeit; aber eben das, fugen sie hinzu, ist das Schlimme, denn die Produktivkrãfte — bei Marx noch das, was die Produktionsverhãltnisse, wenn sie obsolet geworden sind, umwãlzen sollte — haben ihre historische Unschuld verloren und sich selbst ais Bollwerk des fortdauernden Naturzwangs erwie-sen.

Die mit der Anatomie-Metapher bezeichnete Anknúpfung an Ge-genwartskategorien und -interessen bei der Interpretation der Ge­schichte ist nicht zu verwechseln mit einer Relativierung des Wissens im Sinn totalisierter Ideologiekritik. Die unbestreitbare Tatsache, dafi der Historiker selbst geschichtlichen Einflússen unterliegt, er-laubt zwar die Frage, ob er dabei unzulãssigen eigenen Projektionen zum Opfer fàllt. Aber schon aus der Mõglichkeit dieser Kritik folgt,

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dafi das erkenntnistheoretische »Milieu« kein definites Ganzes ist, sondem prinzipiell selbstreflexiv offen ist und erlaubt, die empiri-schen Bedingungen des eigenen Fragens theoretisch einzuholen und zu úberschreiten. Dieses Uberschreiten liegt jedoch andererseits auch nicht allein im subjektiven Belieben des Historikers. Vielmehr hãngt es davon ab, ob bislang selbstverstãndliche Voraussetzungen der sozialen Lebenswelt, welcher der Historiker sein Selbstverstãnd-nis entnimmt, problematisch geworden sind. Deshalb band Marx seine Methode an die Selbstkritik der búrgerlichen Õkonomie, des­halb auch unterschied Horkheimer kritische Theorie von traditionel-ler dadurch, dafi jene den gesellschaftlichen Kontext ihrer Entste­hung und mõglichen Wirkung mitzureflektieren hàtte. In diesem Sinn schliefit die Dialektik der Aufklãrung von den gesellschaftlichen Pathologien der Gegenwart aus auf die heillose Verstrickung von Vemunft und Herrschaft in der Geschichte. Sie rekonstruiert nicht einen universellen Sinn von Geschichte úberhaupt, sondem ent-wirft eine hypothetische und fragmentarische Rúckprojektion ei­ner zentralen zeitdiagnostischen Kategorie, nãmlich der einer ver-selbstãndigten und entleerten, weil aufs Instrumentelle reduzierten Vemunft.

3. Geschichtsphilosophische Aporien

Die Dialektik der Aufklãrung sucht nach der unterirdischen »faschisti-schen« Struktur der abendlãndischen Geschichte und spúrt diese Struktur ais Bemãchtigung in der Vemunft selbst auf. Dieses parado-xe Verhãltnis von Diagnose und Kritik schlãgt sich in der Form ihrer Darstellung nieder. Das extreme Phãnomen in der Geschichte, der Exzefi, fungiert, wie gezeigt wurde, ais eine Art Prisma. Ein Grenzfall ist fur die Zivilisation im ganzen zwar nicht unbedingt reprãsentativ, aber er ist signifikant fur die im Rudimentãren und Normalen schlummemden Destruktionspotentiale. Dem trãgt in der Darstel­lung die methodische Ubertreibung, der Negativismus der Dialektik der Aufklãrung Kechnung. Fúr die von ihr intendierte »philosphische Konstruktion der Weltgeschichte«2 5 zãhlt weniger die historische Ge-

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wichtung einzelner Sachverhalte ais die Konsequenz ihrer Perspekti­ve auf die schwarze Logik der in der Geschichte verratenen menschli-chen Mõglichkeiten. In dieser Perspektive ist »nur die Ubertreibung [. . .] wahr«. 2 6

Die paradoxale Formulierung der wahren Ubertreibung zeigt, dafi sich die Autoren der Dialektik der Aufklãrung nicht ais Historiker und Sozialforscher im engeren Sinn verstehen, sondem ais Interpreten und Konstrukteure des »Grauens« in der Geschichte. Sie sind sich des provokatorischen Zuges ihrer »spekulativen« Thesen wohl bewufit, sehen ihr Verfahren allerdings ais notwendig an, um die abgegriffene Sprache der Wissenschaft zu unterlaufen und so das Spezifische ei­nes zu vemeinenden Gesetzes des Weltlaufs zu treffen, das sowohl ei­ner aufs Faktische fixierten Geschichtsschreibung ais auch einer aus-gewogenen kulturellen Entwicklungstheorie entginge. Ihre Konstruk-tion zielt auf eine einheidiche Tendenz der Geschichte, ohne sie doch zu verdinglichen und damit den Gegenkrãften a priori die Chance abzusprechen. Der polemische Sinn dieser Konstruktion richtet sich gegen den deskriptiven Aspekt der traditionellen, ver-nunftglãubigen Geschichtsphilosophie, nicht aber gegen ihren nor-mativen. Unter emphatischen Vernunftsansprúchen erscheint Ge­schichte noch ais Naturgeschichte, ais Vorgeschichte.

Gebàrdet sich aber die methodische Ubertreibung gegenúber den historischen »Fakten« nicht allzu souverán? Fúhrt sie nicht dazu, dafi die Kritik an der in Mythologie zuriickfallenden Vemunft selbst blofi einen neuen Mythos úber Ursprung und Verhángnis der Geschichte erzàhlt? Fãllt diese Geschichtsphilosophie nicht hinter die methodi-schen Errungenschaften modemer Historik zurúck, die sich im 18. und 19. Jahrhundert, múhsam genug, von moralisierender Bevor-mundung und philosophischer Spekulation befreit hatte, um endlich »blofi [zu] sagen, wie es eigendich gewesen«?27 Wird eine philosophi­sche Deutung der Gattungsgeschichte nicht allein schon dadurch zu einem unredlichen Untemehmen, dafi sie allgemeine Ideen oder Ge-setze postuliert, die nicht streng auf bestimmte Bereiche oder Ab-schnitte der Vergangenheit beschrãnkt bleiben? Wenn, etwa gegen­úber planer Statistik, »nur die Ubertreibung wahr ist«, weil sie das Wesen in der einzelnen Erscheinung hervortreten láfit, so gilt doch auch, dafi gerade die Ubertreibung der Hort der Unwahrheit ist.

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Erst in der Ubertreibung wird die relative Wahrheit falsch, weil sie die Bedingungen, unter der sie gilt, aufier acht làfit und sich zu einem Absoluten aufspreizt. Dafi nur die Ubertreibung wahr sei, ist úber-trieben.

In dieser Weise verstrickt sich die Dialektik da Aufklãrung, teils be­wufit, teils wohl auch nicht-intendiert, in Paradoxien. So erõffhet sie zum Beispiel, zu Recht mifitrauisch gegenúber traditionellen Peri-odisierungen der Geschichte und vor aliem gegenúber jeder Form ro-mantischer Verklãrung zivilisatorischer Frúhformen, radiakal kon-struierte Synopsen. Sie spricht vom »herrschenden Geist von Homer bis zur Moderne« 2 8 oder vom Prinzip des Àquivalents: »Der Aufklã­rung wird zum Schein, was in Zahlen, zuletzt in der Eins, nicht auf-geht; der moderne Positivismus verweist es in die Dichtung. Einheit bleibt die Losung von Parmenides bis auf Russell«.29 Solche Qualifi-zierungen oder Urteile sind jedoch offenbar von eben der Krankheit gezeichnet, zu deren Diagnose sie beitragen sollen: der Unwahrheit des Begriffs, durch den das Besondere, das Nicht-Identische, zum blofien Exemplar eines Allgemeinen zugerústet wird. Die Eigensin-nigkeit des Historischen fállt einer letzdich monotonen Finalitát, und sei es auch der einer negativen Teleologie des Schreckens, an-heim. Aus der Kritik des »Grauens« und der Suche nach seinen ver-borgenen Vorformen wird unter der Hand eine abschlufihafte Meta-physik. Wo aber die Kritik gleichwohl ein geschichtlich oder struktu-rell Besonderes trifft, das sich prima facie dem gegenwarts/m'ír&« Blick entzieht, gerát sie in Widerspruch zu ihrer eigenen erkenntnis-theoretischen Voraussetzung, der Kritik des identifizierenden Be­griffs. Denn in besonderem Mafie ist die »Konstruktion« auf Allge-meinbegriffe angewiesen, die Ungleiches gleichsetzen.

Ein entscheidendes Problem der retrospektiven Geschichtsdeu-tung ist also das der Projektion. Die Deutung der Vergangenheit kann gegenwartsbezogenen Schematisierungen in einer Weise verhaftet bleiben, dafi das gedeutete Phãnomen der Vergangenheit signifikant verfalscht wird. In diesem Fali wird der hermeneutische Zirkel zum (unbewufiten) Zirkelschlufi. So lãfit sich etwa an der Interpretation der Odyssee in der Dialektik der Aufklãrung beanstanden, dafi die Auto­ren wesendiche, úber den Imperativ der mànnlichen Selbsterhaltung hinausgehende Elemente zugunsten einer deterministisch ablaufen-

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den Unheilsgeschichte vernachlãssigen.30 Diese Kritik ist eine legiti­me Variante der von Horkheimer und Adorno selbst immer wieder in Anspruch genommenen Ideologiekritik, die deskriptive oder argu-mentative Verengungen auf eine wie immer mit der Theoriegestalt zu vermittelnde gesellschaftliche Konstellation (in diesem Fali die einer patriarchalischen Prãgung) zurúckfúhrt. Gerade das zeitdiagnosti-sche Interesse, das die Befragung der Vergangenheit im Namen der Probleme der Gegenwart erlaubt, kann auch zu Triibungen des Blicks fuhren.

Hinsichdich des theoretischen Gehalts besteht der Zirkel darin, dafi Vorentscheidungen theoretischer Art in die Selektion und Inter-pretatíon des historischen und gegenwãrtigen Materials eingehen, wobei dieses Material zugleich dazu dient, jene Vorentscheidungen zu begrúnden. Geschichtsphilosophisch lassen sie sich in dem Postu-lat zusammenfassen, »zu zeigen, wie sich trotz aller Umwege und Widerstãnde die konsequente Naturherrschaft immer entschiedener durchsetzt und alies Innermenschliche integriert«.31 Unter dieser Vorentscheidung werden alie anderen Anteile der Vernunft und der Kultur, auch dort, wo ihnen eine partielle Selbstândigkeit zugestan-den wird, vor dem Hintergrund eines universalen Gesetzes fur be-langlos erklãrt. Zwischen Individuum und Gesellschaft, den wenigen einzelnen, zu denen sich die objektive Vernunft geflúchtet haben mag, und dem Block des verhángnisvollen Ganzen gibt es keine Ver-mitdung mehr, keine produktiven Bruchstellen und Reibungsflà-chen, an denen sich der Einspruch gegenúber der diagnostizierten Totalitãt entzúnden kõnnte. Indem Natur und Subjekt zu zwei Pólen eines Machtverhãltnisses hypostasiert werden, wird die Eigengesetz-lichkeit der zwischen ihnen vermittelnden sinnlichen und symboli-schen Praxis, werden die Schaltstellen, an denen die Geschichte auch anders hãtte verlaufen kõnnen, systematisch ausgeblendet. Eine sol-che Geschichte der Rationalitãt ratifiziert wider Willen noch einmal durch ihr teleologisches Schema die von ihr diagnostizierten Aus-grenzungen und Verdrángungen.

Die Dialektik der Aufklãrung ist eine geschichtsphilosophische Kri­tik des Unterwerfung gebietenden, paranoischen Blicks der Ver­nunft. Paradoxerweise aber lebt sie selbst von einem derartigen bõsen Blick. Doch hat der Paranoiker gegenúber dem Normalen oft das fei-

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nere Sensorium. Damit trágt er zur Wahrheit bei auch dort, wo er nicht objektiv ist. Aber er bedarf des empathischen Blicks ais Korrek-tiv. Dieser sucht das historische Phànomen aus dessen Innenper-spektive zu seinem Recht zu bringen, wáhrend jene Retrospektion danach fragt, welches »Recht« dieses Recht hat. Eine dialektische Kon-zeption von Génesis und Geltung, Universalitãt und Besonderheit der Grundkategorien bedarf - und dem ist die Dialektik der Aufklã­rung ausgewichen - der expliziten Reflexion der eigenen theoreti­schen Voraussetzungen und ihres Geltungsanspruchs. Nur dann ist erreichbar, was Siegfried Kracauer die »>richtige< Balance von reali-stischer und formgebender Tendenz« 3 2 in der Geschichtsdeutung nennt.

Marx war sich dieser Problematik bei seiner methodologischen Re­flexion des Arbeitsbegriffs offensichtlich bewufit, ohne sie doch ge-núgend weit zu verfolgen. Er schrieb der kapitalistischen Organisa-tionsform der Arbeit die eigendiche zivilisatorische Wirkung der Aufhebung »bornierter« Herrschaftsverhãltnisse und Weltbilder zu. Indem sie die feudalen Abhángigkeiten beseitigt, macht sie mit der Freiheit und Gleichheit aller Ernst — in Form eines reglementierten Kampfes aller gegen alie, der eine neue strukturelle Unfreiheit und Ungleichheit schafft. So ist das Kapital Schrittmacher der Humanitat und der Inhumanitãt in einem. Dieser Doppelcharakter spiegelt sich aber in der Marxschen Theorie selbst: Die Kritik an der Auspressung und Aneignung von Mehrarbeit ist dem Glauben an das Rationalisie-rungspotential der Arbeit ais zweckgerichteter Tãtigkeit zutiefst ver-pflichtet. Dem solcherart auf die Génese der Arbeitsrationalitãt gerichteten Blick entzieht sich dann allzu leicht die Eigengesetzlich-keit vorkapitalistischer Gesellschaften, ihre von der kapitalistischen Arbeits- und Tauschgesellschaft ganz verschiedenen Formen der Weltaneignung.33 Zwar grenzt Marx sich von einem flachen, un-mittelbar auf den Kapitalismus bezogenen Evolutionismus ent-schieden ab. Er fuhrt die vereinfachende Konstruktion einer «histori­schen Entwicklung«34 auf eine Hypostasierung des Gegenwãrtigen zurúck und erklãrt dessen Kritik zur entscheidenden Vorbedingung fur eine angemessene Analyse des Vergangenen. Aber seine Kritik enthãlt zugleich die nachdrúckliche Affirmation der Arbeitsrationa­litãt ais des exklusiven Kerns des gesellschaftlichen Fortschritts.

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So stellt die Kritik gleichsam ein Anrennen von innen gegen die Mauern eines Verdinglichungszusammenhangs dar, deren Funda­mente sie zugleich befestigt. Kritik und Hypostasierung bedingen sich gegenseitig.

Vielleicht ist dieser aporetische Mechanismus allen grofien philo-sophischen Entwiirfen inhãrent: ein diskursives Feld abzustecken und in dieses eine begriffliche Strategie einzuzeichnen, um damit ei­ne ais verhángnisvoll bestimmte Konstellation aufzulõsen, wobei diese ihren Sinn erst innerhalb jenes Feldes erlangt. Jedenfalls enthãlt auch die Destruktionsgeschichte der Dialektik der Aufklãrung eine derartig erzeugte Konstellation, nãmlich die des kalkulatorischen Denkens, der herrschaftlichen Aufklãrung, der die wahre, die Herrschaft auflõsende Aufklãrung entgegengesetzt wird. Das diskur-sive Feld, innerhalb dessen diese Strategie aufgebaut wird, ist die «philosophische Konstruktion der Weltgeschichte« ais Geschichte der aufs Subjekt zuriickschlagenden Naturbeherrschung. Zweifellos eine Erzãhlung — man kõnnte auch sagen: ein Mythos, eine Allego-rie 3 5 — nach der Art jener »grofien Erzàhlungen«, deren Krise Jean-François Lyotard diagnostiziert hat. 3 6 Aber eine, die die szientifisch gelãufigen Bilder der Gegenwart und der Geschichte zur Kenntlich-keit entstellt.37 Nicht zuletzt zeigt sie, dafi eine radikale Diagnose der Gegenwart nicht, wie oft genug vorgefuhrt, in eine Mystifizierung vorkapitalistischer oder vorhochkultureller Gesellschaften ais Urbild heilsversprechender Gegenkrãfte umschlagen darf. Die Dialektik der Aufklãrungverhàlt sich zu Historie und Soziologie wie das von ihr ais Urgeschichte der Subjektivitãt gelesene Homerische Epos zum zu-grundeliegenden Mythos: die narrative Neuorganisation soll den Bann des bislang Unbefragten brechen. So scheint auf die Dialektik der Aufklãrung selbst gemúnzt, was die Autoren úber das Homerische Sich-Erinnern sagen: »Es ist die Selbstbesinnung, welche Gewalt in-nehalten lãfit im Augenblick der Erzãhlung«.3 8

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Anmerkungen

1 Der Beitrag erscheint hier an Stelle desjenigen, der auf dem Amsterdamer Symposion vorgetragen wurde, dessen Verõffentlichung jedoch bereits anderweitig vorgesehen war. Dieser Vortrag hatte zum Thema »Das Ein-gedenken der Natur im Subjekt«. Er ist in erweiterter Fassung erschienen in: Gunzelin Schmid Noerr (Hrsg.), Metamorphosen der Aufklãrung. Ver-nunftkritik heute, Túbingen 1988.

2 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklãrung (im fol-genden DA), Amsterdam 1947, S. 267.

3 Ebd., S. 265. 4 Darin liegt eine genaue Entsprechung zur individualistischen und antira-

tionalistischen Moralphilosophie Horkheimers. Vgl. dazu Herbert Schnàdelbach, «Max Horkheimer und die Moralphilosophie des deut-schen Idealismus«, in: Max Horkheimer heute: Werk und Wirkung, hrsg. von Alfred Schmidt und Norbert Altwicker, Frankfurt a.M. 1986.

5 DA, S. 267. 6 Ebd. 7 « . . . solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes«: Adorno,

Negative Dialektik, in: ders., Gesammelte Schrifien Bd. 6, Frankfurt a.M. 31984, S. 400.

8 Carl-Friedrich Geyer, Aporien des Metaphysik- und Geschichtsbegriffs der kri­tischen Theorie, Darmstadt 1980, S. 133.

9 Ein schõnes Beispiel fur die heuristische Funktion eines geschichtlich entwickelten Begriffs bzw. Sachverhalts gibt Milan Kundera in seiner Kunst des Romans, Munchen 1987, S. 140: »Die immer wieder neuen hi­storischen Situationen enthúllen die stets gleichbleibenden Móglichkei-ten des Menschen, so dafi wie sie benennen kõnnen. Beispielsweise hat das Wort Kollaboration wãhrend des Krieges gegen den Nazismus einen neuen Sinn gewonnen: sich freiwillig in den Dienst einer widerlichen Macht stellen. Ein fundamentaler Begriff! Wie ist die Menschheit bis 1944 ohne ihn ausgekommen? Jetzt, wo das Wort gefunden ist, legt man sich zunehmend Rechenschaft dariiber ab, dafi menschliches Handeln wesensgemàfi Kollaboration ist«.

10 DA, S. 70. 11 DA, S. 276. 12 Ais neuere Untersuchung vgl. dazu etwa Klaus Theweleit, Mànnerphanta-

sien, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1977. 13 DA, S. 45. 14 DA, S. 19 f. 15 DA, S. 276 f. 16 Karl Marx, «Einleitung zur Kritik der politischen Õkonomie«, in: Marx

Engels Werke (MEW) Bd. 13, Berlin 1961, S. 636.

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17 Hegel, Vorksungen iiber die Phihsophie der Geschichte, in: ders., Werke Bd. 12, Frankfurt a.M. 1970, S. 31.

18 Ebd., S. 32. 19 Marx, Pariser Manuskripte, in: ders., Texte zu Methode und Praxis Bd. II,

hrsg. von Gúnther Hillmann, [Reinbek] 1966, S. 113 f. 20 Marx, »Einleitung zur Kritik der politischen Õkonomie« (Anm. 16). 21 Marx, Das Kapital Bd. III, MEW Bd. 25, Berlin 1968, S. 799 f. 22 Horkheimer, »Die Rackets und der Geist«, in: ders., Gesammelte Schrifien

Bd. 12, Frankfurt a.M. 1985, S. 287. 23 Horkheimer, »Zur Soziologie der Klassenverhãltnisse«, Gesammelte Schrif­

ien Bd. 12, S. 101 und 104. 24 Horkheimer, «Autoritárer Staat«, in: ders., Gesammelte Schrifien Bd. 5,

Frankfurt a.M. 1987, S. 319. 25 DA, S. 265. 26 DA, S. 142. 27 Leopold von Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Võlker

von 1494 bis 1535, Leipzig und Berlin 1824, S. VI. 28 DA, S. 45. 29 DA, S. 18. 30 Vgl. Helga Geyer-Ryan und Helmut Lethen, »Von der Dialektik der Ge­

walt zur Dialektik der Aufklãrung«, in: Vierzigjahre Flaschenpost: Dialektik der Auftdãrung 1947 bis 1987, hrsg. von Willem van Reijen und Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a.M. 1987.

31 DA, S. 265. 32 Kracauer, Geschichte — Vor den letzten Dingen, Frankfurt a.M. 1973, S. 73. 33 Vgl. Gerhard Gamm, Wahrheit ais Differenz, Frankfurt a.M. 1986,

S. 189 ff. 34 Marx, «Einleitung zur Kritik der politischen Õkonomie« (Anm. 16),

S. 636. — »Wenn daher wahr ist, dafi die Kategorien der búrgerlichen Õkonomie eine Wahrheit fur alie anderen Gesellschaftsformen besitzen, so ist das nur cum grano salis zu nehmen. Sie kõnnen dieselben entwik-kelt, verkiimmert, karikiert etc. enthalten, immer in wesentlichem Unter-schied« (ebd.).

35 Vgl. Willem van Reijen, »Die Dialektik der Aufklãrung gelesen ais Allego-rie«, in: Vierzigjahre Flaschenpost: Dialektik der Aufklãrung 1947 bis 1987 (Anm. 30), S. 192 ff.

36 Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, Graz/Wien 1986. — Lyo­tard behauptet, dafi die traditionell philosophische Frage nach der Legiti-mitãt des Wissens heute ausreichend von der Wissenschaft selbst gestellt und beantwortet wird, indem diese ihre Argumentationen und Paradig-men systematisch selbst dem Zweifel unterzieht (ebd., S. 158 f.). Damit reduziert er Philosophie auf Wissenschaftstheorie. Zugleich aber ràumt er ein, dafi die narrative Funktion der Wissenslegitimation nicht unver-mittelt negiert werden kann: »Mussen wir nicht selbst in diesem Mo-

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P E T E R D E W S

Foucault und die Dialektik der Aufklãrung

Man kõnnte behaupten, dafi der heutige grofie Einflufi des Werkes von Michel Foucault, wie, in historischem Rúckblick, das Bergsons in seiner Zeit, ebensoviel úber unsere eigenen zeitgenõssischen kultu­rellen Bedingungen wie úber die innere Qualitãt des Werkes aussagt. Nichtsdestoweniger ist es auch ein Zeugnis fur die anhaltende Bedeu-tung der Gedanken Horkheimers und Adornos, dafi Foucault — der bis zu seinem Spátwerk eine resolute Distanz zur dialektischen Tradi-tion bewahrte — in seinen letzten Lebensjahren eingestehen mufite, dafi ihm vielé Umwege und Versãumnisse in seinem Werk erspart ge-blieben wãren, wenn er in einer frúheren Phase die Bekanntschaft der Frankfurter Schule gemacht hãtte. 1 Aber gleichzeitig besteht Fou­cault darauf, dafi wir uns dem, was er ais »Erpressung« zu einer Hal-tung fur oder gegen die Aufklãrung bezeichnet, »durch die Einfuh-rung >dialektischer< Nuancen, die zu bestimmen versuchen, welche guten und schlechten Elemente die Aufklãrung mit sich bringt«, nicht entziehen kõnnen.2 Obwohl es also gute Grúnde fur die Suche nach Úbereinstimmungen zwischen Foucaults Gedanken und denen der Frankfurter Schule gibt, solhe man sich vor voreiligen Gleichset-zungen húten.

Die offensichdichen Úbereinstimmungen zwischen den Gedan­ken Foucaults und denen der Dialektik der Aufklãrung zeigen sich deudich, wenn man die Sammlung der »Aufzeichnungen und Ent-wúrfe« betrachtet, die den letzten Teil des Buches bildet. Hier fíihren Adorno und Horkheimer einige Reflexionen úber das Gefàngnissy-

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stem ais das Paradigma des Funktionierens moderner Gesellschaften ein, die sich heute ais éine úberraschende Antizipation Foucaults le-sen. Das Gefángnis wird ais eine Exemplifizierung der hoffhungslo-sen Situation moderner, auf sich selbst zurúckgeworfener und von jeglichem Kontakt abgeschiedener Subjektivitãt portrãtiert:

»Die Reihen der Gefángniszellen im modernen Zuchthaus stellen Mona-den im authentischen Sinne von Leibniz dar Es gibt keinen direkten Ein­flufi der Monaden aufeinander, die Regelung und Koordinierung ihres Le-bens erfolgt durch Gott, bzw. die Direktion. Die absolute Einsamkeit, die ge-waltsame Rúckverweisung auf das eigene Selbst, dessen ganzes Sein in der Bewáltigung von Material besteht, im monotonen Rhythmus der Arbeit, umreifien ais Schreckgespenst die Existenz des Menschen in der modernen Welt.*3

Zudem wird, wie bei Foucault, die Internalisierung der Disziplin durch gewaltsame isolierte Subjekte an die Folter des Kõrpers gekop-pelt. Die genaueste Regulierung der Kõrperlichkeit, die fur Foucault mit dem Wesen der Disziplinarmacht identisch ist, stimmt mit der Beseitigung der sinnlichen Spontaneitãt úberein, welche Horkhei­mer und Adorno ais Entffemdung von unserem Sein ais naturliche Wesen beklagen. Fúr die kritischen Theoretiker wie auch fur Fou­cault — und hier zeigt sich ihr gemeinsames Nietzsche-Erbe am deut-lichsten — hat Europa zwei Geschichten: «Unter der bekannten Ge­schichte Europas lãuft eine unterirdische. Sie besteht im Schicksal der durch Zivilisation verdrãngten und entstellten menschlichen In-stinkte und Leidenschaften.«4 Diese Position kann mit Foucaults be-riihmter Behauptung, dafi moderne Formen der Disziplin die Seele zum «Gefángnis des Kõrpers« machen, verglichen werden.5

Trotz dieser thematischen Affinitãten besteht ein deudicher Un-terschied in der Art und Weise, wie die regulierende Macht und ihr dominiertes Anderes sowie die Beziehung zwischen diesen beiden in den zwei Fãllen theoretisch ausgearbeitet wird. Fúr die Frankfurter Schule resultiert der repressive Charakter dieser Beziehung aus der Hegemonie der restriktiven Zweckrationalitàt in modernen Gesell­schaften, die nicht ais grundsãtzliche Erschõpfung des Versprechens der Rationalitãt gesehen werden kann. Das bedeutet, dafi Kõrperlich­keit nicht ais »intrinsisch« irrational gesehen wird: Freuds Fehler bei-spielsweise besteht darin, dafi er die Sicht des konformistischen Egos,

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das die Triebe ais bedrohlich und chaotisch verurteilt, fur eine unver-ánderliche Wahrheit gehalten hat. Umgekehrt erscheint die instru-mentelle Rationalitãt selbst — vom Standpunkt der leidenden Natur aus, die úbergangen wird — ais irrational. Jeder Aspekt der gespalte-nen Rationalitãt erfahrt die Irrationalitãt seines Anderen. Natúrlich weist Foucault diese Perspektive zuriick, da er—zusammen mit ande­ren post-strukturalistischen Denkern — vermutet, dafi das Verspre-chen einer ungeteilten Rationalitãt totalitãre Implikationen habe. Vielmehr ist er dazu geneigt, Nietzsches Konzept eines irreduziblen Konfliktes zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen zu adoptieren. Dementsprechend verweigert Foucault die Vorstellung einer einzigen, historischen Teilung der Rationalitãt. Er geht davon aus, dafi wir nicht von der Rationalitãt und ihrer Geschichte ais sol-cher sprechen kõnnen, sondem nur von einer Pluralitãt von Prakti-ken oder »Rationalitâtsformen«, die miteinander konkurrieren und einander úberlappen. Unsere Aufgabe ist es also, innerhalb dieser sich fortwãhrend verãndernden Auseinandersetzung Stellung zu be-ziehen, ohne irgendeine letzte »Versõhnung« zu antizipieren.

Das Problem der Foucaultschen Position ist, dafi sie dem Konzept der Rationalitãt jeglichen bestimmten Inhalt vorenthãlt: die Diversi-tàt der Rationalitãten wird einfach zum Àquivalent der Diversitãt der Praktiken. Daraus ergeben sich zwei Hauptprobleme. Erstens stellt sich die Frage nach der allgemeinen Verbindung zwischen Macht und Wissen, auf die sich sein Werk, insbesondere das der siebziger Jahre, grundet. Obwohl es seine deudiche Absicht ist, Macht und Wissen ais intern miteinander verwoben zu zeigen (daher auch sein Gebrauch des durch Bindestrich verbundenen Terminus »Macht-Wissen«), wird diese Verbindung zumeist ais institutionelk Vorbedin-gung fur das Entstehen bestimmter Typen von Wissen gedacht: Fou­caults fundamentales Argument ist, dafi die Móglichkeiten fur stren-ge Uberwachung erst durch Asyl, Hospital und Gefángnis geschaffen wurden, was die Entwicklung der korrespondierenden »Humanwis-senschaften« ermõglichte. So meint er in einem Interview: »Die Ar-chãologie der Humanwissenschaften ist auf eine Untersuchung der-jenigen Machtmechanismen zu grúnden, die die Kõrper, Handlun­gen und Verhaltensweisen der Menschen konstituiert haben. Diese Untersuchung ermõglicht es uns, eine der Bedingungen fur die Ent-

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stehung der Humanwissenschaften wiederzuentdecken: die grofie Disziplinierungs- und Normalisierungsleistung des 19. Jahrhundert.«6

Die Formulierung macht tatsãchlich die Beziehung zwischen Macht und Wissen nicht-intrinsisch: Foucault erklãrt nicht, wie die «Disziplinierungs- und Normalisierungsleistung« durch die Anwen-dung wissenschaftlicher Erkenntnisse vergrõfiert wird. Der Grund fur diese Nachlãssigkeit ist nicht schwer zu finden. Wurde Foucault zu-gestehen, dafi die Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnis die Zweckrationalitãt des Handelns zunehmen lãfit, dann wãre er ver-pflichtet, seine hintergriindig relativistische Einstellung aufzugeben, und múfite die Realitãt des »Fortschritts« zumindest in der Dimen-sion der kognitiv-instrumentellen Rationalitãt eingestehen. Darum bleibt das Ubersteigen der »technologischen« Schwelle durch die Disziplinen, das spiralfòrmige Wachstum von Macht und Wissen, das Foucault evoziert, theoretisch unerklãrt.

Zweitens tun sich in Foucaults Beschreibungen der Beziehung zwischen Disziplinarmacht und Kõrper, der Rationalitãt und dem »Anderen«, grofie Schwierigkeiten auf. Foucault mõchte die Beurtei-lung der Macht-Wissenskomplexe von einem normativen Stand­punkt aus vermeiden. Darum mufi er auch die Implikationen des An-spruchs, die im Etikett Rationalitãt verkõrpert sind, vermeiden. Er mufi sich also auch weigern, einen Unterschied zwischen Faktizitãt und Gúltigkeit anzunehmen, und darum kann er die unterdrúcken-den Humanwissenschaften nicht ais Formen von Verzerrungen oder Fehlvorstellungen anprangern. Fúr Foucault sind, wie wir aus Archão-logie des Wissens sehr gut wissen, die »Objekte« diskursiven Wissens durch dieses Wissen definiert. Aber seine Enthaltung von Gúltigkeits-urteilen fuhrt dann zu Schwierigkeiten, wenn er seiner Position eine kritische Note zu geben versucht. Ein AngrifT auf die Disziplinar­macht beispielsweise kann nur vom Standpunkt eines alternativen Konzepts des Kõrpers ausgefuhrt werden. Fúr Foucault freilich kann dieses zweite Konzept nur Teil eines anderen Macht-Wissenskom-plexes sein und darum nicht irgendeine grôfiere »Wahrheit« oder normative Uberlegenheit beanspruchen.

Foucaults Antwort auf dieses Dilemma bleibt ambivalent. Einer-seits ist er geneigt, seine kritischen Ansprúche aufzugeben, und legt nahe, dafi

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»es notwendig (ist), auf die andere Seite zu gehen — die andere Seite der >guten Seite< —, um zu versuchen, sich von den Mechanismen, die úberhaupt erst zwei Seiten entstehen liefien, freizumachen, und um so die falsche Ein-heit der anderen Seite, fur die man sich entschieden hat, aufzulósen«.7

Andererseits ist Foucault nicht in der Lage, eine emanzipatorische Perspektive gánzlich aufzugeben. Diese Perspektive bleibt jedoch provisorisch und unbestimmt, weil sie, im Gegensatz zu dem Angriff der Frankfurter Schule auf die Irrationalitãt der herrschenden Ratio, eine Parteinahme fur die Irrationalitãt anscheinend notwendig macht.

Dieser Unterschied zeigt sich sehr deutlich in den verschiedenen Einstellungen Adornos und Foucaults in bezug auf die Utopie ei­ner nicht-regulierten Sinnlichkeit. So erlaubt es sich Foucault in Sexualitãt und Wahrheit, flúchtig eine »andere Õkonomie der Kõrper und der Lúste«, die nicht lãnger der bekennenden Suche nach Identi-tãt untergeordnet ist, zu evozieren.8 Aber dies bleibt nur ein ungreif-barer Vorschlag. Jede weitere positive Bestimmung des Kõrpers und seiner Bedúrfhisse wurde Foucaults starke Neigung zum Relativis-mus úberschreiten. Dagegen argumentiert Adorno in der Negativen Dialektik, dafi

» . . . alies Gliick auf sinnliche Erfullung abzielt und an ihr seine Objektivi-tãt gewinnt. Ist dem Glúck jeglicher Aspekt darauf verstellt, so ist es keines«.9

Hinter Foucaults Widerstand gegen das Projekt der Rekonstruk-tion einer auseinandergefallenen Vernunft steht deutlich eine be-rechtigte Sorge, auch wenn man die Anspielung auf totalitãre Impli­kationen dieses Projekts ablehnt. Er hat den Verdacht, dafi die Totali­sierung der instrumentellen Vernunft eine zu einfache Geschichte zum Verstãndnis der Komplexitãt der Moderne sei. Paradoxerweise ist es Foucault — oft ais der archetypische Denker der »Postmoderne« bezeichnet —, den man ais Verteidiger des Konzepts der Pluralitãt und Offenheit der Moderne sehen kann, wãhrend Adorno und Horkheimer durch ihre Beinahe-Vernichtung der emanzipatori-schen Kraft der Vernunft ais >postmodern< erscheinen. Die direkte Behauptung in der Dialektik der Aufklãrung, dafi «Aufklãrung totalitãr (ist) wie nur irgendein System« 1 0, deutet auf die Schwierigkeiten hin, die Adorno und Horkheimer haben, um irgendeine kohãrente Erklã-

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rung fur die fortschrittliche Dimension des Aufklãrungsuniversalis-mus geben zu kõnnen. Oder wie Herbert Schnãdelbach iiber Hork-heimers Moralphilosophie schrieb:

»One could almost identify criticai theory as a whole with the conviction that the General and the Powerful cannot be good because it is general and powerful; in other words, the Good in this world is to be sought in the ephe-meral, the weak, in the individual impulse, in the exception, indeed in the improbable — in the unexpected and actually unwise goodness of individual motives and actions.«n

Dies ist ein anderer wichtiger Anknúpfungspunkt an Foucault, der den universalen Anspriichen der búrgerlichen Moral sehr ablehnend gegenúbersteht. Das zeigt sich deutlich in einigen Passagen in Wahn-sinn und Gesellschaft, wo Foucault argumentiert, dafi es genau das neu entstehende Gewissen sei, das die Wahnsinnigen zu legitimen Ob-jekten von Korrektionsbemúhungen mache. »Die fundamentalen Prinzipien der búrgerlichen Gesellschaft erlauben diesem Gewissen, das beides ist, privat und universal, ohne Widerrede úber Wahnsinn zu regieren.«1 2

So gesehen tauchen sowohl bei Adorno und Horkheimer ais auch bei Foucault fundamentale Schwierigkeiten auf, die praktischen Konsequenzen ihrer jeweiligen Positionen kohãrent zu formulieren. Erstere vertreten ein Subjektkonzept, allerdings in einer Form, die das Subjekt zu einem unvermeidlichen, totalisierenden Prozefi der Reifizierung verurteilt: Die Gleichsetzung des Universellen und des Rationalen in der Moralphilosophie des Deutschen Idealismus ver-ewigt die Beherrschung der Natur. Foucault dagegen betrachtet das Subjekt meistens ais võllig durch soziale Praktiken konstituiert und erlaubt in dieser Hinsicht mehr Interpretationsfreiheit, in dem Sinne, dafi er manchmal abstreitet, irgendeinen bestimmten Inhalt des Kon-zeptes der Moderne angeben zu kõnnen. 1 3 Der Preis dafur ist aber die Unmôglichkeit, das Konzept der Emanzipation úberhaupt kohãrent denken zu kõnnen, weil — wie wir gesehen haben — Foucault dem, was Horkheimer und Adorno ais das »Eingedenken der Natur im Subjekt, in dessen Vollzug die verkannte Wahrheit aller Kultur be-schlossen liegt . . .« bezeichnen, sehr mifitraut.14

Diese Schwierigkeit erklãrt teilweise die abrupte Verãnderung, die Foucaults Spãtwerk kennzeichnet: Es ist unmõglich, dieses Werk

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nicht sowohl ais Versuch, die Ambiguitát seiner frúheren Beziehung zu Macht- und Emanzipationskonzepten auízulòsen, ais auch ais eine Anerkennung der Grenzen »postmodernen« Denkens zu sehen — welches versucht, das Subjektkonzept zu umgehen und so konse-quenterweise alie kohãrenten Vorstellungen von Freiheit võllig vernichtet. Foucault sieht seine Aufgabe im Spãtwerk darin, die Konzepte der Subjektivitãt und Freiheit so zu formulieren, dafi jeder Anschein, eine solche Freiheit músse die Form einer Wiederherstel-lung eines authentischen »natiirlichen« Ichs annehmen, vermieden wird.

Dieser Schritt wird durch Foucaults Úberzeugung verstàrkt, dafi moderne Machttechnologien und der Glaube an Authentizitãt eng miteinander verbunden sind: Die Vorstellung einer Befreiung der Natur, unterstiitzt von einer wissenschaftlichen Theorie des »Tiefen-selbst« wie der Psychoanalyse, fuhre einfach zu einer tieferen Verskla-vung. In diesem Licht mufi die Weise, in der Foucault in seinem Spátwerk die Subjektfrage neu formuliert, gesehen werden. Was Fou­cault unter einer »Àsthetik der Existenzweise« versteht — inspiriert durch seine Untersuchungen der ethischen Codes der griechischen und rómischen Antike, grúndet sich nicht auf der Suche nach dem wahren Selbst, sondem ist mehr an einer Konstruktion des Selbst orientiert. Diese wird nicht in Begriffen der Authentizitãt beurteilt, sondem in solchen der Schõnheit, Macht und Integritãt.

Zwei fundamentale Fragen mússen zu diesem Konzept gestellt werden. Erstens, ob der Glaube an das wahre Selbst, wie Foucault na-helegt, mit den Machttechnologien innerlich verbunden ist. Und zweitens, ob es móglich ist, an einem Konzept der Freiheit festzuhal-ten, das sich nicht auf irgendeine Vorstellung des wahren Selbst be-ruft.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu bemerken, dafi Ador­no und Horkheimer keinesfalls das manipulierende Potential der Psychoanalyse vergessen. In Mínima Moralia beleuchtet Adorno die Psychoanalyse rúcksichtslos ais eine Form der sozialen Kontrolle:

»Die Psychoanalyse tut sich etwas zugute darauf, den Menschen ihre Ge-nufifãhigkeit wiederzugeben, wie sie durch die neurotische Erkrankung ge-stõrt sei. Ais ob nicht das blofie Wort Genufifahigkeit genúgte, diese, wenn es so etwas gibt, aufs empfindlichste herabzusetzen. Ais ob nicht ein Gliick,

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das sich der Spekulation auf Glúck verdankt, das Gegenteil von Glúck wãre, í«in weiterer Einbruch institutionell geplanter Verhaltensweisen ins immer 'mehr schrumpfende Bereich der Erfahrung.«15

Es ist deutlich ein ãhnliches Interesse, das hinter Foucaults AngrifT auf die «repressive Hypothese« im ersten Teil der Geschichte der Sexua-

l titàt steht und sein Mifitrauen gegenúber Doktrinen der Befreiung, die sich auf das Konzept eines »Tiefenselbst«, das nur durch einige privilegierte Formen des kognitiven Zugangs entdeckt werden músse, begrúndet.

Aber gleichzeitig weist Adornos Position auf das hin, was bei Fou­caults Ablehnung des »Tiefenselbst« verdãchtig erscheint. Adorno leugnet keineswegs den «abgrúndigen Trug des blofi Inwendigen«16, aber gleichzeitig sieht er die Beilegung des »Schrecken[s] vorm Ab-grund des Ich« gleichermafien ais eine Funktion der sozialen Anpas-sungstechnologie.17 Ein ãhnliches Konzept hat wãhrend der sechzi-ger Jahre Herbert Marcuse ais »repressive Entsublimierung« bekannt gemacht: Lange vor Foucault hatte die Tradition der Kritischen Theorie schon die Mõglichkeiten einer repressiven Form der libidi-nõsen Emanzipation beleuchtet, die einfach die Individuen effizien-ter in das bestehende Gesellschaftssystem prefit. Fúr die Kritische Theorie schwáchen diese Mõglichkeiten allerdings nicht die Einsich-ten der Psychoanalyse úber die Zwangslãufigkeit der Dialektik zwi­schen Natur und Gesellschaft ab. Die Kritische Theorie neigte seit den spàten dreifiiger Jahren dazu, die Psychoanalyse ais eine soge-nannte positive Geisteswissenschaft von der »anpassenden« Funktion der therapeutischen Praxis zu unterscheiden. Gleichzeitig blieben Freuds metapsychologische Einsichten ais Ausdruck des konfliktuõ-sen Charakters der Kultur auf der Ebene der individuellen Psyche be-wahrt. 1 8

Bietet Foucaults Konzept einer »Àsthetik der Existenzweise«, ent-í wickelt anhand der Untersuchungen der griechischen und rõmi-, sehen Antike, eine Alternative zur Lõsung dieses Problems? Foucault í appelliert an eine Vorstellung der reinen Selbststilisierung, die nicht

ais eine universale Norm aufgenótigt wird, sondem vielmehr der Ent-| scheidung des Individuums ofTensteht. Jedenfalls ist es schwierig ein-I zusehen, wie in der gegenwãrtigen Gesellschaft ein Umschwung in I Richtung einer Àsthetik der Existenzweise etwas anderes ais eine Ver-

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stárkung gesellschaftlicher Tendenzen in Richtung einer Atomisie-rung sein kõnnte. Aber nicht nur darum geht es, sondem aufierdem auch noch um Foucaults Unfáhigheit, die Dialektik, die dem Kon­zept der Individualitat innewohnt, zu erkennen. Fúr Adorno und Horkheimer gilt:

»In der Selbstãndigkeit und Unvergleichlichkeit des Individuums kristalli-siert sich der Widerstand gegen die blinde, unterdriickende Macht des irra-tionalen Ganzen. Aber dieser Widerstand war historisch nur mõglich durch die Blindheit und Irrationalitãt jenes selbstãndigen und unvergleichlichen Individuums. . . Die radikal individuellen, unaufgelõsten Zúge an einem Menschen sind stets beides in eins, das vom je herrschenden System nicht ganz Erfafite, glúcklich Oberlebende und die Male der Verstúmmelung, wel­che das System seinen Angehórigen antut.«19

Im Gegensatz zu dieser dialektischen Konzeption beschreibt Fou­cault in vielen Werken seit den siebziger Jahren Individualisierung ausschliefilich ais einen EfFekt der Machttechnologien. In seinen letzten Werken wechselt er úberraschenderweise zu einer positiven Haltung gegenúber der individuellen Kultivierung des Ichs. Freihch, was in diesen Werken wie die Verteidigung einer willkúrlichen Stili-sierung des Lebens erscheint, kõnnte leicht die Position, die in der Dialektik der Aufklãrung beschrieben wird, verstàrken:

»Von der genormten Improvisation im Jazz bis zur originellen Filmper-sõnlichkeit, der die Locke úbers Auge hãngen mufi, damit man sie ais solche erkennt, herrscht Pseudoindividualitãt. Das Individuelle reduziert sich auf die Fãhigkeit des Allgemeinen, das Zufállige so ohne Rest zu stempeln, dafi es ais dasselbe festgehalten werden kann.«20

Diese Mõglichkeit wird auch durch die Tatsache verstàrkt, dafi Foucault explizit die »Idee einer analytischen oder notwendigen Ver­bindung zwischen Ethik und anderen sozialen oder õkonomischen oder politischen Strukturen« angreift.21

Die problematischen Zúge in Foucaults Konzept kõnnen noch weiter beleuchtet werden, indem man den Inhalt des Foucaultschen Âsthetikkonzepts in seiner Anrufung einer Âsthetik der Existenzwei-se hinterfragt. Einerseits ist dieser BegrifF ein Anachronismus, wenn er sich auf die ethischen Codes der Antike bezieht, weil, wie Foucault selber zeigt, solche Codes tief in einen Kontext sozialer Macht- und Prestigebeziehungen eingebettet waren; die modeme Autonomie der

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Âsthetik ist hier nicht sichtbar. Weiterhin wúrde das Sprechen úber die Mõglichkeit einer »Àsthetik der Existenzweise« eine Situation be-schreiben, in der die Âsthetik ihre Eigenart verlieren wúrde. Wie Rú-diger Bubner argumentiert hat:

»Vertrautheit mit einer Lebenswelt, in der wir zuhause sind, ist so sehr das Reservoir âsthetischer Effekte, dafi ihr Verlust zugleich den Verlust ãstheti-scher Mõglichkeiten bedeutete. Entlastung, Verfiremdung, neue Spiegelung, volle Beleuchtung, reinen Gehalt erfahren wir nur im Kontrast zum Alltags-gesicht der Dinge. Verschwindet dies, weil das kúnstlerische Phãnomen sich an die Stelle setzt, beginnt die Fiktion zu versteinern.*22

Dieses Argument deutet auf die merkwúrdige Beziehung hin, in der Foucaults Kritik am Tiefenselbst zur neokonservativen Kritik der zeitgenôssischen Kultur steht. Einerseits denunziert er den Kultus der Subjektivitãt und Authentizitãt; gleichzeitig impliziert seine Lõ­sung ein Niederreifien der Barrikade zwischen Kunst und Leben und ein Wachstum der Lebensstile, die nicht primar an Wettbewerb und Leistung orientiert sind — was fur die Neokonservativen subversiv und sozial destruktiv wãre.

Eine letzte Frage, die nicht vermieden werden kann, betrifrt die Art der Freiheit, die Foucault sowohl ais Basis fur den Widerstand gegen Macht ais auch ais Freiheit des Selbstentwurfes anruft. Foucault spricht in seinem Essay úber Kants Was ist Aufklãrung? úber »unsere Konstitution ais autonome Subjekte«, und in einem Interview mit Gerard Raulet stellt er fest, dafi sein Interesse sich auf «eine Analyse der Beziehungen zwischen Formen der Reflexivitàt—eine Beziehung des Ichs zum Ich — und weiterhin zwischen Formen der Reflexivitàt und dem Wahrheitsdiskurs, zwischen Rationalitãtsformen und den Wirkungen des Wissens« richtet.23 Aber gerade dieses Erkennen der Reflexivitàt ais das definierende Attribut der Subjektivitãt lãfit enor­me Probleme entstehen, die in Foucaults Spátwerk úberhaupt nicht mehr untersucht werden.

Es ist Foucaults Standpunkt, dafi der ethische Selbstentwurf in die­sem reflexiven Médium operiert, wãhrend er gleichzeitig leugnet, dafi dieses Médium an sich eine ethische Relevanz hat: es sei nur der Ort fúr »Wahrheitsspiele«.24 Freilich scheinen viele spãte Formulie-rungen diesem Leugnen zu widersprechen. Sein wichtiges Argument

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gegen den Humanismus im Kant-Essay besagt, dafi er durch ein Kon­zept des menschlichen Wesens bestimmt ist.

«Was man Humanismus nennt, hat sich immer stutzen mússen auf be­stimmte Auffassungen vom Menschen, die der Religion, der Wissenschaft oder der Politik entliehen wurden. Humanismus dient der Ausschmúckung und Rechtfertigung der Auffassungen vom Menschen, auf die er sich letzt-endlich berufen mufi.«

Dem stellt Foucault ein Bewufitsein der Kontingenz aller histori­schen Institutionen und Praktiken und »das Prinzip der Kritik und derpermanenten Selbstentwurfes in unserer Autonomie« entgegen.25

Mit dieser Behauptung aber wird evident, dafi die ethische Relevanz der Frage nach einem wahren oder falschen Selbstentwurf nicht ver-mieden werden kann: in dem Sinne, in dem es dem Ich mòglich ist, gegenúber seiner eigenen Autonomie ignorant zu sein; mit anderen Worten, seiner eigenen Aktivitàt gegenúber. Foucault mag zwar die spezifische AuíFassung dieser Aktivitàt ais gleichzeitige Emanzipa-tion vom Naturzwang und Fortsetzung desselben, wie sie die Dialek­tik der Aufklãrung prãsentiert, bestreiten. Aber gegen Ende seines Le-bens zeigt sich, dafi er die Tatsache nicht lãnger úbersehen kann, dafi das Verstehen sozialer und historischer Prozesse, wenn nicht eine Komponente unseres Selbstverstãndnisses, so doch wenigstens ein Beitrag zur Beffeiung unseres Selbstmifiverstãndnisses ist.

Anmerkungen

1 «Structuralism and poststructuralism: an interview with Michel Fou­cault», in: Tebs 55, Friihjahr 1983, S. 200

2 Michel Foucault, «What is Enlightenment?«, in: Paul Rabinow (Hg.), The Foucault Reader, Harmondsworth 1986, S. 43

3 Max Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklãrung Frankfurt 1969, S. 239

4 Ebd., S. 246 5 Michel Foucault, Vberwachen und Strafen, Frankfurt 1976, S. 42 6 Michel Foucault, »Body/Power«, in: Power/Knowledge, Brighton 1980, S. 61 7 Michel Foucault, »Non au Sexe Roi«, Le Nouvel Observateur 644, 12-21

Márz 1977, S. 113

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8 Michel Foucault, Sexualitãt und Wahrheit, Frankfurt 1977, S. 190 9 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik Frankfurt 1975, S. 202 10 Max Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklãrung [Anm. 3],

S. 31 11 H. Schnâdelbach, »Max Horkheimer and the Moral Philosophy of Ger­

man Idealism«, in: Tebs 66, Winter 1985/86, S. 87 12 Michel Foucault, Histoire de la folie à l'âge classique, Paris 1976, S. 465f. 13 «Structuralism and poststructuralism: an interview with Michel Fou­

cault* [Anm. 1], S. 205 1 4 ^ 7 H o r k h e i m e r / T h - W - A d o r n ° . Dialektik der Aufklãrung [Anm. 3],

15 Theodor W. Adorno, Mínima Moralia, Frankfurt 1973, S 73 16 Ebd., S. 77 17 Ebd., S. 78 18 W. Bonfi, «Psychoanalyse ais Wissenschaft und ais Kritik. Zur Freudre-

zeption der Frankfurter Schule«, in: W. Bonfi und A. Honneth (Hg.), So-zialforschung ais Kritik Frankfurt 1983, S. 397-405

19 Max Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklãrung [Anm. 3], S. 257

20 Ebd., S. 163 21 Michel Foucault, «On the Genealogy of ethics«, in: H. Dreyfus/P. Rabi­

now, Michel Foucault: Beyond Structuralism and Hermeneutics, 2. Auflaee Chicago 1982, S. 236

22 Rúdiger Bubner, «Moderne Ersatzfunktionen des Àsthetischen«, in: Mer-kur, Nr. 2, Februar 1986, S. 107

23 «Structuralism and Poststructuralism: an interview with Michel Fou­cault* [Anm. 1], S. 203

24 Michel Foucault, The use of pleasure, Harmondsworth 1985, S. 6 25 Michel Foucault, »What is Enlightenment?* [Anm. 2], S. 44

Aus dem Englischen von H. Malkus

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W I L L E M V A N R E I J E N

Der Flaneur und Odysseus

».. . alies gewesene Sein verwandelt sich in Allegorie, und damit hõrt Allego-rie auf, eine blofi kunstgeschichtlkhe Kategorie zu sein« (Th.W. Adorno, Die Idee der Naturgeschichte [GS I, S. 360].

In ihrer Dialektik der Aufklãrung rekonstruieren Horkheimer und Adorno den Zerfallsprozefi der Moderne. Sie lesen unsere selbstzer-stõrerische geschichdiche Dynamik nicht nur an der gesamtgesell-schaftlichen Konstellation ab, sondem auch an jener Gestalt, in der sich diese Dynamik beispielhaft individualisiert: Odysseus. Unter dem Einflufi Walter Benjamins hatte Adorno etwa zehn Jahre fruher an einer anderen Gestalt die Zeichen der Zeit zu erkunden gesucht: am Flaneur. U m diesen Wechsel lãfit sich eine Vielzahl Probleme sy-stematischer Art gruppieren. Zwei davon werde ich im folgenden nà-her zu erõrtern versuchen. Einmal geht es bei der Wahl zwischen Fla­neur und Odysseus um die Frage, ob Herrschaft oder materielle Ver-hãltnisse in erster Linie den Menschen und seine Geschichte bestim-men; zum anderen um die Frage, wie Dialektik verstanden werden sollte: ais das Offenhalten einer Mitte zwischen Extremen (Benja­min) oder ais begriffliches Durcharbeiten von Gegensàtzen (Ador­no). Ich erinnere zunãchst an Adornos fruhe Interpretation des Fla-neurs. In Adornos Habilitationsschrift úber Kierkegaard (1933) fin-den sich Abschnitte, die úberschrieben sind: >Intérieur< und >Barock<. Adornos Darstellung beider Themen greift zurúck auf Gesprãche, die Adorno mit Benjamin fuhrte (siehe v. Reijen 1988); sie kommentiert kritisch Kierkegaards Selbstverstãndnis ais >Flaneur< und >barocker

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Denker< (1933, S. 91).'Adorno charakterisiert Kierkegaards Position ais objekdose Innerlichkeit. Diese sei auch das wahre Gesicht des Ba-rocks. Ich werde im folgenden nachweisen, dafi die Themenkomple-xe >Flaneur<, >Interiéur< und >Barock<, die in Adornos Kierkegaard-buch eine wichtige Rolle spielen, die Folie bilden, vor der sich die Be­stimmung des Odysseus in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklãrung (1947)1 vollzieht. Die Pertinenz dieser Themen erklãrt sich aus den gesellschaftskritischen und methodologischen Interes-sen, die Adorno an der Klãrung der Ursache fur die Selbstzerstórung der abendlãndischen Kultur hatte. Fúr ihn spielte, trotz der zerstõre-rischen Wirkung, die er der Tauschabstraktion beimafi, doch vor al­iem die Unterdrúckung der Natur des Menschen, die sich in soziale und kulturelle Unterdrúckung fortsetzte, die wichtigste Rolle. In die­sem Punkt Iag die Differenz zwischen ihm und Benjamin begrúndet, dem Adorno anlãfilich seines Das Paris des Second Empire bei Baudelaire unter anderem vorwarf, allzu unvermittelt Uberbauphànomene mit wirtschaftlichen Verhãltnissen zu konfrontieren.

Daraus kõnne nur, so Adorno, ein Sprung ins Transzendente re-sultieren. Ganz gleich aber, ob dieser Sprung ins Metaphysische oder ins Innerliche fuhre — er sei eine Flucht vor der Realitãt. Insofern sei auch die Darstellung des Individuums ais Flaneur angemessen. Es komme jedoch vielmehr darauf an, die Antagonismen immanent dialektisch begrifflich durchzuarbeiten. In diesem Punkt kritisiert Adorno also zugleich Benjamin. Beispielhaft fur den modernen Menschen ist nicht der Flaneur, sondem Odysseus, der seine Wider-sprúche in sich austrágt.

Diese These mõchte ich untermauern, indem ich Benjamins »Fla-neur« mit dem »Odysseus« aus der Dialektik der Aufklãrung konfron-tiere und zeige, dafi Horkheimer und Adorno, anders ais Benjamin, der fúr den Flaneur (und damit fur das Ganze der gesellschaftlichen Verhàltnisse) die Einfuhlung in die Ware fur bestimmend hielt, Herrschaft fur das grundlegende Problem gehalten haben. Nicht der Flaneur, sondem Odysseus war in ihren Augen deswegen die para-digmatische Gestalt, an der sich die Dynamik der Selbstzerstórung des Abendlandes exemplifizieren lasse.

Adornos Interesse an der philosophischen Bedeutung des »Inté-rieurs« lãfit sich mit einer Passage aus seinem Kierkegaardbuch bele-

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gen: Adorno kritisiert Kierkegaards Entwertung der gesellschaftli­chen und natúrlichen Wirklichkeit, die er aus dem «Johannes Clima-cus, oder de omnibus dubitandum est« úberschriebenen Text abzule-sen gezwungen ist. Er zitiert: »WennJohannes [nach Kierkegaards ei-gener Angabe eine Chiffre fur ihn selbst — vR] zuweilen um die Er-laubnis ausgehen zu dúrfen bat, wurde es ihm meistens abgeschla-gen; hingegen schlug ihm der Vater ais Ersatz zuweilen vor, an seiner Hand auf dem Fufiboden auf und ab zu spazieren. Beim ersten Hin-sehen war dies ein ãrmlicher Ersatz, und doch etwas ganz anderes war darin verborgen. Der Vorschlag wurde angenommen, und es wurde Johannes ganz úberlassen zu bestimmen, wo sie hingehen wollten. Dann gingen sie aus der Einfahrt, zu einem naheliegenden Lust-schlofi, oder hinaus zum Strande, oder auf und ab in den Strafien, ganz wie Johannes es wollte; denn der Vater vermochte alies. Wãh­rend sie nun auf dem Fufiboden auf und ab gingen, erzàhlte der Vater alies, was sie sahen; sie griifiten die Voriibergehenden, Wagen làrm-ten an ihnen vorbei tfnd úbertõnten des Vaters Stimme; die Friichte der Kuchenfrau waren einladender denn je« (1933, S. 60). Adorno in-terpretiert dieses Zitat folgendermafien: »So geht der Flaneur im Zim-mer spazieren; Wirklichkeit erscheint ihm allein reflektiert von blo-fier Innerlichkeit« (1933, S. 62). Der »blofien«, oder wie Adorno sie in diesem Zusammenhang pointiert nennt, der »objekdosen Innerlich-keit« korrespondiert eine ãufiere Wirklichkeit, die entsubstantiali-siert, das heifit »vom Produktionsprozefi der Wirtschaft« losgekop-pelt ist. Zwingend ergibt sich daraus fur Adorno die »Selbstherrlich-keit des Geistes«, die in der ãsthetischen Erfahrung widerstandslos dem «Schein der Versõhnung« erliegt (1933, S. 234). Damit ist jede Mõglichkeit, einen Zusammenhang zwischen Kultur, Natur, Ge­schichte und Philosophie in kritischer Absicht, und das heifit ais un-versõhnliche Widerspriichlichkeit, herzustellen, vertan. So wie dem Flaneur die Passage, ja die ganze Stadt zum Interieur wird, so wird dem Philosophen die ganze Wirklichkeit zu einem Bewufitseinsphá-nomen. Kierkegaard entwickelt keine wirkliche Dialektik, «Hegel schlãgt bei ihm nach innen« (1933, S. 49). Der daraus resultierende Wirklichkeitsverlust kann nicht mehr ausgeglichen werden. Die Ab­sicht, eben dies zu leisten, sei zwar »sachlich« da, kõnne aber nicht mehr theoretisch eingeholt werden . . . (1933, S. 86).

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Infolgedessen stiirzt alies Aufien in einen Punkt zusammen (1933, S. 66). Die Dialektik wird »objekdos« (1933, S. 48). »Lieber lãfit er [Kierkegaard — vR] Bewufitsein ohne Beginn und Ziel kreisen im dunklen Labyrinth seiner selbst und seiner kommunizierenden Gãn-ge, ohne Hoffhung erwartend, ob nicht im entlegensten Schacht Hoffnung ais ferne Helle des Ausgangs ihm aufgehe, ais dafi er an der Fata Morgana statische Ontologie sich bezauberte, deren Verspre-chen der autonomen ratio sich nicht erfullen« (1933, S. 48). Damit ist der Úbergang zum zweiten Komplex eingeleitet: Indem Kierkegaard sich selbst ais Flaneur bezeichnet hat, empfand er sich ais Melancho-liker, ais Schwermútiger. Der Anblick eines jungen Mãdchens erin-nert ihn gerade durch dessen »Lieblichkeit am allerempfindlichsten an die Hinfãlligkeit des irdischen Lebens«; diese allegorische Inten-tion erweist eine sachliche Affinitãt zum Barock (1933, S. 91). Auch diese Beziehung zum Barock hat Kierkegaard selbst hergestellt, in­dem er sich gelegentlich einen »barocken« Denker nennt (ebd.).

Dieser Einschãtzung stimmt im úbrigen Benjamin in seiner Re-zension des Kierkegaard ausdrúcklich zu. »Der vorliegende Versuch geht an den Gegenstand von einer ganz anderen Seite [ais die von der dialektischen Theologie Barths und von dem existentialistischen Denken Heideggers inspirierte Rezeption Kierkegaards] heran. Kier­kegaard wird hier nicht fortgefuhrt, sondem zuriick: Zuriick ins Inne-re des philosophischen Idealismus, in dessen Bannkreis die eigent-lich theologische Intention des Denkers zur Ohnmacht verurteilt bleibt« (Benjamin, GS III, S. 380 f.). Es heifit weiter: »Pascal und die Allegorienhõlle des Barock sind hier der Vorhof jener Zelle, in der Kierkegaard der Trauer sich anheimgibt So bekommt die Kierke-gaardsche Innerlichkeit ihren bestimmten Ort in der Geschichte und Gesellschaft. Ihr Modell ist das búrgerliche Interieur, in welchem hi­storische und mythische Zúge ineinandertreten« (ebd., S. 382).2

Adornos Kritik an Kierkegaards Philosophie der objekdosen Inner­lichkeit zeigt, dafi Adorno diesen Ansatz von innen heraus, d.h. ohne Rekurs auf Transzendenz sprengen will. Er úbemimmt zwar Benja­mins Prozedere der »Rettung durch Mortifikation«, aber greift nicht auf ein Verhãltnis von Begriffen und »Ideen« zuriick, wie es Benjamin seinen sprachphilosophischen Spekulationen zugrunde gelegt hatte, sondem setzt auf eine begriffliche Durcharbeitung der Gegensàtze.

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Die Dialektik der Aufklãrung

Mehr ais zehn Jahre nach Adornos Kierkegaard legen Horkheimer und Adorno mit ihrer Dialektik der Aufklãrung einen — sowohl dem Inhalt wie der Form nach — allegorischen Text vor. Ais Allegorie ist dieser Text dem dargestellten Gegenstand angemessen. Handelt es sich doch dabei um eine Gesellschaftsform, die 1. antagonistisch ist, und 2. einem katastrophalen Ende entgegengeht.3 Horkheimer und Adorno sind sich dabei der »Kierkegaard-Benjamin-Problematik«, d.h. der Frage nach der Prioritãt von Wirtschafts- und Herrschaftsbe-dingungen natúrlich bewufit gewesen, und das hat sich in der Inter-pretation des Odysseus artikuliert.

Schon die Komposition des Buches kann ais allegorisch bezeich-net werden. Die Dialektik der Aufklãrungist kein Traktat, sondem eine Sammlung von Fragmenten mit sehr heterogenen Themen. Im Zen-trum stehen die These von der Selbstzerstórung der abendlãndischen Kultur: «Nicht blofi die ideelle, auch die praktische Tendenz zur Selbstvernichtung gehõrt der Rationalitãt seit Anfang zu . . .«(Hork-heimer/Adomo 1947, S. 11) und die Diagnose ihres kurz bevorste-henden Untergangs:»... die vollends aufgeklãrte Erde strahlt im Zei-chen triumphalen Unheils« (Horkheimer/Adomo 1947, S. 13). Um dieses Untergangsthema, sozusagen die Leere der Kultur, gruppieren sich Abhandlungen úber so heterogene Themen wie die Kulturindu-strie, die Schriften de Sades, den Antisemitismus und sogar úber eine Theorie der Gespenster.

Das wichtigste Thema der barocken Allegorie sind unversõhnliche Gegensãtze, die vielfach in Gestalt eines Oxymorons dargestellt wer­den. Nicht nur dem Aufbau nach, auch inhaltlich bestimmen Gegen­sãtze das Denken der Dialektik der Aufklãrung. Horkheimer und Adorno stellen in der Passage, die die Vorbeifahrt des Odysseus an den Sirenen beschreibt, diesen ais den modernen Menschen — par excellence — dar und schildem ihn eben in dieser Gestalt ais eine Konfiguration heterogenster Eigenschaften. Die Passage sollte ein Durchgang, ein Lebensstadium sein. Der Mensch sollte ais Reisen-der, ais Pilger einer »rite de passage«, einem Lernprozefi unterworfen werden, aus dem er ais Gereifter hervorgeht. Diese Vorstellung setzt eine symbolische Ordnung, in der Gegensãtze im Zuge einer wach-

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senden Harmonié ausgeglichen werden, voraus. Nur unter einer sol­chen Bedingung kõnnen Individuen teleologisch bestimmte Lern-prozesse durchmachen.

In seiner Heterogenitãt, im Widerspruch von Selbstrettung und Selbstzerstórung, wird Odysseus aber ais eine Gestalt, die nie dazu-lernt, sichtbar. Parallel dazu stellen Horkheimer und Adorno die abendlãndische Kultur dar, ais sei sie dem Prozefi der Selbstzerstó­rung unentrinnbar ausgeliefert.

Ich werde nun 1. den Vorgang der Vorbeifahrt des Odysseus an den Sirenen ais Schlússelstelle zum Verstàndnis des Ursprungs der »Moderne«, d.h. ihrer Allegorisierung interpretieren und 2. die Ge­stalt des Odysseus, ais erster moderner Mensch, ais allegorische Ge­stalt deuten. Zunàchst aber eine Erinnerung an die Hauptthese der Dialektik der Aufklãrung: Das grofie Thema dieses Buches ist bekannt-lich die Selbstzerstórung der Aufklãrung. Pointiert formuliert heifit es, die Aufklãrung fuhre dazu, dafi an die Stelle eines harmonischen Verhãltnisses zwischen Menschen, zwischen Mensch und Natur ein Herrschaftsverhãltnis getreten ist. (Bacons »Wissen ist Macht« wird gleich auf der ersten Seite des Erõffhungsaufsatzes »Begriff der Auf-klàrung« zitiert.) Denken heifit sich distanzieren, Auflõsen der Mi-mesis, d.h. jener ursprunglichen Einheit, die im Urteil in Objekt, Sub­jekt und Aussage geschieden in Erscheinung tritt. Die Aufklãrung ais jene Initíatíve, Denken zum Analyse-, Diagnose- und dann Steuer-ungsinstrument individuellen und kollektiven Handelns zu machen, treibt nicht nur unseren Erkenntnistrieb an, sondem auch unser Stre-ben nach Macht. Was sich anfánglich ais nútzlich fur die Selbsterhal­tung zu erweisen schien, entpuppt sich bald ais ein selbstzerstõreri-scher Bumerang. Das Streben nach Macht eskaliert. Die Herrschaft des Menschen úber die àufiere Natur zur Steigerung der Selbsterhal-tungsmõglichkeiten hãlt an der Grenze zur menschlichen Natur nicht inne. Die Gewalt gegen die erste schlãgt um in Unterdrúckung der letzten und der Mitmenschen. Sie schuldet sich letztendlich der Entwicklung der Erkenntnis und dem ihr innewohnenden Anwen-dungszwang.

Sofem das Denken von Horkheimer und Adorno ais jenes »Selbst« angesprochen wird, das Gegenstand der Selbsterhaltung ist, ist die Einsicht unvermeidlich, dafi die Selbsterhaltung—gegenúber der ãu-

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fieren Natur — umschlãgt in Selbstzerstórung der inneren Natur. Die beabsichtigte — antagonistische Doppeldeutigkeit des Terminus »Selbst« liegt auf der Hand. Sie signalisiert keine begriffliche Schlu-drigkeit seitens der Autoren, sondem zeigt an, dafi unter der Herrschaft der Aufklãrung àufiere und innere Natur auseinanderge-treten sind, dafi den antagonistischen gesellschaftlichen Verhãltnis­sen auf der begrifflichen Ebene Doppeldeutigkeiten entsprechen. Deswegen kõnnen sich Horkheimer und Adorno die Frage stellen, welches Selbst unter den heutigen Verhãltnissen denn eigendich noch gerettet werden kõnnte und sollte.

»Die Herrschaft des Menschen úber sich selbst, die sein Selbst be-grúndet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht. . .« (Horkheimer/Adorno 1947, S. 71). Es sei nun aber keineswegs so, dafi die Aufklãrung im 18. Jahrhundert ais vollstãndig neues Element in die Geschichte tritt. Horkheimer und Adorno versuchen nachzuweisen, dafi theoretisches Ordnungsbe-dúrfnis und praktische Machtausúbung von Anfang an miteinander verschwistert waren und vom Menschen praktiziert wurden. Aufklã­rung ist ursprúnglich keineswegs der absolute Gegensatz zum My­thos. Schon mit Hilfe des Mythos versuchte der Mensch Ordnung in das Chãos zu bringen und Macht úber die Natur auszuúben. Es heifit denn auch: ». . . schon der Mythos ist Aufklãrung, und: Aufklãrung schlàgt in Mythologie zurúck« (Horkheimer/Adomo 1947, S. 10). Mythos und Aufklãrung bilden also eher eine Identitàt ais einen Ge­gensatz — aber eben eine in sich hôchst antagonistische Identitãt, wie sich auch an der Doppeldeutigkeit des Terminus »Aufklãrung« zei­gen lãfit. »Aufklãrung« heifit einmal Zweck-Mittel-Rationalitát, wenn gesagt wird, dafi immer mehr davon uns in den Untergang fuhrt — und heifit ein anderes Mal Kritik der Zweck-Mittel-Rationalitãt, wenn gesagt wird, dafi nur mehr davon uns retten kann. Dem Wider­spruch auf der Ebene der theoretischen Erõrterung korrespondiert ein Antagonismus, also ein Verhãltnis von realen gegensàtzlichen Krãften in der Wirklichkeit. Was hier sozusagen praktisch antagoni-stisch ist, kann dort, theoretisch, nicht widerspruchsfrei verbalisiert werden. Mit dem Formulieren dieser Doppeldeutigkeit verabschie-den sich Horkheimer und Adorno also keineswegs, wie Habermas meint, aus der Philosophie, sondem tragen der Tatsache Rechnung,

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dafi die Wirklichkeit selbst antagonistisch ist. Folgerichtig kõnnen sie auch kein Instmmentarium zur Verbesserung von Mitteleuropa ent-wickeln, sondem nur eine heuristische Perspektive entfalten.

Ich mõchte hervorheben, dafi Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklãrung also absichtsvoll mit Doppeldeutigkeiten operieren, einem Phãnomen gegensãtzliche, unversõhnliche Quali-tàten zusprechen. Es gibt kein Metaniveau, keine symbolische Ord­nung ais Ort, von dem aus diese Widersprúche und Antagonismen aufgehoben werden kõnnten. Damit wird der Gedanke an einen un-vermeidlichen Untergang beschworen. Diese Sieht sollte man nicht unbedingt ais pessimistisch, eher ais tragisch bezeichnen. Ich werde nun versuchen zu zeigen, dafi sowohl die Vorbeifahrt des Odysseus bei den Sirenen ais auch die Gestalt des Odysseus selbst ais allegori-sche Figuren zu verstehen sind. Die Vorbeifahrt, weil die Passage ais ein »Nicht-von-der-Stelle-Kommen« zu verstehen ist, ais eine ewige Wiederkehr des Gleichen (des Neuen) — und Odysseus, weil er durch eine Vielzahl unaufhebbarer (Selbst-)Widersprúche gekennzeichnet ist.

Zum Thema der Passage

Dafi die Odysseuspassage ais Schlússelstelle des ganzen Buches Dia­lektik der Aufklãrung, aber auch ais Allegorisierung des tatsàchlich stattfindenden historischen Prozesses der Dialektik der Aufklãrung betrachtet werden mufi, werde ich nun anhand einiger Themen nã-her inhaltlich erlãutern.

Wir erinnem uns, wie Odysseus nach dem Aufenthalt bei Kirke, um nach Ithaka zu gelangen, dem verfuhrerischen Gesang der Sire­nen Widerstand leisten mufi. Verfállt er der Verlockung, werden auch seine Gebeine bald am Gestade liegen. Der Gesang der Sirenen lockt Odysseus, wie Homer sagt, zuriick in die Vergangenheit — psy-chologisch gesprochen also in die Regression — wãhrend er doch ais Prototyp dese modernen Menschen sich fest auf die Zukunft zu kon-zentrieren hat. Noch ist Odysseus teilweise einer mythischen Hal-tung verhaftet, die nicht zum Unterscheiden von Innen- und Aufien-

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welt, von Vergangenheit und Zukunft zwingt — aber gleichzeitig ist ihm die harmonische Einordnung in die symbolische Einheit der Zeit verwehrt. Gibt er sich der Lockung der Sirenen, der Verfuhrung der Regression (Vergangenheit) hin, zahlt er dafiir den Preis der Zu­kunft. Entscheidet er sich fur die Zukunft und entrinnt den Sirenen, gibt die Zukunft sich ais leerer Fortschritt und ais unaufhaltsame Machtentfaltung zu erkennen. Zwar besiegt Odysseus die Sirenen, indem er sich an den Mast fesseln lãfit und die Ohren seiner Ruderer mit Wachs verstopft, aber die Folgen dieser List sind katastrophal — fur die Sirenen (die Kunst), denn sie mússen sich, nachdem ihre ma-gische Kraft versagt hat, wie die Sphinx nach Auflósung des Ràtsels in die Fluten stiirzen, wie auch fur Odysseus und seine Arbeiter, die ab jetzt nicht mehr ais Individuen, sondem blofi noch ais Prototypen, ais Charaktermasken des Kapitalisten und des Proletariers in Erschei-nung treten. Odysseus' Gefáhrten mússen fur den Fronherm schuf-ten, ohne die Kunst geniefien zu kõnnen, sogar ohne um deren Schõnheit zu wissen.

Die Sirenen vollziehen (wie spãter der Kapitalismus) nach dem ehemen Gesetz des Schicksals an sich selbst, was sie zuvor anderen angetan haben — und nicht anders tut Odysseus sich das an, was er seinen Gefáhrten zumutet: in welcher Form auch immer ist es nicht anders denn ais Selbstzerstórung zu sehen. Nachdem die Kunst in Gestalt der Sirenen an ihr Ende gekommen ist, ist das, was an ihre Stelle tritt, blofie Wiederholung des immer gleichen. Diesem leeren Wiederholungszwang ist Odysseus fortan zeidebens unterworfen. Er passiert die Sirenen nie wirklich: kaum vorstellbar, dafi ihr verfuhreri-scher Gesang ihm nicht bis ans Ende seiner Tage ais Sehnsucht nach Erfullung gegenwártig geblieben ist. So ist er wohl gezwungen, die Vorbeifahrt immer wieder zu wiederholen. Die permanente Wieder­holung, gedacht ais Stillstand, ist das Merkmal der melancholischen Haltung, die bevorzugt in der barocken Allegorie dargestellt wird.

Mit den Sirenen dúrfte úbrigens auch der Felsen, auf dem sie lager-ten, ins Wasser versunken sein: jener Fels, an dem sich, nach Homer, die Zeitdimensionen getrennt haben. Danach fiel die Passage in eins mit ihrem Gegenteil: Stillstand. In der Odysseuspassage werden wie in einem Brennpunkt die Hauptthemen unserer Kultur und das The­ma ihres Untergangs dargestellt: das Verhãltnis von Vergangenheit,

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Gegenwart und Zukunft, von Herrschaft wie Mythos, Arbeit und Mufie fur den Kunstgenufi, von Tod und Leben, von Regression und Fortschritt, von List und Opfer, von autonomer Identitãt und Selbst-vergessenheit angesprochen. Schliefilich werden in dieser Passage Ort und Bedeutung des Buches selbst, schlicht der Philosophie úber­haupt angesprochen.

Gegenúberstellung von »Odysseus« und »Flaneur«

Der Doppeldeutigkeit der Vorbeifahrt in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklãrung entspricht dem durch Benjamin festgestell-ten »Zwielicht« der Pariser Passagen. Das ist nicht nur wõrtlich zu ver­stehen, sondem auch allegorisch. Die Passage ist fur Benjamin nicht nur Durchgang und Úbergang, sondem auch Interieur. Die Passage lãdt die Passanten zum Verweilen ein. In Anschlufi an E.R. Curtius stellt Benjamin fest, dafi die immer kleiner werdenden Wohnungen die Menschen auf die Strafie treiben; dort streben sie danach, sich wieder einkapseln zu lassen. Eine Parallele dazu sieht Benjamin in der zunehmenden Verwendung von Futteralen und Húllen, um Ge-brauchsgegenstãnde aufzubewahren. So funktioniert auch die Passa­ge ais Futteral fur den Menschen, sie bewahrt ihn auf wie der Samm-ler seine Objekte hútet. Der Sammler entzieht seine Stúcke der Zir-kulation, nimmt ihnen die Eigenschaft, Ware zu sein, sie werden dem lebendigen Zusammenhang der Zirkulation (Marx) entnom-men und sozusagen getõtet, sie werden zur »nature morte«, zum Stil-leben. Deswegen ist die Passage auch Ort der Langeweile, sogar der Melancholie. Die Zeit steht still — wie die Dialektik. Der Passant er-starrt auf der Schwelle der Passage — die Passage ais solche wird zur Schwelle. Alie Bewegung hált inne, ohne dafi ein Ziel erreicht wãre, wiederholt sich permanent, ziellos. Fúr den Allegoriker sind die Pas­sagen, wie ffúher die Erdhõhlen, »Seelenrãume der Psyche« (Fáber 1986; Frank 1979). Die Melancholie, die durch den Aufenthalt in der Passage evoziert wird, unterstreicht den Zusammenhang zwischen Barock und Neuzeit. Die Passage ais »Welt ohne Fenster« (Benjamin) bietet keine Aussicht. . . auf Erlõsung, auf das Erreichen einer wahren

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Bestimmung. Die Mahr des Fliegenden Hollánders, durch Manfred Frank schon ais Wagnersche Kapitalismuskritik interpretiert, wird jetzt zu einer allumfassenden kulturkritischen Allegorie.

Wie Odysseus wãhrend der Vorbeifahrt bei den Sirenen, zeigt der Flaneur in der Passage sein wahres Wesen. Aragons Le paysan de Paris verdankt Benjamin die Anregung, sich dem Phànomen der Passage zuzuwenden. Allerdings will Benjamin es nicht bei einer blofi kultu­rellen Kritik bewenden lassen. Er hat sich zum Ziel gesetzt, ein zen-trales Problem des historischen Materialismus zu lõsen, ihre abstrak-ten Konzepte, wie es die Allegorie tut, zu veranschaulichen. Dafiir entwickelte er bekanndich ein neues, das sogenannte mikrologische Verfahren: aus einem konkreten Phãnomen extrapoliert er allgemei-ne Merkmale des gesellschaftlichen und kulturellen Zusammen-hangs. Entsprechend verfáhrt Benjamin mit dem Konzept der Ware, d.h. ihres Fetischcharakters (Tiedemann 1982, S. 13). Benjamin sieht die Passagen ais Tempel, in denen die Ware ais Fetisch angebetet wird. Indem die Ware ais Fetisch gesehen wird, wird zum Ausdruck gebracht, dafi das Bewufitsein dessen, dafi die Ware ein Produkt ge-sellschaftlicher Verhãltnisse ist, verloren gegangen ist und dafi die ge­sellschaftlichen Verhàltnisse zu Verhãltnissen zwischen Dingen ge­worden sind. »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also ein­fach darin, dafi sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit ais gegenstándliche Charaktere der Arbeitspro-dukte selbst, ais gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zuriickspiegelt« (Marx, M E W 23, S. 86).

Die Verdinglichung gesellschaftlicher Verhàltnisse schuldet sich dem im Kapitalismus paradoxen Charakter der Ware, zugleich Tausch- und Gebrauchswert zu sein. Anders ais Marx kann Benjamin nach dem Verlauf der «Zweiten Internatíonale«, der Stalinisierung und dem Faschismus nicht mehr auf eine wirkliche Revolution hof-fen. Theoretische Konsequenzen zieht Benjamin aus dem Ausblei-ben der Revolution, indem er die Erklãrung fur den Bestand des Ka­pitalismus von der Sphàre Produktion auf die, auch schon von Marx erwãhnte herrschende »Phantasmagorie« verlegt. Marx: »Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhãltnis der Menschen selbst, wel-ches hier fur sie die phantasmagorische Form eines Verhãltnisses von Dingen annimmt« (MEW 23, S. 86).

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Paris ais Hauptstadt der Konsumption, das Kaufhaus und nament-lich die Passagen sind Materialisierungen dieser Phantasmagorie — sie bringen, wie Benjamin sagt, im Fetischcharakter der Ware den »sex appeal« des Anorganischen zum Ausdruck.

Das Bewufitsein, mit dem die Menschen ihre Gesellschaft gestal-ten sollten, ist ihnen abhanden gekommen. Das heifit, dafi sie auf ei­ne magische oder mythische Stufe regredieren. Sie sind im real exi-stierenden Kapitalismus selber zu Dingen, zur Ware geworden, sie haben sich selbst in Abhángigkeit begeben. Das hervorragende Bei-spiel fur diese selbstgeschaffene Abhángigkeit gibt der Flaneur. Er hàlt sich bevorzugt in der Passage auf. Sie ist die »geile Strafie des Handels, nur angetan, die Begierden zu wecken« (Benjamin 1982, S. 93). Hier inszeniert die Mode die ewige Wiederkehr des Neuen und schreibt das Ritual vor, nach dem der Fetisch angebetet werden will.

Der Flaneur ist einem Uberangebot von Waren nicht weniger aus-gesetzt ais der Illusion, iiber sie verfugen zu kõnnen. Er ist sich dessen nicht bewufit, dafi er sich selbst zu einer Ware unter anderen macht. Er geht keineswegs, wie er meint, auf den Markt, um sich umzu-schauen, sondem vielmehr, um sich anschauen zu lassen. Er bietet sich selbst zum Verkauf an, fuhrt, wie Benjamin sagt, den Begriff der Káuflichkeit selbst spazieren (1982, S. 93).

Der Flaneur ist somit das mãnnliche und intellektuelle Ebenbild der Hure. Die Hure ist nach Benjamin nicht nur die Verkãuferin ei­ner Ware, sondem zugleich die Ware selbst. Sie ist damit die Verkõr-perung der Allegorie der Ware ais Gebrauchswert und Tauschwert in einem.

Der Flaneur und die Hure sind Grenzgànger, sie unterziehen sich immer wieder der »rite de passage«, die sie in die Hõlle fuhrt. »Die Totalitãt der Zúge zu bestimmen, in denen dies >Moderne< sich aus-prãgt, heifit die Hõlle darstellen« (1982, S. 1011). Die Passage ais «Himmel der Konsumption« ist zugleich die Hõlle. Ais Himmel der Konsumption lockt die Passage die Menschen an. Sie strahlt wie eine Feengrotte. Wer sich wie ein zeitgenõssischer Odysseus in die Passa­ge traut, wird von der einen Seite angelockt durch den Gesang der Si­renen des Gaslichts, von der anderen Seite durch die Õlflammen von Odalisken (1982, S. 700). Odysseus' klassische Passage ist entwertet zur Ladenstrafie, die Fee zur Hure. Nicht anders ais andere Waren,

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die dem Diktat der Mode unterworfen sind, veralten auch die Passa­gen. Wie diese tragen sie die Ursache ihrer Entwertung in sich, denn im Kapitalismus entwertet die Ware nichts so sehr wie die Ware selbst. Die Mode ais permanente Wiederholung des Neuen ist die fortdauernde Entwertung.

Abschliefiend kann man also feststellen, dafi die Gestalt des Fla-neurs bei Kierkegaard das Individuum darstellt, das der »objekdosen Innerlichkeit« verfallen ist; es lebt eine »ásthetische Existenz«. Ador­no versteht das in seinem Kierkegaardbuch so, dafi es, wie Benjamins Flaneur, von der Gesellschaft und ihrer materiellen Reproduktion abgeschnitten ist. Anders ais Benjamin, der in seinem Das Paris des SecondEmpire bei Baudelaire den Flaneur ais denjenigen bestimmt, der sich in die Ware einfuhlt, und der mit dieser Analyse auf das »Erwa-chen aus dem Traumschlaf des 19. Jahrhunderts«, aus der Phantas-magorie, einwirken mõchte, verstehen Horkheimer und Adorno »ihren Flaneur«, Odysseus, ais einen, der sich in die Herrschaft ein-gefuhlt hat. Nur vermittelt úber die Kritik der Herrschaft kann sich der moderne Mensch seines Selbst, seiner Widersprúche und der An-tagonismen, mit denen er konff ontíert ist, bewufit werden — die Aus-sicht auf Verbesserung oder auch nur auf Uberleben bleibt allerdings ungewifi. Benjamins Flaneur hàlt die Mitte zwischen den wider-sprúchlichen Extremen und den unversõhnlichen antagonistischen Kráften offen; die Dialektik sollte darin zum Stillstand gebracht wer­den, damit das profane Licht der Erlõsung Eingang finde.

Anmerkungen

1 Die Odysseuspassagen ftnden sich auf S. 46-51 und im 1. Exkurs, S. 58-99, von Horkheimer/Adorno 1947.

2 In einem Schreiben an Adorno vom 1.12.1932 lobt Benjamin Adornos «Wegkarte durch das Land der Innerlichkeit«, die «Darstellung der barok-ken Motive bei Kierkegaard, die epochale Analyse des Intérieurs, die wundervollen Zitate... aus dem Allegorienschatz...«(Benjamin, GSIII, S. 661).

3 Ich habe in v. Reijen (1987) die innere Beziehung zwischen Barock (Alle­gorie) und Postmoderne (Allegorie) nâher erlãutert.

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Literatur

Adorno, Th.W. (1933) Kierkegaard, Túbingen (Zitate nach der Ausgabe Frankfurt/M. 1979)

Benjamin, W. (1982) Das Passagen-Werk (= Ges. Schriften, Bd. 5), Frankfurt/ M.

Fáber, R. (1986) »Paris, das Rom des 19.Jahrhunderts«, in: Bolz, N./Faber, R. (Hg.), Antike und Moderne. Zu W. Benjamins Passager, Wúrzburg

Frank, M. (1979) Die unendliche Fahrt, Frankfurt/M. Horkheimer,M./Adorno, Th. (1947) Dialektik der Aufklãrung Amsterdam Reijen, W.v. (1987) »Die Dialektik der Aufklãrung gelesen ais Allegorie«, in:

Schmid Noerr, G. (Hg.) Vierzigjahre Flaschenpost. Die Dialektik der Aufklã­rung 1947-1987, Frankfurt/M.

— (1988) Beitrag zu den Kongrefiakten des Barock-Kongresses in Wolfen-búttel (in Druck)

Tiedemann, R. (1982) Einleitung zu: W. Benjamin (1982)

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H E L G A G E Y E R - R Y A N

Von der Dialektik der Aufklãrung zur Dialektik der Odyssee

Gegen eine puristische Moderne bei Adorno und Horkheimer

Im Zuge der neuen franzõsischen Philosophie ist auch die Dialektik der Aufklãrung wieder ins Rampenlicht internationaler Geschichtsre-flexion geriickt. Dort sitzt sie zwischen den Stúhlen. Den Franzosen ist sie noch zu humanistisch. Habermas dagegen wirft ihr den glei-chen performativen Widerspruch vor, den er auch den Poststruktura-listen ankreidet: dafi sie nàmlich im Rahmen einer radikalen Ver-nunftkritik den Ausgangspunkt der eigenen Position nicht mehr an-geben kõnnen. Solcherart oszilliert das Werk zwischen dem Aufklã-rungspathos der Moderne und der Skepsis der Postmoderne. Sein Vexiergestus speist sich zum einen aus der homonymen Verwendung des BegrifFs der »Vernunft«. Er bezeichnet sowohl den engeren Um-fang im Sinne rationeller Vernunft, des Hegelschen »Verstands« oder Horkheimers spáterer subjektiver Vernunft, ais auch Vernunft im umfassenden Sinn, einer die eigenen Einsatzbedingungen mitreflek-tierenden Prozedur. Zwischen beiden Bedeutungen wechseln die Au­toren, ohne das Umspringen kenntlich zu machen. Trotzdem zeigt sich bald, dafi sie kulturpessimistisch den engeren BegrifF der Zweck-rationalitãt favorisieren. Aber das kritische Potential der objektiven Vernunft verschwindet nicht spurlos. Seine Auslagerung in die Kunst deutet sich an. Damit zumindest schreiben sich die Autoren in das Register des Modernismus ein.

Moderne/Postmoderne sind Begriffe des philosophischen Diskur-ses in bezug auf das Projekt der neuzeitlichen Aufklãrung. Modernis-mus/Postmodernismus sind kunstgeschichdiche Kategorien. Sie

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kõnnen sich zum einen auf den Stand der Materialentwicklung in den Kúnsten beziehen, also eine kunstimmanente Geschichte the-matisieren. Sie kõnnen aber in einem weiteren Schritt durch die ge-schichtsphilosophische Indizierung des Materialstands an die philo­sophischen Terme von Moderne und Postmoderne anschliefien. Der Unterschied lãfit sich an einer Hauptthese des Postmodernismus ver-deutlichen. Sie besagt, dafi sich nach dem Zusammenbruch aller nor-mativen Geschichtserzàhlungen auch in der Kunsttheorie Normen nicht mehr legitimieren lassen. Damit verfàllt die klassische Tren-nung von Hoch- und Populãrkunst; die Entropie der úber einer ex-trem aufgegipfelten Stilistik operierenden Poetik des Modernismus ist die Folge. Anything goes, das ist bekannt. Vor aliem amerikani-sche Wissenschaftler mõchten, kunstimmament, diesem Anarchis-mus wenigstens mit Hilfe von Spieltheorien einen wie auch immer minimalen disziplinãren Status geben.1

Eine andere Variante ist zum Beispiel Peter Búrgers Argumenta-tion.2 Im Scheitern der klassischen Avantgarden, Kunst und Leben miteinander zu versõhnen, hat ais letzte Stilentwicklung der Kunst-geschichte der Angriff auf die Kunst ais Institution die letztere sicht-bar gemacht. Nach dieser reflexiven Radikalisierung ist die Geschich­te der Materialentwicklung abgeschlossen, ãsthetische Preferenzen sind nicht mehr geschichtsphilosophisch begrúndbar, sondem nur noch funktional. Búrger attackiert hier explizit den bis in die Gegen­wart durchgehaltenen Modernismus Adornos, den er fúr anachroni-stisch hãlt. Eine dritte Position mõchte im Postmodernismus die ge­schichtsphilosophisch zwingende Fortsetzung des Modernismus se­hen. Paradoxerweise ist es Lyotard, der damit dem Modernisten Adorno die Stange hãlt.3 Wie die Frankfurter verortet er in der Her-metik des Modernismus eine Geste der Resistance gegen Herrschaft und Instrumentalitãt. Diese Geste sieht er dadurch im Postmodernis­mus noch einmal radikalisiert, dafi dem ásthetischen Sinn des Rezi-pienten, der sich úber die Verweigerung des Sinns immer noch mit der Innovation ihrer Formgebung trósten kõnnte, nun auch diese vorenthalten wird. In der trivialen Abgegriffenheit von Cliché und Pastiche wird jetzt auch der Konsensus des guten Geschmacks ver-hindert, der in der Rezeption modemistischer Kunst wenigstens noch kollektiv die Nostalgie nach dem nicht mehr Erreichbaren kul-

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tivieren kõnnte. Lyotard setzt dort den Negationshebel an, wo, bei al­ler Hermetík, Adorno immer noch das Einfallstor des Positiven im modernistischen Werk sah: an seinem Charakter ais Schein. Konse-quent beschrãnkt sich Lyotard mit seiner Theorie des Erhabenen auf eine Wirkungsàsthetik in der Nachfolge Kants und Burkes.4 Auch Adorno erórtert ausgiebig das Sublime, aber immer in Verbindung mit werkãsthetischen Kategorien, die sich nicht in Wirkung verflúch-tigen.5 Die Hermetisierung der Kunst ais Sinnverweigerung ist fur ihn wohl das Stigma einer Welt, deren Sinnhaftigkeit in ihrer Krise fast verschwindet, trotzdem ist die Hermetík durch geduldige philo­sophische Kritik zu erhellen.

Wenn Lyotard sagt, die postmoderne Kunst prásentiere das Nicht-prásentierbare, dann paradoxiert er die Âsthetik und erkennt, mit einer Prãferenz fur den philosophischen Diskurs, diesem den Hort einer wenn auch noch so minimalen Vernunft zu. Nicht umsonst setzen seine agonistischen Sprachspiele einen machtgeschutzten Raum sprachlicher Auseinandersetzung voraus wie Habermas' Kon-sensustheorie. Adorno dagegen, der eigendiche Kunsttheoretiker, sieht in der Kunst den Rest von Vernunft, die er im philosophischen Diskurs der Dialektik der Aufklãrung zusammen mit Horkheimer paradoxiert.

Die Dialektik der Aufklãrung spiegelt die Struktur der drei Kant-schen Kritiken 6, aber der Text Adornos und Horkheimers von 1947 ist ein Text der Abwesenheit. Es gibt keine Vernunft, es gibt keine moralische Vernunft und es gibt keine ãsthetische Vernunft. Hier ist den «geschichtsphilosophischen Sonnenuhren«, ais welche Adorno nur wenige Jahre spãter in »Lyrik und Gesellschaft« die Kunstwerke in ihrer Erkenntnis- und Ausdrucksfunktion beschrieb7, das Licht der Aufklãrung abgedreht worden. Hier sind sie nicht die Stãtten, wo das Recht des Besonderen und Idiosynkratischen gegen die im geschicht-lichen Ablauf immer stãrker sich einfressenden Gleichschaltungsten-denzen systemischer Macht verhandelt werden. Die widersprúchli-che Struktur jeder Literatur und Kunst zwischen Anpassung und Pro-test, die nicht nur bei den Avantgardisten ihrer jeweiligen Epoche zum Ausdruck kommt, ob sie nun Goethe, Hõlderlin oder Mõrike heifien, sondem ebenso in den modernistischen Sinnaskesen eines Beckett, Kafka oder Celan ais Folge einer alies beherrschenden Sy-

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stemrationalitãt — diese widerspruchliche Struktur wird unter Ab-schneiden ihrer Gegenrede auf die monologische Manie eines Machtdiskurses zuriickgestutzt. Von der Exzentrizitãt des Kunst-werks und seiner Kraft zur Negation ist in der Dialektik der Aufklãrung kaum etwas zu spuren.

Ironischerweise noch am ehesten im Kapitel úber de Sades Juliette. Denn hier wird der Literatur zumindest noch insoweit eine Erkennt-nisfunktion zugeschrieben, ais die de Sadsche Rationalitãt des Perver-sen der pervertierten Rationalitãt einen Spiegel vorhalten soll. Iro-nisch ist dies, weil der Exkurs úber die moralische Vemunft Horkhei­mer zugeschrieben wird, der spãter nicht bereit war, die Vemunft in die Kunst auszulagern, wie Adorno das tat.

Nun kõnnte man denken, dafi bei Adorno erst nach der Dialektik der Aufklãrung Kunst und Literatur eine derart zentrale Position im Wechselspiel von Ideologie, Kritik und Utopie zugewiesen bekom-men. Das stimmt aber nicht. Bereits in den Musikaufsãtzen der drei-fiiger Jahre in der Zeitschrift fur Soziafforschung entziffert Adorno in den Werken der musikalischen Moderne die Chiffren einer gesell­schaftlichen Agonistik. Es sind die Spannungen zwischen dem syste-mischen Verblendungszusammenhang von Zweckrationalitàt und Marktgesetz und den Gegenkràften aus den noch nicht subsumierten Enklaven des idiosynkratischen Subjekts und seiner Lebenswelt.

Die Komplexitãt seines àsthetischen Raisonnierens erlaubt es Adorno zu diesem frúhen Zeitpunkt, die Spaltung der Kunst in hoch und niedrig sehr viel differenzierter zu sehen, ais er das spãter je wie­der tun wird.

Er sagt 1932 in seinem Aufsatz »Zur gesellschaftlichen Lage der Musik«: »In der Scheidung von leichter und ernster Musik spiegelt die Entff emdung von Menschen und Musik sich nur verzerrt, nãm-lich so, wie sie dem Búrgertum selbst sich darstellt. Sie will die >ernste< Musik von der Entfremdung ausnehmen (...) und dafur die Last der Entffemdung unter dem Titel >Kitsch< allein jener Musik aufbúrden, die ais exakte Reaktion auf Triebkonstellationen der Gesellschaft ais einzige dieser angemessen ist, aber gerade durch ihre Angemessen-heit die Gesellschaft desavouiert. Darum ist die Scheidung leichter und ernster Musik durch jene andere zu ersetzen, die die beiden Hãlften der musikalischen Weltkugel gleichermafien im Zeichen der

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Entfremdung sieht: Hãlften eines Ganzen, das freilich durch deren Additíon niemals rekonstruierbar wáre«.8

Von einer ãhnlichen Differenzierung ist im Kulturindustriekapitel der Dialektik der Aufklãrung nichts mehr zu finden. Unter dem Ein-druck der ihrer Meinung nach búrgerlichen und post-õdipalen Simu-lationsmaschinerie des Warentotalitarismus in den Vereinigten Staa-ten suchen die beiden Frankfurter vergebens nach gegensinnigen Re-siduen. Und zusammen mit der Erfahrung der vorbúrgerlichen neu­en Barbarei des Faschismus in Deutschland, der gleichzeitig ais histo­rische Niederlage des Proletariats gesehen wird, fárbt sich ihnen der Geschichtsverlauf zum monochromen Schwarz der Gegenaufklâ­rung. Es ist fur sie der Sieg der alies einebnenden Systemrationalitãt jenseits der Klassen- und Geschlechtsdifferenzen. Im Raster des Sy­stems verschwindet das Individuum entweder ais zwischen Trieb und Uberich kurzgeschlossener Psychot oder ais borderline case.

Im Schatten dieses geschichtsmáchtigen Schwarz wird nun auch dem Herzstúck der Dialektik der Aufklãrung gerade die Dialektik aus-getrieben. Homers Odyssee, einer der komplexesten und wider-spruchsreichsten Texte der abendlãndischen Literatur, wird zurúck-geschnitten auf die eindimensionale Ideologie eines weltanschauli-chen Diskurses. In einem Brief an Pollock schreibt Horkheimer, »that this work must be done (...) the Odyssee is the first document on the anthropology of man in the modern sense, that means, in the sen-se of a rational enlightened being«.9 An anderer Stelle habe ich aus-fuhrlich zu zeigen versucht, wie defizient eine solche Reduktion des literarischen Textes auf ein diskursives, in diesem Fali anthropologi-sches Dokument ist und welche Verzerrungen die Frankfurter vor-nehmen mússen, um die frúhgriechische Abenteuergeschichte in das Prokrustesbett einer Phánomenologie des Ungeistes zu pressen.1 0

Deshalb mõchte ich nur kurz ein paar Punkte antippen, die fúr meine Argumentation wichtig sind.

Horkheimer spricht von der Odyssee ais einem ersten Dokument und er spricht von der Anthropologie des Menschen. Ubersetzen wir das englische »man« mit seinem engeren Bedeutungsumfang, dann kommen wir zu einer Anthropologie des Mannes. Eine solche Per­spektive trifft den Grundtenor der Homerischen Epen sehr viel ge-nauer, wird aber gerade dem mãnnlichen Blick des Forschers schnell

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zur Perspektive des Kosmos úberhaupt. Mit diesem mãnnlichen Blick hãngt die Ursprungsbesessenheit der Frankfurter zusammen 1 1,

.d ie ihnen die Ilias aus dem Blickfeld verdràngt. Denn die Odyssee be­ginnt mit der Ilias und diese beginnt mitten im Krieg. Aber bereits die Ilias malt schon breit jene Bilder des Hasses, der Leiden und der Ge­walt, auf die doch die Aufklãrung sich erst hin entfalten soll, bevor sie in den Vernichtungsszenarios des 20. Jahrhunderts voll zu sich kom­men wird.

Es ist denn auch eine Frau, die júdische Philosophin Simone Weil, die fast gleichzeitig mit Adorno und Horkheimer Terror und Gewalt kritisiert, aber dabei von der Ilias ausgeht. Sie knúpft in einem grandiosen Aufsatz die Fãden zwischen Gewalt, Macht, Inhumanitãt und Ehre, Ruhm und Reichtum — Grundbestandteile aller Potenz-phantasien.12 In den epischen Monstrositãten, in denen sie den Hor­ror des 20. Jahrhunderts gespiegelt sah, erkennt sie eine Facette des Mãnnlichkeitswahns, und sie kann das alies nur verzeichnen, weil sie sich gerade auf die Vernunft beruft, die es der Dialektik der Aufklãrung zufolge gar nicht mehr gibt. Es ist eine intersubjektive, auf Identifika-tion und Mitleid ausgerichtete Vernunft, und dieser ist es mõglich, neben der glorifizierenden auch die andere, die kritische und die ver-wundete Seite der Ilias zu lesen: die tiefe Trauer des Textes um das was geschieht.

In ihrem Wunsch nach dem Ursprung mússen sich Adorno und Horkheimer den Blick hinter die Odyssee verbieten. Denn dort wãre nicht nur die Ilias, die jedem Beginnen ein Ende machte, sondem da-hinter wurden sich noch einmal die unbegrenzten Zeitrãume der múndlichen Uberlieferung õffhen. Alie Texte, ais Texte, tragen im­mer schon die Spur, nicht des Entzweispringens einer irgendwie ge-dachten Einheit, also des Ur-Sprungs, sondem ihres Entzweige-sprungenseins, der »brisure« nach Derrida, des immer schon anwe-senden Sprungs. Nicht nur an Simone Weil wird deudich, dal? alter-native Denkmodelle zur Verfúgung standen, sondem ebenso, in der unmittelbaren Nãhe der Autoren, an Walter Benjamin. Die positive Aufhahme, die die Geschichtsphilosophischen Thesen bei Adorno und Horkheimer fanden, ist nicht zuletzt einer eklatanten Fehllektúre ge-schuldet. Adorno schreibt an Horkheimer: »An dem grofien Zug des Ganzen kann kein Zweifel sein. Dazu kommt: dafi keine von Benja-

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mins Arbeiten ihn nâher bei unseren eigenen Intentionen zeigt. Das bezieht sich vor aliem auf die Vorstellung der Geschichte ais perma-nenter Katastrophe (. . .)«. 1 3 Die Fixierung auf den Engel der Ge­schichte mit seiner Katastrophensicht, der so gut ins Konzept der Dialektik der Aufklãrung pafit, macht deren Autoren blind fur das, was Benjamin tatsãchlich schreibt. Der Blick des Kleeschen Engels ist die Reaktion aufs grausige Erwachen aus der Fortschrittsideologie. Der Engel ist einer, der zuvor an den kontinuierlichen Fortschritt ge-glaubt hat, war er nun Búrger oder Sozialdemokrat. Nur eins ist der Engel Benjamin zufolge sicher nicht: Philosoph. In der 8. These, die unmittelbar vor der Engelthese steht, sagt Benjamin, dafi »der Aus-nahmezustand in dem wir leben die Regei ist [d.h. er war immer schon da, es gibt keine urspriingliche Harmonie]. (...) Das Staunen dariiber, dafi die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert >noch< mõglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am An­fang einer Erkenntnis, es sei denn der, dafi die Vorstellung von Ge­schichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist«. 1 4

Anders ais Benjamin sind der Engel und die Frankfurter blind fur die Kavernen der kritischen Vernunft im nachtráglich geschõnten oder besser: verhãfilichten Geschichtsverlauf ais Prozedur im Interes­se der Machteliten. Aus diesen Kavernen mufi zu allen Zeiten immer wieder aufs neue der Funken des Widerspruchs und des Widerstan-des herausgeschlagen werden. Benjamin ist der modernistische, der nicht-kontínuierliche Geschichtsphilosoph der Briiche und Verwer-fungen 1 5, der das Geschichtskontinuum auf sein Verborgenes hin zerschlagen will. Adorno und Horkheimer wollen solche Sub- und Gegenplots nicht wahrnehmen, sondem erzãhlen im realistischen Stil des 19. Jahrhunderts ihre Geschichte, deren Held vom Heil ins Unheil gerát, und deren Charakter vom Anfang bis zum Ende festge-legt sind. Deshalb folgt nicht nur der Ruckfall ins Ursprungsdenken, sondem auch das Stummachen aller Gegenstimmen in der Odyssee.

Beides hàngt zusammen. Denn nur im Schatten der Ilias und ihrer vom Dichter ais Unrecht kosmischen Ausmafies beschriebenen Ge-walthandlungen enthúllt sich der Rúckweg des Odysseus nicht ais Bahnung des zweckrationalen Subjekts, sondem ais Einflufifeld der nemesis, ais Rúckverwandlung einer Kampfmaschine in den Men­schen. Die mimetischen Einlassungen des immer nackter werdenden

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Kriegsautomaten in eine gewaltige Natur und in die Einflufisphãren mãchtiger, matrizentraler Frauengestalten schleift den Gepanzerten ebenso, wie vorher Troja geschleift wurde. Erst danach ist ihm die Heimkehr in Aussicht gestellt, ein langwieriger Prozefi immer wieder aufgeschobener Annãherungen vom biologischen, individuellen und sozialen Nullpunkt her. 1 6

So wenig es in der Odyssee einen Ursprung gibt, so gebrochen ist auch die Ankunft. Man kann nicht sagen, wann sie beginnt und wann sie beendet ist. Von Wiedererkennung zu Wiedererkennung wird der Zuruckgekommene weitergereicht, funfmal im ganzen, und in keiner der Szenen wird es ihm gestattet, die im Spiegel des Blicks erwartete Identitãt jenseits der dualen Beziehung im gesellschaftlichen Raum ratífiziert zu bekommen. 1 7

Auch ist in diesen immer wieder aufgeschobenen Anfang der Heimkehr die prinzipielle Unmóglichkeit einer jeden Wiederholung eingezeichnet. Heimkehr gibt es nicht. Durch die Weissagung des Teiresias weifi Odysseus, dafi er nach seiner Riickkehr nach Ithaka weiterziehen mufi, bis er zu einem Volk kommt, das weder weifi, was ein Ruder ist, noch Saiz kennt. Dieses proleptische Wissen schreibt in jedem Moment des Nach-Hause-Kommens die zukunftige Abwe-senheit bereits in die Gegenwart ein.

Deshalb lãfit sich die Odyssee nicht ohne Zwang in das organizistí-sche Erzãhlmodell des Entwicklungsromans abstrahieren.18 Das Ho­merische Epos hat viel eher die offene Struktur der Verkettung vom Abenteuerroman. Nur das lockere Prinzip der Reihung lãfit Raum fur die Seltsamkeiten des Texts: dafi er nãmlich mit der Ausfahrt des Te-lemachus beginnt, dafi durch eingeschachtelte Einbettungen das Zu-sammenspiel von Erzàhlzeit und erzàhlter Zeit unglaublich komplex wird, dafi die zu kleinen, eigenen Geschichten aufgeblasenen Meta-phern ein Ornament des Kommentars zum Haupttext bilden. Dar-iiberhinaus ist der Text reflexiv, d.h. er durchbricht willendich die Einstràngigkeit der Fiktion, weist auf sich selbst ais Gesang, also ais kiinsdich und kiinsderisch Gemachtes.

Die strategische Rekonstruktion der Odyssee ais Entwicklungsro-man der schlauen Rationalitãt hat schwerwiegende Folgen: in dem Moment, wo die Autoren einen Ursprung setzen, verwickeln sie sich notgedrungen in die ganze Metaphysik der Prãsenz, des Phonozen-

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trismus, der binàren Konstruktionen wie Natur und Kultur, Mythos und Roman, Gefuhl und Rationalitãt, Mann und Frau.

U m so verblúffènder ist, dafi Adorno und Horkheimer die reduk-tionistische Abstraktion von Literatur auf Machtdiskurse ganz be-wufit durchgefuhrt haben mússen. Rolf Wiggershaus weist auf eine Bemerkung zum Kulturindustriekapitel in der mimeographierten Ausgabe der Dialektik der Aufklãrung von 1944 hin. Grofie Teile die­ses Kapitels seien »lãngst ausgefuhrt, bedúrfen nur noch der letzten Redaktion. In ihnen werden auch die positiven Aspekte der Massen-kultur zur Sprache kommen«. 1 9 Diese Sàtze fehlen in der Buchausga-be von 1947, in deren Vorwort das Kulturindustriekapitel nur noch »fragmentarisch« genannt wird. 2 0 Von den positiven Aspekten wird man nie mehr etwas erfahren.

Noch erstaunlicher aber ist die Entdeckung, dafi auch fur die Odys­see eine Analyse geschrieben worden war, die ihr die ganze Dialektik eines literarischen Artefakts zugesteht. Im ersten Band der Noten zur Literatur ist der Aufsatz «Úber epische Naivetãt« abgedruckt. In den Drucknachweisen heifit es dazu: »geschrieben 1943, aus dem Kom-plex der gemeinsam mit Max Horkheimer verfafiten Dialektik der Aufklãrung. Unverõffendicht«.2 1 Im Buch von 1947 wird es heifien: »In den Stoffschichten Homers haben die Mythen sich niederge-schlagen; der Bericht von ihnen aber, die Einheit, die den diífusen Sagen abgezwungen ward, ist zugleich die Beschreibung der Flucht-bahn des Subjekts vor den mythischen Mãchten«. 2 2 Fúr Adorno ist die Rationalitãt einer logischen und chronologischen Erzàhlsyntax die Dimension des Allgemeinen, in der das Eigensinnig-Besondere in die Anpassung unterjocht wird. Ob nun nicht gerade eine solche narrative Struktur das einzelne erst recht zur Erscheinung bringt ge-máfi dem Erzãhlgesetz der getreuen Wiedergabe — diese Mõglichkeit erõrtert Adorno nicht in der Dialektik der Aufklãrung, wohl aber im nicht verõffendichten Aufsatz. Hier erarbeitet er aus den Brúchen des Erzãhlstrangs, den autonom werdenden Bildern, der Beharrlich-keit und dem Umfang der gegenstàndlichen Beschreibung ein Regi-ster, das der Theorie von der eindimensionalen Erzãhlrationalitãt deudich widerspricht.

«Dieser Widerspruch hat sich, seit es grofie Epik gibt, in der Ver-haltensweise des Erzáhlers niedergeschlagen ais das Element epischer

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Dichtung, das man ais Gegenstãndlichkeit hervorzuheben pflegt«.2 3

Diese Gegenstãndlichkeit nennt Adorno «epische Naivetàt« und hier erkennt er das Widerstandsnest. Er kommt so 1943 zu dem im Lichte des spãteren Buches erstaunlichen Schlufi: »In der epischen Naivetãt lebt die Kritik der búrgerlichen Vernunft«. 2 4

Wie mússen wir uns die schliefiliche Verbarrikadierung der Dialek­tik der Aufklãrung gegen die soeben gehórten Stimmen des Anderen der instrumentellen Vernunft erklãren? Warum schieben die Auto­ren den Widerspruch, gegen besseres Wissen, aus dem literarischen Text hinaus, bis er nur noch ais performativer Widerspruch im eige­nen Sprechakt landet?

Ich mõchte zwei Thesen vorschlagen. 1. Der extreme Pessimismus, den die politische Situation nahelegt, trifft sich mit Adornos genereller Affinitãt zur hermetischen Kunst des 20. Jahrhunderts, beispielhaft verkõrpert im Werk Kafkas, Ce-lans, Becketts, Schõnbergs. In der Krise des Sinns der Werke und ih­rer Rezeption entziffert Adorno die Chiffren der Verbannung eines nicht mehr geschichtsmãchtigen Subjekts hinter die Strukturgitter búrokratischer Systemrationalitãt und totalitãrer Technokratien. Die Hermetik ist die Wunde in der Kultur, die jeder Gesundheitspropa-ganda des gesellschaftlichen Kôrpers zum Spiegel der Wahrheit wird.

Auch wenn Adorno Goethe, Hõlderlin, Stifter oder Mõrike liest, es geschieht immer im Bewufitsein eines geschichdich zunehmen-den Verlusts an Lebenswelt, in die sich die úbermàchtige Systemwelt tiefer und tiefer hineinffifit. Die Kritik der Kunst am gesellschaftli­chen Zustand erscheint immer ais Geste der Verweigerung, der Sinn-askese, des Sich-Verschliefiens und der Verrãtselung, bis die ge-schichtsphilosophischen Sonnenuhren im Zeitalter der eclipse of rea-son úberhaupt keinen Schatten zum Stand der Zeit mehr werfen.

Verglichen hiermit sind die Spuren der Systemrationalitãt in der Odyssee allerdings noch sehr dúnn. Fragt eine kritische Kunsttheorie die Literatur der Neuzeit: Kann noch und wie mufi dann und ab wann kann nicht mehr erzãhlt werden? So wird an die Odyssee von Adorno die Frage gestellt: Warum mufi hier schon erzãhlt werden? Im ersten Fali wird die Erzãhlmõglichkeit zum Kriterium der lebens-weldichen Behauptung in den Systemabstraktionen. In der Odyssee dagegen erscheint die Narration ais Médium der Systemrationalitãt

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innerhalb der mythisch-kommunalen Welt. Wenn im Modernismus das Verstummen selbst zum Kriterium der Kritik wird, dann mufi fur ein an solchem Schweigen geschultes Ohr die Stimme des Anderen in der Odyssee viel zu laut, viel zu gegenstándlich drõhnen: Sie mag den Tõnen vorschneller Versõhnung im falschen Leben nicht-her-metisierter Literatur zu ãhnlich klingen. Adorno historisiert die Odys­see letzten Endes in die falsche Richtung des 20. Jahrhunderts, so dafi sie fast schon aussieht wie ein Stiick Kulturindustrie. Fúr seinen mo­dernistischen Geschmack ist das Homerische Epos zu realistisch. Aus dem gleichen Grande wird auch die Analyse der positiven Mo-mente der Kulturindustrie unterbleiben. Die intellektuelle Einsicht des Philosophen ist schwãcher ais das verinnerlichte Formgefuhl des Âsthetikers.

2. Die beiden Autoren fuhren mit der Paradoxierung der Vernunft einen rhetorischen Effekt in ihre Rede ein, der den philosophischen Diskurs zwar noch intakt lãfit, ihn aber deudich in Analogie zur mo­dernistischen Kunst hermetisiert. Aus dem Skandal einer Kommuni-kation des Nicht-mehr-Kommunizierbaren, das nichts mehr nach draufien láfit, aber doch, wie das Gesetz bei Kafka fúr den vor ihm wartenden Bauern, nur fur den einen Rezipienten da ist, soll der Fun-ke der Verlebendigung geschlagen werden. Der Ent-sinnlichung mo-dernistischer Kunst entspricht die Ent-logifizierung der philosophi­schen Rede. In diesem Moment der Absurditãt erkennen sowohl Adorno ais auch spãter Lyotard die Spuren dés Erhabenen, allerdings auf eine extrem verdúnnte Position zurúckgenommen. Es ist die Nahtstelle zwischen Modernismus und Avantgardismus, wo sich ei­ne Âsthetik des Bruches ankúndigt. Fúr Lyotard wird das Erhabene zum Signikanten des rein Aktionellen, zur Deixis des »Nun« und »Da« der Kunstsetzung an sich. Nur in ihr wird die leere Zeit des úbli-chen Informationsflusses zu einer Art Benjaminschem Eingedenken im Zeichen eines »Jetzt« durchbrochen.2 5 Obwohl Adorno in einem Lyotard sehr ãhnlichen Sinn hier Dada erwàhnt, ist fur ihn das Erha­bene, allerdings zum «latent Erhabenen« entkonkretisiert, das Zei­chen modernistischer Kunst úberhaupt:

.•Werke, in denen die ásthetische Gestalt, unterm Druck des Wahrheitsge-halts, sich transzendiert, besetzen die Stelle, welche einst der Begriff des Er­habenen meinte. (...) Die Aszendenz des Erhabenen ist eins mit der Nõti-

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gung der Kunst, die tragenden Widerspriiche nicht zu iiberspielen, sondem sie in sich auszukàmpfen: Versõhnung ist ihnen nicht Resultat des Konflikts; einzig noch, dafi er Sprache findet. Damit wird aber das Erhabene latent. Kunst, die auf einen Wahrheitsgehalt drãngt, in den das Ungeschlichtete der Widerspriiche fallt, ist nicht jener Positivitát der Negation mãchtig, welche den traditionellen Begriff des Erhabenen ais eines gegenwártig Unendlichen beseelte«.26

Insofern kõnnte man sagen, dafi die Struktur des Erhabenen in der Form des logischen Paradox in den philosophischen Text der Dialek­tik der Aufklãrung eingefuhrt wird. Da die Philosophie noch viel stàr-ker ais die Literatur oder Kunst an das Allgemeine der Sprache ge-bunden ist, trifft das, was Adorno im folgenden Zitat úber die Kunst sagt, a forteriori auf den philosophischen Diskurs zu. »Kants Lehre vom Gefuhl des Erhabenen beschreibt erst recht eine Kunst, die in sich erzittert, indem sie sich um des scheinlosen Wahrheitsgehaltes willen suspendiert, ohne doch, ais Kunst, ihren Scheincharakter ab-zustreifen«.27 Auch der philosophische Diskurs erzittert, kann er doch, um úber die ubiquitãre Unvernunft zu sprechen, sich der Ver­nunft der Sprache nicht entschlagen.

Aus dieser Geste des kúnstlerischen Modernismus heraus, der dem Projekt der Aufklãrung auch auf der Schwundstufe verpflichtet bleibt, ist die Dialektik der Aufklãrung ein philosophischer Text der Moderne. Doch die puristische Idiosynkrasie gegen die Infiltrierun-gen der Systemwelt fuhrt bei den Autoren zu deren Totalisierung und Homogenisierung. Folgerichtig mússen sie dann in der ge-schichtsphilosophischen Ableitung ein teleologisches und determi-nistisches Erzàhlmodell in Anspruch nehmen. Es widerspricht direkt Adornos zweiter grundlegender Einsicht in die Konstitution moder­nistischer Werke: »Kunstwerke, die den Sinn negieren, mússen in ih­rer Einheit auch zerrúttet sein; das ist die Funktion der Montaee (• • .)«. 2 8

Eine montierte Geschichtsphilosophie hat nur Walter Benjamin entwickelt. Aus den rekonstruierten Begriffen der Allegorie, der Montage, der dialektischen Bilder aus den Abfállen des Fortschritts, der Mode und des kunsderischen Kanons, aus den Kavernen der offi-ziellen Geschichtsschreibung liest er die Einsprengsel einer gegensin-nigen und aufbegehrenden Lebenswelt und ihrer kontrafaktischen

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Geschichte. Von hier liefie sich sogar eine neue Linie zu den Pastí-ches und Klitterungen des Postmodernismus ziehen. Von den ãsthe-tischen Theoremen des Bruchs, der Korrespondenzen und plõtzli-chen Konstellationen, aber auch den Gefahren des Vergessens, ent-wirft Benjamin seine modernistische Geschichtsphilosophie der Nicht-Kontinuitãt.

Der esoterische Purismus von Adorno und Horkheimer zur Zeit der Abfassung ihres gemeinsamen Buches mufi sich gegen eine sol­che dynamische Vermischung der Signifikanten von System und Le-benswelt wehren. Das Kontínuum der Geschichte, das es den Ge-schichtsphibsophischen Thesen zufolge aufzusprengen gilt, wird von der Dialektik der Aufklãrung noch einmal in Zement gegossen.

Anmerkungen

1 S. z.B. Ihab Hassan, »The Question of Postmodernism«, in: H.R. Garvin, Bucknell Review: Romanticism, Modernism, Postmodernism, Lewisburg 1980, S. 117-126, S. 126.

2 Peter Búrger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt/M. 1974. 3 Jean-François Lyotard, «Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?«,

in: Tumult, Nr. 4 (1983), S. 131-142, S. 141-142. 4 Ebd., S. 139 5 Theodor W. Adorno, Ãsthetische Theorie, Gesammelte Schrifien 7, Frank­

furt/M. 1972, S. 292-294. 6 In «Odysseus oder Mythos und Aufklârung« geht es um die reine Ver­

nunft, in «Juliette oder Aufklãrung und Moral« wird die praktische Ver­nunft untersucht und in «Kulturindustrie. Aufklãrung ais Massenbetrug« die ãsthetische Vernunft. Die ãsthetische Vernunft erscheint aber nur im-plizit, aufgehoben in der esoterischen »hohen« Kultur, die in der Dialektik der Aufklãrung nur implizit ais Argumentationsfolie der Kulturindustrie mitlãuft.

7 Theodor W. Adorno, «Lyrik und Gesellschaft*, in: Noten zur Literatur 1, Frankfurt/M. 1958, S. 92.

8 Theodor W. Adorno, «Zur gesellschaftlichen Lage der Musik«, Zeitschrift fur Sozialforscbung 1, 1932, S. 103-124 und S. 356-378, S. 107.

9 Zit. n. Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte — Theoretische Entwicklung — Politische Bedeutung Múnchen, Wien 1986, S. 362.

10 Vgl. Helga Geyer-Ryan und Helmut Lethen, «Von der Dialektik der Ge­walt zur Dialektik der Aufklãrung. Eine Re-Vision der Odyssee*, in: Vierzig

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Jahre Flaschenpost: «Dialektik der Aufklãrung» 1947 bis 1987, hg. v. Willem van Reijen und Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt/M. 1987, S 41-72

11 Vgl. ebd. S. 46-51. 12 Simone Weil, »L'Iliade ou le poème de la force« (signiert mit dem Ana-

gramm: «Emilie Novis«), in: Cahiers du Sud, Nr. XIX, 230 (Dezember 1940) und Nr. XX (Januar 1941).

13 Zit. n. Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule [wie Anm. 9], S. 348. 14 Walter Benjamin, «Geschichtsphilosophische Thesen«, in: W.B., IUumi-

nationen, Frankfurt/M. 1969, S. 268-281, 8. These, S. 272. 15 Vgl. Helga Geyer-Ryan, «Counterfactual artefacts: Walter Benjamin's

philosophy of history«, in: Visions and Blueprints. Avantgarde culture and radicalpolitics in early twentieth-century literature, ed. by Edward Timms and Peter Colher, Manchester 1988, S. 66-81.

16 Vgl. Helga Geyer-Ryan/Helmut Lethen, «Von der Dialektik der Gewalt zur Dialektik der Aufklãrung" [wie Anm. 101, S. 55-66.

17 Ebd. S. 64. 18 Ebd., S. 43^»6. 19 Zit. n. Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule [wie Anm. 9], S. 360. 20 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklãrung

Amsterdam (Querido Verlag N.V.) o.J., Reprint Edition »Emigrant« Lichtenstein 1955, S. 11.

21 Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur 1 [wie Anm. 7], S. 196. 22 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklãrunx fwie

Anm. 20], S. 61. 23 Theodor W. Adorno, «Úber epische Naivetãt«, in: Th. W.A., Noten zur

Literatur 1 [wie Anm. 7], S. 59-60, S. 52. 24 Ebd., S. 53. 25 Jean-François Lyotard, «Das Erhabene und die Avantgarde«, Merkur H

8., 38. Jg., Dezember 1984, S. 151-164. 26 Theodor W. Adorno, Ãsthetische Theorie [wie Anm. 51, S. 292, 294 27 Ebd., S. 292. 28 Ebd., S. 231.

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C H R I S T I N E K U L K E

Die Kritik der instrumentellen Rationalitãt — ein mánnlicher Mythos

»Aufklãrung und Weiblichkeit, meine Damen und Herren, Aufklãrung und Weiblichkeit gehen nicht zusammen!«

»Mãnnlichkeit ist abgeklãrt, meine Damen und Herren. Mànnlichkeit, das war die Abklãrung der Aujklãrung.«

F. Hassauer, P. Roos, Bankerotte der Kategorie A.

Vortrag, gehalten auf dem KongreE «Zukunft der Aufklàrung« im Dezember 1987 in Frankfurt.

Die Rationalisierung der Vernunft, die sich seit der Aufklãrung durchgesetzt hat, bedeutet fur Frauen und fur weibliche Arbeits- und Lebensbereiche eine Ausgrenzung aus der herrschenden Logik. Und nicht nur aus ihr. Gleichzeitig ist die »Krise, die die Kritische Theorie ais das Ende der Vernunft ansah,. . . auch die Krise der mãnnlichen Herrschaft in der wesdichen Welt« fj. Benjamin 1982, S. 450).

Wenn es nun stimmt, dafi auch die Kritik an diesem Prozefi der Selbstzerstórung der Vernunft, und damit an der Herrschaft der Auf­klãrung, ein patriarchaler Mythos ist, wie begriindet sich dann mein Erkenntnisinteresse?

Meine Frage lautet genauer: Was haben Weltverstándnis, Logik und Methode der Dialektik der Aufklãrung, von der ich behaupte, dafi sie ais Erbin der Aufklãrung selbst androzentrisch ist, 40 Jahre nach Erscheinen des Buches fur gegenwártige Fragen nach Ursachen und Folgen der Geschlechterhierarchie zu bedeuten?

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Zunãchst will ich in funf Zugangsweisen relativ allgemein auf diese Frage eingehen, um das breite inhaltliche und methodische Spek-trum anzudeuten, das sich mit der Dialektik der Aufklãrung und der Kritischen Theorie vor uns ausbreitet. Dann werde ich in einem zweiten Teil an den logischen und realen Ausgrenzungen durch ra-tionalisierte Vernunft, die Horkheimer und Adorno in ihren Folgen kritisch sichtbar machen, die »Widerspriiche« zwischen vernunftkri-tischer Selbstreflexion und androzentrischen/logozentrischen Aus-blendungen — die keine blofien Widerspriiche sind — untersuchen.

I .

1. Der in dieser Schrift wie auch in Horkheimers Zur Kritik der instru­mentellen Vernunft reflektierte Prozefi der Formalisierung der Aufklã-rungsvernunft, in dessen Verlaufe Aufklãrung sich mit Mythos ver-búndet und in Mythologie zurúckfallt, kiindet nicht nur von einer àufierst schwarzen Philosophie (Habermas). Er ist auch von bedrohli-cher politischer Aktualitàt, und diese hat zweifellos zu einer post-strukturalistischen Vereinnahmung beigetragen (Habermas 1986). Die soziale und politische Wirklichkeit der Vergangenheit und Ge­genwart úbertrifft noch die apokalyptischen Prophezeiungen. Zerstó-rung der Okologie, õkonomische Dauerkrisen und Katastrophen, be-sonders in der Dritten Welt, technologische und militàrische Ver-nichtungspotentiale, bedrohte Lebenswelten und soziale Beziehun-gen sowie desolate psychische Entwicklungen haben offensichtlich die Ziele der Aufklãrung von Freiheit, Selbstbestimmung und Fort­schritt endgiiltig desavouiert:

»Seit je hat Aufklãrung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie ais Her­ren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklãrte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils« (DA, S. 13).

Diese Anfangssãtze der Dialektik der Aufklãrung die uns nicht nur deshalb treffen, weil vom Strahlen die Rede ist, weisen auf das Leit-motiv hin: die Zerstõrung von Gesellschaft und Natur durch die Herrschaft úber sie.

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2. Weder die politische Aktualitàt noch die sozialphilosophische Problemstellung verweisen indes zwingend auf einen Strang, der scheinbar geradlinig von der Dialektik derAufklãrung zu einem deter-ministischen Kulturpessimismus oder zur postmodernen Demonta-ge der Vernunft fuhrt. Die theoretisch-philosophischen Konzepte selbst strâuben sich gegen eine solche Interpretation (Benhabib 1986a). Weder die Dialektik der Aufklãrung noch die Kritik der instru-mentellen Vernunft sind theoretische, zeitdiagnostische oder progno-stische Dokumente, auch nicht fur unsere Gegenwart. Gleichwohl waren Horkheimer und Adorno von ihren zeitgeschichdichen Pro-blemen unmittelbar betroffen. Die Dialektik der Aufklãrung handelt direkt davon; und die tiefe Resignation der Autoren úber die Ge­schichte der Aufklãrung, die zum Massenbetrug geworden ist und in Barbarei zurúckfallt, geht hervor aus der Erfahrung und Analyse der faschistischen Gewaltherrschaft.

3. Dieser lebens- und zeitgeschichtliche Hintergrund von Faschis­mus und Exil ist meines Erachtens mitbestimmend fur ein wissen-schaftstheoretisches Dilemma, das ich hier nur andeuten kann. Es liegt, so meine These, in einer verdeckten dialektischen Methodolo-gie: So scheint, dafi in der Dialektik der Aufklãrung die Dialektik selbst ais erkenntnistheoretische »Strukturkategorie« (in Anlehnung an Bek-ker-Schmidt 1987) und ais methodologische Antriebskraft auf weiten Strecken ausgedúnnt wird. Der Frage nãmlich, ob tatsãchlich eine zwingende Entwicklungslogik allumfassender Zerstõrungsprozesse gedacht werden kann, wird nicht radikal nachgegangen. Die einheit-liche Sichtweise auf eine Geschichte des Zerfalls kann auch nicht le-gitimiert werden durch die Bestimmung des »Scheins«, der ais ein notwendiger bezeichnet wird. Stattdessen wird ein entwicklungslo-gisch bedingter Ablauf theoretisch voraussetzungslos unterstellt:

»Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, geràt nur um so tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europàischen Zivilisation verlaufen« (DA, S. 24).

Fúr Horkheimer »erreicht der zerstõrerische Antagonismus von Selbst und Natur in diesem Zeitalter seinen Hõhepunkt, ein Antago­nismus, der die Geschichte der búrgerlichen Zivilisation umreifit Der Prozefi ist unwiderruflich« (Horkheimer 1985, S. 153).

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Sicher ist die Deutung des Geschichtsverlaufes hier keine sozial-wissenschaftlich theoretische, sondem verdankt sich einer àufierst skeptischen geschichtsphilosophischen Darlegung und hat von da-her ihre eigenen Wertigkeiten. Diese stellt Habermas in seiner Kritik am — wie er es nennt — Theorieverzicht Horkheimers und Adornos und an ihrer »hemmungslosen Vernunftskepsis« in Frage (Habermas 1986). Er verweist auch auf zeithistorische Einflússe und politische Enttãuschungen, denen sich die Autoren der Dialektik der Aufklãrung ausgesetzt sahen und die zur Preisgabe marxistischer Revolutions-hoffnungen und letztlich selbst einer marxistischen Ideologiekritik gefuhrt hãtten, ohne jedoch deren kritische Intention fallenzulassen. So werde der Ideologieverdacht total und richte sich nun gegen das Vernunftpotential der gesamten búrgerlichen Kultur (Habermas 1986, S. 144), womit die Wahrnehmung der kulturellen Moderne und damit die Formen kommunikativer Rationalitãt verfehlt wurden.

Die Abschnúrung dialektischer Methodologie wird von Habermas nicht eigens herauspràpariert. Er verweist allenfalls darauf, dafi die Ideologiekritik »die undialektische Aufklãrung des ontologischen Denkens« fortgesetzt habe, da sie in Verdacht geraten sei, keine Wahrheiten mehr zu produzieren. Daraus schliefit Habermas, dafi sich in der Dialektik der Aufklãrung »die Kritik noch gegenúber den ei­genen Grundlagen . . . verselbstàndigt« und total wird (Habermas 1986, S. 141). Die Verwendung der »bestimmten Negation«, mit der sich Horkheimer und Adorno auf Hegel beziehen, um sich von ihm abzugrenzen (DA, S. 37), und Adornos Negative Dialektik werden von Habermas ais ein Verharren in der Paradoxie gewertet.

Begibt sich Habermas nicht selbst einer Perspektive, wenn er die »Architektonik der Adomoschen Spãtphilosophie« einem blinden Paare vergleichbar beschreibt, nãmlich ais eine Form, »in der Negati­ve Dialektik und Ãsthetische Theorie sich gegenseitig stútzen — die eine, die den paradoxen Begriff des Nicht-Identischen entfaltet, verweist auf die andere, die den in den avancierten Kunstwerken vermummten mimetischen Gehalt dechiffriert« (Habermas 1986, S. 155 f.)?

Die Kritik der aufklárerischen Vernunftentwicklung ais dialekti­sche in dem Sinne darzulegen und zu verstehen, dafi widerstàndige

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und eigenwillige »Úberschússe« der sich vollziehenden Entwicklung sichtbar und erklãrbar werden, wúrde uns den Blick freigeben auf die Geschichte ais eine vielfáltige und beziehungsreiche und nicht auf ei­nen linearen Geschichtsverlauf von Knechtschaft zu Herrschaft. Denn es waren ja erst die Prozesse der Aufklãrung, die »Entzaube-rung der Welt« selbst, die alternative Formen, Verweigerungen und Widerstandspotentiale in Geschichte und Gegenwart ffeigesetzt ha­ben. Damit meine ich nicht dasjenige Moment der Vernunft, das Ha­bermas bei Nietzsche herausfiltert, den er damit in die Náhe von Horkheimer und Adorno rúckt, nàmlich einen Eigensinn der »ásthe-tisch-expressiven Wertspháre« (Habermas 1986, S. 155). Es geht um die Resultate von Vernunft, die gleichzeitig auch ihr Anderes produ-zieren (Bóhme und Bõhme 1983).

Nach der Entstehung sozial-kultureller und individueller »úber-schiefiender« Potentiale und nicht nur nach ihrer Negation múfite sich eine kritisch verfahrende Gesellschaftstheorie befragen lassen, ohne in den Verdacht zu geraten, die Theorie mit dieser Fragestel-lung idealistísch zu úberfrachten. Die Ergebnisse waren von beacht-lichem wissenschaftstheoretischen und politischen Erkenntnisinte-resse, da sie Aufschlússe úber Geschlechterherrschaft und wider-stãndiges Handeln von Frauen geben kõnnten. Aber die Génese von »Eigensinn der lebendigen Art« (Negt/Kluge) verbleibt hier im Dun-kel und wird theoretisch nicht fafibar gemacht. Sie wird allenfalls in ihrer Negativitãt begriffen, die auf vage Hoffhungen setzt:

»Die Methode der Negation, die Denunziation alies dessen, was die Menschheit verstummelt und ihre freie Entwicklung behindert, beruht auf dem Vertrauen in den Menschen« (Horkheimer 1985, S. 174).

Horkheimer und Adorno verknúpfen die Frage nach eigensinnigen Strukturen fast tautologisch mit kritischem Denken und beteuern:

»Wir hegen keinen Zweifel — und darin liegt unsere petitio principii — dafi die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklãrenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir genauso deutlich erkannt zu haben, dafi der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger ais die konkreten historischen Formen, die In-stitutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu je-nem Rúckschritt enthalten, der heute úberall sich ereignet. Nimmt Aufklã­rung die Reflexion auf dieses riicklãufige Moment nicht in sich auf, so besie-gelt sie ihr eigenes Schicksal« (DA, S. 7).

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4. Die Selbstreflexion des Denkens liefSe mõglicherweise einen er-kenntnistheoretischen Ausweg aus der Totalisierung der Vernunft zu und kõnnte somit das Potential der Kritischen Theorie ais Selbstauf-klãrung der Aufklãrung bestimmen.

»Eine Grundannahme unserer Diskussion ist es gewesen, dafi ein philoso-phisches Bewufitsein von diesen Prozessen helfen kann, ihnen eine andere Richtung zu geben« (Horkheimer 1985, S. 153).

Wenn diese Denkfãhigkeit auch ais aporetisch gilt (Honneth 1985), so ist sie gerade fur die Wissenschaftskritik von Frauenfor-schung, die sich auf die dialektische und Kritische Theorie beruft, be-deutsam geworden (Beer 1987a). Und das einmal mehr, ais die philo­sophische Reflexivitàt, auf die sich die Kritische Theorie der Frank­furter Schule beruft, eine Kritik von Aufklãrung und Fortschrittsden-ken entfaltet und beansprucht, die ausschliefien soll, selbst zur Ge­genaufklârung zu werden. Da es dieser Kritik der Rationalitãt gelang, an der phallokratischen »Kathedrale der abendlãndischen Logik« (Chr.v. Braun 1985) vernehmbar zu rútteln, ohne das Denken schlechthin aufier Kraft zu setzen, wird sie praktisch evident, wenn sich gegenaufklãrerische Tendenzen spúrbar ausbreiten, sowohl in der Wissenschaft ais auch in anderen sozialen Bereichen.

5. Schliefilich verdankt sich mein Interesse an der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und auch das derjenigen, die sich mit Proble-men von Weiblichkeit, Vernunft und Geschlechterhierarchie befas-sen (z.B. Beer 1987b, Conrad/Konnertz 1986, Scheich 1985), ihrem Konzept der Kritik instrumenteller Vernunft ais Kritik an der Herrschaft úber die Natur, das den Zusammenhang von Rationalitãt, Herrschaft und patriarchaler Vergesellschaftungsform aus sich her-aus zu begrúnden beansprucht. Gesellschaftstheoretisch eingebettet ist hier die Patriarchatskritik in die radikale Kritik des Faschismus und der modernen kapitalistischen Gesellschaft.

Bereits die altere Kritische Theorie hat also an zentrale Problem-stellungen gerúhrt, die an Aktualitàt fur die Frage nach der Ge­schlechterherrschaft nichts eingebúfit haben. Sie hat diese jedoch theoretisch nicht weiter bewegen kõnnen, sondem blieb einer beson-deren Ausweglosigkeit verhaftet: Ihre Kritik der wissenschaftlichen

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und technischen Rationalitãt ais Instrument der Natur- und Gesell-schaftsbeherrschung und ais ausgrenzende und damit lebensbedro-hende Macht konstituiert selbst Ausgrenzungen: weibliche Arbeit und Lebensbereiche von Frauen werden trotz patriarchatskritischer Einsichten ausgeblendet (Beer 1987a, Kulke 1985). Diese Denkver-bote sind in ihren Folgen fur die subjektphilosophischen Entwúrfe aufschlufireich, da in die Konstitution des autonomen Subjektes im­mer schon androzentrische Annahmen eingehen (Benjamin 1982). Wir haben es ofFensichtlich mit einer Kritik patriarchaler Herrschaft und Gesellschaft zu tun, der selbst eine androzentrische Grammatik eingeschrieben ist. Ich werde das an der Dialektik der Aufklãrung nachweisen und nãher begriinden.

Meine Untersuchung geht also den Verstellungen, Verstúmme-lungen und Ausgrenzungen durch androzentrische Rationalitãt im Gewande von Vernunftkritik nach. Die Beziehungen, die eine Er-kenntniskritik der Frauenforschung gegenwártig zur ãlteren Kriti­schen Theorie unterhãlt und unterhalten kann, lassen sich meines Er-achtens unter Beachtung der funf genannten Zugangsweisen mit »fer-ner Náhe« umschreiben. Eine »Re-Vision« (Geyer-Ryan/Lethen 1987) und Dekomposition der Dialektik der Aufklãrung erscheint mir angebracht; einmal aus ideologiekritischen Griinden, und zum ande­ren weil die Kritische Theorie durch ihre Kritik der Aufklãrungs-vernunft den Blick freigibt auch auf andere Dimensionen und Krãfte ais die herrschende instrumentelle Logik und damit eine Sichtweise erõffnet auf eine mõgliche Verãnderung der Beziehungen von Gesellschaft, Natur und Individuum. Ein solcher Verãnderungspro-zefi wird jedoch theoretisch nicht expliziert und kann ohnehin poli-tisch nicht eingelõst werden. Dennoch erscheint das aufbereitete er-kenntnistheoretische Potential fur Selbstwahrnehmung, Denken und Handeln von Frauen (wie auch von Mãnnern) provozierend, in-spirierend und kann vermutlich auch wissenschaftskritisch weiter-fuhren.

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I I .

An der Konzeption der rationalisierten Vernunft ais Ausgrenzungs-modus und -mechanismus will ich dieser Behauptung nachgehen. Dabei handelt es sich um zwei Aspekte: Die mit der Aufklãrung sich herausbildende instrumentelle Rationalitãt bedeutet Ausgrenzung al­ies dessen, was sich der Zweckhaftigkeit und der Zwecksetzung von õkonomischer, technologischer und zivilisatorischer Fortentwick-lung entzieht und damit der Natur- und Gesellschaftsbeherrschung entgegenstellt. Das Bestehen auf einer «Aufklãrung iiber die Aufklã­rung* ist jedoch selbst vernunftgeleitet und verknúpft sich mit riick-besinnendem selbstkritischem Denken. Reflexives Denken erfordert Erkenntnissuche und diese ist verknúpft mit einer fundamentalen Wissenschaftskritik. Es ist die Kritik an einer Wissenschaft, die in ih­rer Subjekt-Objekt-Trennung losgelõst vom Individuum und von menschlichen Bedúrfnissen zu zerstõrerischen Resultaten gefuhrt hat.

Das erklãrte Interesse und Ziel Horkheimers und Adornos war es, die verdinglichten Denkformen der Zweckrationalitãt, die sich mit unserer Zivilisation herausgebildet und verankert haben, in ihren Folgen kenntlich zu machen:

»Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Verzicht. Sie ersetzen den Begriff durch die Formei, Ursache durch Regei und Wahrscheinlichkeit . . . Substanz und Qualitãt, Tãtigkeit und Leiden, Sein und Dasein zeitgemãfi zu definieren, war seit Bacon ein An-liegen der Philosophie, aber die Wissenschaft kam schon ohne solche Kate­gorien aus« (DA, S. 15). »Was dem Mal? von Berechenbarkeit und Nútzlich-keit sich nicht fugen will, gilt der Aufklãrung fur verdãchtig« (DA, S. 16).

Wie kann sich nun die aufgeklãrte Aufklãrungsphilosophie vor dem Dilemma bewahren, mit der Offenlegung des Verdinglichten, des der »Maschine nacheifernd(en)« Denkens erneut Ausgrenzungs-mechanismen freizusetzen? Wie kõnnte sie logische Strukturen zu-lassen, die bewirken, was es gerade zu verhindern galt, nãmlich die Konstruktion einschneidender logischer Trennungen und Verkúr-zungen?

Dieser anscheinend widersprúchliche Prozefi androzentrischer Konzentrierung des Denkens war durch Selbstaufklárung mittels kri-

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tischer Bewufitwerdung nicht aufzubrechen, sondem verdankt sich ihr vielmehr mit. Auch gegenwártig ist die riickhaldose Verschlin-gung von Logozentrismus und androzentrischer Rationalitãt — nicht mit der Verschlingung von Mythos und Aufklãrung zu verwechseln — erkenntnispràgend und in den Wissenschaften wirksam und struk-turgebend.

In der Interpretation von Christina von Braun konstituiert diese Verschlingung die »Macht des Logos«. Mit der Geschichte dieser Macht geht eine Kulturgeschichte der «Vernichtung des Sexualwe-sens« Mensch einher (Chr.v. Braun 1985, S. 16). Von ihr seien zwar beide Geschlechter betroffen, aber dem Mann bleibe die Herrschaft und der Frau die Verweigerung, auch die nicht-logische, nicht-bere-chenbare, wie sie in den Formen der Hysterie eingelassen sind. Ob nun Hysterie hier ais Metapher verwendet oder ais emphatischer Be­griff gebraucht wird, oder ob diese Unterscheidung querliegt, weil Christina von Braun metaphorische Begrifflichkeit entwickelt, wich-tig scheint mir dieser Ansatz deshalb zu sein, weil die Autorin sich auf ein Nachdenken eingelassen hat, das mehr ist ais blofies Analy-sieren, inwieweit Energien der nicht-logischen Verweigerung die »Macht des Logos« zu brechen und aufier Kraft zu setzen in der Lage sind.

Das eindrucksvolle und vielfáltige Material, das sie argumentativ entfàltet, verstehe ich in der Weise, dafi die Autorin nicht meint, mit den »Krãften des Chaos« und der Irrationalitãt seien die Destruktio-nen des Logos riickgãngig zu machen und strukturelle Ausgrenzun­gen einfach aufzuheben.

Den mehrfachen Verstrickungen, in denen sich aufgeklãrtes Den­ken úber die Aufklãrung, also die Kritik der rationalen Vernunft be-findet, bzw. den Anomien, denen diese aufsitzt, hãlt die Autorin ent-gegen:

»Dafi Vernunft und organisierter Widerstand nichts gegen den Logos ais Subjekt der Geschichte auszurichten vermõgen, liegt daran, dafi der histori­sche Prozefi, den der Logos vorantreibt, nicht ein >geplanter Prozefi< ist« (Chr.v. Braun 1985, S. 485).

Sie beschreibt ihn ais Prozefi der »epidemisch gewordenen Ver­nunft*, der die Ich-Vernichtung betreibt. Problematisch wird es fur

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mich, der Autorin da zu folgen, wo sie den Logos ais historisches Subjekt gegen einen universalistischen Begriff von Vemunft aus-spielt. Die Folgen sind eine mõgliche Verabschiedung jeglicher Vernunft aus der Geschichte und eine emeute Abspaltung des Nicht-Logischen. Es ist fraglich, ob die Autorin der Geschichte mit einem solchen Subjektbegriff gerecht wird, selbst wenn ihr Verstàndnis von Logos ein dynamisches ist, da der Logos die durch ihn geschaffene Gegenwirklichkeit dialektisch materialisieren kann. Es ist zudem nicht klar, ob damit andere mõgliche Subjekte der Geschichte úber­haupt noch in Frage kommen oder gánzlich ausgespielt haben.

Wie steht es mit der Sprache, mit deren Entwicklung Christina von Braun sich zwar ausfuhrlich befafit, die sie aber in diesem Zu­sammenhang offensichdich nicht einbezieht? Sprache, mit dem Ge-schichtsprozefi eng verwoben, konstituiert ja historische und kultu-relle Identitàt mit. Wenn sie auch keiner sozialen »Planung« aufsitzt, ist Sprache doch in eine logische Struktur eingelassen, die sie selbst mitproduziert und die fúr die patriarchale Gesellschaft geschichtsbil-dend ist. So transzendiert Sprache eine symbolische Ordnung, die die Ordnung der Aufrechterhaltung der Vorherrschaft eines Ge-schlechts ist; sie wird jedoch ais geschlechtsindifferent gesehen. Die Wissenschaften reprãsentieren diese Symbolsysteme in modemster Form und reproduzieren damit die androzentrische logische Struk­tur einmal mehr. Dem Sprechen und Denken, dem Begrúnden und Argumentieren wohnt diese Logik der Geschlechterherrschaft inne, die sich ihre »Dominanzstrukturen« (G. Lloyd 1985) geschaffen hat, in denen sie sich ãufiert.

Die Bedeutung der Sprache fur die Durchsetzung des logischen Phallozentrismus haben bereits die franzôsischen Feministinnen Iri­garay, Cixous und Kristeva in ihren vieldiskutierten, wissenschafts-kritischen psychoanalytischen Arbeiten herausgestellt (z.B. Irigaray 1976, Kristeva 1971). Ohne deren Vorstellungen von weiblicher Sub­jektivitãt im einzelnen zu folgen, beziehe ich mich hier auf ihr Den­ken, das den Blick geschãrft hat, fúr die Auseinandersetzung mit dia-lektischen und kritischen Wissenschaftspositionen (Conrad/Kon-nertz 1986, Woesler de Panafieu 1987).

Wo Horkheimer kritische Philosophie ais Sprachphilosophie be-greift, wird diese bei ihm scheinbar der Herrschaftselemente entklei-

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det. Von «stummen Zeugnissen der Sprache« ist die Rede, in denen Erfahrungsschichten aufgehoben sind. Gleichwohl wird Sprache ais »Behálter der wechselnden Perspektiven des Fúrsten und des Armen, des Dichters und des Bauern« verstanden. Doch die Metapher des Behálters assoziiert eher einen neutralen Gegenstand ais die Wir-kungsweise von Dominanzstrukturen. Nun reklamiert Horkheimer gleichfalls die Sprache mit ihren wechselnden Inhalten und den Worten, die unablõsbar von Werten und Ideen sind und fur diese einstehen, ais Kunderin der «Geschichte unserer Zivilisation«. Dabei nãhert er sich der Herrschaftsstruktur von Sprache an, ohne aber deren antagonistischen Charakter zu benennen.

«Sprache reflektiert die Sehnsúchte der Unterdriickten und die Zwangsla-ge der Natur; sie befreit den mimetischen Impuls Die Transformation dieses Impulses in das allgemeine Médium der Sprache anstatt in zerstõreri-sches Handeln bedeutet, daí» potentiell nihilistische Energien im Dienst von Versõhnung stehen« (Horkheimer 1985, S. 167).

Herrschaft und Gewalt vollziehen sich nicht in der Sprache selbst, sie sind der Sprache nicht eingeschrieben, sondem stehen ihr gleich-sam »substantiell« gegenúber. Diese logische Trennung erhãlt sich auch in den Aussagen iiber faschistische Propagandasprache. Diese sei »als Machtinstrument« behandelt worden, statt: dais sie ein Machtmittel gewesen sei. Ihre eigentliche Bestimmung erhált Spra­che durch die kritische Philosophie, die ihr »hilft, ihre echte mimeti-sche Funktion zu erfullen«:

»Die Philosophie ist mit der Kunst darin einig, dal? sie vermittelst der Sprache das Leiden reflektiert und es damit in die Sphãre der Erfahrung und Erinnerung úberfuhrt« (Horkheimer 1985, S. 167).

Wie zentral es fur Horkheimer ist, daí? durch Sprache »die Dinge bei ihrem rechten Namen genannt werden«, wird an der engen logi­schen Verknúpfung mit der Wahrheitsproblematik deudich, die identifiziert wird mit der «Úbereinstimmung von Name und Ding«, von «Sprache und Wirklichkeit« (Horkheimer 1985, S. 168). Die Idee dieser Úbereinstimmung wird in der objektiven Vemunft begriindet gesehen, in jener der Zweck-Mittel-Rationalitát entgegengesetzten und doch mit ihr verflochtenen und auf sie verweisenden «Kraft in den Beziehungen zwischen den Menschen«, die durch den Eros zu-

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gánglich ist. Durch die Formalisierung der Vemunft sind die Inhalte der objektiven Vernunft aufgelóst worden, und nur durch den Wahr-heitsgehalt der Sprache und Wirklichkeit kann der Rationalisierung widerstanden werden.

Der Hinweis auf Sprache und Sprachphilosophie machte wider-sprúchliche Zúge sichtbar. So verdeckt der Versõhnungsgedanke die Herrschaftslogik, der die Sprache selbst aufsitzt. Die Mõglichkeit von Mimesis ist einmal zu stark an eine vage Versôhnungsverheifiung ge-koppelt, ais dafi sie der Formalisierung der Vernunft ernsthaft entge-genstehen kõnnte. Die mimetische Bestimmung von Sprache zum anderen, die durch die kritische Philosophie und Theorie entbunden wird und Zugãnge zum Leiden, zum Erinnern und damit zum Auf-begehren schafft, kõnnte ein erkenntniskritisches Potential enthalten, das das Ausgegrenzte erkennbar und einklagbar macht.

Fúr Elisabeth Lenk ist eine mimetische Grundstruktur heute nur noch im Traum und in der Kunst enthalten:

»Das Unbewufite, Heterogene, dasjenige, was aus dem Bewufitsein her-ausfállt, ist damit auch aus der Gesellschaft ausgeschlossen, es wird der Indi-vidualpsychologie úberantwortet« (Lenk 1983, S. 19).

Das bedeutet, daí? das Vielgestaltige und Vieldeutige keinen sozia­len Raum mehr einnehmen darf, so wie es noch mõglich war, ais Mimesis eine frúhe, kollektive menschliche Erkenntnisform kenn-zeichnete. Die Autorin zeigt nun eine enge Zusammengehõrigkeit von gattungsgeschichtlicher Vernunftentwicklung und dem Zwang zur subjektiven menschlichen Identitât mit einem Hang zur mimeti­schen Vielheit — eine «unbándige Lust am Anderssein, an der Nach-ahmung« (Lenk 1983, S. 300).

Hieran kónnten praktische Uberlegungen zur Geschlechterdiffe-renz unmittelbar anschliefien, wãhrend dies bei der Kritischen Theo­rie und deren abstrakt bleibenden Konstruktionen von Mimesis schwerfállt. Durch die Einbeziehung von mimetischem Vermõgen, die relativ unbestimmt bleibt, gelingt es Horkheimer und Adorno in ihren Schriften aus den 40er Jahren nicht, die androzentrischen Trennungen und Ausgrenzungen in ihrem Denken zu úberwinden.

Es sollen nun die logischen und damit auch die materiellen Aus-grenzungsstrategien der Vernunftkritik Horkheimers und Adornos

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an Beispielen verdeutlicht und interpretiert werden. Der Mechanis­mus logischer Ausblendung besiegelt nicht das pure Verschwinden von Frauen aus Kultur und Geschichte und macht diese nicht ein­fach unsichtbar. Die Trennungen und Abspaltungen weiblicher Sub-jekte und der Lebens- sowie Arbeitsbereiche von Frauen von der Ra­tionalitãt und ebenso deren Kritik drúcken sich aus in einer Einbezie-hung in die Irrationalitãt (der modernen Familie wie auch der Pro­duktion und Distribution) und in der Verfugbarkeit und Unterwer-fung des weiblichen Lebenszusammenhanges.

Die Kritik der Instrumentalisierung von Vernunft hatte die europã-ische Aufklãrung ais eine Herrschaftsgeschichte blofigelegt. In ihr wirken die Unterdrúckung der Natur, die Klassenherrschaft und das Herrschaftsverhàltnis der Geschlechter untrennbar zusammen. Die­ser Zusammenhang wird mit der zivilisatorischen Entwicklung schlechthin identifiziert:

»Die Naturverfallenheit der Menschen heute ist vom gesellschaftlichen Fortschritt nicht abzulõsen. Die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivi-tãt, die einerseits die Bedingungen fúr eine gerechtere Welt herstellt, verleiht andererseits dem technischen Apparat und den sozialen Gruppen, die úber ihn verfugen, eine unmáfiige Uberlegenheit úber den Rest der Bevõlkerung. Der Einzelne wird gegenúber den õkonomischen Mãchten vollends annu-liert« (DA, S. 9).

Die patriarchale Dimension wird hier nicht explizit ausgewiesen, aber unmittelbar vorausgesetzt in der technischen Struktur und in den õkonomischen Machtfaktoren.

Es fallt auf, dafi theoretisch nicht weiter ausgelotet wird, wie die einzelnen Herrschaftsebenen ineinandergreifen und sich aus der Be­ziehung zueinander entfalten. Auf diese Weise bleibt der Charakter des Patriarchats abstrakt, auch wenn er in kritischer Absicht benannt wird:

«Grenzenlos Natur zu beherrschen, den Kosmos in ein unendliches Jagd-gebiet zu verwandeln, war der Wunschtraum der Jahrtausende. Darauf war die Idee des Menschen in der Mànnergesellschaft abgestimmt. Das war der Sinn der Vernunft, mit der er sich brústete« (DA, S. 298).

Die Substanz patriarchaler Herrschaft wird nicht geklãrt. Ihre Spu­ren manifestieren sich jedoch nachhaltig in einer individualpsycho-

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logischen Zwangsprozedur, die die Repressionsgeschichte der menschlichen Gattung nachzeichnet, um das autonome búrgerliche Subjekt zu konstituieren:

»Furchtbares hat die Menschheit sich antun mússen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, mãnnliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstren-gung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart« (DA, S. 47).

Die Vernunft des Patriarchats fordert ais Preis fur ihre Erhaltung die Unterdrúckung der àufieren und inneren Natur und ist durch Trieb- und Genufiverzicht erkauft. Hat sich »die Menschheit« tat-sãchlich die besagten Repressionen zugefúgt oder ist es nicht viel­mehr das Patriarchat selbst gewesen, das Frauen und Mãnnern diese Zurichtung auferlegt hat? Der ungeklãrte Patriarchatsbegriff verstellt die Antwort darauf.

Offen bleibt weiter, ob mit dem mãnnlichen búrgerlichen Selbst das weibliche stillschweigend mitgemeint ist, oder ob die offensicht-liche Auslassung die Hãlfte der Menschheit schlichtweg negiert. Der Unterschied zwischen beiden Mõglichkeiten ist ohnehin nicht grofi. Im ersten Falle lãfit die Totalisierung der Verhàltnisse eine andere menschliche Entwicklungsmõglichkeit neben der beschriebenen nicht zu. Und diese ist zweifellos die Herausbildung der mãnnlichen Identitãt, denn die gemachte Aussage lãfit sich nicht auf Frauen úber-tragen: Die Verlockungen nãmlich, das weibliche Selbst durch Trieb-erfullung und Genufi zu verlieren, waren kulturgeschichtlich eher be-grenzt und sind es noch immer. Die Muster der mãnnlichen Identi-tàtsbildung sind kulturell dominant geworden. Weibliche Subjektivi­tãt bestimmt sich aber nicht negativ, also in Opposition zur mãnnli­chen, sondem begrúndet sich durch eine eigene, differente Entwick­lung (Benjamin 1982, Irigaray 1980).

Selbsterhaltung, fur Horkheimer und Adorno das Kernstúck der subjektiven Vernunft und damit der búrgerlichen Existenz imma-nent, ist fur Frauen anders definiert und in der Praxis fur sie mora-lisch suspekt. Selbsdosigkeit ais Selbsterfullung ist die Signatur der búrgerlichen weiblichen Identitãt.

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Fur beide Geschlechter gilt, freilich in sehr unterschiedlicher Weise:

»Je weiter aber der Prozefi der Selbsterhaltung durch búrgerliche Arbeits-teilung geleistet wird, um so mehr erzwingt er die Selbstentàufierung der In-dividuen, die sich an Leib und Seele nach der technischen Apparatur zu for­men haben« (DA, S. 43).

Die Ausgrenzung der Geschlechterherrschaft schlágt zuriick auf den Begriff des klassischen entfremdeten Subjektes, der von Ge-schlechtsdiskriminierung vóllig unberúhrt, sein traditionelles zivili-sationskritisches Dasein fristet. Hier erweisen sich die Mechanismen der Ausgrenzung in ihrer negierenden Begriffsbedeutung, Die andere vorfindliche Variante besteht in einer Konstruktion von Weiblich­keit, die einer Funktionalisierung des weiblichen Lebenszusammen-hangs Vorschub leistet. Dieser Modus von Ausgrenzung schreibt auch die Logik des bináren Schemas und des dualen Denkens in Ge-schlechterpolaritáten fest, eine Logik, die doch durch die dialektische Kritik an der Identitátslogik (Horkheimer 1985) bereits aufgegeben schien.

Frauen und Natur werden identifiziert in der Projektion von Weib­lichkeit ais Kritik an der mãnnlichen Naturbeherrschung:

»Die Frau war kleiner und schwãcher, zwischen ihr und dem Mann be-stand ein Unterschied, den sie nicht úberwinden kõnnte, ein von Natur ge-setzter Unterschied, das Beschâmendste, Erniedrigendste, was in der Mãn-nergesellschaft mõglich ist. Wo Beherrschung der Natur das wahre Ziel ist, bleibt biologische Unterlegenheit das Stigma schlechthin, die von Natur ge-prágte Schwãche zur Gewalttat herausforderndes Mal« (DA, S. 298).

Dem Begriff des (mãnnlichen) autonomen Subjektes wird dicho-tomisch das Nicht-Subjekt Frau gegenúbergestellt:

»Die westliche Zivilisation hat sie (die Sorge um das Lebendige, d. Auto­rin) den Frauen úberlassen. Diese haben keinen selbstándigen Anteil an der Túchtigkeit, aus welcher diese Zivilisation hervorging. Der Mann mufi hin-aus ins feindliche Leben, mufi wirken und streben. Die Frau ist nicht Sub­jekt. Sie produziert nicht, sondem pflegt die Produzierenden, ein lebendiges Denkmal lãngst entschwundener Zeiten der geschlossenen Hauswirtschaft. Ihr war die vom Mann erzwungene Arbeitsteilung wenig gúnstig. Sie wurde zur Verkõrperung der biologischen Funktion, zum Bild der Natur, in deren Unterdrúckung der Ruhmestitel dieser Zivilisation bestand« (DA, S. 298).

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Neben einem geschlechtsindifferenten Entfremdungsbegriff, wie er uns entgegentrat, steht die doppelte Entfremdung von Frauen. Diese wird mit der Integration in die patriarchale Gesellschaft be-grúndet und noch einmal mit der Úbernahme der entfremdeten Normen und Werte des Mannes, die fúr Frauen gelten.

»Das Burgertum heimste von der Frau Tugend und Sittsamkeit ein: ais Reaktionsbildungen der matriarchalen Rebellion. Sie selbst erreichte fur die ganze ausgebeutete Natur die Aufnahme in die Welt der Herrschaft, aber ais gebrochene. Sie spiegelt, unterjocht, dem Sieger seinen Sieg in ihrer sponta-nen Unterwerfung wider: Niederlage ais Hingabe, Verzweiflung ais schõne Seele, das geschãndete Herz ais den liebenden Busen. Um den Preis der radi-kalen Lõsung von der Praxis, um den des Rúckzugs in gefeiten Bannkreis, empfángt Natur vom Herm der Schõpfung seine Reverenz. Kunst, Sitte, sublime Liebe sind Masken der Natur, in denen sie verwandelt wiederkehrt und ais ihr eigener Gegensatz zum Ausdruck wird. Durch ihre Masken ge-winnt sie die Sprache: in ihrer Verzerrung erscheint ihr Wesen; Schõnheit ist die Schlange, die die Wunde zeigt, wo einst der Stachel safi. Hinter der Be-wunderung des Mannes fur die Schõnheit lauert jedoch stets das schallende Gelàchter, der mafilose Hohn, die barbarische Zote des Potenten auf die Im-potenz, mit denen er die geheime Angst betàubt, dafi er der Impotenz, dem Tode, der Natur verfallen ist« (DA, S. 299).

Das «schallende Gelãchter« der Zivilisation ist nicht das sinnlich lockende Lachen der Sirenen, von dem die Odyssee kúndet. Es ist vielmehr ein bedrohliches und vernichtendes Hohnlachen, aus dem Angst und Verachtung sprechen gegenúber der geknechteten Natur und Kreatur.

Die in die Weiblichkeitsmetaphern eingelassenen Vorstellungen von Geschlechterpolaritãt verweisen auf eine anthropologische Ma-nifestation von Weiblichkeit (Becker-Schmidt 1987) ais das zugerich-tete »Andere« von Mànnlichkeit:

So wurde «der Frau die planmàfiige Pflege des Schõnen zuerkannt. Die neuzeitliche Puritanerin nahm den Auftrag eifrig an. Sie identifizierte sich mit dem Geschehenen ganz und gar, nicht mit der wilden, sondem der do-mestizierten Natur. Was vom Fàcheln, Singen und Tanzen der Sklavinnen Roms noch úbrig war, wurde in Birmingham endgúltig aufs Klavierspiel und andere Handarbeit reduziert bis auch die allerletzten Restbestãnde weibli-cher Zúgellosigkeit vollends zu Wahrzeichen patriarchaler Zivilisation sich veredelt hatten« (DA, S. 299 f.).

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Mit den Stilisierungen von Wildheit, Exzentrik und Laster, gleich-gesetzt mit dem weiblichen Chãos, das aus der Vorgeschichte her-riihre, benutzen die Autoren klassische androzentrische Projektions-flãchen, in denen sich Verachtung, Faszination und Bedrohlichkeit spiegeln. Einer fatalen Verschlingung von aufklãrerischen und my-thischen Elementen fallen die Autoren selbst anheim mit der Meta-pher der unterdriickten Frau ais Megãre.

»Als Fóssil der búrgerlichen Hochschàtzung der Frau ragt in die Gegen­wart die Megãre herein. Keifend rãcht sie seit endlosen Zeiten den Jammer, der ihr Geschlecht getroffen hat, im eigenen Haus« (DA, S. 300).

Die Mehrbõdigkeit, fur die »die bõse Alte«, ais Hexe einmal, dann ais archaische blutrúnstige Rãcherin und vor dem Hintergrund der Massenkultur sogar ais humanitãre Restkategorie und »letzte weibli­che Opposition gegen den Geist der Mãnnergesellschaft« herhalten mufi, ist aufgeladen mit androzentrischen Projektionen. Nicht genug damit, wird die Linie von der »Fratze der verstúmmelten Natur« bis zur sozial-karitativ tãtigen Frau gezogen, die ais »soziale Hyàne« sich betãtige. So nehme »die Einsame . . . ihre Zuflucht zu Konglomera-ten von Wissenschaft und Magie«. Offen verachtend wird gesagt, dafi die Megãre ais letzte weibliche Form der Auflehnung »verkommt im Sumpf« der »Betãtigung der kleinen Rankune in Wohltãtigkeit und Christian Science« (DA, S. 301). An den aufgebotenen Klischees werden aggressives Potential und Bedrohlichkeit sichtbar, die die patriarchale Denkweise der kritischen Kritiker enthúllt.

Feinnerviger ist diese in der Odyssee-Interpretation angelegt. Horkheimer und Adorno begreifen das Epos ais ahnungsvolle «Alle­gorie der Dialektik der Aufklãrung«, und ais Mythos, in dem die Form der Herrschaft úber die Natur und úber das Selbst auf eines der «frúhesten reprãsentativen Zeugnisse búrgerlich-abendlãndischer Zivilisation« verweist. Es geht hier nicht darum, den Facettenreich-tum der Herrschaftsbeziehungen zwischen den Geschlechtern an ei­nem klassischen Epos noch einmal zu entfalten, da das bereits úberzeugend und mit einem analytischen weiblichen Blick gesche­hen ist (Beer 1985, Geyer-Ryan/Lethen 1987).

Die Irrfahrt des mãnnlichen >Helden< Odysseus in die Zivilisation fuhrte durch die Skylla und Charybdis von Geist und Natur, Ver-

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nunft und Sinnlichkeit, Genufi und Hãrte, Selbstpreisgabe und Selbsterhaltung, um zu zeigen, wie die neuzeitliche Rationalitãt Ge­gensãtze festschreibt. Und um kritisch erkennbar zu machen, dafi Sinnlichkeit, Kórperlichkeit und Genufi ausgeschlossen werden, wenn der Mythos, scheinbar aufgeklãrt, úberwunden wird. So hebt die Rationalitãt der Triebunterdrúckung die Unterwerfung unter die Natur auf, indem sie diese durch andere Herrschaftsverhãltnisse ab-lõst. Durch die Konstituierung des sich bezwingenden (mãnnlichen) búrgerlichen Subjektes wird die Vernunft der Aufklãrung zugleich zu ihrer Unvernunft. Den Verlockungen und Verheifiungen von Sinn­lichkeit zu widerstehen, das kreiert den Prototyp des búrgerlichen >Helden<, der Herrschaft und Arbeit sicherstellt. Genufi wird ais Rache der unterjochten Natur gesehen, in dessen Verfuhrung sich die Menschen (die Mãnner!) des Denkens entledigen und der Zivilisa­tion entrinnen. Damit geraten Geniefien und Sinnlichkeit zu Exzes-sen und Ausschweifungen oder aber werden ais Tribut an die noch nicht vollends gebãndigte Natur rational beherrscht und kanalisiert (vgl. hierzu D A , Exkurs II : Juliette oder Aufklãrung und Moral).

Diese Verflechtungen und Widerspriiche werden durch die Begeg-nung mit Kirke versinnbildlicht. Kirke setzt ihre Weiblichkeit nicht genufivoll, sondem strategisch ein: »Auf die Lust, die sie gewãhrt, setzt sie den Preis, dafi die Lust verschmãht wurde; die letzte Hetãre bewãhrt sich ais erster weiblicher Charakter« (DA, S. 91). Verzerrung und Deformation des Weiblichen (und damit auch des Mãnnlichen) in der búrgerlichen Gesellschaft produzieren Kãlte und drúcken sich in Unterwerfung aus. Vertraute Nàhe und Liebe werden ausge­schlossen. Die Trennung von Liebe und Lust, entsprechend der von Geist und Kõrper, ist die Folge der búrgerlich-patriarchalen Rationa­litãt.

»Es ist, ais wiederhole die zaubernde Hetãre in dem Ritual, dem sie die Mãnner unterwirft, nochmals jenes, dem die patriarchale Gesellschaft sie sel­ber immer aufs neue unterwirft. Gleich ihr sind unterm Druck der Zivilisa­tion Frauen vorab geneigt, das zivilisatorische Urteil úber die Frau sich zu ei-gen zu machen und den Sexus zu diffamieren. In der Auseinandersetzung von Aufklãrung und Mythos, deren Spuren die Epopõe aufbewahrt, ist die mãchtige Verfuhrerin zugleich schon schwach, obsolet, angreifbar und be­darf der hõrigen Tiere ais ihrer Eskorte. Ais Repràsentantin der Natur ist die Frau in der búrgerlichen Gesellschaft zum Rãtselbild von Unwiderstehlich-

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keit und Ohnmacht geworden. So spiegelt sie der Herrschaft die eitle Lúge wider, die an Stelle der Versõhnung der Natur deren Úberwindung setzt« (DA, S. 90).

Das Signum der Kirke, die ais Verderberin und Helferin auftritt, wird mit Zweideutigkeit bestimmt. Auch in ihrer Abstammung ais Tochter des Helios und der Enkelin des Okeanos (der weibliche Stammbaum bleibt im Dunkel!) sind die Elemente Feuer und Was-ser ungeschieden. Diese Ungeschiedenheit ist es,

»als Gegensatz zum Primat eines bestimmten Aspektes der Natur — sei's des mutterlichen, sei's des patriarchalen — welche das Wesen von Promis-kuitãt, das Hetãrische ausmacht.... Die Hetãre gewãhrt Glúck und zerstõrt die Autonomie des Beglúckten, das ist ihre Zweideutigkeit« (DA, S. 88).

Aufschlufireich ist, dafi Horkheimer und Adorno das Ungeschie-dene, aber Uneinheitliche ausdrúcklich einer vorgeschichdichen, magischen Stufe zuschreiben. Weibliche Subjekthaftigkeit, die sich auf eine solche gerade besinnt, ist demnach aus der Geschichte und der Logik der Neuzeit ausgeschlossen. Der moderne Tauschprozefi, der anstelle des archaischen Opfers tritt, verweist Ungeschiedenheit ais Kategorie in eine Sphãre aufierhalb der Õkonomie.

Die búrgerliche Welt der Frauen wird an Dualitàten geknúpft, die keine wirklichen sind (Horkheimer 1985, S. 158 f.), statt an Katego­rien der Ungeschiedenheit. Auch dazu eignen sich die Weiblichkeits-metaphern in der Odyssee-Interpretation:

»Dirne und Ehefrau sind die Komplemente der weiblichen Selbstentfrem-dung in der patriarchalen Welt: die Ehefrau verrãt Lust an die feste Ordnung von Leben und Besitz, wãhrend die Dirne, was die Besitzrechte der Gattin unbesetzt lassen, ais deren geheime Bundesgenossin nochmals dem Besitz-verhàltnis unterstellt und Lust verkauft. Kirke wie Kalypso, die Buhlerinnen, werden, mythischen Schicksalsmãchten wie búrgerlichen Hausfrauen gleich, schon ais emsige Weberinnen eingefuhrt, wãhrend Penélope wie eine Dirne den Heimgekehrten mifitrauisch abschãtzt, ob er nicht wirklich nur ein alter Bettler oder gar ein abenteuerlicher Gott sei« (DA, S. 92).

Damit bestãtigt sich einmal mehr, dafi Weiblichkeit ausschliefilich auf ihre Verluste und auf eine Opferrolle im Sinne der Selbstpreisga-be festgelegt wird (vgl. auch Geyer-Ryan/Lethen 1987). Die Dialektik von Opfer und Tãter bei Horkheimer und Adorno, die gerade ihre

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Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus bezeichnet, wird nicht auf das Geschlechterverhãltnis ausgeweitet.

Wenn aber Aufklãrung mehr ist ais blofie Aufklãrung, nãmlich »Natur, die in ihrer Entffemdung vernehmbar wird« (DA, S. 54), dann wird Leiden offenkundig. Spãter, in der Negativen Dialektik, wird die Àufierung des Leidens ais Bedingung fur Wahrheit verstan-den. Auch das Leiden der Ausgeschlossenen erfordert seinen Aus­druck. Mimetische Angleichung an die Natur in Erkenntnis ihrer Be-drohung und fur Befreiung und Versõhnung — galt das nicht nur fur die Zeit, in der Mimesis noch geholfen hat?

Der Zirkel des androzentrischen Philosophierens ist also nicht ge-sprengt. Kritische Kritik der Aufklãrung ist nicht in der Lage, Entste­hung, Verhinderung und das Wirken von weiblichem Vernunftpo-tential zu erklãren. Wir sind sicher gut beraten, uns einer Erkenntnis-kritik zu nàhern, die die Opposition von Liebe und Macht bzw. Lie­be und Erkenntnis in ihren Mittelpunkt stellt (Fox Keller 1986).

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J A N B A A R S

Kritik ais Anamnese: Die Komposition der

Dialektik der Aufklãrung

Dieser Beitrag konzentriert sich auf die Dialektik der Aufklãrung, gese­hen ais Nervenzentrum der Arbeit Adornos und Horkheimers in der Emigrationszeit.1 Im Gegensatz zu postmodernistischen Aneignun-gen, aber z.B. auch im Gegensatz zu den Interpretationen von Du-biel und Habermas,2 wird die Auffassung vertreten, dafi Adorno und Horkheimer gerade angesichts des manifest existierenden Faschismus versuchten, die Aufklãrung fortzufuhren. Zu der an der àsthetischen Moderne endehnten konfiguratíven Form gesellt sich eine der mo­dernen Psychoanalyse entlehnte Anamnese, die freilich durchzogen ist von den sãkularisierten religiõsen Motiven der Versõhnung, Erló-sung und Rettung. Momente dieser Anamnese sind z.B.: ein expressi-ver Ausdruck des Leidens; eine Erinnerung der Vorgeschichte, die strukturiert wird von einer traumatisch fixierten Gegenwart her; eine Interpretation der Vorgeschichte ais Krankheitsgeschichte und schliefilich die Mõglichkeit einer Befreiung vom Wiederholungs-zwang durch Einsicht in der Génese. Fúr die Gesellschaftstheorie kõnnte die anamnetische Perspektive vor aliem fruchtbar werden, wenn sie kombiniert wird mit einer differenziert empirischen Erfor-schung der Génese der Repression. Diese spannungsreiche Kombina-tíon entsteht, nach dem Abschied von Horkheimers frúherem Pro-gramm, in unsicheren Konturen wãhrend der Zusammenarbeit von Adorno und Horkheimer in der Emigration und ist ais solche ein we-sendiches Charakteristikum dieser Periode.3 Eben beim Úbergang zur Sozialforschung wird aber die Notwendigkeit des von Habermas

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vollzogenen Schritts zur Intersubjektivitãt deudich; ein Schritt, der sich úbrigens schon bei Adorno und Horkheimer in den Antisemitis-mus-Studien abzeichnet. In meiner Interpretation mõchte ich plausi-bel machen, dafi man nicht ohne weiteres - wie fast úblich geworden ist — sagen kann, dafi die Autoren sich von der Wissenschaft verab-schieden, dafi sie zurúckgreifen auf eine blinde Natur und dafi sie ei­nen unaufhaltsamen Untergang beklagen. Das Fragen nach den In-tentionen kõnnte vielleicht die scheinbar aussichtslosen Aporien et­was weniger massiv machen und sie von innen her aufbrechen, in­dem gezeigt wird, was die sich ais »objektbezogen« und »immanent« verstehende Kritik im zu kritisierenden Objekt unterstellen mufi. Im folgenden werden einige Fãden zusammengefafit, die in meinem júngst erschienenen Buch ausfuhrlich ausgearbeitet sind. 4

I. Zur Einfuhrung: Komposition und Zeitkern

Konfigurative Kritik und Ausdruck des Leidens

Wer anfángt, die Dialektik der Aufklãrung zu lesen, bemerkt bald, dafi der im Untertitel angekúndigte fragmentarische Charakter nicht etwa bedeutet, dafi die Autoren nur Vorarbeiten eines grófieren Projektes vorlegen, obwohl das merkwúrdigerweise fur Horkheimer der Fali ge-wesen sein mufi, weil er, wie Wiggershaus gezeigt hat, damals auf ein systematisch.es Hauptwerk aus war.5 Auf jeder Seite ist der fragmenta­rische Stil, mit dem von einer Passage zur náchsten gesprungen wird, ohne dafi an der Stelle die Verbindung klar wird, gegenwártig. Dies deutet auf Adornos Dominanz. Vom àsthetischen Bereich ausge-hend hat Adorno immer die Unwahrheit, weil Repressivitãt integrier-ter Ganzheiten (harmonische Kunstwerke, systematische Philoso­phie und Wissenschaft, gesellschaftliche Systeme) betont. Zugleich hat er aber seit seiner ersten Publikation ais Siebzehnjãhriger nach neuen Formen gesucht, in denen der Wahrheitsgéhalt der búrgerli­chen Tradition aus seiner systematischen Zwangsjacke befreit und in sinnvollen Zusammenhãngen aufs Neue gedeutet werden kõnnte. Schónbergs atonale Kompositionen, die die grofie búrgerliche Tradi-

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tion Beethovens zeitgemâfi fortsetzen sollten, und vor aliem Benja­mins konfigurative Geschichtsphilosophie, in der dasjenige, was ver-gessen zu werden droht, »gerettet« werden sollte, haben Adorno blei-bend inspiriert. Die Kombination von Kritik, Anamnese und Fort-fuhrung der Tradition ist auch in der Dialektik der Aufklãrung zu be-merken. Der emphatische Verweis auf einen Wahrheitsgehalt der Kunstwerke unterscheidet Schõnberg, Benjamin und Adorno vom Postmodernismus, z.B. Lyotards. Der antisystematische, konfigurati­ve Stil ist ihnen aber gemeinsam.6

Der kritische Sinn des nicht-repressiven, konfigurativen Zusam-menhangs ist es, differenzierter Ausdruck der Spannung zwischen Teil und Ganzem, Individuum und Totalitãt, Besonderem und All-gemeinem zu sein. Ais solche ist diese Form entwickelt worden in der romantischen Rebellion, bis in den Expressionismus hinein, gegen die klassischen Formen. Schon friih ist fur Adorno die historische Be-deutung des Verhãltnisses zwischen Individuum und Totalitãt ge-kennzeichnet durch ein Leiden des Individuums; der Wahrheits­gehalt von Werken wie Wozzeck und Pierrot Lunaire ist, dafi dieses Leiden darin zeitgemãfi zum Ausdruck kam. Bis im Spátwerk wird der Ausdruck des Leidens ais Bedingung der Wahrheit gesehen (vgl. N D 27).

Von Benjamin endehnte Adorno ein Kompositionsverfahren, das in der Uberzeugung griindet, dafi »objektive Antinomien nicht an­ders zu úberwinden sind, ais wenn sie illusionslos bis zum Ende aus-getragen werden« (GS 12:9;vgl. 13f.). In der Komposition werden die Antinomien des Gegenstands auf die aporetische Spitze getrieben, um so die Mõglichkeit ihrer Aufhebung nahezulegen. Wegen dieser Intentionen der Kritik hat Adorno noch in seiner retrospektiven Ein-leitung zum Positivismusstreit betont, dafi seine Aussagen nicht wõrt-lich oder »positivistisch« ais Feststellungen zu nehmen seien. Seine Erkenntnis nennt er »Ubertreibung«. Diese Ubertreibung ist fur ihn »objektgerecht«, weil der emphatische Ausdruck des besonderen Un-glúcks zwar unabdingbar notwendig ist, aber zugleich diesem beson­deren Leiden, geschweige denn dem allgemeinen, kein Recht ange-deihen lassen kann.

Auch in der Dialektik der Aufklãrung wird der úbertreibende Aus­druck ais das Médium der Wahrheit vorgefuhrt (vgl. D A 126,191). In

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der Dichte der Kompositionen liegt eine weitere Intention verbor-gen: theoretisch so zu komponieren, dafi der Leser zum Denken ge-zwungen wird. Nirgends wird gelãufig geredet oder wird es ihm leicht gemacht. Diese Durchbildung mõchte aber das Gegenteil einer syste­matischen Abgeschlossenheit sein. Unfertiges Denken, so gibt Hork­heimer úberdies zu bedenken, »ist gerade jenes Denkens, mit dem es sich zu sterben lohnt« (DA 261). Es ist die adàquate Denkform der endlichen Menschlichkeit, die allzu oft danach strebt, Systeme zu konstruieren und sich ihnen zu unterwerfen.

In diesen Kompositionsprinzipien schlãgt sich die Uberzeugung nieder, dafi es darauf ankommt, eine qualitative Transformation zu bewirken, aus der Vorgeschichte auszubrechen und die in ihr ange-deutete Utopie zu verwirklichen. Auch dies unterscheidet Adorno und Horkheimer von postmodernen Theoretikern. Dieser Komposi­tion, deren eindringliche Kraft in der Rezeption immer wieder deut­lich wird, wird man nicht gerecht, wenn man wie Habermas davon spricht, dafi es fur die Autoren der Dialektik der Aufklãrung eine »schlichte Tatsache [ist], dafi die Menschheit in einer neuen Barbarei versinken wird«.7 Zu den Folgeproblemen jener Kompositionsprinzi­pien gehõrt allerdings, dafi es schwierig ist, neben dem Ausdruck auch noch eine Analyse von den spezifischen gesellschaftlichen Mechanismen zu liefern, die zu àndern oder aufzuheben sind (vgl. Abschnitt IV).

Zeitkern und Periodisierung des Adornoschen Werkes

Adornos Abwendung von integrierten Ganzheiten ist anfánglich (un­ter Einflufi des fruhen Lukács und des friihen Bloch) àsthetisch-meta-physisch inspiriert: die Wahrheit sei nur in Spuren und Fragmenten noch zu entzifTern. In der Emigration gesellt sich, deudicher ais vor-her, ein gesellschaftskritisches Motiv dazu: Systeme u. dgl. seien unreflektierte Ausdriicke und Reproduktionen gesellschaftlicher Macht. Auch die Beherrschung des musikalischen Naturmaterials, die Adorno noch 1934 (vgl. GS 17:202; GS 18: 369) ais Schõnbergs epochalen Fortschritt feierte, wird jetzt kritischer eingeschãtzt. Wãh­rend der Emigration wird sie gesehen ais Neuauflage des burgerli-

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chen Strebens, »was immer klingt, ordnend zu erfassen« (GS 12: 65). Seit der traumatischen Erfahrung des Nazismus, die sich erst in der Emigration voll auswirkt, spúrt er hinter das traditionelle Streben nach Beherrschung, Ordnung, Einheit und Systematik eine narzisti-sche »Wut aufs Nicht-Identische«, die er ais Antisemitismus und Ethnozentrismus empirisch zu studieren versucht. Noch die Ideale der Schõnheit und der wohlausgewogenen Harmonie werden ihm zufolge bezahlt mit einer Unterdrúckung desjenigen, was ais »le diffé-rend« nicht in die repressive Ordnungen pafit. Dasjenige, was am Objekt verworfen wird, wird aber auch im Subjekt selber verdrãngt und dies Unterdrúckte lôst sich nicht in Luft auf, sondem brútet un-tergriindig weiter. Es ist aber »die falsche geseUschaftliche Ordnung«, die in den Subjekten den Vernichtungswillen produziert (DA 177).

Adorno mõchte sich nicht auf nur subjektive Erfahrungen und Eindriicke berufen. Auch noch ais Negation der prima philosophia brauchen seine expressive Konfigurationen einen festen Punkt, an dem sie sich mit der Gegenwartsgeschichte verknúpfen kõnnen.8 Die historische Objektivitãt seiner dialektischen Konfigurationen sucht er mit Benjamin in einem generalisierten Bezug auf einen Zeitkem: »Wahrheit ist gebunden an einen Zeitkem, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt.« Dieser Zeitkern-Bezug, der die hi­storische Objektivitãt garantieren soll (und der von dem in Abschnitt III zu behandelnden subjektiven Sensorium unwillkurlich registriert werden soll), ist in Adornos Werk immer vorhanden, ebenso wie das Streben nach einem nicht-repressiven Zusammenhang und die retro­spektive Konstruktion der Analyse, eben vom Zeitkem der Wirklich­keit aus: »Von der jungsten Gestalt des Unrechts fállt Licht stets aufs Ganze« (GS 8:374; vgl. DA221,246; GS 7:533; GS 14:140). Nur ist der Zeitkem inhaltlich verschieden gefafit. In den dreifiiger Jahren ist es vor aliem die zerfaUende búrgerliche Kulturwelt, die den Zeitkem aus-macht. In der Emigration ándert dies sich aber. Der Zeitkem, von dem aus die Geschichte retrospektiv gedeutet wird, ist jetzt der Génese des (vor aliem nazistischen) Totalitarismus aus der búrgerlichen Tradition.

Nach der Rúckkehr werden wichtige Motive aus den Emigrations-arbeiten Dialektik der Aufklãrung, Mínima Mor alia und Philosophie der neuen Musik im Hauptstrom des Adornoschen Werkes fortgefuhrt,

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zugleich wird angeknúpft an die Arbeiten der dreifiiger Jahre. Die Heidegger-Kritik z.B., die in der Emigration võllig verstummte, wird wieder aufgenommen und im Lichte der Katastrophe von Auschwitz, dem Zeitkem des Adornoschen Spãtwerks, intensiviert. Die in der Dialektik der Aufklãrung in den «Elementen des Antisemitismus« vor-handene Verbindung mit einer empirischen Sozialforschung, die sich mit der Génese von Totalitarismus, Autoritarismus u. dgl. be-fafit, wird aber marginal. Deshalb mõchte ich im folgenden die Dia­lektik der Aufklãrung nicht, wie úblich, von der Konstellation des Spãtwerkes her lesen, sondem sie im spezifischen Kontekst der Emi-grationsarbeiten interpretieren.

II. Geschichtsphilosophie und Anamnese

Die geschichtsphibsophische Komposition der GeseUschaftskritik

Der spezifische Zeitkern der Emigrationsarbeiten im Umkreis der Dialektik der Aufklãrung, die Problematik der Entstehung des Totalita­rismus aus der búrgerlichen Welt, ist auch der systematische Mitte der antisystematischen Aphoristik Adornos und Horkheimers. Diese heimliche Systematik beeintràchtigt die Analyse der aktuellen Gesell­schaft, insofern z.B. der Totalitarismus in seiner nazistischen Gestalt unreflektiert ais latentes und verborgenes Wesen der amerikanischen Gesellschaft unterstellt wird. Dies ist der Fali in der Analyse der Kul­turindustrie, wo die amerikanische Amusementsindustrie beurteilt wird vor der Folie der Entstehung des Faschismus in der Weimarer Republik. Am schroffsten tritt dies aber in Adornos Inhaltsanalysen der Radioreden von Martin Luther Thomas (GS 9-1: 1-136) zutage, wo die eigentúmliche Gestalt des reaktionàren Predigers und die von ihm reprásentierten Tendenzen vollkommen undeutlich werden. Hier rãcht sich eine einseitige Akzentuierung der Geschichtsphiloso­phie in der Gesellschaftsanalyse. Aber auch in der konfigurativen Konstruktion der Geschichtsphilosophie fuhrt die Zeitkern-Systema-tik zu Schwierigkeiten. Die ganze Weltgeschichte erscheint in der Re­trospektive der Frage nach der Génese des Totalitarismus, was unver-

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meidlich modernistische Interpretationen vergangener Epochen und Weltbilder (wie Cochetti ausfúhrhch gezeigt hat9), sowie archaistische Interpretationen aktueller Entwicklungen mit sich bringt. Horkhei­mer hat im úbrigen manchmal Schwierigkeiten, Adornos welthistori-sche Generalisierung der Begriffe »Burger« und »búrgerlich« zu fol­gen und spricht z.B. von «búrgerliche Frúhzeit« (DA 97), um Hobbes zu situieren. Er »rettet« seinen Beitrag aber durch den Satz: »Der Búrger in den sukzessiven Gestalten des Sklavenhalters, freien Unter-nehmers, Administrators, ist das logische Subjekt der Aufklãrung« (DA 90). In dergleichen evolutionistischen Konstruktionen ist ein Ethnozentrismus verborgen, der trotz aliem von einer Identifikation der beiden Autoren mit der búrgerlich-europáischen Tradition zeugt. Die Interpretation vergangener und heutiger Gesellschafts-formationen wird einer reizvollen geschichtsphilosophischen Kom­position untergeordnet, woraus sich auch der kritische Sinn der anachronistischen Konstruktionen ableitet. Einerseits geht es (z.B. im Odysseus-Exkurs) um eine Kritik an der prãfaschistischen Ver-klãrung eines sogenannten reinen mythischen Ursprungs, nebenbei um eine Kritik an Durkheims Idee einer ursprúnglichen Solidaritãt. Diese Ursprungsmythen, so wird betont, sind schon Aufklãrung, d.h. sie stehen schon im Zeichen von Herrschaft und Vernunft. Andererseits soll hervorgehoben werden, dafi die fortgeschrittene, wissenschaftlich fundierte Kultur gerade dort — um es typisch »Adornitisch« zu sagen —, wo sie sich am fortgeschrittensten und úber alie Mythen erhaben wãhnt, in das zurúckschlãgt, was am meisten zu furchten ist. Es ist gerade die Selbstverabsolutierung, die zu jener Selbstvernichtung treibt, die im nazistischen Mythos des 20. Jahrhunderts am furchtbarsten und am deutlichsten wirksam geworden ist.

Schicksalsmotiv und Untergangsmotiv

Damit ist das Schicksalsmotiv der Dialektik der Aufklãrung angedeu-tet: gerade dasjenige, dem das fortschreitende Denken zu entíaufen hofft, wird durch die Art und Weise des Fortschreitens um so stãrker hervorgebracht. Im Streben, jeden Aberglauben auszurotten, bereitet

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die Aufklãrung den Boden fur Aberglauben und Fanatismus; im Stre­ben, die Dàmonen auszutreiben, wird die aufgeklãrte gesellschaftli­che Wirklichkeit selber dâmonisch. Dieses Schicksalsmotiv arbeitet mit einem mehrsinnigen Naturbegriff: im Streben, den Nztmzwang zu brechen, wird der (gesellschaftliche) Naturzwang um so stãrker in Kraft gesetzt. Der Grund fúr die Realisierung des gefurchteten Schicksals ist immer wieder der hoffhungslose Versuch, Natur zu brechen. Dieser Versuch ist Folge der Strategie der Aufklãrung, die Fortschritt in immer umfassender Beherrschung garantiert sieht. In dieser Selbstverabsolutierung liegt ihr eigener schicksalshafter My­thos: der Mythos des Fortschritts durch totale Beherrschung. Adorno und Horkheimer suchen die Génese des Totalitarismus in diesem Mythos der Aufklãrung, der sich auf rafBnierter Weise durchgesetzt hat ais kritische Entmythobgisierung von Vorurteil, Aberglauben und Tradition. Die destruktiven Erfolge dieser auf Naturbeherrschung ge-richteten Entmythologisierung kulminieren aber in einen Triumph der blinden Natur. Nur die Instrumente und die Organisation sind noch ratíonal; die Zwecke aber werden unbewufit gesetzt von einer durch Rankúne und Ressentiment beherrschten menschliche Natur. Solange diese innere, verdrãngte Natur unversóhnt ist, ist aber auch das Telos der Beherrschung der nichtmenschlichen Natur »verwirrt und undurchsichtig« (DA 61).

In diesem Sinne versteht die Dialektik der Aufklãrung sich ais eine von Nietzsche inspirierte Genealogie des aufklàrenden Denkens, frei­lich in der umfassenden Retrospektive einer zwischen Benjamin und Freud schwankenden Anamnese, worin Nietzsches »ewige Wieder-kehr des Gleichen« (seine richtige Ahnung vom Mythos im Inneren der Aufklãrung) begriffen wird ais aufzuhebender Wiederholungs-zwang. Adorno und Horkheimer kritisieren die neoromantische Re-zeption Nietzsches, in der seine Kritik der Aufklãrung einseitig auf eine antiaufklárerische Position reduziert wird, und begreifen Nietz­sches Kritik sogar in einer Kontínuitãt mit derjenigen Hegels (vgl. D A 50f., 127). Hegels dialektische Kritik des »Kampfíes] der Aufklãrung mit dem Aberglauben« wird welthistorisch generalisiert, wobei der Dialektik sich aber nicht vollenden und aufheben soll in einem Sy­stem, sondem in einer Befreiung aus dem vorgeschichtlichen mythi­schen Wiederholungszwang. Diese Geschichtsphilosophie ist negativ

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in dem Sinne, dafi ihr Gegenstand »das Schlechte« ist und nicht das Gute; ihr Element aber die Freiheit (vgl. D A 229).

Vor aliem soll der, mit dem Aufklãrungsmythos des Fortschritts verbundene, entffemdete Glaube, dafi eine Befreiung auf irgendeine Weise objektivgarantiert sei, durchbrochen werden. In diesem Sinne sehen Adorno und Horkheimer in der Geschichte zwar das Gegenteil einer sicheren Befreiung, doch nicht den sicheren Untergang.1 0 Der Untergang liegt in der blinden Konsequenz der herrschenden Ten-denzen. Befreiung ist immer noch mòglich, aber mufi von den Sub-jekten vollzogen werden.

Die Fortfuhrung der Aufklãrung angesichts der »blinden Natur«

Die schlechte verselbstãndigte Objektivitàt ist ais zweite Natur eine Fortsetzung der gewalttãtigen Seite der Natur, wobei der totalitãre Anthropozentrismus der technologisch entwickelten Menschheit nur ais Seitensprung der Evolution gesehen wird, der ein grõfieres Vernichtungspotential zustande bringt (vgl. D A 235, 265, 270). Die Vorgeschichte wird in ihrer aufzuhebenden logischen Notwendigkeit daher auch ais ein negativer Sozialdarwinismus konstruiert. Die Se-lektion der Leistungsfáhigsten wird aber kritisch, aus der Perspektive der damit einhergehenden Eliminierung der Schwâcheren, ais Prin-zip der Vorgeschichte begrifTen. Es geht Adorno und Horkheimer, wie Benjamin, um eine Geschichte aus der Perspektive der Besiegten und damit um das Durchbrechen des blinden Wiederholungszwangs der Vorgeschichte, der ais ihre Logik konstruiert wird (vgl. D A 43, 227,236). Die einzugedenkende Natur ist ais »blofie« Natur auch die Natur in ihrer Blindheit und Gewalttãtigkeit: »Als Vorbild und Ziel bedeutet sie den Widergeist, die Luge und Bestialitãt, erst ais erkann-te wird sie zum Drang des Daseins nach seinem Frieden...«(DA 271; vgl. 189). Ubrigens ist auch die gewaltsame Natur nicht eine »ur-sprungliche«; Natur ist nur zu erkennen in der Retrospektive, ist im­mer schon historische Natur. Dieses negative Gesicht der Natur wird polemisch gewendet gegen neoromantische Naturapotheosen. Die Kritik Adornos und Horkheimers versteht sich gerade angesichts solcher Reaktionen ais eine Fortfuhrung desjenigen, was sie Aufklã­rung nennen:

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- Sie kehren sich gegen die Tendenzen zur Selbstvernichtung der Aufklãrung, die den Totalitarismus herbeifuhren, und mõchten die Kritik der Aufklãrung nicht den Feinden der Aufklãrung iiber-lassen (DA 3, 52).

- Diese Kritik wird vollzogen in der Form einer entmythologisieren-de Anamnese diejeniger Prozesse, worin der Aufklãrung sich, von kurzlebigen Erfolgen der Naturbeherrschung beeindruckt, an ihr regressives, positivistisches Moment verliert (DA 3, 47).

- Im Zuge dieser Prozesse habe die positivistische Aufklãrung sich gegen Denken, Begriff und Philosophie gekehrt, sie auszutreiben oder zu formalisierten Zeichen zu reduzieren versucht.

- Durch Preisgabe des kritischen Denkens hat die Aufklãrung, Ador­no und Horkheimer zufolge, »ihrer eigenen Verwirklichung ent-sagt« (DA 48).

- Die Selbstbesinnung des Denkens im Lichte seiner destruktiven Folgen mõchten die Autoren in einer »Arbeit des (nicht reduzier-ten) Begriffs« vollziehen, die z.B. im dialektischen »Begriff der Aufklãrung« und in den zur Aufhebung notwendigen Erklàrungen fur die Entstehung des Totalitarismus resultiert.

- Die Aufklãrung, die sich ais Tradition des »unaufhaltsamen Den­kens» in diesen Bemuhungen reaktualisiert, hat ais begriffliches Médium die «bestimmte Negation«, die ais das wertvollste Erbe der Aufklãrung verstanden wird (DA 30). Diese bestimmte Nega­tion verbindet sich mit jenen Erfahrungsweisen, die aus der durch formalisierte Zeichen endeerten Empirie ausgetrieben worden sind. Im Berufen auf die Notwendigkeit einer unreduzierten Erfah-rung der Natur wird das Programm der Aufklãrung in verãnderter Gestalt wieder aufgenommen (vgl. D A 10).

Eingedenken der Natur im Subjekt und Freudsche Anamnese

Die Dialektik, in der die Aufklãrung zu sich selber gebracht werden soll, wird vollzogen durch eine dramatische Uberspitzung der ent-ffemdenden Tendenzen, in denen der aufklãrerische Bruch zwischen Subjekt und Objekt in aliem Umfang erfahren wird. Dies wird nicht blofi zynisch registriert, sondem ais ein Zusammenhang von Leiden

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und Angst zum Ausdruck gebracht. Diese beiden Momente, wobei gerade die verdrângte Angst, ais eminent manipulierbares emotionale Korrelat der Identifikation mit der Macht, das Leiden zu vergessen und die Vorgeschichte fortzufuhren hilft, sind von der regredierten Aufklãrung (die den Menschen einst von Furcht befreien wollte) ver­gessen worden. Im Prozefi der «Selbstbesinnung des Denkens úber seine eigene Schuld« gilt es, die universelle Perspektive, die trotz der Génese des Denkens in partikularer Herrschaft immer noch mit ihm erõffhet ist, zu verwirklichen (DA 44, 47). 1 1 Diese universelle Per­spektive ist aber von der Aufklãrung fálschlich verstanden worden ais die in der Technologie scheinbar gegebene Mõglichkeit des Fort­schritts durch totale Beherrschung. Dieses falsche Absolute gilt es aufzugeben (DA 48). Die mit Selbstdestruktion bezahlte Unmõglich-keit einer totalen Beherrschung ist die Konsequenz des endlichen Natur-Seins des Menschen. In diesem »Eingedenken der Natur im Subjekt« ist die Aufklãrung deshalb der Herrschaft entgegengesetzt (DA 47). In dieser zeitgemãfi fortzufuhrenden Bedeutung der Aufklã­rung geht es auch um die Einsicht in der Génese des Subjekts: ent-standen ais Aktor und Moment der Naturbeherrschung, ist es jetzt konfrontiert mit den regressiven Folgen dieser seiner Génese. Gegen­úber der verzerrten subjektiven Natur gilt es, sich versõhnend-negie-rend zu verhalten. Das geschichtsphilosophische Vorbild dieser ver-sõhnenden Negation liegt in der Haltung des Judentums angesichts der Magie (vgl. D A 195). Ais ausgearbeitete Strategien der Versõh­nung sind drei zu erkennen: die ãsthetische Versõhnung der Diffe-renzen in der Konfiguration, das Benjaminsche »Retten« des sonst Verlorenen und die Freudsche «Versõhnung mit dem Verdrãngten«.

Das «Eingedenken der Natur im Subjekt« zeigt an wichtigen Stel­len Merkmale der Freudschen Anamnese. Dieses Anamnese-Modell ist ofTenbar, wenn Adorno und Horkheimer von einer «Krankheit des Geistes« sprechen (DA 209, vgl. 207) oder wenn sie Wiederho-lungen in Kulturindustrie und Zivilisation ais Analogien zu traumati-schen Neurosen begreifen. Antisemitistn: a social disease hiefi in die­sem Sinne der Band, den Ernst Simmel 1946 redigierte und worin auch Beitrãge Adornos und Horkheimers erschienen (vgl. auch AP: V ; GS 12: 205). »Die Krankheit der Vernunft«, so betont Horkhei­mer, «grúndet in ihrem Ursprung, dem Verlangen des Menschen, die

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Natur zu beherrschen, und die >Genesung< hãngt von der Einsicht in das Wesen der ursprúnglichen Krankheit ab, nicht von einer Kur der spátesten Symptome« (ZK 164). Úberhaupt wird die Problematik der regredierten Aufklãrung von Adorno und Horkheimer begriffen ais der Wiederholungszwang einer vergeblich verdrãngenden Beherr­schung und eine Rúckkehr des Verdràngten: «Der Furcht wáhnt er [der Mensch, J.B.] ledig zu sein, wenn es nichts Unbekanntes mehr gibt. Das bestimmt die Bahn der Entmythologisierung... Aufklãrung ist die radikal gewordene mythische Angst. . . Es darf úberhaupt nichts mehr draufien sein, weil die blofie Vorstellung des Draufien die eigentliche Quelle der Angst ist« (DA 22, vgl. 38). Paranóia und System werden mit eineinder verbunden auf Grund der Freudschen Analysen in Totem und Tabu, wobei allerdings Freud kritisiert wird, weil er meinte, dafi Paranóia und Narzismus zum animistischen See-lenleben des »Primitiven« gehõrten, wãhrend diese sich gerade mit der moderne Naturbeherrschung vollends zeigten (DA 17). Anamne­se ist dies Eingedenken vor aliem dort, wo die regressive Bewegung in der Vorgeschichte hinein den Sinn hat, sich durch Erinnerung von der zwanghaften Logik der entfremdeten Vorgeschichte zu befreien. Resultat der Anamnese soll sein, dafi die Menschen «ihrer selbst mâchtig« (DA 63, 83, 209, 217) werden. Múndigkeit, «der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmúndigkeit«, ist im­mer noch das Ziel, nur wird das »Selbst« dabei radikal in ein neues kritisches Licht gestellt. In diesem Sinne mõchten die Autoren sogar am Vertrauen in den Menschen festhalten (vgl. D A 127; Z K 135, 152, 174), ein Vertrauen, das gerade von denjenigen verraten wird, die fur und úber den Einzelnen entscheiden mõchten. Ubereinstim-mend mit Freuds Anamnese ist schliefilich auch, wenn Adorno und Horkheimer betonen, dafi es notwendig sei, dafi in den Zusammen-hángen der Vorgeschichte nicht nur Einsicht entsteht, sondem dafi auch eine emphatische Erfahrung stattfindet, die sich vollziehen soll in Analogie zum «erinnern, wiederholen und durcharbeiten«. Genau diese zu voUziehende Erfahrung ist es, die Adorno und Horkheimer in der Dimension des Bildes suchen.

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Zur Form der Anamnese: Úbergang der àsthetischen Einbildungskraft in der psychoanalytischen Tríade

Die Aufklãrung hat in ihrem Streben nach nútzlichem Beherr-schungswissen — so Adorno und Horkheimer—jegliche Anschauun-g, Phantasie und Einbildungskraft, die in Magie und Mythen bluh-ten, degradiert. Auch in denjenigen philosophischen Bemúhungen, die sich iiber die Einseitigkeiten der Aufklãrung erheben mõchten (vor aliem Hegel ist gemeint), ist diesen Qualitãten selbst in den hõchsten Formen der Kunst nur ein Platz innerhalb und unterhalb des sich im System vollendenden philosophischen Begriffs zuge-dacht. Schon Benjamin wollte gegenúber dieser Tradition eine kon-krete Geschichtsphilosophie entwickeln, die im Médium des dialek-tischen Bildes abstrakte Begriffe hinter sich lassen sollte. Adorno und Horkheimer fuhren diese kritische Linie fort, wobei das, was die búr­gerliche Tradition des Fortschritts hinter sich lassen wollte, ais An-satzpunkt einer sich ais immanent verstehenden Kritik benutzt wird. Die herablassende Attitúde gegenúber der Einbildungskraft und ihrer Inhalte wird von Adorno und Horkheimer zudem ais ein Verdràngen gedeutet, die barbarischen Entwicklungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ais eine destruktive Rúckkehr des Verdrãngten. Eben dies vermag die Aufklãrung nicht zu sehen und zu begreifen. Sie ver-mag den negativen Konsequenzen der Repression nur intensivere Be-herrschungsversuche gegenúberzusetzen, weil sie sich von der Erfah­rung mit diesen entscheidenden Dimensionen abgeschnitten hat. Sie hat sich auf formalisierte Zeichen vereidigt und zur methodisch ver-engten Empine reduziert.

Die aufklãrerische Arbeit der Entzauberung war zum Teil berech-tigt, denn auch Adorno und Horkheimer betonen, dafi die Magie »blutige Unwahrheit« (DA 15) war. Die Herrschaft drángte nicht nur zur zeichenhaften Formalisierung, sondem hatte auch schon Gestalt und Gehalt der Bilder verzerrt. Der Schauder des Menschen ange­sichts der úbermãchtigen Natur hatte sich vergegenstãndlicht in festen Bildern (DA 27), sanktioniert von Eliten und Spiegelbildem einer festen Ordnung. Die verhãngnisvolle Einseitigkeit der Aufklãrung war aber, dafi sie »mit dem mimetischen Zauber die Erkenntnis ta-buiert [hat], die den Gegenstand wirklich trifft« P A 20). Bewahrt

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blieb die Einbildungskraft wãhrend des Regimes der Aufklãrung in der Diáspora der authentischen Kunstwerke, wo sie sich befreit hat von ihrer Génese ais Machtmittel. Mit ihre Hilfe mõchten Adorno und Horkheimer nicht feste, sondem offene Bilder, eben: Konfigura­tionen konstruieren. Die kritisch mobilisierte Einbildungskraft be­darf aber der begriffsmâfiigen Deutung. Hier liegt sogar ein relatives Recht der distanzierten úber Zeichen vermittelten Erkenntnis der Aufklãrung: sie wollte aus dem Banne der Natur (vgl. D A 9,47) tre-ten, den die neoromantische Anti-Aufklàrung in ihrem Bilderkult, z.B. bei Ludwig Klages, zu restaurieren sucht. »Die Trennung von Zeichen und Bild ist unabwendbar. Wird sie jedoch ahnungslos selbstzufrieden nochmals hypostasiert, so treibt jedes der beiden iso-lierten Prinzipien zur Zerstôrung der Wahrheit hin« (DA 24).

Die in der Gesellschaftstheorie eingefuhrte Einbildungskraft lãfit das zur Erfahrung werden, was die regredierte Aufklàrung nur ais Ma­terial der Beherrschung begreifen kann, und zeigt, dafi es sich um et­was Besonderes und Individuelles handelt, das unter der Beherr­schung leidet. In ihrer Sensibilitãt lãfit sie sich von den Eigentúmlich-keiten des besonderen Objektes prãgen und gibt ihm eine Interpreta­tion, in der ihm Recht angetan wird und es nicht Konstruktionen un-terworfen wird, die von der Beherrschung her gedacht sind. Das heifit aber nicht, dafi wirkliche Beherrschung verschwiegen werden soll; sie soll gerade kritisch zum Ausdruck gebracht werden. Was die Einbildungskraft leisten soll, ist ja auch im Schicksal des Besonderen zugleich das repressive Wesen des gesellschaftlichen Allgemeinen, der gesellschaftlichen Totalitãt zu zeigen. Dieses Programm einer kriti­schen Sozialphysiognomik, entwickelt aus der geschichtsphilosophi-schen Interpretation von Kunstwerken, ist vor aliem fur die Sozial­forschung wichtig.

In der kritischen Geschichtskonstruktion produziert die Einbildungs­kraft eine Dialektik im Stillstand: die stolze búrgerliche und marxisti-sche Tradition des Fortschritts wird entmythologisiert in Bildem, die Fortschritt und Regression paradox miteinander verknúpfen. Die Bil­der des regressiven Fortschritts sind aber nichts Endgúltiges, sondem offenbaren sich in der bestimmten Negation ais Ausdruck der Herrschaft. Zugleich geben sie der bestimmten Negation ihren be-freienden Sinn, der allerdings noch zu verwirklichen wãre.

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Das kompositorische Verfahren dieser vielleicht systematisch zu unterscheidenden, im Text aber durcheinander laufenden Phasen der Konstruktion, Deutung und Negation der Bilder ist eine der wichtig-sten Ursachen fur die Interpretationsschwierigkeiten angesichts der Dialektik der Aufklãrung. Die darin geleistete Arbeit des Begriffs steht quer zum kritisierten úblichen Nicht-Denken und Nicht-Erfahren und will ais solche die Verdinglichung úberwinden. In dieser Hin-sicht werden die dialektischen Bilder assoziert mit psychoanalyti-schen Imagines, die durchzuarbeiten sind, soll die Verdinglichung, die ais ein Vergessen begriffen wird (DA 244), durchbrochen werden. In dieser Hinsicht wird auch die Konfrontation von offener Konfigu-ration und geschlossener, repressiver Herrschaftsordnung assoziiert mit der psychoanalytischen Tríade von Verdrángung, Wiederkehr des Verdràngten und Versõhnung mit dem Verdràngten. Es ist gera­de die mit der lichten Erkenntnis gleichzeitig entstandene Nachtsei-te, die von der verdràngten, jetzt konfigurativ rehabilitierten Einbil­dungskraft ins Zentrum gestellt wird. In der kollektiv verdràngten Schattenseite der entstellten inneren Natur, die im Faschismus mani-fest wurde (vgl. D A 246), meinen Adorno und Horkheimer die vor-geschichdiche Dynamik, in der die Katastrophe vorbereitet wurde, erkennen zu kõnnen.

III. Die Kulturindustrie und das bei der Anamnese unterstellte subjektive Potential

Die Ambivalenz gegenúber der Kulturindustrie

In der Analyse der Kulturindustrie werden bald die negativen Konse­quenzen der historischen Diagnose Horkheimers aus den frúhen vierziger Jahren deudich: Infolge des proklamierten Verschwindens des Marktes, bei gleichzeitiger Totalisierung der Macht, stànden die Subjekte ais isolierte Einzelne scheinbar allmãchtigen Medien der Scheinkommunikation gegeniiber. Die Eigenstãndigkeit von Prozes-sen der Interpretation und der Kommunikation, die Bedeutung un-terschiedlicher gesellschaftlicher Positionen bei der Rezeption: ali

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dies und mehr wird bei Adorno und Horkheimer schroff vernachlás-sigt, was ihre Kritik ais sehr verkiirzt und einseitig erscheinen lãfit. Dies ist schon zu Recht und ausfuhrlich kritisiert worden. 1 2 Dabei ist aber eine Ambivalenz zu wenig beachtet worden: die Dynamik, die laut Horkheimers Diagnose aus den gesellschaftlichen Verhãltnissen verschwunden sei, taucht im Erfahrungsprozefi der Einzelnen auf. Sie werden nicht total konditioniert; die Beherrschungsversuche mifi-lingen auch hier, und gerade der in Wut ausartende Widerstand re-sultiert in Antisemitismus. Adornos Anerkennung der residualen An-wesenheit eines kritischen Urteils mag in seinen spàten Arbeiten eine isolierte Inkonsequenz sein, wie Kellner und Honneth unter Verweis auf Adornos Staunen in seinem Artikel »Freizeit« meinen, wãhrend seiner Emigrationszeit spielt diese Ambivalenz aber eine wichtige Rolle. Gerade weil der Prozefi der individuellen Rezeption differen-zierter war, ais im Rundfunkprojekt Lazarsfelds anerkannt wurde, hat Adorno damals das behavioristische Stimulus-Response-Modell kri­tisiert, das er spãter ais richtigen Ausdruck der gesellschaftlichen Ent-fremdung weithin akzeptierte. Die Menschen, so schreibt Adorno 1942, werden »in der Anpassung an die technischen Produktivkrãfte, die das System ais Fortschritt ihnen aufzwingt... Objekte, die ohne Einspruch sich manipulieren lassen, und fallen damit hinter die Poten-tialítãt der technischen Produktivkrãfte zuri ick. . . Ais Subjekte [sind sie aber] doch stets noch selber die Grenze der Verdinglichung...«. Auch in seinen im Zusammenhang mit dem Rundfunkprojekt ge-schriebenen Aufsãtzen betont Adorno, dafi die Konsumenten nicht vôllig konditioniert sind, aber den manipulativen Betrug plõtzlich durchschauen kõnnen »and once and for ali, dispense with controlled pleasure«. Diese Dynamik hat, seiner damaligen Meinung nach, eine viel grõfiere Relevanz, ais in den Beispielen zum Ausdruck kommt. Die Momente des plõtzlichen Durchschauens seien nur «examples of much broader issues of mass psychology« (ZSF 9: 42, 47). Auch in Zusammenhang mit den Studies in prejudice meinte Adorno, dafi die Manipulierten durch die Trieb der Propaganda hindurchsehen und zur plõtzlichen Einsicht in die Verlogenheit der Agitation erwa-chen kõnnen (vgl. GS 8: 400, 433). Fúr die Entwicklung der theore-tischen Position Adornos haben diese Interpretationen den Stellen-wert eines Ubergangs von der philosophischen Âsthetik zu einer

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gesellschaftstheoretischen Wende seiner physiognomischen Deu-tungen, die vollzogen wird mit Hilfe der Freudschen Psychoanalyse.

Vom »Zeitkern« aus ist fur Adorno und Horkheimer gerade die entscheidende Frage diejenige nach der Génese der »von der Existenz unterm Systemzwang demoralisierten Massen, die Zivilisation nur in krampíhaft eingeschliffenen Verhaltensweisen zeigen, durch die al-lenthalben Wut und Widerspenstigkeit durchscheint« (DA 161). Wie ist diese latente und manifeste Gewalttátigkeit mõglich, wenn úberall Instanzen des Konsums und Amusements úber die Konsumenten wachen und diese dauernd zu befriedigen suchen? Warum wird die Natur im Subjekt nicht befriedigt, sondem vergewaltigt? Warum werden die Konsumenten nicht im Sinne von Widerstandslosigkeit konditioniert? Angesichts des Ausbleibens emphatischer Befriedi-gung erhebt sich die Frage nach der Bedeutung und Funktion der Kultur im Verhãltnis zur konstatierten Bereitschaft zu kollektiver Ge­walttàtigkeit. Der Ausdruck »Kulturindustrie« ist dabei gemeint ais immanenter Gegensatz (wie «instrumentelle Vernunft«, «Tatsachen-sinn« u. dgl.), weil die Kombination von Kultur und Industrie gerade verhindert, dafi die Befriedigungspotentiale der Industrie verwirk-licht werden in einem die Selbsterhaltung transzendierenden Sinn, der in der repressiven Tradition der búrgerlichen Kultur eben auch angedeutet war. Das «Eingedenken der Natur im Subjekt« dient hier ais Ausgangspunkt der Kritik, dafi in der Natur des Menschen ein Freiheitspotential liegt, das immer noch nicht zerstõrt worden ist. Adorno und Horkheimer gehen aus von einer subjektiven Bedúrfnis-natur, die sich nicht total beherrschen lãfit.1 3 Es gibt ihnen zufolge ei­ne historisch gebildete Bedúrfnisnatur (GS 8: 392), die nach Beffiedi-gung auf einer mit der Entwicklung der Produktivkrãfte entsprechen-den Ebene strebt. Die gesellschaftlich realisierte Befriedigung bleibt aber dramatisch unter dieser Ebene und eben dies suchen die Instan­zen der Kulturindustrie mit ihren Opiaten zu kompensieren. Zu­gleich wollen sie den Arbeitsdruck der Selbsterhaltung, der durch die erreichte Technologie anachronistisch geworden ist, fortsetzen. Die­sen Prozefi versuchen Adorno und Horkheimer ais einen Prozefi der Fetischisierung des Tauschwertes zu begreifen, bei dem das Bedúrf-nis nach Gebrauchswert unbefnedigt bleibt. Dies Quid pro quo ist aber nur mõglich, wenn die Situation nicht erfahren wird.

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Verdinglichung: die halhvergessenen eigenen Mõglichkeiten

Dies nicht-erfahrende Bewufitsein ist das »verdinglichte« Bewufit­sein. Die Arbeiter, Angestellte und Búrger gleichermafien betreffen-de Verdinglichung wird, ausgehend von der musikwissenschafthchen Âsthetik, exemplarisch kritisiert ais eine Regression des Hõrens. Die Entwicklungsgestalt, von der aus die Problematik der Erfahrung ais eine Regression gedeutet wird, ist das am meisten fortgeschrittene ãsthetische Bewufitsein, so wie Adorno es in der entscheidenden Pha-se der Schõnberg-Schule erkennt. Diese konfigurative Musik sei aber nichts mehr oder weniger ais die adàquate Entwicklung der historisch erworbenen menschlichen Fãhigkeit zur differenzierten Erfahrung, die Adorno ais phylogenetisches, «mimetisches Erbe« den Kindern zuschreibt. Die Erfahrung ist unter der Kulturindustrie aber verding-licht und das heifit — weil zwar alie Verdinglichung ein Vergessen ist, es aber keine bessere Vergangenheit gibt —, dafi die Erfahrung ihr ei-genes Vermõgen vergessen hat. Genau dies wird verkõrpert von den àsthetischen Bilder der authentischen Kunstwerke. Sie reprãsentieren das am meisten fortgeschrittene Vermõgen der Erfahrung und Dar­stellung, wobei vor aliem auch die Nicht-Beffiedigung, das Leiden am Kontrast zwischen den aktuellen Mõglichkeiten und ihrer regres-siven gesellschaftlichen Verwirklichung erfahren werden. Die Ambi­valenz in der Kulturindustrie ist die einer »zwangshafte[n] Mimesis der Konsumenten an die zugleich durchschauten Kulturwaren« (DA 176). Das subkutan immer noch aktive Erfahrungsvermõgen der Konsumenten »ahnt« den Betrug am stárksten, wenn diese mit der am meisten fortgeschrittenen Kunst der Schõnberg-Schule konfron-tiert werden: »Sie offenbaren... den verkniffenen Hafi dessen, der ei-gentlich das andere ahnt, aber es sich verbieten mufi, um ungescho-ren leben zu kõnnen, und der darum am liebsten die mahnende Mõglichkeit ausrotten mõchte. Es ist diese prãsente Mõglichkeit. . . vor der eigendich regrediert wird« (ZSF 7: 339f). Das Entsetzen úber die Musik Schõnbergs und Weberns wird von Adorno gedeutet ais ein Beweis dafúr, dafi die Individuen genau den Erfahrungsgehalt dieser wahren Musik hõren. Die neue Musik verkõrpert auf ihre Wei­se die Problematik der technologisch fortgeschrittenen Menschheit: im Médium der fortgeschrittensten nicht-repressiven Konstruktion

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lãfit sie das mõgliche Andere und zugleich das Entsetzen úber die re-gressive Verwirklichung der gesellschaftlichen Mõglichkeiten hõren. Die Hõrer registrieren halbbewufit, was ihnen diese Kunst ais Er­kenntnis bietet; auch dann noch, wenn die Kulturindustrie ihre pseudo-angenehme Musik hõren lãfit: »Noch in der Selbstpreisgabe ist man sich selber nicht gut: geniefiend fuhlt man sich ais Verrãter des Móglichen und zugleich verraten vom Bestehenden« (ZSF 7: 350). Aus dieser Situation entsteht Adorno und Horkheimer zufolge die Wut aufs Nicht-Identische; auf dasjenige, was bei der repressiven Integration nicht mitmacht. Das ais unheimlich Erfahrene ist heim-lich aber das allzu Vertraute, so heifit es bei Adorno in Anschliefiung an Freuds Analyse des Unheimlichen (vgl. ZSF 7: 355; GS 7: 273). Die Wut ist heimlich die (sadistische) Wut gegenúber dem eigenen (masochistischen) Mitmachen in der repressiven Ordnung — woran man peinlich erinnert wird, wenn man erfáhrt, was draufien gehalten wird, obwohl es vertraut ist.

Das Sensorium: subjektives Korrelat des objektiven Zeitkerns

Ais subjektives Korrelat des objektiven historischen Zeitkerns der Wirklichkeit ist hier das phylogenetisch erworbene Sensorium unter-stellt. Diese «Mõglichkeit der Erfahrung« (GS 12: 144) ist die Mõg­lichkeit, das Wesentliche der historischen Wirklichkeit mit den »Nerven, das Tastorgan des historischen Bewufitseins« (GS 4: 109), zu registrieren, noch bevor es begriffen worden ist. Die Sensitivitãt des historisch gebildeten Sensoriums steht in flagrantem Wider­spruch zur schockierenden Gewaltsamkeit der modernen Welt. Vor aliem der Erste Weltkrieg stellt fur Adorno einen Bruch mit der búr­gerlichen Welt dar: »Keiner hàtte davon erzãhlen kõnnen, wie noch von den Schlachten des Artilleriegenerals Bonaparte erzãhlt werden konnte« (GS 4: 60). Die Versuche Adornos, von seiner àsthetischen Theorie der Erfahrung her einen Zugang zur historischen Wirklich­keit des aufkommenden Totalitarismus zu bekommen, folgen (wie schon Benjamin vorher, vgl. ZSF 8: 54f.) den Freudschen Uberlegun-gen in Jenseits des Lustprinzips. Vielleicht ist er dabei von Ernst Simmel angeregt worden, der auch im Horkheimer-Kreis an der

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Westkúste lebte und sich von den Schúlern Freuds am intensivsten mit der Frage der Kriegstraumata beschãftigt hatte. Wie in Jenseits des Lustprinzips steht die Problematik des Zusammenhangs von Reiz-schutz, Angstbereitschaft und Wiederholungszwang bei Adorno im Zentrum. Ausgangspunkt ist das historisch gebildete Sensorium, das in seiner Sensibilitãt des Reizschutzes entbehrt, den es eigendich be-nôtigte, um in der heutigen Welt aushalten zu kõnnen. Die isolierten Einzelnen in der atomisierten Gesellschaft registrieren die Gewalt­samkeit und versuchen in ihrer Betriebsamkeit damit fertig zu wer­den: »Doing things and going places« ist ein Versuch des Sensoriums, einen Art Reizschutz gegen die drohenden Kollektivierung herzustel-len (GS 4: 156).

Gegenúber diese Strategie der regressiven Selbsterhaltung verfolgt Adorno die Strategie der Angstbereitschaft, die Freud ais mõgliche Abwendung der Gefahr eines Traumas angedeutet hatte. Diese Stra­tegie ist diejenige, die Schõnberg in seinen expressionistischen Kom-positionen wie Erwartung gewãhlt haben soll. Schõnbergs Erwartung und seine scherzlose Scherzos zeigen: ». . . ein von wilder Angst er-griffener Mensch. Diesem aber gelingt, psychologisch gesprochen, die Angstbereitschaft: wãhrend der Schock ihn durchfáhrt. . . bleibt er seiner selbst mãchtig, Subjekt« (GS 12: 145; vgl. 44). Durch ihre Darstellung der Angst bleibt die Musik ihrem Versprechen treu: oh­ne Angst zu leben. Diese Position des authentischen Kunstwerks sucht auch die Theorie Adornos und Horkheimers einzunehmen. Ais eindrucksvolle Komposition mõchte sie Anamnese und vor al­iem Anlafi zur Anamnese sein. Das Niveau von Erfahrung und Dar­stellung ist, ihren Autoren zufolge, das am meisten fortgeschrittene und auch die Theorie sucht das Leiden an der Nicht-Erfullung an-schaulich zu machen. »Verdinglichung« und »Fetischismus« sind al­so keine endgúltig festzustellenden Sachverhalte. Es sind Andeutun-gen von Konflikten, wobei nur die negative Seite der Entffemdung beleuchtet wird, die positive Seite des anzusprechenden Potentials aber im Hintergrund bleibt, weil die Kritik ein heteronomes Verhãlt­nis zu den Potentialen der Befreiung vermeiden mõchte und davon ausgeht, dafi eine Befreiung nur aus einer selbstãndigen Anamnese des Konflikt.es resultieren kann. Im Unterschied zur Freudschen Psy­choanalyse geht es in dieser Anamnese aber nicht nur um die Auflõ-

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sung persònlich-psychologischer Konflikte, sondem darum, »die Menschen zum Bewufitsein des Unglucks, des allgemeinen und des davon unablõsbaren eigenen, zu bringen und ihnen die Scheinbeírie-digungen zu nehmen, kraft derer in ihnen die abscheuliche Ordnung nochmals am Leben sich erhãlt...«(GS 4:68). Diese Anamnese, eine Arbeit des Begriffs und der Selbstbesinnung, die man leisten mufi, »um seiner selbst máchtig zu werden«, kann nicht theoretisch, ais »fertig gelieferte Aufklàrung« zur Vollendung gebracht werden. Dies reproduziere in der Heteronomie die Verdinglichung, die nur durch-brochen werden kõnne in eine «spontane Reflexion«, wobei die be-freiende Kraft der Einsichten gleich sei »der Energie und dem Leiden, womit sie errungen werden« (GS 4: 71, 76).

IV. Antísemitismus: Anamnese und Sozialforschung

Die soziale Manifestation des Zeitkerns

Zum Begriff der entscheidenden Dynamik des Antísemitismus wird wieder verwiesen auf Freuds Analyse des »Unheimlichen«: dasjenige, was in der Idiosynkrasie abstõfit, ist nur allzu vertraut (vgl. D A 191; AP 609,615). Jetzt geht es aber nicht um eine Konfrontation mit der neuen Musik. Der Antisemit begegnet der eigenen vergessenen Angst, der eigenen Schwãche, der eigenen Sehnsucht beim ais Frem-den und Feind etikettierten Anderen. »Die Umwendung hángt davon ab, ob die Beherrschten im Angesicht des absoluten Wahnsinns ihrer selbst mãchtig werden...«, ob die Menschheit im Bild des verfolgten Juden »ihres eigenen Bildes innewird« (DA 209). Dann wiirde sich die aus der Negation der repressiven Ordnung abgeleitete Utopie ver-wirklichen: »die einer Menschheit, die selbst nicht mehr entstellt, der Entstellung nicht lãnger bedarf« (DA 127). In dieser Subjekt-Objekt-Theorie wechselt das Subjekt der Entfremdung und der mõglichen Anamnese aber undifferenziert: von Einzelnen und Kollektiven bis hin zu Võlkern und Imperien. Das verkurzt nicht nur die Unterschie-de zwischen diesen Ebenen, sondem lãfit auch die gesellschaftlichen Gegensãtze aufier Betracht und vernachlãfiigt die Subjekt-Subjekt-

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Qualitãt des Antisemitismus. Das Interessante an den »Elementen des Antisemitismus« ist aber, dafi die Analyse des Antisemitismus aus dem benutzten Subjekt-Objekt-Modell fállt, freilich ohne dafi die Autoren theoretische Konsequenzen daraus ziehen. Dies geschieht z.B. dann, wenn sie »das Gewissen« suchen in »der Hingabe des Ichs an das Substantielle draufien, in der Fãhigkeit, das wahre Antiegen der anderen zum eigenen zu machem (DA 208). Habermas hãtte hier an-knúpfen kõnnen anstatt Adorno und Horkheimer auf Nietzsche zu-riickzufuhren.

Der Grundlage, auf der dieser Anamnese aUgemeine Relevanz ha­ben kõnne, wird von Adorno und Horkheimer aber immer noch in Benjamins Naturmetaphysik gesucht. Von dort wird der »Wehlaut des Opfers« in der historischen Konstellation des Totalitarismus ge­deutet ais ein «Klagelaut der Natur«, die Problematik des Antisemitis­mus ais die einer »kranken Einsamkeit... in der die ganze Natur be-fangen ist« (DA 192,198). An solchen Stellen entscheidet sich, ob die Kritik ihre historische Perspektive durchsetzen wird oder ihre Gesell-schaftskritik preisgeben wird in ein Entsetzen iiber das endliche menschliche Dasein ais solches.

Das Verhãltnis der Dialektik der Aufklãrung zu den empirischen Untersuchungen der Emigrationszeit ist vor aliem auch darum inter-essant, weil dabei einige wichtige Beschrànkungen der abstrakt gene-ralisierenden Gesellschaftsdiagnose Adornos und Horkheimers deut­lich werden. Die Ergebnisse der Untersuchung The authoritarian per-sonality zeigen z.B., dafi die Familie, die mit dem Markt aus der spát-búrgerlichen Gesellschaft verschwunden sein sollte, noch immer eine wichtige Instanz ist. Auch wird deudich, dafi die kritischen Fá-higkeiten, die Adorno und Horkheimer fur sich selber zu reservieren geneigt sind, nicht nur ais latentes Potential, sondem in entwickelter Form bei empirisch anzutreffenden Personen existieren. Noch bei ihrer Rúckkehr 1952 fassen Adorno und Horkheimer die Bedeutung dieser Studie mit folgenden Worten zusammen: » . . . ein verhãltnis-mãfiig zuverlãssiges und zugleich sinnvolles Bild der menschlichen Krãfte und Gegenkrâfte, die mobilisiert werden, wann und wo immer totalitãre Bewegungen und ihre Propaganda erheblichen Umfang an-nehmen« (GS 9-2: 370); und sie nehmen sich vor, die Zusammenar-beit von Philosophie und kritische Sozialwissenschaft im neuzugriin-

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denden Institut fortzusetzen. Bis ins Spãtwerk hat Adorno die Not­wendigkeit empirischer Untersuchungen betont, »zur Differenzie-rung und Korrektur der Theoreme« (GS 10: 718, vgl. 731), und es leuchtet ein, daí? seine Anerkennung eines kritischen gesellschaftli­chen Potentials fast immer im direkten Zusammenhang mit empiri-schen Studien stand. Das heifit aber nicht, dafi Adornos Kritik an empiristische Positionen abzuweisen ist. Sein Widerstand gegen ver-dinglichende Methoden im Lazarsfeld-Projekt und seine wiederholte Betonung der Notwendigkeit von Intensivinterviews, die in The authoritarian personality in der Untersuchung integriert wurden, deu-ten auf eine Anerkennung der Eigenart der Sozialwissenschaften hin. Aufgrund seiner Subjekt-Objekt-Theorie, die an der Deutung àstheti-scher Bilder und am Selbstverstàndnis der naturwissenschaftlich orientierte Aufklãrung entwickelt worden war, hatte Adorno in der Zusammenarbeit mit Sanford, Frenkel-Brunswik und Levinson aber kaum Alternativen zur Verfugung. Weil die Subjekt-Subjekt-Dimen-sion nicht weiter ausgearbeitet wurde, blieb Adornos Deutung im be-schrãnkten Rahmen der »bestimmte Negation«, innerhalb derer die Objekt-Deutung des Subjekts und dabei vor aliem der Standort des deutenden Analytikers gegeniiber der Krankheitsgeschichte des Ana-lysanden, der Gesellschaft, nicht reflektiert wird.

Die Ergebnisse aus The authoritarian personality wurden aufierdem zynisch interpretiert. So schlossen Adorno und Horkheimer im letz­ten (fur die Publikation 1947 an den im Friihling 1944 abgeschlosse-nen Text der «Philosophischen Fragmente« hinzugefugten) Absatz der «Elemente des Antisemitismus«, dafi sie noch zu positiv gewesen seien: «Die erfahrungsmàfiigen >Elemente des Antisemitismus<, au-fier Kraft gesetzt durch den Erfahrungsverlust, der im Ticketdenken sich anzeigt...«(DA 215). Im Spãtwerk Adornos sind es nur noch die wenige authentischen Kúnsder (»und kaum einer, der nicht Schõn-berg oder Picasso heifit, darf die Kraft dazu sich selber zutrauen«), bei denen noch emphatische Erfahrung stattfindet. Dann hat es kaum noch Zweck, die Gesellschaftstheorie breiter aufzufassen ais eine kri­tische «ãsthetische Theorie«. Diese tendentielle Reduktion, die teil-weise eine Ruckkehr Adornos zum Programm der dreifiiger Jahre bedeutet, hãngt zusammen mit einer traumatischen Erfahrung, die den wichtigsten Inhalt der Anamnese in seinen spãten Arbeiten be-

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stimmt. In den Minima Moralia wird nur ein Aphorismus aus den vierziger Jahren mit Datum hervorgehoben. «Herbst 1944« heifit es am Ende des eindringlichen »Weit vom Schufi«, worin Adorno zum ersten Mal võllig zu realisieren scheint, dafi die systematische Ver-nichtung in Osteuropa nicht mehr in der Tradition des Antisemitis­mus zu fassen ist. Jene Vernichtung hat seiner Meinung nach nichts mehr zu tun mit einem Verhãltnis zwischen Personen: es werden (wie in der modernen Kriegsfuhrung) nur Exemplare vernichtet. Ãhnliche Passagen finden sich in jenem spãter zugefugten letzten «Element des Antisemitismus«. Zum ersten Mal ist in der Dialektik der Aufklãrung à\t Rede von Gaskammern und Zyklonfabriken, wãh­rend der Antisemitismus vorher vom Pogrom her begriffen wurde (vgl. D A 126,179£, 202,265,267). Von der neuen Zeitkern-Diagno-se her heifit es jetzt retrospektiv, dafi »das Priigeln schon den univer-sellen Mord in sich hatte«, womit der Beziehung mit der ffuheren Antisemitismus-Analyse gewahrt bleiben soll. Aber im Spãtwerk ver-schwindet die Frage nach der gesellschaftlichen Génese des Totalita­rismus fast võllig in einer generellen Anklage. Die ungeheure anam-netische Bedeutung der Auschwitz-Katastrophe droht damit endeert zu werden und theoretisch wie praktisch in Làhmung zu resultieren, weil alie môglichen Gegenkrãfte, einschliefilich der eigenen Position, verdãchtig werden. In dieser Hinsicht ist es lehrreich, zur Emigra-tionszeit zuriickzukehren, wo Adorno und Horkheimer angesichts des manifest existierenden Faschismus noch nach Gegenpositionen in Tradition und Gesellschaft suchten und versuchten, mittels kriti-scher Sozialforschung Einsicht in spezifische Prozesse der Génese der Repression zu gewinnen.

Anmerkungen

1 Die Schriften von Th.W. Adorno und M. Horkheimer werden im Text mit den folgenden Siglen bezeichnet: AP - T.W. Adorno, E. Frenkel-Brunswik, D.J. Levinson, R.N. Sanford, The authoritarian personality, New York 1969 DA — T.W. Adorno/M. Horkheimer, Dialektik der Aufklãrung. Philosophi­sche Fragmente, Frankfurt 1969

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GS — T.W. Adorno, Gesammelte Schrifien, Hg. R. Tiedemann, Frankfurt (Band: Seite) ND - T.W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt 1970 ZK — M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt 1974 ZSF — M. Horkheimer (Hg.) Zeitschriftfur Sozialforschung, Reprint Mún­chen 1980 (Band: Seite) Die Hervorhebungen in den Zitaten sind vom Verfasser.

2 Vgl. vor aliem H. Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfah­rung. Studien zur jriihen kritischen Theorie (Frankfurt 1978), der meint, dafi »die abendlãndische Vernunfttradition úberhaupt« fur Adorno und Horkheimer ein umfassendes und universales »Feindbild« geworden sei (S. 107f.; 123, 129); J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne (Frankfurt 1985).

3 Vgl. W. Bonfi, Die Einubung des Tatsachenblicks, Frankfurt 1982. 4 J. Baars, De mythe van de totale beheersing. Adorno, Horkheimer en de dialek-

tiek van de vooruitgang Amsterdam 1987 5 R. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwick­

lung. Politische Bedeutung Múnchen-Wien 1986 6 A. Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik

nach Adorno, Frankfurt 1985 7 J. Habermas, »Bemerkungen zur Entwicklungsgeschichte des Horkhei-

merschen Werkes«, in: A. Schmidt/N. Altwicker (Hg.), Max Horkheimer heute: Werk und Wirkung Frankfurt 1986, S. 167

8 Vgl. z.B. Adornos »Die Aktualitàt der Philosophie«, wo er spricht von ei­ner traumatisch in der Philosophie »einbrechende«, irreduzible histori­sche Wirklichkeit, woran »Produktivitãt des Denkens sich dialektisch zu bewãhren hat« (GS 1: 343).

9 S. Cochetti, Mythos und «Dialektik der Aufklãrung", Kõnigstein/Ts. 1985 10 Das Glauben an einen garantierten Untergang sei gerade ein Kennzei-

chen des »kranken Bewufitseins« des Paranoikers, der »als Philosoph die Weltgeschichte zur Vollstreckerin unausweichlicher Katastrophen und Untergânge macht«; diesem »Ich, das im sinnleeren Abgrund seiner selbst versinkt, werden die Gegenstãnde zu Allegorien des Verderbens, in denen der Sinn seines eigenen Sturzes beschlossen liegt« (DA 200).

11 »Die Einsicht, dafi, was entsprang, nicht auf seinen Ursprung reduziert, nicht dem gleichgemacht werden kann, woraus es kam, bezieht sich auch auf den Geist, der so leicht dazu sich verfuhren lãfit, sich selber ais Ur­sprung aufzuwerfen... Dafi der Geist von den realen Lebensverhãltnisse sich trennte und ihnen gegenúber sich verselbstãndigte, ist nicht nur sei­ne Unwahrheit, sondem auch seine Wahrheit. . .« (GS 8: 120f.)

12 D. Kellner, «Kulturindustrie und Massenkommunikation. Die kritische Theorie und ihre Folgen«, in: W. Bonfi/A. Honneth (Hg.), Sozialfor-schung ais Kritik. Zum sozialwissenschaftlicben Potential der Kritischen Theorie

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Frankfurt 1982; A. Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kriti­schen Gesellschaftstheorie, Frankfurt 1985. »Denn in den Bedúrfnissen selbst der erfafiten und verwalteten Men­schen reagiert etwas, worin sie nicht ganz erfafit sind, der Uberschufi des subjektiven Anteils, dessen das System nicht vollends Herr wurde« (ND 97).

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J A N B A A R S

Seitenkonkordanz Dialektik der Aufklãrung

1947 — Erstdruck (Querido, Amsterdam 1947); hiervon sind diverse Raubdrucke im Umlauf.

1969 — Neuauflage mit einleitenden Bemerkungen »Zur Neuausgabe« (S. Fischer, Frankfurt 1969)

1971 — Taschenbuchausgabe hiervon (Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1971)

GS 3 — Ausgabe ais Band 3 von T.W. Adorno «Gesammelte Schriften« (Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1981); hierin ist ein vorher unpu-bliziertes Fragment «Das Schema der Massenkultur« aufgenom-men (S. 299ff.)

HGS 5 — Ausgabe in Band 5 von Max Horkheimer «Gesammelte Schrif-ten« (S. Fischer Verlag, Frankfurt 1987); in dieser Ausgabe sind auch die Veránderungen verglichen mit den «Philosophischen Fragmenten« (1944) angegeben.

GS3 HGS5 1947 1969 1971 1981 1987

»Vorrede«

5 1 1 11 16 6 2 2 12 17 7 3 3 13 18 8 4 4 14 19 9 5 15 20

10 6 5 16 21 11 17 22 12 7 6 18 23

GS3 HGS5 1947 1969 1971 1981 1987

«Begriff der Aufklárung«

13 9 7 19 25 14 10 8 20 26 15 11 9 21 27 16 12 22 28 17 13 10 23 29 18 14 11 24 30 19 15 12 25 31 20 26 32

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GS3 HGS5 1947 1971 1981 1987

21 16 13 22 17 14 27 33 23 18 15 28 34 24 19 29 35 25 20 16 30 36 26 21 17 31 37 27 22 18 32 38 28 23 19 33 39 29 24 20 34 40 30 25 35 41 31 21 36 32 26 37 42 33 27 22 38 43 34 28 23 39 44 35 29 24 40 45 36 30 25 46 37 31 26 41 47 38 32 42 48 39 33 27 43 49 40 28 44 41 34 45 50 42 35 29 46 51 43 36 30 47 52 44 37 31 48 53 45 38 32 49 54 46 39 55 47 40 33 50 56 48 41 34 51 57 49 35 52 58 50 42 36 53 59 51 43 54 60 52 44 37 55 61 53 45 38 56 62 54 46 39 57 63 55 47 40 58 64 56 48 59 65 57 49 41 60 66

GS3 HGS5 1947 1969 1971 1981 1987

Exkurs I «Odysseus oder Mythos und

Aufklârung«

58 50 42 61 67 59 51 43 62 68 60 52 44 63 69 61 53 45 64 70 62 54 65 71 63 46 66 64 55 67 72 65 56 47 68 73 66 57 48 74 67 58 49 69 75 68 59 70 76 69 60 50 71 77 70 61 51 72 78 71 62 52 73 79 72 63 74 73 64 53 75 80 74 65 54 76 81 75 66 55 77 82 76 78 83 77 67 56 79 84 78 68 57 80 85 79 69 58 81 86 80 70 82 87 81 71 59 83 88 82 72 60 83 73 61 84 89 84 74 85 90 85 75 62 86 91 86 63 87 92 87 76 64 88 93 88 77 89 94 89 78 65 90 95 90 79 66 91 91 80 67 92 96 92 81 97 93 82 68 93 98 94 83 69 94 99

237

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GS3 HGS5 1947 1969 1971 1981 1987

95 84 70 95 100 96 85 96 101 97 86 71 97 102 98 72 98 99 87 73 99 103

Exkurs II «Juliette oder Aufklãrung und

Moral«

100 88 74 100 104 101 89 75 101 105 102 90 76 102 106 103 91 103 107 104 92 77 104 108 105 78 105 106 93 79 106 109 107 94 107 110 108 95 80 111 109 96 81 108 112 110 97 82 109 113 111 98 110 114 112 99 83 111 115 113 100 84 112 116 114 85 113 115 101 114 117 116 102 86 115 118 117 103 87 116 119 118 104 88 117 120 119 105 118 121 120 106 89 119 122 121 107 90 120 123 122 108 91 124 123 109 92 121 125 124 110 122 126 125 111 93 123 127 126 94 124 127 112 95 125 128 128 113 96 126 129 129 114 127 130 130 115 97 128 131

GS3 HGS5 1947 1969 1971 1981 1987

131 116 98 129 132 132 117 99 130 133 133 118 131 134 134 119 100 132 135 135 120 101 133 136 136 121 102 134 137 137 122 103 135 138 138 123 104 136 139 139 124 137 140 140 125 105 138 141 141 106 142 142 126 139 143 127 107 140 143

«Kulturindustrie. Aufklãrung ais Massenbetrug«

144 128 108 141 144 145 129 109 142 145 146 130 110 143 146 147 131 144 147 148 132 111 145 148 149 112 146 149 150 133 147 150 151 134 113 148 151 152 135 114 152 153 136 115 149 153 154 137 116 150 155 138 117 151 154 156 139 152 155 157 140 118 153 156 158 119 154 157 159 141 120 155 158 160 142 156 159 161 143 121 157 160 162 144 122 158 161 163 145 123 159 162 164 146 163 165 147 124 160 164 166 148 125 161 165 167 149 126 162 166

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168 127 163 167 169 150 164 168 170 151 128 165 169 171 152 129 166 170 172 153 130 167 173 154 131 168 171 174 155 169 172 175 156 132 170 173 176 133 174 177 157 134 171 175 178 158 172 176 179 159 135 173 177 180 160 136 174 178 181 161 137 175 179 182 162 176 180 183 163 138 177 181 184 164 139 178 182 185 165 140 179 183 186 166 141 180 184 187 142 181 185 188 167 186 189 168 143 182 187 190 169 144 183 188 191 170 145 184 189 192 171 185 190 193 172 146 186 191 194 173 147 187 192 195 174 148 188 193 196 189 194 197 175 149 190 195 198 176 150 191 196

«Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklãrung«

199 177 151 192 197 200 178 152 193 198 201 179 194 199 202 180 153 195 200 203 181 154 196 201 204 155 197 202

GS3 HGS5 1947 1969 1971 1981 1987

205 182 156 198 203 206 183 199 204 207 184 157 200 205 208 185 158 201 206 209 186 159 207 210 187 160 202 208 211 188 161 203 209 212 189 204 213 190 162 205 210 214 163 206 211 215 191 164 207 212 216 192 208 213 217 193 165 209 214 218 194 166 210 215 219 195 167 211 216 220 196 217 221 197 168 212 218 222 198 169 213 223 199 170 214 219 224 215 220 225 200 171 216 221 226 201 172 217 222 227 202 173 218 223 228 203 219 224 229 204 174 220 225 230 205 175 221 226 231 206 176 222 232 207 223 227 233 208 177 224 228 234 178 225 229 235 209 179 226 230 236 210 180 231 237 211 181 227 232 238 212 228 233 239 213 182 229 234 240 214 183 230 235 241 215 184 231 236 242 216 232 243 185 233 244 217 186 238

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GS3 HGS5 1947 1969 1971 1981 1987

«Aufzeichnungen und Entwurfe«

GS3 HGS5 1947 1969 1971 1981 1987

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