Popper Was Ist Dialektik

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  • 5/26/2018 Popper Was Ist Dialektik

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    Was ist Dialektik?

    von Karl R. Popper [ *]

    Es gibt nichts, das wir uns vorstellen knnten, soabsurd und unglaublich es auch sein mag es ist dochvon diesem oder jenem Philosophen behauptet worden.

    Descartes

    1. ERKLRUNG DER DIALEKTIK

    Der obige Leitsatz lsst sich verallgemeinern. Er bezieht sich nicht nur auf Philosophenund auf die Philosophie, sondern auf den gesamten Bereich

    menschlichen Denkens und Tuns, auf Wissenschaft, Technik und Politik. Undtatschlich lsst sich die Tendenz, alles einmal zu versuchen, der unser Leitsatz Ausdruck

    verleihen will, in einem noch weiteren Bereich erkennen in der

    erstaunlichen Vielfalt der Formen und Phnomene, die das Leben auf unseremPlaneten hervorgebracht hat.Wenn wir also zu erklren versuchen, warum das menschliche Denken geneigt ist, fr

    jedes aufgeworfene Problem jede denkbare Lsung einmal zu probieren, dann knnen wir uns aufeine Regelmigkeit recht allgemeiner Art berufen. Die

    Methode, mit der man sich an die Lsung heranarbeitet, ist in der Regel diegleiche: Es ist dieTrial-and-error-Methode. Diese Methode wird grundstzlich auch von

    lebenden Organismen im Anpassungsproze angewendet. Offensichtlichaber hngt der Erfolg dieser Methode in sehr groem Mae von der Anzahl undVielfalt der trials ab: Je hufiger die trials, desto wahrscheinlicher ist es, dass einer

    davon erfolgreich sein wird.Die in der Entwicklung des menschlichen Denkens und besonders derPhilosophie verwendete Methode knnen wir als eine besondere Variante der

    Trial-and-error-Methodebezeichnen. Die Menschen scheinen die Neigung zu haben, aufein Problem entweder durch Aufstellung einer Theorie und zhes

    Festhalten daran (wenn sie falsch ist, werden sie lieber mit ihr zugrunde gehen, als sieaufgeben)[1], zu reagieren oder, wenn sie einmal deren Schwchen erkannt haben, durchBekmpfung einer solchen Theorie. Dieser Kampf der Ideologien,

    der sich offenbar mit Hilfe derTrial-and-error-Methodeerklren lsst, scheint fr dieGesamtheit dessen charakteristisch zu sein, was man als Entwicklung des

    menschlichen Denkens bezeichnen kann. Die Flle, in denen ein solcher Kampfnicht stattfindet, sind in erster Linie dadurch gekennzeichnet, dass eine bestimmte

    *

    aus: Ernst Topitsch (hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, Band 5 (51968) p.262-290.

    Im Original: What is dialectic? Aus:Mind, N. S., Bd. 49, 1940. Wiederabgedruckt in:Popper, Karl R., Conjectures and refutations, London, Routledge and Kegan Paul 1963, S.

    312-335, und New York, Basic Books. Aus dem Englischen bersetzt von Johanna undGottfried Frenzel, Lehrbeauftragte am Dolmetscher-Institut der Universitt Heidelberg.

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    Die dogmatische Attitde, an einer Theorie so lange wie mglich festzuhalten, ist vonbeachtlicher Bedeutung. Ohne diese Attitde knnten wir niemals herausfinden, was in einerTheorie enthalten ist wir wrden sie aufgeben, bevor wir Gelegenheit zur Feststellung ihrer

    Strke gehabt htten; und folglich knnte keine Theorie jemals ihre Rolle spielen beim Ordnender Welt, bei unserer Vorbereitung fr zuknftige Ereignisse, bei der Hinlenkung unsererAufmerksamkeit auf Ereignisse, die wir ohne Theorie niemals beobachten wrden.

    Karl R. Popper Was ist Dialektik ?Theorie oder ein System von Theorien ber eine lange Zeitperiode hinwegdogmatisch aufrechterhalten wird; aber wenn berhaupt, dann werden sich nurwenige Beispiele fr eine Entwicklung des Denkens finden, die sich langsam,stetig, kontinuierlich und durch sukzessive Fortschrittsstadien und nicht durchtrail and error und einen Kampf der Ideologien vollzieht.Wenn die Trial-and-error-Methode immer bewusster entwickelt wird, beginnt sie die

    charakteristischen Zge einer wissenschaftlichen Methode anzunehmen.

    Diese Methode[2] lsst sich kurz wie folgt beschreiben: Wenn ein Wissenschaftlereinem Problem gegenbersteht, so wird er versuchsweise eine Art von Lsung vorbringen:eine Theorie. Und diese Theorie wird die

    Wissenschaft nur vorlufig akzeptieren falls berhaupt; denn es ist uerstcharakteristisch fr die wissenschaftliche Methode, dass die Wissenschaftler keine Mhescheuen, die in Frage stehende Theorie zu kritisieren und zu testen.

    Kritisieren und Testen gehen Hand in Hand; die Theorie wird von sehrverschiedenen Seiten kritisiert, um die Punkte herauszufinden, die sich alsverwundbar erweisen knnen. Und das Testen einer Theorie vollzieht sichdadurch, dass man diese verwundbaren Punkte einer mglichst harten Prfungunterzieht. Dies ist natrlich wiederum eine Variante der Trialand-error-Methode.

    Theorien werden versuchsweise aufgestellt und ausprobiert. Wenn das Ergebnis einesTests zeigt, dass die Theorie falsch ist, wird sie verworfen; dieTrial-and-error-Methode ist im wesentlichen eine Methode der Ausscheidung. Ihr Erfolg

    hngt in erster Linie von drei Bedingungen ab: nmlich, dass gengend zahlreiche (undgeistreiche) Theorien aufgestellt werden, dass die aufgestellten Theorien hinlnglich verschiedensind und dass ausreichend harte Tests

    durchgefhrt werden. Wenn diese Bedingungen erfllt sind, dann knnen wir wenn wir Glck haben das berleben der tauglichsten Theorie durchAusscheidung der weniger tauglichen sicherstellen.Wenn diese Beschreibung[3] der Entwicklung des menschlichen Denkens im allgemeinen

    und des wissenschaftlichen Denkens im besonderen als mehr oder

    weniger korrekt akzeptiert wird, dann kann sie uns verstehen helfen, wasdiejenigen meinen, die sagen, dass sich die Entwicklung des Denkensdialektisch vorwrts bewege.Dialektik (im modernen[4] Sinne, d.h. besonders in dem Sinne, in dem Hegel den

    Ausdruck gebrauchte) ist eine Theorie, die behauptet, dass etwas insbesondere

    2

    Es ist keine Methode in dem Sinne, dass ihre Anwendung zum Erfolg fhrt oder dass sie

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    im Falle des Misserfolges nicht angewendet wurde; d.h. es handelt sich dabei nicht umeinen definitiven Weg zum Erfolg. Eine Methode in diesem Sinne existiert nicht.

    3Eine eingehendere Diskussion findet sich in K.R. Popper, The Logic of ScientificDiscovery, London 1959.

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    Der griechische Ausdruck () kann bersetzt werden: (die Kunst des)argumentativen Gebrauchs der Sprache. Diese Bedeutung des Ausdruckes geht bis auf Platonzurck; er tritt aber auch bei Platon in verschiedenen Bedeutungen auf. Wenigstens eine ihrerantiken Bedeutungen kommt sehr nahe an das heran, was ich oben als

    wissenschaftliche Methode beschrieben habe. Denn man verwendete sie zurBeschreibung der Methode der Konstruktion erklrender Theorien sowie der Methode der

    kritischen Diskussion dieser Theorien, was die Frage einschliet, ob sie der empirischen 2Karl R. Popper Was ist Dialektik ?das menschliche Denken sich in einer Weise entwickelt, die durch diesogenannte dialektische Triade charakterisiert ist:Thesis,AntithesisundSynthesis.

    Zunchst gibt es eine Idee, eine Theorie oder eine Bewegung, die man alsThesis bezeichnen kann. Eine solche Thesis wird hufig Oppositionhervorrufen, da sie, wie die meisten Dinge dieser Welt, von nur begrenztem Wert sein

    wird oder ihre schwachen Stellen hat. Die Gegenidee oder Gegenbewegungwird als Antithesis bezeichnet, da sie gegen die erste, die Thesis, gerichtet ist.Der Kampf zwischen Thesis und Antithesis dauert nun so lange, bis irgendeine Lsung

    zustande kommt, die in gewissem Sinne ber Thesis und Antithesishinausgeht, und zwar durch Anerkennung ihrer Vorteile und durch den Versuch, die

    Strken beider zu bewahren und ihre Schwchen zu vermeiden. Diese Lsung, die den drittenSchritt darstellt, wird alsSynthesisbezeichnet. Nachdem nun diese Synthesis einmal erreicht ist,kann sie ihrerseits zum ersten Schritt einer neuen dialektischen Triade werden, was eintreten

    wird, falls sich die erreichte Synthesis als einseitig oder sonstwie unbefriedigend erweist. Denn indiesem Falle wird wiederum Opposition auf den Plan gerufen werden, was bedeutet, dass dieSynthesis nunmehr als eine neue Thesis bezeichnet werden kann, die eine neue Antithesis

    hervorgebracht hat. Somit wird sich die dialektische Triade auf einem hheren Niveau fortsetzen,und sie kann ein drittes Niveau erreichen, nachdem eine zweite Synthesis zustande gekommen ist[5].

    So viel ber die sogenannte dialektische Triade. Nun lsst es sich kaumbezweifeln, dass die dialektische Triade recht gut bestimmte Schritte in der

    Geistesgeschichte beschreibt, besonders gewisse Entwicklungen von Ideen undTheorien sowie von sozialen Bewegungen, die auf Ideen oder Theorien gegrndet sind.

    Eine derartige dialektische Bewegung kann durch den Nachweis erklrt

    werden, dass sie in bereinstimmung mit der oben behandeltenTrial-and-error-Methodefortschreitet. Es muss jedoch eingerumt werden, dass einesolche dialektische Entwicklung nicht genau das gleiche ist, wie die oben beschriebeneEntwicklung einer Theorie durch trial and error. Unsere obige Beschreibung derTrial-and-error-Methodebezog sich lediglich auf eine Idee und ihre Kritik oder, um dieTerminologie der Dialektiker zu verwenden, auf den

    Kampf zwischen Thesis und Antithesis; ursprnglich haben wir keineAndeutungen ber eine Weiterentwicklung gemacht, wir haben nicht impliziert, dass der

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    Kampf zwischen einer Thesis und einer Antithesis zu einer Synthesis fhrt. Wir haben vielmehrunterstellt, dass der Kampf zwischen einer Idee und ihrer Kritik bzw. zwischen einer Thesis undihrer Antithesis zur Ausscheidung der Thesis (oder vielleicht der Antithesis) fhrt, falls sie sichals unbefriedigend erweist; und da die Konkurrenz zwischen Theorien nur dann zur Annahmeneuer Beobachtung entsprechen bzw. ob sie in der alten Terminologie ausgedrckt dem

    Grundsatz die Erscheinungen zu bewahren gengen.5

    In Hegels Terminologie werden sowohl Thesis als auch Antithesis durch die Synthesis (1)zu bloen Komponenten (der Synthesis) reduziertund dabei (2)beseitigt(odernegiert) undgleichzeitig (3)bewahrt(oderaufbewahrt) und (4)erhoben(oderauf ein hheres Niveauemporgehoben). Die kursiv gesetzten Ausdrcke geben die vier Hauptbedeutungen des einendeutschen Wortesaufhebenwieder, von dessen Vieldeutigkeit Hegel reichhaltigen Gebrauchmacht.

    3Karl R. Popper Was ist Dialektik ?

    Theorien fhrt, wenn gengend Theorien verfgbar sind und einerBewhrungsprobe unterworfen werden.Somit kann man sagen, dass die Interpretation mit Hilfe derTrial-and-error-Methode

    geringfgig weiter gefasst ist als die mit Hilfe der Dialektik. Sie ist nicht auf eine Situationbeschrnkt, in der anfnglich nur eine Thesis verfgbar ist, so dass sie leicht auf Situationenangewandt werden kann, in denen von Anfang an mehrere verschiedene Thesen verfgbar sind,die unabhngig voneinander sind

    und nicht notwendigerweise Gegenstze bilden mssen. Aber zugegebenerweisegeschieht es sehr hufig vielleicht ist es die Regel , dass die Entwicklung eines

    Bereiches des menschlichen Denkens mit einer einzigen Idee beginnt. Ist dies der Fall, so wirdsich das dialektische Schema oft als anwendbar erweisen, da diese Thesis der Kritik ausgesetzt

    sein wird und auf diese Weise ihre Antithesishervorbringt, wie es die Dialektiker auszudrcken pflegen.Die Dialektiker betonen noch einen weiteren Punkt, in dem die Dialektikgeringfgig von der allgemeinenTrial-and-error-Theorieabweichen kann. Denn die oben

    angedeuteteTrial-and-error-Theoriegibt sich mit der Behauptung zufrieden, dass eineunbefriedigende Ansicht widerlegt oder ausgeschieden wird.

    Der Dialektiker hingegen geht in seiner Behauptung weiter. Er betont, dass die in Betrachtstehende Ansicht oder Theorie zwar widerlegt worden sein mag, dass sich aberhchstwahrscheinlich in ihr ein Element findet, welches der Bewahrung wert ist; denn sonst wrees recht unwahrscheinlich, dass sie jemals aufgestellt und ernst genommen wurde. Und dieseswertvolle Element der Thesis wird

    wahrscheinlich von denen deutlicher herausgestellt werden, die die Thesis gegen dieAngriffe ihrer Gegner, gegen die Verfechter der Antithesis, verteidigen. Somit wird sich alseinzig befriedigende Lsung des Kampfes eine Synthesis erweisen, also eine Theorie, in der die

    besten Punkte sowohl der Thesis als auch derAntithesis bewahrt sind.Es muss eingerumt werden, dass eine derartige dialektische Interpretation der

    Geistesgeschichte recht befriedigend sein mag und dass sie wertvolle Details zur Interpretationmit Hilfe von trial and error beisteuern kann.

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    Als Beispiel wollen wir die Entwicklung der Physik heranziehen. Wir finden sehr vieleBeispiele, die in das dialektische Schema passen, beispielsweise die

    Korpuskulartheorie des Lichtes, die zunchst von der Wellentheorie ersetzt wurde unddennoch bewahrt bleibt in der neuen Theorie, die beide ersetzt. Um es

    genauer zu formulieren: Die alten Formeln knnen vom Standpunkt der neuen aus in der

    Regel als Annherungen bezeichnet werden, d.h. sie erweisen sich alsnahezu korrekt, so dass wir sie anwenden knnen, wenn wir keine sehr hohenAnforderungen an die Exaktheit stellen, oder als vllig exakte Formeln, wenn wir in

    einem bestimmten begrenzten Anwendungsgebiet arbeiten.All dies kann zugunsten der dialektischen Ansicht angefhrt werden. Wir mssen uns

    jedoch hten, zu viel zuzugestehen.Wir mssen zum Beispiel vorsichtig umgehen mit einer Anzahl von Metaphern,die von den Dialektikern verwendet und oftmals viel zu ernst genommen werden.Ein Beispiel dafr bietet die dialektische Redewendung, dass die Thesis ihre Antithesis

    hervorbringt. Tatschlich ist es lediglich unsere kritische Attitde, 4Karl R. Popper Was ist Dialektik ?

    die die Antithesis hervorbringt, und wo es an dieser Attitde fehlt was oft genug der Fallist , wird keine Antithesis hervorgebracht. In gleicher Weise mssen wir uns vor der Auffassunghten, dass es der Kampf zwischen Thesis und

    Antithesis ist, der die Synthesis hervorbringt. Es ist ein Kampf des Denkens, und dasDenken muss neue Ideen hervorbringen: Es gibt viele Beispiele fr

    unfruchtbare Kmpfe in der Geschichte des menschlichen Denkens, fr Kmpfe,die ergebnislos ausgefochten wurden. Und selbst wenn eine Synthesis erreicht wurde,

    wird sich die Behauptung, dass sie die besseren Teile sowohl der Thesis als auch der Antithesisbewahrt, als recht oberflchliche Beschreibung dieser

    Synthesis erweisen. Diese Beschreibung wird auch dann irrefhrend sein, wenn siezutrifft; denn die Synthesis wird zustzlich zu den alten Ideen, die sie bewahrt, in jedem Falleauch irgendeine neue Idee enthalten, die nicht auf frhere

    Entwicklungsstadien zurckgefhrt werden kann. Mit anderen Worten: DieSynthesis wird in der Regel viel mehr darstellen, als eine Konstruktion aus dem von der

    Thesis und Antithesis bereitgestellten Material. In Anbetracht all dessen wird die dialektischeInterpretation auch in den Fllen, in denen sie anwendbar sein mag, durch ihre Anregung, dassaus den in Thesis und Antithesis enthaltenen Ideen eine Synthesis konstruiert werden sollte,kaum jemals zur Entwicklung des Denkens beitragen knnen. Dies ist ein Punkt, den einigeDialektiker selbst betont haben; und dennoch bleiben sie fast immer bei der Annahme, dass dieDialektik als eine Methode verwendet werden kann, die ihnen hilft, die zuknftige

    Entwicklung des Denkens zu frdern oder wenigstens vorauszusagen.Die schwerwiegendsten Missverstndnisse und Verwechslungen entstehen jedochaus der unklaren Weise, in der die Dialektiker von Widersprchen sprechen.Sie stellen vllig richtig fest, dass Widersprche in der Geistesgeschichte von grter

    Bedeutung sind genauso bedeutend wie die Kritik. Denn Kritik besteht stets in derHerausstellung irgendeines Widerspruches: entweder eines

    Widerspruches innerhalb der kritisierten Theorie oder eines Widersprucheszwischen dieser Theorie und einer anderen, die wir aus irgendeinem Grundeakzeptieren wollen, oder eines Widerspruches zwischen einer Theorie und

    bestimmten Tatsachen oder genauer, zwischen einer Theorie und bestimmtenTatsachenaussagen. Kritik kann niemals etwas anderes tun, als entweder

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    irgendeinen solchen Widerspruch herauszustellen oder vielleicht einfach derTheorie zu widersprechen (d.h. Kritik kann dann einfach die Aufstellung derAntithesis sein). Die Kritik ist jedoch in einem sehr bedeutungsvollen Sinne die

    wichtigste Triebkraft der geistigen Entwicklung. Ohne Widerspruch, ohne Kritik gbe es keinvernnftiges Motiv fr die nderung unserer Theorien: es gbe

    keinen geistigen Fortschritt.Nachdem die Dialektiker nun richtig festgestellt haben, dass Widersprche besonders natrlich der Widerspruch zwischen einer Thesis und einer Antithesis, der den

    Fortschritt in der Form einer Synthesis hervorbringt uerst fruchtbar, ja tatschlich dieTriebkrfte jedweden Fortschritts des Denkens sind, schlieen sie flschlicherweise, wie wirsehen werden , dass keine Notwendigkeit zur

    Vermeidung dieser fruchtbaren Widersprche besteht. Und sie behaupten sogar, dassWidersprche nicht vermieden werden knnen, da sie berall in der Welt

    auftreten.5Karl R. Popper Was ist Dialektik ?

    Eine derartige Behauptung luft auf einen Angriff gegen das sogenannte Gesetz vomWiderspruch" (oder vollstndiger: das Gesetz vom ausgeschlossenenWiderspruch) der traditionellen Logik hinaus, gegen ein Gesetz, welches besagt, dass

    zwei kontradiktorische Aussagen niemals beide zugleich wahr sein knnen bzw. dass eineAussage, die aus einer Konjunktion zweier kontradiktorischer

    Aussagen besteht, aus rein logischen Grnden als falsch verworfen werden muss.Wenn sich die Dialektiker nun auf die Fruchtbarkeit der Widersprche berufen, so fordern

    sie die Aufgabe dieses Gesetzes der traditionellen Logik. Sie behaupten, dass die Dialektik aufdiese Weise zu einer neuen Logik fhrt zu einer

    dialektischen Logik. Die Dialektik, die ich bislang als bloe Geschichtslehre dargestellthabe als eine Theorie der historischen Entwicklung des Denkens , wrde sich nunmehr alseine davon sehr verschiedene Doktrin erweisen: Sie wrde gleichzeitig eine Theorie der Logikund (wie wir sehen werden) eine allgemeine Theorie der Welt sein.

    Dies sind gewaltige Ansprche; sie entbehren jedoch jedweder Grundlage.Tatschlich grnden sie sich auf nichts anderes als auf eine unklare undverschwommene Ausdrucksweise.Die Dialektiker behaupten, dass Widersprche fruchtbar sind oder dass sieFortschritt hervorbringen, und wir haben eingerumt, dass dies in gewissem Sinne zutrifft.

    Es trifft jedoch nur so lange zu, wie wir entschlossen sind, keine Widersprche zu dulden undjede Theorie zu ndern, die Widersprche enthlt; mit anderen Worten: solange wir entschlossensind, niemals einen Widerspruch zu akzeptieren. Es ist lediglich in diesem unserem Entschluss

    begrndet, dass Kritik, d.h. das Herausstellen von Widersprchen, uns zur nderung unsererTheorien

    und damit zum Fortschritt veranlasst.Es kann nicht deutlich genug betont werden, dass Widersprche sofort jede Art von

    Fruchtbarkeit verlieren mssen, sobald wir diese Attitde ndern und uns entschlieen,Widersprche zu dulden; sie wrden dann keinen Fortschritt des Denkens mehr hervorbringen.Denn wenn wir bereit wren, Widersprche zu

    dulden, knnte ihre Offenlegung in unseren Theorien uns nicht mehr veranlassen, diese zundern. Mit anderen Worten: Alle Kritik (die in der Herausstellung von Widersprchen besteht)wrde ihre Kraft verlieren. Auf Kritik knnte man dann antworten: Und warum nicht? oder

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    vielleicht sogar mit einem begeisterten Das ist es ja eben! d.h. mit einem Willkommensgrufr die Widersprche, die uns aufgezeigt wurden.

    Dies aber wrde bedeuten, dass die Kritik und damit jeder Fortschritt des Denkens zumStillstand kommen msste, falls wir bereit wren, Widersprche zu dulden.

    Somit mssen wir dem Dialektiker sagen, dass er nicht beides zugleich haben

    kann: Entweder er ist an Widersprchen infolge ihrer Fruchtbarkeit interessiert, dannmuss er sie ablehnen; oder er ist bereit, sie zu akzeptieren, dann werden sie sich als unfruchtbarerweisen, und vernnftige Kritik, Diskussion und Fortschritt des Denkens werden unmglichsein.

    Die alleinige Kraft, die die dialektische Entwicklung vorwrtstreibt, ist deshalb unserEntschluss, den Widerspruch zwischen Thesis und Antithesis nicht zu

    akzeptieren bzw. nicht zu dulden. Es ist keine mysterise Kraft im Inneren dieser 6Karl R. Popper Was ist Dialektik ?

    beiden Ideen, keine mysterise Spannung zwischen ihnen, die die Entwicklungvorwrtstreibt es ist lediglich unsere Entscheidung, unser Entschluss, keine

    Widersprche zuzulassen, wodurch wir veranlasst werden, uns nach einer neuen Ansicht

    umzuschauen, die uns die Vermeidung der Widersprche ermglichenkann. Und dieser Entschlu ist vllig gerechtfertigt. Denn es lsst sich leicht zeigen, dassman jedwede Art wissenschaftlicher Ttigkeit aufgeben msste, wenn man bereit wre,Widersprche zu akzeptieren: es wrde den vlligen

    Zusammenbruch der Wissenschaft bedeuten; dies lsst sich durch den Beweisdafr erhrten, dass,falls zwei kontradiktorische Aussagen zugelassen werden, jede

    beliebige Aussage zugelassen werden muss denn aus einem Paarkontradiktorischer Aussagen kann jede beliebige Aussage logisch gltig abgeleitet

    werden.Dies wird nicht immer erkannt[6], weshalb es hier eingehend erklrt werden soll.Es handelt sich dabei um eine der wenigen Tatsachen der elementaren Logik, die nicht

    vllig trivial sind und es verdienen, dass jeder denkende Mensch sie kennt und versteht. Sie lsstsich den Lesern leicht erklren, die gegen die Verwendung von Symbolen, die nach Mathematikaussehen, nichts einzuwenden haben; aber

    auch diejenigen, die derartige Symbole nicht lieben, knnen die Sache ohneSchwierigkeit verstehen, wenn sie nicht zu ungeduldig sind und diesem Punkt ein paar

    Minuten zu widmen bereit sind.Das logische Schlieen vollzieht sich in bereinstimmung mit bestimmten

    Schlussregeln. Es ist gltig, wenn die Schlussregel, auf die es sich grndet, gltig ist;undeine Schlussregel ist gltig, wenn und nur wenn sie niemals von wahren Prmissen zu einemfalschen Schluss fhren kann; oder mit anderen Worten, wenn sie die Wahrheit der Prmissen(vorausgesetzt, sie sind alle wahr) unfehlbar auf den Schluss bertrgt.

    Wir werden zwei solche Schlussregeln bentigen. Um die erste und schwierigere vonbeiden zu erklren, fhren wir die Vorstellung von einer zusammengesetzten Aussage ein, d.h.von einer Aussage wie beispielsweise Sokrates ist klug und Peter ist Knig, oder vielleichtEntweder Sokrates ist klug oder Peter ist Knig

    (aber nicht beides) oder vielleicht Sokrates ist klug und/oderPeter ist Knig.Die beiden Aussagen (Sokrates ist klug und Peter ist Knig), aus denen eine solche

    zusammengesetzte Aussage besteht, werden deren Komponenten genannt.Nun gibt es eine Art von zusammengesetzter Aussage, die uns hier interessiert es ist

    diejenige, die so konstruiert ist, dass sie wahr ist, wenn und nur wenn wenigstens eine ihrer

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    beiden Komponenten wahr ist. Gerade der hssliche Ausdruck und/oder ist in der Lage, einederartige Zusammensetzung

    hervorzubringen: Die Behauptung Sokrates ist klugund/oderPeter ist Knigzhlt zu denen, die wahr sind, wenn und nur wenn eine oder beide ihrer

    6

    Vgl. beispielsweise H. Jeffreys, The Nature of Mathematics, Philosophy of Science, 5,19381 449, der schreibt: Whether a contradiction entails any proposition is doubtful.

    Vgl. auch Jeffreys' Antwort mir gegenber in Mind, 51, 1942, S. 90 sowie meineGegenantwort in Mind, 52, 1943, S. 47 ff. Die nachfolgenden berlegungen waren tatschlich

    bereits Duns Scotus (gest. 1308) bekannt, wie von Jan Lukasiewicz inErkenntnis, 5, S. 124,nachgewiesen wurde.

    7Karl R. Popper Was ist Dialektik ?Komponenten wahr sind; und sie ist falsch, wenn und nur wenn beide ihrerKomponenten falsch sind.

    In der Logik ist es blich, den Ausdruck und/oder durch das Symbol

    (gesprochen vel) zu ersetzen und Buchstaben wie p und q zur Darstellungirgendeiner beliebigen Aussage zu verwenden. Nunmehr knnen wir sagen, dass

    eine Aussage der Form p q wahr ist, wenn wenigstens eine ihrer beidenKomponenten p und q wahr ist.

    Nun sind wir in der Lage, unsere erste Schlussregel zu formulieren. Dies kann auffolgende Weise geschehen:

    (1) Aus einer Prmisse p (z.B. Sokrates ist klug) kann jeder Schluss der Formp q (z.B.: Sokrates ist klug Peter ist Knig) gltig abgeleitetwerden.Dass diese Regel gltig sein muss, wird sofort klar, wenn wir uns an die

    Bedeutung des

    erinnern. Dieses Symbol bringt eine Zusammensetzungzustande, die wahr ist, wenn immer wenigstens eine ihrer Komponenten wahr ist.Wenn also p wahr ist, muss auch p q wahr sein. Somit kann unsere Regelniemals von einer wahren Prmisse zu einem falschen Schluss fhren, was

    bedeutet, dass sie gltig ist.Ungeachtet ihrer Gltigkeit erscheint unsere erste Schlussregel oftmalsdenjenigen, die an derartige Dinge nicht gewhnt sind, als recht seltsam. Und es handelt

    sich dabei tatschlich um eine Regel, die im tglichen Leben nur selten gebraucht wird, da derSchluss viel weniger Information enthlt als die Prmisse.

    Gelegentlich wird sie aber doch verwendet, beispielsweise beim Wetten: Ich kann zumBeispiel ein Pfennigstck zweimal werfen und wetten, dass die Zahl

    wenigstens einmal fllt. Dies ist offensichtlich gleichbedeutend mit meiner Wette um dieWahrheit der zusammengesetzten Aussage Die Zahl fllt beim erstenWurfdie Zahl fllt beim zweiten Wurf. Die Wahrscheinlichkeit dieser Aussage ist

    0,75 (in bereinstimmung mit den blichen Berechnungen); sie unterscheidet sich somit von derWahrscheinlichkeit der Aussage Die Zahl fllt beim ersten Wurf oder die Zahl fllt beimzweiten Wurf (aber nicht beides), die 0,5 betrgt.

    Nun wird jedermann zugeben, dass ich meine Wette gewonnen habe, falls die Zahl beimersten Mal gefallen ist mit anderen Worten, dass die zusammengesetzte Aussage, um derenWahrheit ich gewettet hatte, wahr sein muss, wenn sich ihre erste Komponente als wahr erweist;

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    was beweist, dass wir in bereinstimmung mit unserer ersten Schlussregel argumentiert haben.Wir knnen unsere erste Regel auch in folgender Weise formulieren:

    p

    p

    qdie verbal formuliert lautet:Aus der Prmisse p gelangen wir zu dem Schluss p q.Die zweite Schlussregel, die ich verwenden werde, ist bekannter als die erste.8Karl R. Popper Was ist Dialektik ?Wenn wir die Negation von p mit non-p bezeichnen, dann lsst sie sich in folgender

    Weise ausdrcken:non-p

    p q

    was in Worten lautet:q(2) Aus den beiden Prmissen non-p und p q gelangen wir zu dem Schlu q.Die Gltigkeit dieser Regel kann nachgewiesen werden, wenn wir bercksichtigen, da

    non-p eine Aussage ist, die wahr ist, wenn und nur wenn p falsch ist. Wenn demgem die erstePrmisse non-p wahr ist, dann ist die erste Komponente der zweiten Prmisse falsch; undwenn daher beide Prmissen wahr sind, muss

    auch die zweite Komponente der zweiten Prmisse wahr sein; d.h. q muss wahrsein, wenn immer die beiden Prmissen wahr sind.Bei der berlegung, dass, falls non-p wahr ist, p falsch sein muss, haben wir dasGesetz vom Widerspruch sozusagen implizite angewendet, welches besagt, dass non-p

    und p nicht gleichzeitig wahr sein knnen. Wenn es nun meine Aufgabewre, hier zugunsten des Widerspruches zu argumentieren, so mssten wirvorsichtiger sein. Aber jetzt und hier versuche ich lediglich zu beweisen, dass wir durch

    Anwendung gltiger Schlussregeln aus einem Paar kontradiktorischerPrmissen jeden beliebigen Schluss ableiten knnen.Unter Anwendung unserer beiden Regeln knnen wir dies tatschlich beweisen.Angenommen, wir haben zwei kontradiktorische Prmissen beispielsweise(a) die Sonne scheint jetzt und(b) die Sonne scheint jetzt nicht.Aus diesen beiden Prmissen kann jede beliebige Aussage zum Beispiel: Csar war ein

    Verrter wie folgt abgeleitet werden:

    Aus der ersten Prmisse (a) knnen wir in bereinstimmung mit Regel (1)folgenden Schluss ableiten:(c) Die Sonne scheint jetzt Csar war ein Verrter.Wenn wir nun (b) und (c) als Prmissen einfhren, knnen wir schlielich inbereinstimmung mit Regel (2) deduzieren:(d) Csar war ein Verrter.Es ist klar, dass wir mit Hilfe der gleichen Methode jede beliebige undgewnschte Aussage htten ableiten knnen: beispielsweise Csar war keinVerrter. Wir knnen auf diese Weise auch ableiten, dass 2 + 2 = 5 und dass

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    2 + 2 5 also nicht nur jede beliebige Aussage, die wir wnschen, sondern auchderen Negation, die wir vielleicht nicht wnschen.

    Wir sehen daraus, dass, falls eine Theorie einen Widerspruch enthlt, alles aus ihrabgeleitet werden kann und deshalb tatschlich gar nichts. Eine Theorie, die zu jederInformation, die sie vermittelt, noch die Negation dieser Information

    hinzufgt, kann uns berhaupt keine Information vermitteln. Eine Theorie, die einenWiderspruch enthlt, ist deshalb als 'Theorie vllig nutzlos.9Karl R. Popper Was ist Dialektik ?In Anbetracht der Bedeutung der analysierten logischen Beziehungen mchte ich nun

    einige weitere Schlussregeln darstellen, die zum gleichen Ergebnis fhren. Im Gegensatz zuRegel (i) bilden die nunmehr zu untersuchenden und anzuwendenden Regeln einen Teil derklassischen Theorie des Syllogismus mit Ausnahme der Regel (3), die wir zuerst behandelnwerden.

    (3) Aus zwei beliebigen Prmissen p und q knnen wir einen Schluss ableiten, der miteiner von beiden identisch ist, z. B. mit p; oder im Schema:

    p

    q

    pTrotz ihrer Ungebruchlichkeit und der Tatsache, dass einige Philosophen[7] sie nicht

    akzeptiert haben, ist diese Regel zweifellos gltig; denn sie mu unfehlbar zu einem wahrenSchluss fhren, wenn immer die Prmissen wahr sind. Dies ist offensichtlich und in der Tattrivial; und es ist eben diese Trivialitt, die die Regel fr den allgemeinen Gebrauch berflssigund daher ungebruchlich macht. Aber berflssigkeit bedeutet nicht Ungltigkeit.

    Zustzlich zu dieser Regel (3) bentigen wir noch eine weitere Regel, die ich alsRegel der indirekten Reduktion bezeichnet habe (weil sie in der klassischen Theorie

    des Syllogismus implizite fr die indirekte Reduktion derunvollkommenen Figuren auf die erste bzw. vollkommene Figur verwendetwird).Angenommen, wir haben einen gltigen Syllogismus wie zum Beispiel:

    (a) Alle Menschen sind sterblich

    (b) Alle Athener sind Menschen(c) Alle Athener sind sterblich.

    Die Regel der indirekten Reduktion besagt nun:aa(4) Wenn b ein gltiger Schluss ist, dann ist non c ebenfalls ein gltiger c

    bSchluss.So finden wir zum Beispiel infolge der Gltigkeit des Schlusses (c) aus denPrmissen (a) und (b), dass

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    (a) Alle Menschen sterblich sind

    (non-c) Einige Athener sind nicht-sterblich

    (non-b) Einige Athener sind nicht-Menschen

    ebenfalls gltig sein muss.

    7

    Besonders G. E. Moore.10Karl R. Popper Was ist Dialektik ?Die Regel, die wir verwenden wollen, stellt eine geringfgige Abweichung von der

    soeben aufgestellten dar; es handelt sich dabei um folgende:aa(5) Wenn non b ein gltiger Schluss ist, dann ist non c ebenfalls ein gltiger c

    bSchluss.Regel (5) lsst sich beispielsweise aus der Regel (4) in Verbindung mit demGesetz der doppelten Negation ableiten, das besagt, dass b aus non-non-bdeduziert werden kann. Wenn nun Regel (5) gltig ist fr jede Aussage a, b, c, die wir

    auswhlen (und nur dann ist sie gltig), dann muss sie auch gltig sein, wenn sich c als identischmit a erweist; d.h. es muss folgende Ableitung gltig sein: a

    a(6) Wennnon b ein gltiger Schluss ist, dann ist non a ebenfalls ein gltiger a

    bSchluss.aAus (3) wissen wir aber, dass non b tatschlich ein gltiger Schluss ist. Somit aergeben (6) und (3) gemeinsama(7) non a ist ein gltiger Schluss, was immer die Aussagen a und b behaupten bmgen. Somit besagt (7) genau das, was wir beweisen wollten, dass aus einemPaar kontradiktorischer Prmissen jeder Schluss abgeleitet werden kann.

    Nun kann man die Frage aufwerfen, ob diese Lage der Dinge in jedem logischen Systemgegeben ist oder ob wir ein System konstruieren knnen, in dem sich aus kontradiktorischenAussagen nicht jede beliebige Aussage ergibt. Mit dieser Frage habe ich mich beschftigt, undmeine Antwort geht dahin, dass ein derartiges System konstruiert werden kann. Es erweist sichallerdings als ein auerordentlich schwaches System. Von den blichen Schlussregeln bleibennur sehr wenige brig, nicht einmal der Modus ponens, der besagt, dass wir aus einer Aussageder Form

    Wenn p, dann q in Verbindung mit p zu dem Schluss q gelangen knnen. MeinerMeinung nach ist ein solches System[8] fr das Ziehen von Schlssen nutzlos,8

    Das angedeutete System ist der dual-intuitionistische Kalkl; vgl. meinen Aufsatz Onthe Theory of Deduction I and II, Proc. of the Royal Dutch Academy, 51, Nr. 2 und 3, 1948,3.82 auf S. 182 und 4.2 auf S. 322 sowie 5.32, 5.42 und auch Funote 15. Joseph Kalman Cohen

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    hat das System eingehender entwickelt. Ich kann eine einfacheInterpretation dieses Kalkls geben: Alle Aussagen knnen als modale Aussagen

    aufgefasst werden, die Mglichkeiten behaupten. Aus p ist mglich und wenn p, dann q istmglich knnen wir q ist mglich tatschlich nicht ableiten (denn falls p falsch ist, kann qeine unmgliche Aussage sein). Und in gleicher Weise knnen wir aus p ist 11

    Karl R. Popper Was ist Dialektik ?obwohl es vielleicht von einigem Interesse fr Forscher sein kann, die an derKonstruktion formaler Systeme per se ein besonderes Interesse haben.

    Gelegentlich wurde behauptet, die Tatsache, dass aus einem Paarkontradiktorischer Aussagen alles Beliebige abgeleitet werden kann, beweise nicht die

    Nutzlosigkeit einer kontradiktorischen Theorie: Erstens kann die Theorie als solche trotz ihresWiderspruches interessant sein; sie kann zweitens zu

    Korrekturen Anlass geben, die ihre Konsistenz herstellen; und schlielich knnen wir eineMethode entwickeln, auch wenn dies eine Ad-hoc-Methode ist (wie

    beispielsweise die Methode zur Vermeidung von Divergenzen in derQuantentheorie), die uns vor der Ableitung der falschen Schlsse bewahrt, welche

    zugegebenermaen aus der Theorie logisch folgen. All dies ist vllig richtig; aber eine solchebehelfsmige Theorie bringt all die ernsten Gefahren mit sich, die wir oben behandelt haben:Wenn wir ernstlich beabsichtigen, uns mit einer solchen Theorie zufriedenzugeben, dann kannuns nichts veranlassen, nach einer besseren Theorie zu suchen; und vice versa, wenn wir uns nacheiner besseren Theorie

    umschauen, dann tun wir dies in der Meinung, dass die oben beschriebene Theorieuntauglich ist, und zwar wegen der in ihr enthaltenen Widersprche. Die

    Akzeptierung von Widersprchen muss hier wie berall der Kritik ein Ende setzen unddamit zum Zusammenbruch der Wissenschaft fhren.

    Hier tauchen die Gefahren der unklaren und metaphorischen Ausdrucksweise auf.Die Verschwommenheit der Behauptung der Dialektiker, dass Widersprcheunvermeidbar sind und dass ihre Vermeidung nicht einmal wnschenswert ist, da sie doch

    so fruchtbar sind, ist in gefhrlicher Weise irrefhrend. Sie istirrefhrend, weil, wie wir gesehen haben, die sogenannte Fruchtbarkeit derWidersprche lediglich das Resultat unserer Entscheidung ist, keine Widersprche zu

    dulden (einer Attitde, die mit dem Gesetz vom Widerspruch bereinstimmt).Und sie ist deshalb gefhrlich, weil die Behauptung, dass Widersprche nicht vermieden

    zu werden brauchen, oder vielleicht sogar, dass sie nicht vermieden werden knnen, zumZusammenbruch der Wissenschaft und der Kritik, d. h. des

    rationalen Denkens fhren muss. Dies fhrt zu der Forderung, dass es fr jedenWissenschaftler, der Wahrheit und Aufklrung zu frdern wnscht, eine

    Notwendigkeit und sogar eine Pflicht sein sollte, sich in der Kunst des klaren undeindeutigen Ausdrucks zu ben auch wenn dies die Aufgabe gewisser

    metaphorischer Spitzfindigkeiten und kluger Doppeldeutigkeiten mit sich bringt.Aus diesem Grunde erscheint es angezeigt, gewisse Formulierungen zu vermeiden.Anstelle der von uns verwendeten Terminologie: Thesis, Antithesis und Synthesis,

    benutzen die Dialektiker zur Beschreibung der dialektischen Triade oftmals die AusdrckeNegation (der Thesis) fr Antithesis und Negation der Negation

    fr Synthesis. Und sie verwenden gern den Ausdruck Widerspruch in Fllen, indenen Ausdrcke wie Konflikt oder vielleicht Gegentendenz oder

    Gegeninteresse usw. weniger irrefhrend wren. Ihre Terminologie wrde

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    keinen Schaden anrichten, wenn die Ausdrcke Negation und Negation derNegation (und in hnlicher Weise der Ausdruck Widerspruch) nicht klare und

    mglich und non-p ist mglich offensichtlich nicht die Mglichkeit aller Aussagen ableiten.12Karl R. Popper Was ist Dialektik ?

    recht bestimmte logische Bedeutungen htten, die sich von denen in ihrerdialektischen Verwendung unterscheiden. Und tatschlich hat der Missbrauchdieser Ausdrcke betrchtlich zu der Verwechslung von Logik und Dialektik

    beigetragen, die in den Diskussionen der Dialektiker so oft zutage tritt. Hufig betrachtensie die Dialektik als einen Teil den besseren Teil der Logik oder als eine Art reformierter,modernisierter Logik. Die tiefer liegenden Grnde fr eine derartige Attitde werden weiterunten behandelt. An dieser Stelle mchte ich nur feststellen: unsere Analyse fhrt nicht zu demSchluss, dass der Dialektik

    irgendeine hnlichkeit mit der Logik zukommt. Denn die Logik lsst sich vielleicht grob, aber gut genug fr unsere Zwecke als eine Theorie derDeduktion bezeichnen. Wir haben jedoch keinen Grund zu der Annahme, dass

    Dialektik irgend etwas mit Deduktion zu tun hat.Nun wollen wir zusammenfassen: Was Dialektik ist Dialektik in dem Sinne, in dem wirder dialektischen Triade eine klare Bedeutung beimessen knnen , lsst sich wie folgt

    beschreiben: Die Dialektik, oder genauer: die Theorie derdialektischen Triade, behauptet, dass sich bestimmte Entwicklungen oder

    bestimmte Geschichtsablufe in einer gewissen typischen Weise vollziehen. Sie istdeshalb eine empirisch-deskriptive Theorie, vergleichbar zum Beispiel mit der Theorie, die

    besagt, dass die meisten lebenden Organismen whrend einesStadiums ihrer Entwicklung an Umfang zunehmen, danach konstant bleiben undschlielich abnehmen, bis sie sterben; oder mit der Theorie, die besagt, dass Ansichten

    zunchst dogmatisch vertreten werden, dann skeptisch und danach erst in einem dritten Stadium in wissenschaftlichem, d.h. kritischem Geiste. In der

    gleichen Weise wie solche Theorien ist die Dialektik nicht ohne Ausnahmeanwendbar es sei denn, wir erzwingen dialektische Interpretationen , undebenso wie solche Theorien hat die Dialektik keine besondere Verwandtschaft zur Logik.Eine weitere Gefahr der Dialektik liegt in ihrer Verschwommenheit. Sie macht es nur

    allzu leicht, allen Arten von Entwicklungen und sogar ganz verschiedenen Dingen einedialektische Interpretation aufzuzwingen. So finden wir

    beispielsweise eine dialektische Interpretation, die das Saatkorn mit der Thesisidentifiziert, die sich daraus entwickelnde Pflanze mit der Antithesis und all die Getreidekrner,die die Pflanze hervorbringt, mit der Synthesis. Dass eine

    derartige Anwendung die ohnehin schon zu vage Bedeutung der dialektischenTriade in einer Weise erweitert, die ihre Verschwommenheit in gefhrlichemMae erhht, ist offensichtlich; sie fhrt uns zu einem Punkt, an dem wir durch

    Beschreibung einer Entwicklung als dialektisch nicht mehr vermitteln als durch die Behauptung,dass es sich um eine Entwicklung in Stadien handelt womit

    nicht viel gesagt ist. Wenn man jedoch diese Entwicklung dahingehendinterpretiert, dass das Keimen der Pflanze die Negation des Saatkorns ist, weil dieses

    aufhrt zu existieren, wenn die Pflanze zu wachsen beginnt, und dass die Hervorbringung einerMenge neuer Saatkrner durch die Pflanze die Negation der Negation ist ein neuer Anfang aufeinem hheren Niveau , so ist das

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    offensichtlich ein bloes Wortspiel. (Ist dies der Grund dafr, weshalb Engels von demangefhrten Beispiel sagte, dass jedes Kind es verstehen knne?)

    13Karl R. Popper Was ist Dialektik ?Die von den Dialektikern vorgebrachten Standardbeispiele aus dem Gebiet der

    Mathematik sind sogar noch schlechter. Wir wollen ein berhmtes Beispiel von Engels inder Kurzform zitieren, die ihm Hecker[9] verliehen hat: Das Gesetz derhheren Synthesis ... wird in der Mathematik allgemein angewendet. Das Negative (-a)

    wird mit sich selbst multipliziert zu a2, d.h. die Negation der Negation hat eine neue Synthesisherbeigefhrt. Aber selbst wenn wir a als Thesis und -a als ihre Antithesis oder Negationannehmen, so sollte man erwarten, dass die

    Negation der Negation von der Gre -(-a) wre, also gleich a, was allerdings keinehhere Synthesis, sondern die Identitt mit der ursprnglichen Thesis selbst bedeuten wrde.Mit anderen Worten: Warum sollte die Synthesis

    ausgerechnet durch Multiplikation der Antithesis mit sich selbst zustandekommen? Warum nicht beispielsweise durch Addition von Thesis und Antithesis

    (wobei 0 herauskme)? Oder durch Multiplikation von Thesis und Antithesis (was zumResultat a2 anstelle von a2 fhren wrde)? Und in welchem Sinne ist denn a2hher als a oder -a? (Sicherlich nicht in dem Sinne, dass es numerisch grer ist, denn

    wenn a = 0,5, dann a2 = 0,25). Dieses Beispiel zeigt die extremeWillkrlichkeit, mit der die verschwommenen Ideen der Dialektik angewandtwerden.Eine Theorie wie die Logik kann man als fundamental bezeichnen, womitausgedrckt wird, dass sie durchweg von allen Wissenschaften verwendet wird, da sie

    eine Theorie aller Arten von Schlssen darstellt. Andererseits knnen wir sagen, dass dieDialektik in dem Sinne, in dem wir sie als sinnvoll anwendbar fanden, nicht eine fundamentale,sondern lediglich eine deskriptive Theorie ist.

    Die Dialektik als Teil oder Bestandteil der Logik oder in Gegenberstellung zu ihr zubetrachten, ist deshalb etwa genauso unangemessen wie beispielsweise eine solche Betrachtungder Evolutionstheorie. Nur die oben kritisierte

    verschwommen-metaphorische und mehrdeutige Ausdrucksweise konnte denAnschein erwecken, da die Dialektik sowohl eine Theorie zur Beschreibunggewisser typischer Entwicklungen als auch eine fundamentale Theorie wie dieLogik ist.Aus all dem geht klar hervor, dass wir bei der Verwendung des Ausdrucksdialektisch sehr vorsichtig sein sollten. Am besten wre es vielleicht, wir wrden ihn

    berhaupt nicht verwenden wir knnen in jedem Falle die klarere Terminologie derTrial-and-error-Methodeverwenden. Ausnahmen sollten nur dort gemacht werden, wo keineMissverstndnisse mglich sind, und wenn wir es mit der Entwicklung von Theorien zu tunhaben, die sich tatschlich im Dreischritt der Triade vollziehen.

    2. DIE HEGELSCHE DIALEKTIK

    Bislang habe ich versucht, die Idee der Dialektik so zu umreien, dass siehoffentlich begreiflich wurde, und es war meine Absicht, hinsichtlich ihrerVorzge nicht ungerecht zu sein. In diesem Abriss wurde die Dialektik als ein

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    Hecker, Moscow Dialogues, London, 1936, S. 99. Das Beispiel ist dem Anti-Dhringentnommen.

    14Karl R. Popper Was ist Dialektik ?

    Weg zur Beschreibung von Entwicklungen dargestellt; als ein Weg unter anderen, nichtvon grundstzlicher Bedeutung, aber manchmal recht brauchbar. ImGegensatz dazu wurde eine Theorie der Dialektik aufgestellt, zum Beispiel von Hegel und

    seiner Schule, die bertrieben und in gefhrlicher Weise irrefhrend ist.Um Hegels Dialektik verstndlich zu machen, mag es vorteilhaft sein, kurz auf ein

    Kapitel der Philosophiegeschichte zurckzugreifen auf ein meiner Meinung nach nicht sehrrhmliches.

    Eines der greren Probleme der Geschichte der modernen Philosophie bildet der Kampfzwischen dem (in erster Linie kontinentalen) kartesianischen

    Rationalismus einerseits und dem (in erster Linie englischen) Empirismusandererseits. Der Ausspruch Descartes', den ich als Leitsatz fr diese Abhandlung gewhlt

    habe, war von seinem Autor, dem Begrnder der rationalistischen Schule, nicht so gemeint, wieich ihn hier gebraucht habe. Er sollte keinen Hinweis darauf geben, dass der menschliche Geistalles versuchen muss, um etwas zu erreichen

    d.h. eine ntzliche Lsung zu finden , sondern war als feindselige Kritik an denengemeint, die solche Absurditten gewagt hatten. Was Descartes im Sinne hatte, die entscheidendeIdee hinter seinem Ausspruch, ist eben, dass der wirkliche Philosoph all jene absurden undalbernen Ideen vermeiden sollte. Um die Wahrheit zu finden, soll er lediglich jene seltenen Ideenakzeptieren, die durch ihre Klarheit, ihre Deutlichkeit und Distinktheit die Vernunft ansprechen kurz gesagt, die evident sind. Die kartesianische Ansicht besteht darin, dass wir die

    erklrenden Theorien der Wissenschaften ohne jedweden Rckgriff auf dieErfahrung allein mit Hilfe unserer Vernunft konstruieren knnen; denn jedervernnftige Lehrsatz (d.i. einer, der sich durch seine Klarheit empfiehlt) muss eine wahre

    Beschreibung der Fakten sein. Dies ist in wenigen Worten die Theorie,welche die Philosophiegeschichte als Rationalismus bezeichnet hat. (Eine

    bessere Bezeichnung wre Intellektualismus.) Sie lsst sich (unter Verwendung einerFormulierung einer viel spteren Epoche, nmlich der Hegelschen) in den Wortenzusammenfassen: Was vernnftig ist, muss wirklich sein.

    Im Gegensatz zu dieser Theorie behauptet der Empirismus, dass uns nur dieErfahrung instand setzt, ber Wahrheit oder Falschheit einer wissenschaftlichen Theorie

    zu entscheiden. Reines Denken allein kann nach Ansicht des Empirismus niemals zur Wahrheitber Tatsachen fhren; wir mssen dazu Erfahrung und

    Experiment heranziehen. Man kann mit Sicherheit behaupten, dass die eine oder andereForm des Empirismus obwohl vielleicht eine bescheidene und

    modifizierte Form die einzige Interpretation der wissenschaftlichen Methode darstellt,die in der heutigen Zeit ernst genommen werden kann. Der Kampf

    zwischen den frheren Rationalisten und Empiristen wurde eingehend von Kantbehandelt, der versuchte, zu einer Synthesis wie es ein Dialektiker (aber nicht Kant)

    ausdrcken wrde der beiden gegenstzlichen Ansichten zu gelangen, die sich jedoch, genaugenommen, als eine modifizierte Form des Empirismus erwies.

    Sein Hauptziel war es, den reinen Rationalismus zu widerlegen. In seiner Kritik der reinenVernunft behauptet er, dass der Bereich unserer Erkenntnis auf das Gebiet der mglichen

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    Erfahrung begrenzt ist und dass spekulatives Denkenjenseits dieses Gebietes ein Versuch zum Aufbau eines metaphysischen Systems aus der

    reinen Vernunft heraus keinerlei Rechtfertigung besitzt. Diese Kritik der 15Karl R. Popper Was ist Dialektik ?reinen Vernunft wurde als furchtbarer Schlag gegen die Hoffnungen nahezu aller

    Philosophen des Kontinents empfunden. Doch die deutschen Philosophenberwanden diesen Schlag und, weit entfernt, die Kantische Verwerfung derMetaphysik hinzunehmen, beeilten sie sich, neue aufgeistige Intuitiongegrndete metaphysische Systeme aufzubauen. Dabei versuchten sie, bestimmte Zge

    des Kantischen Systems zu bernehmen in der Hoffnung, dadurch derKraft seiner Kritik zu entgehen. Auf diese Weise bildete sich eine Schule heraus, die

    blicherweise als die Schule der deutschen Idealisten bezeichnet wird; sie erreichte ihrenHhepunkt in Hegel.

    Zwei Aspekte der Hegelschen Philosophie mssen wir hier behandeln seinenIdealismus und seine Dialektik. In beiden Fllen wurde Hegel von KantischenIdeen beeinflusst, versuchte aber, darber hinauszugehen. Um Hegel zu verstehen,

    mssen wir deshalb aufzeigen, in welcher Weise seine Theorie die Kantischeverwendete.Kant ging von der Tatsache aus, dass die Wissenschaft existiert. Und er wollte diese

    Tatsache erklren, d.h. er wollte die Frage beantworten: Wie istWissenschaft mglich? oder Wie ist der menschliche Geist fhig, Erkenntnis von dieser

    Welt zu erlangen? oder Wie kann unser Geist die Welt erfassen?(Diese Frage knnen wir als das epistemologische Problem bezeichnen.)Sein Argument lautet etwa folgendermaen: Der Geist kann die Welt erfassen,oder besser: die Welt, wie sie uns erscheint, weil diese Welt nicht vlligverschieden vom Geist ist weil sie geist-gleich ist. (The mind can grasp the world, ...

    because it is mind-like.) Und sie ist es deshalb, weil der Geist im Prozess der Erlangung vonErkenntnis bzw. des Erfassens der Welt alles Material, das ihm die Sinne zufhren, sozusagenaktiv verarbeitet. Er formt und bearbeitet dieses Material; er drckt ihm seine eigenen inhrentenFormen oder Gesetze auf

    die Formen oder Gesetze unseres Denkens. Was wir als Natur bezeichnen die Welt,in der wir leben, die Welt, wie sie uns erscheint , ist eine bereits

    verarbeitete Welt, eine von unserem Geist geformte Welt. Und da sie somit vom Geistassimiliert ist, ist sie geist-gleich.

    Die Antwort: Der Geist kann die Welt erfassen, weil die Welt, wie sie unserscheint, geist-gleich ist, ist ein idealistisches Argument; denn was derIdealismus behauptet, ist eben gerade, dass der Welt etwas vom Wesen des Geistes

    zukommt.Ich beabsichtige nicht, fr oder gegen diese Kantische Epistemologie zuargumentieren, und ich beabsichtige nicht, sie im Detail zu behandeln. Ich mchte aber

    darauf hinweisen, dass sie sicherlich nicht rein idealistisch ist. Sie ist, wie Kant selbst feststellt,eine Mischung oder eine Synthesis zwischen einer Art von Realismus und einer Art vonIdealismus ihr realistisches Element besteht in der Behauptung, dass die Welt, wie sie unserscheint, eine Art Material ist, das von unserem Geist geformt ist, whrend ihr idealistischesElement in der Behauptung besteht, dass sie eine Art Material ist,das von unserem Geistgeformt ist.

    So viel ber Kants recht abstrakte, aber sicherlich geniale Epistemologie. Ehe ich nun zu

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    Hegel bergehe, muss ich jene Leser (sie sind mir die liebsten), die keine Philosophen sind undsich gewohnheitsmig auf ihren gesunden

    16Karl R. Popper Was ist Dialektik ?Menschenverstand verlassen, bitten, sich an den Ausspruch zu erinnern, den ich als

    Leitsatz fr diesen Aufsatz gewhlt habe; denn was sie jetzt hren werden, wird ihnen vielleichtmeiner Meinung nach vllig zu Recht als absurderscheinen.Wie ich bereits feststellte, ging Hegel in seinem Idealismus ber Kant hinaus.Hegel beschftigte sich ebenfalls mit dem epistemologischen Problem: Wie kann unser

    Geist die Welt erfassen?, und wie die brigen Idealisten antwortete auch er: Weil die Weltgeist-gleich ist. Seine Theorie war jedoch radikaler als die Kantische. Er sagte nicht, wie Kant,weil der Geist die Welt verarbeitetoderformt. Er sagte, weil der Geist die Weltist; oder miteiner anderen Formulierung, weil das Vernnftige das Wirkliche ist; weil Wirklichkeit undVernunft identisch sind.

    Dies ist Hegels sogenannte Philosophie der Identitt von Vernunft und

    Wirklichkeit, oder krzer, seine Identittsphilosophie. Nebenbei sei bemerkt, dasszwischen Kants epistemologischer Antwort weil der Geist die Welt formtund Hegels Identittsphilosophie weil der Geist die Welt ist historisch eine Brcke

    bestand nmlich Fichtes Antwort: Weil der Geist die Welt schafft [10].Hegels Identittsphilosophie, Das, was vernnftig ist, ist wirklich, und das, was wirklich

    ist, ist vernnftig, also sind Vernunft und Wirklichkeit identisch, war zweifellos ein Versuch zurWiederherstellung des Rationalismus auf einer neuen Grundlage. Sie gestattete es demPhilosophen, aus dem reinen Denken eine

    Theorie der Welt zu konstruieren und zu behaupten, dass dies eine wahre Theorie derwirklichen Welt sein msse. Somit ermglichte sie genau das, was Kant fr unmglich erklrthatte. Daher sah sich Hegel zu dem Versuch gezwungen, Kants Argumente gegen die Metaphysikzu widerlegen. Und dies tat er mit Hilfe seiner Dialektik.

    Um seine Dialektik zu verstehen, mssen wir wiederum auf Kant zurckgreifen.Zu viele Details mchte ich vermeiden, weshalb ich die triadische Konstruktion der

    Kantischen Kategorientafel nicht behandeln werde, obwohl sie Hegelzweifellos inspiriert hat[11]. Ich muss jedoch Kants Methode der Verwerfung des

    Rationalismus erlutern. Oben habe ich bereits erwhnt, dass Kant behauptete, der Bereichunserer Erkenntnis sei auf das Gebiet der mglichen Erfahrung beschrnkt und reines Denken sei

    jenseits dieses Gebietes nicht gerechtfertigt. In einem Abschnitt seiner Kritik, den er mitTranszendentale Dialektik berschrieb, bewies er dies wie folgt: Wenn wir versuchen, eintheoretisches System aus der reinen Vernunft heraus zu konstruieren beispielsweise wenn wirzu

    argumentieren versuchen, dass die Welt, in der wir leben, unendlich ist (eine Vorstellung,die offensichtlich ber die Grenzen mglicher Erfahrung hinausgeht)

    so knnen wir dies tun; wir werden aber zu unserer Bestrzung feststellen, dass wir mitHilfe analoger Argumente stets das gegenstzliche Resultat ebensogut beweisen knnen. Mitanderen Worten: Wenn wir eine derartige metaphysische

    10Diese Antwort ist nicht einmal originell; Kant hatte sie vorher bereits in Betrachtgezogen,

    aber natrlich verworfen.

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    11MacTaggart hat diesen Punkt zum zentralen Thema seiner interessanten Studies inHegelian Dialecticgemacht.

    17Karl R. Popper Was ist Dialektik ?Thesis als gegeben annehmen, so knnen wir stets eine exakte Antithesis

    konstruieren und verteidigen; und fr jedes Argument zugunsten der Thesisknnen wir unschwer sein Gegenargument zugunsten der Antithesis konstruieren.Und beide Argumente werden von hnlicher Strke und berzeugungskraft sein

    beide Argumente werden als gleich oder nahezu gleich vernnftig erscheinen.Somit stellte Kant fest, dass die Vernunft gegen sich selbst argumentieren und sich selbst

    widersprechen muss, wenn sie zum berschreiten der Grenzen mglicher Erfahrung verwendetwird.

    Wenn ich eine Art modernisierter Rekonstruktion bzw. Reinterpretation von Kant gebenwollte, so wrde ich unter Abweichung von Kants eigener Ansicht ber seine Leistung sagen,Kant habe nachgewiesen, dass das metaphysische Prinzip der Vernnftigkeit oder Evidenz nichteindeutig zu einem und nur einem Resultat bzw. zu einer und nur einer Theorie fhrt. Es ist stets

    mglich, mit der gleichen scheinbaren Vernnftigkeit zugunsten mehrerer verschiedener, ja sogargegenstzlicher Theorien zu argumentieren. Wenn wir also keine Hilfe von der Erfahrungerhalten, wenn wir keine Experimente und Beobachtungen machen

    knnen, die uns zum mindesten zur Verwerfung bestimmter Theorien veranlassennmlich jener, die zwar ganz vernnftig erscheinen, aber den beobachteten Fakten widersprechen

    , dann verbleibt uns keine Hoffnung darauf, ber die Ansprche konkurrierender Theorienjemals entscheiden zu knnen.

    Wie hat nun Hegel die Kantische Widerlegung des Rationalismus berwunden?Sehr einfach durch die Feststellung, Widersprche seien nicht von Bedeutung. Sie

    mssten in der Entwicklung des Denkens und der Vernunft eben auftauchen. Sie wrdenlediglich die Unzulnglichkeit einer Theorie aufzeigen, die die Tatsache nicht bercksichtigt,dass das Denken, d.h. die Vernunft und damit (gem der Identittsphilosophie) die Wirklichkeitnicht etwas ein fr allemal

    Abgeschlossenes ist, sondern sich entwickelt , dass wir in einer Welt derEvolution leben. Kant, so sagte Hegel, widerlegte die Metaphysik, nicht aber den

    Rationalismus. Denn was Hegel als Metaphysik im Gegensatz zur Dialektikbezeichnete, ist lediglich ein solches rationalistisches System, das Evolution, Bewegung

    und Entwicklung nicht bercksichtigt und somit versucht, dieWirklichkeit als etwas Stabiles, Unbewegtes und Widerspruchsfreies zu begreifen.Hegel folgert gem seiner Identittsphilosophie, dass, da sich die Vernunft entwickelt,

    sich auch die Welt entwickeln muss und dass, da die Entwicklung des Denkens bzw. derVernunft eine dialektische ist, sich auch die Welt in

    dialektischen Triaden entwickeln muss.Somit finden wir in Hegels Dialektik die folgenden drei Elemente:(a)

    Einen Versuch, die Kantische Widerlegung dessen, was Kant alsDogmatismus in der Metaphysik bezeichnete, zu umgehen. Diese Widerlegung

    betrachtet Hegel als gltig nur fr Systeme, die metaphysisch in seinem engeren Sinnesind, jedoch nicht fr den dialektischen Rationalismus, der die Entwicklung der Vernunft

    bercksichtigt und deshalb Widersprche nicht zu frchten braucht.

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    Indem Hegel die Kantische Kritik in dieser Weise umgeht, strzt er sich in ein uerstgefhrliches Abenteuer, das zur Katastrophe fhren muss; denn er

    argumentiert etwa folgendermaen: Kant widerlegte den Rationalismus durch dieFeststellung, er msse zu Widersprchen fhren. Dies gebe ich zu. Aber es ist 18

    Karl R. Popper Was ist Dialektik ?

    klar, dass dieses Argument seine Strke aus dem Gesetz vom Widerspruchableitet: es widerlegt nur solche Systeme, die dieses Gesetz akzeptieren, also solche, diebeabsichtigen, frei von Widersprchen zu sein. Das Argument ist nicht gefhrlich fr ein Systemwie das meinige, das bereit ist, Widersprche zu

    akzeptieren d.h. fr ein dialektisches System. Es besteht kein Zweifel, dass HegelsArgument einen Dogmatismus von uerst gefhrlicher Art aufrichtet

    einen Dogmatismus, der keinerlei Angriff mehr zu frchten braucht. Denn jeder Angriff,jede Kritik irgendwelcher Theorie mu sich auf die Methode sttzen, irgendwelche Widersprcheaufzuzeigen, entweder in einer Theorie selbst oder zwischen einer Theorie und irgendwelchenFakten wie ich bereits festgestellt habe. Hegels Methode, Kant zu bertreffen, ist somitwirkungsvoll aber leider zu wirkungsvoll. Sie sichert sein System gegen jede Art von Kritik

    oder Angriff ab und ist daher dogmatisch in einem ganz besonderen Sinne, so dass ich sie alsdoppelt verschanzten Dogmatismus bezeichnen mchte. (Es sei noch daraufhingewiesen, dass hnliche doppelt verschanzte Dogmatismen zur Sttzung derStrukturen anderer dogmatischer Systeme ebenfalls beitragen knnen.)(b) Die dialektische Beschreibung der Entwicklung der Vernunft ist ein Element in der

    Hegelschen Philosophie, das ein gut Teil Plausibilitt fr sich hat. Dies wird deutlich, wenn wiruns erinnern, dass Hegel das Wort Vernunft nicht nur im subjektiven Sinne gebrauchte, in demes eine bestimmte geistige Fhigkeit

    bezeichnet, sondern auch im objektiven Sinne, in dem es alle Arten von Theorien,Gedanken, Ideen usw. bezeichnet. Hegel vertrat die Ansicht, dass die Philosophie der hchsteAusdruck des Denkens ist, und hatte in erster Linie die Entwicklung des philosophischenDenkens im Sinne, wenn er von der Entwicklung des Denkens sprach. Tatschlich kann diedialektische Triade kaum irgendwo erfolgreicher angewandt werden, als in Untersuchungen derEntwicklung philosophischer

    Theorien. Daher ist es nicht berraschend, dass Hegels erfolgreichster Versuch zurAnwendung seiner dialektischen Methode seine Geschichte der Philosophie

    darstellte.Um die mit einem solchen Erfolg verknpfte Gefahr zu verstehen, mssen wir

    bedenken, dass zu Hegels Zeit und noch viel spter Logik blicherweise als Theoriedes Schlieens und des Denkens (reasoning and thinking) bezeichnet und definiert wurde unddass demgem die fundamentalen Gesetze der Logik in der Regel als Denkgesetze bezeichnetwurden. Es ist daher vllig verstndlich, dass Hegel in dem Glauben, die Dialektik sei die wahreBeschreibung des tatschlichen Schluss- und Denkvorganges, zu der Ansicht gelangte, er mssedie Logik ndern, um die Dialektik zu einem wichtigen, wenn nicht zu dem wichtigsten Teil der

    Theorie der Logik zu machen. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, das Gesetz vomWiderspruch zu beseitigen, das offensichtlich ein ernsthaftes Hindernis auf dem Wege zurAkzeptierung der Dialektik darstellte. Hier stoen wir auf den

    Ursprung der Ansicht, die Dialektik sei fundamental in dem Sinne, dass sie mit derLogik konkurrieren kann, dass sie eine Verbesserung der Logik ist. Ich habe diese Ansicht derDialektik bereits kritisiert, und ich mchte lediglich

    wiederholen, dass jede Art logischen Schlieens, ob vor oder nach Hegel, ob auf dem

  • 5/26/2018 Popper Was Ist Dialektik

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    Gebiet der Naturwissenschaften oder der Mathematik oder einer wirklichrationalen Philosophie, stets auf das Gesetz vom Widerspruch gegrndet ist. Aber Hegel

    schreibt (System der Philosophie, Erster Teil: Die Logik, smtl. Werke, 19Karl R. Popper Was ist Dialektik ?hrsg. von H. Glockner, Bd. 8, Stuttgart 1958, 81 Zusatz I, S. 190): Das

    Dialektische gehrig aufzufassen und zu erkennen, ist von hchster Wichtigkeit.Es ist dasselbe berhaupt das Prinzip aller Bewegung, alles Lebens und aller Bethtigungin der Wirklichkeit. Eben so ist das Dialektische auch die Seele alles wahrhaft wissenschaftlichenErkennens.

    Wenn Hegel aber unter dialektischem Schlieen ein Schlieen versteht, das das Gesetzvom Widerspruch verwirft, dann ist er sicherlich nicht in der Lage,

    irgendein Beispiel fr solches Schlieen auf dein Gebiet der Wissenschaftenanzufhren. (Die vielen von Dialektikern angefhrten Beispiele bewegen sichohne Ausnahme auf dem Niveau der oben angefhrten Engelsschen Beispiele vom Getreidekorn oder (-a)2 = a2 oder noch schlimmer.) Es ist nicht daswissenschaftliche Schlieen als solches, das auf die Dialektik gegrndet ist; es sind

    lediglich die Geschichte und die Entwicklung wissenschaftlicher Theorien, die mit einigemErfolg mit Hilfe der dialektischen Methode beschrieben werden knnen. Und wie wir gesehenhaben, kann diese Tatsache die Akzeptierung der

    Dialektik als etwas Fundamentalen nicht rechtfertigen, da die Theoriengeschichte auch imRahmen der blichen Logik erklrt werden kann, wenn wir uns an die

    Wirkungsweise derTrial-and-error-Methodeerinnern.Wie ich bereits feststellte, besteht die Hauptgefahr einer solchen Verwechslung von

    Dialektik und Logik darin, dass sie die dogmatische Argumentation frdert.Denn wir finden nur zu oft, dass Dialektiker in logischen Schwierigkeiten ihre letzte

    Zuflucht darin suchen, dass sie ihren Gegnern sagen, ihre Kritik seiabwegig, da sie sich auf die bliche Logik und nicht auf die Dialektik grnde; wenn sie

    nur die Dialektik anwenden wollten, wrden sie feststellen, dass die Widersprche, die sie inirgendeinem Argument der Dialektiker gefunden haben, vllig zu Recht bestehen (nmlich ausder Sicht des dialektischen Standpunktes).

    (c)Ein drittes Element der Hegelschen Dialektik grndet sich auf seineIdentittsphilosophie. Wenn Vernunft und Wirklichkeit identisch sind und die Vernunft

    sich dialektisch entwickelt (wie es die Entwicklung des philosophischen Denkens so gut zeigt),dann muss sich auch die Wirklichkeit dialektisch

    entwickeln. Die Welt muss von den Gesetzen der dialektischen Logik beherrscht sein.(Diese Auffassung wurde als Panlogismus bezeichnet.) Somit mssen wir in der Welt diegleichen Widersprche finden, wie sie die dialektische Logik zulsst. Und es ist gerade dieseTatsache, dass die Welt voller Widersprche ist, die uns von einem anderen Blickpunkt her zeigt,dass das Gesetz vom

    Widerspruch aufgegeben werden muss. Denn dieses Gesetz besagt, dass kein insich widerspruchsvoller Satz oder kein Paar kontradiktorischer Stze wahr sein, d.h. mit

    den Fakten bereinstimmen knnen. Mit anderen Worten: Das Gesetzimpliziert, dass in der Natur, d.h. in der Welt der Fakten, niemals Widersprche

    vorkommen knnen und dass Fakten sich niemals widersprechen knnen. Aber auf derGrundlage der Philosophie der Identitt von Vernunft und Wirklichkeit wird behauptet, dassFakten einander widersprechen knnen, da Ideen dies tun, und dass Fakten sich durch

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    Widersprche entwickeln, wie die Ideen es tun; somit muss also das Gesetz vom Widerspruchaufgegeben werden.

    Aber abgesehen von dem, was mir als die uerste Absurditt derIdentittsphilosophie erscheint (worauf ich spter noch zu sprechen kommen20

    Karl R. Popper Was ist Dialektik ?werde), finden wir bei nherer Betrachtung dieser sogenannten kontradiktorischen Fakten,dass alle von den Dialektikern vorgebrachten Beispiele lediglich

    feststellen, dass die Welt, in der wir leben, manchmal eine bestimmte Struktur aufweist,die sich vielleicht mit Hilfe des Wortes Polaritt beschreiben lsst.

    Ein Beispiel fr eine solche Struktur wre die Existenz positiver und negativerElektrizitt. Es wre aber lediglich eine metaphorische und verschwommene

    Ausdrucksweise, zu sagen, dass sich positive und negative Elektrizittkontradiktorisch gegenberstehen. Ein Beispiel fr einen wahren Widerspruchwrden die beiden folgenden Stze bilden: Dieser Krper hier wurde am 1.

    November 1938 zwischen 9 und 10 Uhr vormittags positiv aufgeladen, und ein

    analoger Satz ber den gleichen Krper, der aussagt, dass er zur gleichen Zeit nichtpositiv aufgeladen wurde.Dies wre ein Widerspruch zwischen zwei Stzen, und die entsprechendekontradiktorische Tatsache bestnde darin, dass ein Krper in seiner Gesamtheit

    gleichzeitig positiv und nicht positiv aufgeladen wre und somit gleichzeitig gewisse negativgeladene Krper anziehen und auch nicht anziehen msste. Die Feststellung jedoch, dassderartige kontradiktorische Fakten nicht existieren, erbrigt sich. (Eine tiefer gehende Analyseknnte zeigen, dass die Nichtexistenz solcher Fakten nicht ein Gesetz nach Art der Gesetze derPhysik ist, sondern sich auf die Logik grndet, d.h. auf die Regeln, die den wissenschaftlichen

    Sprachgebrauch beherrschen.)Somit gelangen wir zu drei Punkten: (a) zur dialektischen Opposition gegen Kants

    Antirationalismus und folglich zu einer durch doppelt verschanzten Dogmatismus gesttztenWiederherstellung des Rationalismus; (b) zur Eingliederung der

    Dialektik in die Logik, gegrndet auf die Mehrdeutigkeit solcher Ausdrcke wieVernunft, Denkgesetze usw.; (c) zur Anwendung der Dialektik auf die ganze Welt,

    gegrndet auf Hegels Panlogismus und seine Identittsphilosophie. Diese drei Punkte erscheinenmir als die Hauptelemente der Hegelschen Dialektik. Ehe ich zu einer kurzen Darstellung desSchicksals der Dialektik nach Hegel bergehe, mchte ich meiner persnlichen Ansicht berHegels Philosophie und besonders ber seine Identittsphilosophie Ausdruck verleihen. Ich binder Ansicht, dass sie die belste all jener absurden und unglaublichen philosophischen Theorien

    darstellt, auf die Descartes sich in seinem Ausspruch bezieht, den ich als Leitsatz fr dieseAbhandlung gewhlt habe. Nicht nur, dass die Identittsphilosophie ohne jede Art ernsthafterRechtfertigung dargeboten wird; auch das Problem, zu dessen Beantwortung sie erfunden wurde

    die Frage Wie kann unser Geist die Welterfassen? , scheint mir keineswegs klar formuliert zu sein. Und die idealistische

    Antwort, die von den verschiedenen idealistischen Philosophen zwar variiertwurde, aber grundstzlich die gleiche geblieben ist, nmlich weil die Weltgeist-gleich ist, ist nur dem Anschein nach eine Antwort. Wir knnen deutlich sehen,

    dass es keine wirkliche Antwort ist, wenn wir ein analoges Argument in Betracht ziehen, zumBeispiel: Wie kann dieser Spiegel mein Gesicht

    reflektieren? Weil er gesicht-gleich ist. Obwohl ein solches Argument

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    offensichtlich vllig unsinnig ist, ist es dennoch immer wieder formuliert worden.Wir finden es beispielsweise in unserer Zeit von Jeans etwa folgendermaenformuliert: Wie kann die Mathematik die Welt erfassen? Weil die Weltmathematik-gleich ist. Somit argumentiert er, da die Wirklichkeit der21

    Karl R. Popper Was ist Dialektik ?Mathematik wesensgleich ist, da die Welt ein mathematischer Gedanke (unddeshalb ideell) ist. Dieses Argument ist offensichtlich nicht sinnvoller als das folgende:

    Wie kann die Sprache die Welt beschreiben? Weil die Weltsprachen-gleich ist sie ist linguistisch, und nicht sinnvoller als: Wie kann die

    englische Sprache die Welt beschreiben? Weil die Welt wesentlich englisch ist. Dass dasletzte Argument dem von Jeans vorgebrachten tatschlich analog ist, wird deutlich, wenn wiranerkennen, dass die mathematische Beschreibung der

    Welt lediglich eine bestimmte Art der Beschreibung dieser Welt ist und dass dieMathematik uns ein Mittel zur Beschreibung in besonders reichhaltiger Sprache bietet.

    Vielleicht lsst sich dies am leichtesten mit Hilfe eines trivialen Beispiels zeigen.

    Es gibt primitive Sprachen, die keine Zahlen verwenden, sondern versuchen,numerische Vorstellungen mit Hilfe von Ausdrcken fr eins, zwei und vieleauszudrcken. Es ist klar, dass eine solche Sprache nicht in der Lage ist,kompliziertere Beziehungen zwischen bestimmten Gruppen von Objekten zu

    beschreiben, die sich mit Hilfe der numerischen Ausdrcke drei, vier, fnfusw. leicht beschreiben lassen. Eine primitive Sprache kann ausdrcken, dass A viele

    Schafe hat und dass er mehr Schafe hat als B; aber sie kann nichtausdrcken, dass A neun Schafe hat und dass er fnf Schafe mehr hat als B. Mit anderen

    Worten: Mathematische Symbole werden in die Sprache eingefhrt, umgewisse kompliziertere Beziehungen zu beschreiben, die anderweitig nicht

    beschrieben werden knnen; eine Sprache, die die Arithmetik der natrlichenZahlen enthlt, ist einfach reicher, als eine Sprache, der die entsprechenden Symbole

    fehlen. Und alles, was wir aus der Tatsache, dass wir zur Beschreibung der Welt einemathematische Sprache verwenden mssen, ber ihr Wesen

    schlieen knnen, besteht darin, dass die Welt einen bestimmten Grad vonKomplexitt hat, so dass in ihr bestimmte Beziehungen bestehen, die mit zu

    primitiven Mitteln nicht beschrieben werden knnen.Jeans hatte ein ungutes Gefhl angesichts der Tatsache, dass unsere Welt zumathematischen Formeln passt, die ursprnglich von reinen Mathematikernerfunden wurden, welche keinerlei Absicht hatten, ihre Formeln auf die Weltanzuwenden. Ursprnglich begann er anscheinend als das, was ich einenInduktivisten nennen wrde; das heit, er war der Ansicht, dass Theorien durch ein

    mehr oder weniger einfaches Schlussverfahren aus der Erfahrung abgeleitet werden. Wenn manvon einer solchen Position ausgeht, muss die Entdeckung

    Erstaunen auslsen, dass eine von reinen Mathematikern auf rein spekulativeWeise formulierte Theorie sich nachtrglich als auf die physische Welt anwendbar

    erweist. Fr diejenigen hingegen, die keine Induktivisten sind, ist dies keineswegs erstaunlich.Sie wissen, dass sich recht hufig eine ursprnglich als reine

    Spekulation, als bloe Mglichkeit aufgestellte Theorie spter als empirisch anwendbarerweist. Sie wissen auch, dass es oftmals diese spekulative

    Antizipation ist, die den Weg fr empirische Theorien ebnet. (Auf diese Weise ist das

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    Problem der Induktion, wie es allgemein genannt wird, mit dem Problem des Idealismusverknpft, mit welchem wir es hier zu tun haben.)

    22Karl R. Popper Was ist Dialektik ?

    3. DIE DIALEKTIK NACH HEGEL

    Hegels Philosophie der Identitt von Vernunft und Wirklichkeit wird gelegentlich als(absoluter) Idealismus charakterisiert, weil sie behauptet, die Wirklichkeit sei geist-gleich oderihrem Wesen nach vernnftig. Aber offensichtlich lsst sich eine derartige dialektischeIdentittsphilosophie unschwer umkehren, so dass sie zu einer Art Materialismus wird. DieVerfechter dieses Materialismus wrden

    argumentieren, dass die Wirklichkeit in ihrem Wesen materiell oder physisch ist, wie esdem ungeschulten Denken entspricht; und mit der Aussage, dass sie mit der Vernunft oder demGeist identisch ist, wrde man implizieren, dass der Geist ebenfalls ein materielles oder

    physisches Phnomen ist oder, um weniger radikal zu sein, dass, falls der Geist sich alsirgendwie unterschiedlich von der materiellen Wirklichkeit erweisen sollte, dieser Unterschied

    nicht von groer Bedeutung sein knne.Ein solcher Materialismus kann als Renaissance gewisser durch Verknpfung mit derDialektik modifizierter Aspekte des Kartesianismus betrachtet werden. Aber durch die Aufgabeihrer ursprnglichen idealistischen Grundlage verliert die Dialektik alles, was sie plausibel undverstndlich machte; wir mssen uns

    vergegenwrtigen, dass die besten Argumente zugunsten der Dialektik in ihrerAnwendbarkeit auf die Entwicklung des Denkens lagen, besonders des

    philosophischen Denkens. Und nun sehen wir uns unmittelbar der Behauptunggegenber, die physische Wirklichkeit entwickle sich dialektisch eine uerst

    dogmatische Behauptung mit so geringer wissenschaftlicher Untermauerung, dass diematerialistischen Dialektiker sich gezwungen sehen, vielseitige Verwendung von der von uns

    bereits beschriebenen Methode zu machen, durch die jede Kritik als nichtdialektischzurckgewiesen wird. Somit befindet sich der dialektische Materialismus in bereinstimmungmit den oben diskutierten Punkten (a) und (b), ndert aber Punkt (c) betrchtlich ab, allerdings, soglaube ich, ohne Vorteile fr seine dialektischen Zge. Wenn ich diese meine Ansichtausspreche, mchte ich betonen, dass ich zwar kein Materialist bin, meine Kritik aber auch nichtgegen den Materialismus richte, den ich persnlich dem Idealismus vielleicht vorziehen wrde,wenn ich zur Wahl zwischen beiden gezwungen wre (was

    glcklicherweise nicht der Fall ist). Es ist lediglich die Kombination zwischen Dialektikund Materialismus, die mir als noch bler erscheint als der dialektische Idealismus.

    Diese Bemerkungen beziehen sich besonders auf den von Marx entwickeltenDialektischen Materialismus. Das materialistische Element dieser Theorie lsst sich

    relativ leicht derart umformulieren, dass sich dagegen keine ernsthaften Einwnde erhebenlassen. Soweit ich sehe, lsst sich der wichtigste Punkt wie folgt darstellen: Es besteht kein Grundfr die Annahme, dass die

    Sozialwissenschaften einen idealistischen Unterbau Hegelscher Art brauchen,whrend die Naturwissenschaften sich auf der Grundlage der realistischenAnschauungen des normalen Menschen entwickeln knnen. Nun wurde dieerwhnte Annahme in der Zeit von Karl Marx oft gemacht, und zwar infolge der

    Tatsache, dass Hegel mit seiner idealistischen Staatstheorie die

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    Sozialwissenschaften stark beeinflusste, ja sogar frderte, whrend dieUnfruchtbarkeit der von ihm vertretenen Ansichten auf dem Gebiet der23Karl R. Popper Was ist Dialektik ?

    Naturwissenschaften zum mindesten fr Naturwissenschaftler nur zu

    offensichtlich war[12

    ]. Ich glaube, die Ideen von Marx und Engels fair zu interpretieren,wenn ich feststelle, dass einer ihrer Hauptgrnde fr die Betonung des Materialismus darinbestand, jede Theorie zu verwerfen, die unter Berufung auf das rationale oder spirituale Wesendes Menschen behauptet, die Soziologie msse auf eine idealistische oder spiritualistische Basisoder auf die Analyse der Vernunft gegrndet werden. Im Gegensatz dazu betonten sie, dass diematerielle Seite der menschlichen Natur und insbesondere der Bedarf an Nahrungsmitteln undanderen materiellen Gtern von grundstzlicher Bedeutung fr die

    Soziologie ist.Diese Ansicht war zweifellos vernnftig; und ich bin der Meinung, dass diediesbezglichen Marxschen Beitrge von wirklicher Bedeutung und anhaltendemEinfluss sind. Jedermann lernte von Marx, dass die Entwicklung selbst der Ideen nicht

    voll verstanden werden kann, wenn die Ideengeschichte als solche behandelt wird (obwohl einesolche Behandlung oftmals ihre groen Vorzge haben kann), d.h. ohne Erwhnung derBedingungen ihres Ursprungs und der Situation ihrer

    Begrnder, also der Bedingungen, deren konomischer Aspekt von grterBedeutung ist. Dennoch bin ich persnlich der Ansicht, dass der Marxschekonomismus seine Betonung des konomischen Hintergrundes als letzteGrundlage jeder Art von Entwicklung einen Irrtum darstellt und tatschlich unhaltbar

    ist. Ich glaube, dass die gesellschaftliche Erfahrung eindeutig beweist, wie unter bestimmtenUmstnden der Einfluss von Ideen (vielleicht von

    Propaganda untersttzt) die konomischen Krfte kompensieren und sogarberkompensieren kann. Und selbst wenn wir zugeben, dass es unmglich ist,geistige Bewegungen ohne ihren konomischen Hintergrund voll zu verstehen, so

    12Dies sollte wenigstens all denen klar werden, die als Beispiel die folgende erstaunlicheAnalyse des Wesens derElektrizitt in Betracht ziehen, die ich bersetzt habe, so gut iches vermag wobei ich so weit gegangen bin, zu versuchen, es irgendwie besserverstndlich zu machen als den Hegelschen Text im Original:"Electricity ... is the purpose of the form from which it emancipates itself, it is the formthat is just about to overcome its own indifference; for, electricity is the immediateemergence, or the actuality just emerging, from the proximity of the form, and stilldetermined by it not yet the dissolution, however, of the form itself, but rather the moresuperficial process by which the differences desert the form which, however, they stillretain, as their condition, having not yet grown into independence of and through them."(No doubt it ought to have been "of and through it"; but I do not wish to suggest that thiswould have made much difference to the differences.)Diese Stelle lautet im Original:Die Elektricitt ist der reine Zweck der Gestalt, der sich von ihr befreit; die Gestalt, dieihre Gleichgltigkeit aufzuheben anfngt; denn die Elektricitt ist das unmittelbareHervortreten, oder das noch von der Gestalt herkommende, noch durch sie bedingteDaseyn, oder noch nicht die Auflsung der Gestalt selbst, sondern der oberflchlicheProce, worin die Differenzen die Gestalt verlassen, aber sie zu ihrer Bedingung haben,

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    und noch nicht an ihnen selbstndig sind. G. W. F. Hegel, System der Philosophie,zweiter Teil: Die Naturphilosophie, Smtliche Werke, hrsg. von H. Glockner, Bd. 9,Stuttgart 19586 323 Zusatz, S. 369. (Anm. d. Hrsg.) Vgl. auch zwei hnliche Stellen

    berden Schall und ber die Wrme, die ich in meinerThe Open Society and its Enemies,

    Princeton 1950 (deutsch:Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bde., Bern 1957,1958), Fn. 4 zu Kap. 12 zitiert habe, sowie den Text.24Karl R. Popper Was ist Dialektik ?ist es wenigstens ebenso unmglich, konomische Entwicklungen zu verstehenohne Verstndnis beispielsweise der wissenschaftlichen oder religisen Ideen.Fr unsere gegenwrtigen Zwecke ist es nicht so wichtig, den MarxschenMaterialismus oder konomismus zu analysieren, als vielmehr festzustellen, was in

    seinem System aus der Dialektik geworden ist. Zwei Punkte scheinen mirwichtig. Der eine betrifft die Marxsche Betonung der historischen Methode auf dem

    Gebiet der Soziologie, eine Tendenz, die ich als Historizismus bezeichnet habe. Der zweite

    bezieht sich auf die antidogmatische Tendenz der MarxschenDialektik.Zum ersten Punkt mssen wir uns daran erinnern, dass Hegel einer der Begrnder der

    historischen Methode war, ein Begrnder jener Schule von Denkern, dieglaubten, dass man eine Entwicklung durch ihre historische Beschreibung kausal erklrt

    habe. Diese Schule war der Ansicht, dass man beispielsweise bestimmte soziale Institutionendadurch erklren knne, dass man aufzeigt, wie die

    Menschheit sie allmhlich entwickelt hat. Heute wird oftmals anerkannt, dass dieBedeutung der historischen Methode fr die Sozialtheorie weit berschtzt worden ist; derGlaube an diese Methode ist jedoch keineswegs erloschen. Ich habe an anderer Stelle versucht,diese Methode zu kritisieren (besonders in meinem Buch The Poverty of Historicism). Hiermchte ich lediglich betonen, dass die Marxsche Soziologie von Hegel nicht nur die Ansichtbernahm, dass ihre Methode eine

    historische sein msse und dass Soziologie und Geschichte Theorien der sozialenEntwicklung werden mssten, sondern auch, dass diese Entwicklung dialektisch erklrt werdenmsse. Fr Hegel war die Geschichte die Geschichte der Ideen.

    Marx lie den Idealismus fallen, behielt aber Hegels Lehre bei, dass diedialektischen Widersprche, Negationen und Negationen der Negationendie dynamischen Krfte der geschichtlichen Entwicklung darstellen. In dieser Hinsicht

    hielten sich Marx und Engels tatschlich sehr eng an Hegel, wie sich an Hand folgender Zitatezeigen lsst: Hegel sprach in seinem System der

    Philosophie (a.a.O., 81 Zusatz I, S. 193) von der Dialektik als von derallgemeinen unwiderstehlichen Macht, vor welcher nichts, wie sicher und fest dasselbe

    sich auch dnken mge, zu bestehen vermag. Und in hnlicher Weiseschreibt Engels (Anti-Dhring, Teil I, Dialektik: Negation der Negation): Was ist nun

    die Negation der Negation? Ein uerst allgemeines ... Entwicklungsgesetz der Natur, derGeschichte und des Denkens; ein Gesetz, das ... gltig ist im tierischen und pflanzlichen Reich, inder Geologie, der Mathematik, der

    Geschichte und in der Philosophie.Nach Ansicht von Marx ist es die Hauptaufgabe der Soziologie, zu zeigen, wie diese

    dialektischen Krfte in der Geschichte am Werke sind, und auf diese Weise den Geschichtsablauf

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    vorauszusagen oder, wie er im Vorwort zum Kapital sagt,es ist das letzte Ziel dieses Werkes, das konomische Bewegungsgesetz dermodernen Gesellschaft aufzudecken. Und dieses dialektische Bewegungsgesetz, die

    Negation der Negation, bietet die Grundlage fr die Marxsche Prophetie des bevorstehendenZusammenbruchs des Kapitalismus (Das Kapital, 1, Kap. 24):

    Die kapitalistische Produktionsweise ... ist die erste Negation ... Aber der Kapitalismuserzeugt mit der Unausweichlichkeit eines Naturgesetzes seine eigene Negation. Es ist dieNegation der Negation.

    25Karl R. Popper Was ist Dialektik ?Eine Voraussage braucht sicherlich nicht unwissenschaftlich zu sein, wieVoraussagen von Sonnenfinsternissen und anderen astronomischen Ereignissen

    beweisen. Aber weder die Hegelsche Dialektik noch ihre materialistische Version knnenals eine vernnftige Grundlage fr wissenschaftliche Voraussagen

    akzeptiert werden. (Aber alle Marxschen Prognosen haben sich erfllt, pflegen dieMarxisten zu antworten. Sie haben sich nicht erfllt. Um ein Beispiel von vielen zu zitieren: Im

    Kapital, unmittelbar nach dem obigen Zitat, sagte Marx, da der bergang vom Kapitalismuszum Sozialismus natrlicherweise einunvergleichlich weniger langwieriger, heftiger und schwieriger Prozess sein msse als

    die industrielle Revolution, und in einer Funote sttzte er diese Prognose durch einen Hinweisauf die unentschlossene und keinen Widerstand

    leistende Bourgeoisie. Es wird heute nur wenige Marxisten geben, die behaupten, dasssich diese Prognosen erfllt haben.) Wenn auf die Dialektik gegrndete

    Voraussagen ausgearbeitet werden, werden sich einige als wahr erweisen, andere nicht.Im letzteren Falle wird dann offensichtlich eine Situation entstehen, die nicht vorausgesehenworden war. Aber die Dialektik ist verschwommen und

    elastisch genug, um diese unvorhergesehene Situation ebenso zu interpretieren und zuerklren, wie sie jene Situation interpretiert und erklrt hatte, die sie vorausgesagt hatte und dienicht eingetreten war. Jede beliebige Entwicklung passt

    in das dialektische Schema; der Dialektiker braucht eine Widerlegung durch zuknftigeErfahrung niemals zu frchten [13]. Wie bereits erwhnt, ist es weniger die dialektischeSchauweise als vielmehr die eigentliche Idee von einer Soziologie als Theorie dergeschichtlichen Entwicklung die Vorstellung, dass historische Voraussagen groen Stils dasZiel der wissenschaftlichen Soziologie darstellen , die falsch ist. Dies aber beschftigt uns hiernicht.

    Neben der Rolle, die die Dialektik in Marx' historischer Methode spielt, sollte dieantidogmatische Attitde von Marx behandelt werden. Marx und Engels haben fest darauf

    bestanden, dass die Wissenschaft nicht als Bestand endgltiger undwohlbegrndeter Erkenntnis oder ewiger Wahrheit interpretiert werden drfe, sondern

    vielmehr als etwas, das sich entwickelt, fortschreitet. Der Wissenschaftler ist nicht der Mann, derviel wei, sondern der Mann, der entschlossen ist, die Suche nach Wahrheit niemals aufzugeben.Wissenschaftliche Systeme entwickeln sich, und sie entwickeln sich nach Marx dialektisch.

    Gegen diesen Punkt lsst sich nur wenig einwenden obgleich ich persnlich der Ansichtbin, das die dialektische Beschreibung der Entwicklung der Wissenschaft nicht immer ohneGewaltsamkeit anwendbar ist und dass es besser ist, die

    wissenschaftliche Entwicklung in weniger ambitiser und vieldeutiger Weise zubeschreiben, zum Beispiel mit Hilfe derTrial-and-error-Theorie. Doch bin ich bereit zuzugeben,

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    dass diese Kritik nicht von groer Bedeutung ist. Es ist aber von wirklicher Bedeutung, dassMarx' fortschrittliche und antidogmatische Ansicht

    13In meinem BuchThe Logic of Scientific Discovery, a.a.O., habe ich zu zeigen versucht,dass der wissenschaftliche Gehalt einer Theorie um so grer ist, je mehr Information sie

    vermittelt, je mehr sie riskiert, je mehr sie sich der Widerlegung durch zuknftige Erfahrungaussetzt. Wenn sie keine derartigen Risiken eingeht - hat sie keinen wissenschaftlichen Gehalt, istsie metaphysisch. An dieser Norm gemessen, knnen wir sagen, dass die Dialektikunwissenschaftlich ist: sie ist metaphysisch.

    26Karl R. Popper Was ist Dialektik ?von der Wissenschaft von orthodoxen Marxisten auf ihrem eigenen Ttigkeitsfeld niemals

    angewandt worden ist. Progressive, antidogmatische Wissenschaft istkritisch Kritik ist ihr eigentliches Leben. Aber Kritik am Marxismus, amdialektischen Materialismus ist von Marxisten niemals geduldet worden.Hegel war der Ansicht, dass sich die Philosophie entwickelt; sein eigenes System aber

    sollte als letztes und hchstes Stadium dieser Entwicklung bestehen bleiben und nicht bertroffenwerden knnen. Die Marxisten haben sich die gleicheAttitde gegenber dem Marxschen System zu eigen gemacht. Daher existiert die

    antidogmatische Attitde von Marx nur in der Theorie und nicht in der Praxis des orthodoxenMarxismus, und die Dialektik wird von den Marxisten in Nachahmung des von Engels mit demAnti-Dhringgegebenen Beispiels in erster Linie zu apologetischen Zwecken verwendet umdas Marxsche System gegen die Kritik

    zu verteidigen. In der Regel werden Kritiker mit der Bemerkung abgewiesen, dass sie dieDialektik oder die proletarische Wissenschaft nicht verstehen, oder mit dem Vorwurf des Verrats.Dank der Dialektik ist die antidogmatische Attitde verschwunden, und der Marxismus hat sichals ein Dogmatismus etabliert, der

    durch Verwendung der dialektischen Methode elastisch genug ist, jedemzuknftigen Angriff auszuweichen. Somit ist er zu dem geworden, was ich alsdoppelt verschanzten Dogmatismus bezeichnet habe.Es gibt aber kein greres Hindernis fr den Fortschritt der Wissenschaft als einen

    derartigen doppelt verschanzten Dogmatismus. Es kann keine wissenschaftliche Entwicklungohne freie Konkurrenz der Gedanken geben dies ist der harte Kern der von Marx und Engelseinst so stark vertretenen antidogmatischen Attitde, und im allgemeinen kann es keine freieKonkurrenz wissenschaftlicher Gedanken

    geben ohne Freiheit fr alles Denken.Die Dialektik hat also eine sehr unglckliche Rolle gespielt, nicht nur in der Entwicklung

    der Philosophie, sondern auch in der Entwicklung der Theorie der Politik. Ein volles Verstndnisdieser unglcklichen Rolle wird durch den Versuch erleichtert, zu erfahren, wie Marxursprnglich zur Entwicklung einer solchen Theorie gelangte. Dazu mssen wir die Situation inihrer Gesamtheit in Betracht ziehen. Marx geriet als junger Mann mit progressivem,evolutionrem und sogar revolutionrem Denken unter den Einfluss Hegels, des berhmtestendeutschen

    Philosophen. Hegel war ein Reprsentant der preuischen Reaktion; er benutzte seinPrinzip der Identitt von Vernunft und Wirklichkeit zur Sttzung der

    bestehenden Gewalten denn was existiert, ist vernnftig und zur Verteidigung der Ideedes absoluten Staates (einer Idee, die wir heute als Totalitarismus

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