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Heil, Zweikampf, Todesstrafe, Ungerichte ______________________________________________________ Heil. Es ist schwer, den Inhalt dieses dt. Wortes – das auch politisch instrumentalisiert wurde (zum Hitler-Gruß Schmitz- Berning 299 ff.; vgl. auch die Diskussion um das Königsheil) – vor der christlichen Färbung zu „heilig“ (dazu Dihle) zu erfassen, zumal die meisten (vor allem die altnordischen Quellen) aus christlicher Zeit stammen. Schon die Herkunft ist strittig (Ejerfeldt 325 f.). Neben der Wortgruppe „weihen“ verweist man meist aus * haila, dem die Bedeutung von „ganz, unversehrt, unverletzt, unverletzbar“ zugeordnet wird (Ejerfeldt 325 f.; Vries 336; See 137) und das vor allem im altnordischen „heilagr“ zu finden ist (mit den Ableitungen von „Mann-“, „Friedheiligkeit“). - Über das Weitere herrscht Streit. Eine erste (frühe) Auffassung zog die Verbindung zu den polynesischen Worten „mana“ und „tabu“ und dem irokesischen „orenda“ (vgl. Vries 276) und sah im Rahmen der Logik der „primitiven Religion“ (Grönbech 1971; vgl. Dux; vgl. auch Dingbedeutsamkeit) das H. als die magische Macht der Lebenskraft des Einzelnen (im Rahmen der Sippe), die seine Stellung in der Einheit von Leib, Seele und Geist einerseits, in der Ganzheit der natürlich-kosmischen Lebensordnung andererseits ausmache und von den anderen zu achten sei (Grönbech 1954,135 ff., 163 ff.; 1971, 23 ff. [zu diesem „magischen Ganzheitsrealismus“ vgl. Picard 22 ff.]; vgl. auch Vries 275 ff.; Rehfeldt; Schmidt-Wiegand). Eine zweite spätere Auffassung trennte die Lebenswelt in einen sakral-religiösen Bereich der Beziehung zu kultisch verehrten Mächten (Gottheiten) und einen profanen Bereich (zum Einfluss von Rudolf Otto und Nathan Söderblom vgl. Maier 166) und ordnete das H. ersterem (und damit der Religionsgeschichte) zu, wodurch der Begriff den Menschen (oder Gegenstand) meinen sollte, der unter dem Schutz der Gottheiten stehe und von sich aus Segen auf die profane Welt verbreite (Baetke 1942; 1942 a [ihm folgend Vries 336 ff.]; Hartmann). H. komme vor allem dem Menschen/ Gegenstand zu, der an der von den (von der Kultgemeinschaft verehrten) Gottheiten geschützten Friedensordnung teilhabe (Baetke 1942; 1942a). Dagegen spricht für eine dritte Ansicht, dass in den altnordischen Quellen das Wort in eindeutig rechtsbezogener (profaner) Weise auftrete und den Anspruch auf Unantastbarkeit und Unverletzlichkeit, den ein 1

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Heil, Zweikampf, Todesstrafe, Ungerichte______________________________________________________

Heil. Es ist schwer, den Inhalt dieses dt. Wortes – das auch politisch instrumentalisiert wurde (zum Hitler-Gruß Schmitz-Berning 299 ff.; vgl. auch die Diskussion um das Königsheil) – vor der christlichen Färbung zu „heilig“ (dazu Dihle) zu erfassen, zumal die meisten (vor allem die altnordischen Quellen) aus christlicher Zeit stammen. Schon die Herkunft ist strittig (Ejerfeldt 325 f.). Neben der Wortgruppe „weihen“ verweist man meist aus * haila, dem die Bedeutung von „ganz, unversehrt, unverletzt, unverletzbar“ zugeordnet wird (Ejerfeldt 325 f.; Vries 336; See 137) und das vor allem im altnordischen „heilagr“ zu finden ist (mit den Ableitungen von „Mann-“, „Friedheiligkeit“). - Über das Weitere herrscht Streit. Eine erste (frühe) Auffassung zog die Verbindung zu den polynesischen Worten „mana“ und „tabu“ und dem irokesischen „orenda“ (vgl. Vries 276) und sah im Rahmen der Logik der „primitiven Religion“ (Grönbech 1971; vgl. Dux; vgl. auch Dingbedeutsamkeit) das H. als die magische Macht der Lebenskraft des Einzelnen (im Rahmen der Sippe), die seine Stellung in der Einheit von Leib, Seele und Geist einerseits, in der Ganzheit der natürlich-kosmischen Lebensordnung andererseits ausmache und von den anderen zu achten sei (Grönbech 1954,135 ff., 163 ff.; 1971, 23 ff. [zu diesem „magischen Ganzheitsrealismus“ vgl. Picard 22 ff.]; vgl. auch Vries 275 ff.; Rehfeldt; Schmidt-Wiegand). Eine zweite spätere Auffassung trennte die Lebenswelt in einen sakral-religiösen Bereich der Beziehung zu kultisch verehrten Mächten (Gottheiten) und einen profanen Bereich (zum Einfluss von Rudolf Otto und Nathan Söderblom vgl. Maier 166) und ordnete das H. ersterem (und damit der Religionsgeschichte) zu, wodurch der Begriff den Menschen (oder Gegenstand) meinen sollte, der unter dem Schutz der Gottheiten stehe und von sich aus Segen auf die profane Welt verbreite (Baetke 1942; 1942 a [ihm folgend Vries 336 ff.]; Hartmann). H. komme vor allem dem Menschen/ Gegenstand zu, der an der von den (von der Kultgemeinschaft verehrten) Gottheiten geschützten Friedensordnung teilhabe (Baetke 1942; 1942a). Dagegen spricht für eine dritte Ansicht, dass in den altnordischen Quellen das Wort in eindeutig rechtsbezogener (profaner) Weise auftrete und den Anspruch auf Unantastbarkeit und Unverletzlichkeit, den ein freier Mann von Natur aus besitze und mit ihm die lebenden und toten Dinge seines Interessenbereichs, meine (v.See 134). Deshalb lehnt diese Auffassung die sakral-religiöse Zuordnung ab, zumal die Germanen keine Rechtsgottheiten gekannt und verehrt hätten (v.See 103 ff.; vgl. Simek 108 ff., 130 ff.). Damit stellt „ironischerweise“ (so Picard 25) diese dritte Auffassung die Basis der ersten wieder her. - Sicher scheint nur, dass H. nur als Beziehung zu einem anderen (und nicht zur Rechtsgemeinschaft selbst) thematisiert wurde. So bedeutete auch die „Unheiligkeit“ nur, dass der Betroffene selbst oder seine Sache dem Zugriff eines anderen ausgesetzt war, ohne dagegen Rechtsschutz zu genießen (weshalb dieser andere keine Rechtsfolge zu tragen hatte) (v.See 135; ebenso in Abgrenzung von der Friedlosigkeit Baetke 1942a, 8; Heusler 113 ff.; Merker).

F. Pfister, Art. Heilig, HDA III, 1931, 1655-1668A. Erler, Art. Heil, HRG II, 1978, 41-43A. Dihle, Art. Heilig, RAC XIV, 1988, 1-63B. Maier, Art. heilig, RGA XIV, 1999, 165-167

P. Merker, Das Strafrecht der altisländischen Grágás, 1907A. Heusler, Das Strafrecht der Isländersagas, 1911W. Baetke, Das Heilige im Germanischen, 1942

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Page 2: Heil - EZUS · Web viewDie Schieds- und Ehrengerichtsordnungen von SS, SA und Wehrmacht sahen 1935 bzw. 1937 die Verpflichtung zur Verteidigung der "deutschen Ehre" zumindest der

H. Hartmann, `Heil´ und `heilig´ im nordischen Altertum. Eine wortkundliche Untersuchung, 1943W. Baetke, Der Begriff der `Unheiligkeit´ im altnordischen Recht, in: PBB 66, 1942a, 1-54W. Grönbech, Kultur und Religion der Germanen (1909-1912, dt.1937), 51954B. Rehfeldt, Recht, Religion und Moral bei den frühen Germanen, in: ZRG GA 71, 1954, 1-22J. de Vries, Altergermanische Religionsgeschichte I, ²1956K. v. See, Altnordische Rechtswörter, 1964L. Ejerfeldt, Germanische Religion, in: J. P. Asmussen/ u.a. (Hg.), Handbuch der Religionsgeschichte I, 1971, 277-342W. Grönbech, Primitive Religion I (1948), in: J. P. Asmussen/ u.a. (Hg.), Handbuch der Religionsgeschichte I, 1971, 11-54E. Picard, Germanisches Sakralkönigtum? 1991R. Schmidt-Wiegand, Spuren paganer Religiosität in frühmittelalterlichen Rechtsquellen, in: Germanische Religionsgeschichte. RGA-E Bd.5, 1992, 575-587C. Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, 1998R. Simek, Religion und Mythologie der Germanen, 2003G. Dux, Die Genese der Sakralität von Herrschaft. Zur Struktur religiösen Weltverständnisses, in: Das frühmittelalterliche Königtum. RGA-E Bd. 49, 2005, 9-21

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Zweikampf ist eine kämpferische Auseinandersetzung zweier oder mehrerer Personen, die

von unterschiedlichen Motiven zum Messen ihrer Kräfte angetrieben werden können - aus

Rache, Streben nach Herrschaft oder Beute oder Anerkennung, zur Entscheidung einer

Schlacht oder eines (Rechts-) Streites, zur Unterhaltung von Zuschauern - und die mit

unterschiedlichen Mitteln - Worten, Gesängen, Fäusten, Stöcken, tödlichen Waffen -kämpfen

können. Im Folgenden ist nicht einzugehen auf den Z. als Krieg - der allerdings auch durch

Stellvertreter oder durch die Heeresführer selbst entschieden werden konnte (zu dem

germanischen Brauch vgl. Tacitus, Germania cap.10; zu den Beispielen in den fränkischen

Chroniken vgl. Fries; zu den Fürstenzweikämpfen noch im SpätMA vgl. Goez) -, als

Schaukampf (vor allem als Ring- oder Faustkampf, bis heute als Sportereignis beliebt) und als

ritterliches Turnier (torneamentum) "ad ostentationem virium suarum" (wie in dem

kirchlichen Verbot des 3.Laterankonzils 1159 c.20 formuliert), schon gar nicht auf die

vielfältigen Formen des "unblutigen" Z.es (etwa als Sängerwettstreit oder als gegenseitige

Schmähreden). Auch nur hingewiesen werden kann auf die vielfältige Darstellung des Z.s in

der Kunst: in der religiösen Dichtung (z.B. Z. der Tugenden und Laster in der

"Psychomachia" des Prudentius, 4.Jh.; Z. von Christus gegen Satan um die Erlösung der

Menschheit [dazu Schwab 514]; apokalyptischer Z. zwischen Elias und dem Antichristen in

dem Gedicht "Muspilli" des 9.Jh. [dazu Kolb; Reiffenstein]), in der schönen Literatur (von

den ma. Epen [dazu Pfeffer, Baist, Albrecht, Bode, Klibansky, Strothmann, Kirchmeir, Fehr,

Linke, Harms, Kolb, Sieg, Reiffenstein, Erben, Jillings, Schnell, Monorchio, Frenzel, Schild

1995] bis hin zur Novelle "Der Z." von Kleist 1810 [dazu Schubert, Reuß], zum "Lohengrin"

Wagners 1848 [dazu van Veen] und zu den Werken des 20.Jhs. [dazu Meyers, Keiser]) oder

in der Fabelliteratur (z.B. Z. von Reineke Fuchs und Isegrim [dazu Klibansky, Subrenat]).

Doch darf nicht übersehen werden, daß diese Werke häufig an der historischen (freilich oft:

vergangenen) Realität auch des gerichtlichen Z.es orientiert waren und so eine wichtige

Quelle bezüglich seiner näheren Formalitäten darstellen können (vgl. Pfeffer). Im folgenden

ist somit der Z. nur in seinem spezifisch rechtlichen Bezug und näherhin in vier

unterschiedlichen Bedeutungen darzustellen, von denen drei den Z. vor Gericht betreffen.

Dabei ist anzumerken, daß dieser Z. zunächst als "pugna", "conflictus", "certamen

(singulare)" oder "monomachia" bezeichnet oder mit "campionem mercede conducere" oder

"in campum exire" umschrieben wurde; erst ab Ende des 10.Jhs. findet sich die Bezeichnung

als "duellum", die vorher nur für den Krieg gebraucht wurde (Deneffe; Hüpper-Dröge).

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Die erste Gestalt war nach überwiegender Ansicht (dazu Gal) der gerichtliche Z. als

Streitentscheidung, der an die Stelle der kriegerischen Auseinandersetzungen (Fehden) der

Sippen oder Gefolgschaften trat und deren strittig gewordenes Verhältnis öffentlich und

geleitet von der Autorität des Gerichts wiederherstellen sollte (Pappenheim, Schott,

Hattenhauer); es war durchaus möglich, daß mehrere Männer gegeneinander oder einer gegen

mehrere kämpfte(n). Hierauf beziehen sich wahrscheinlich auch die fränkischen Berichte

(z.B. Gregor von Tours [X 10]) über Anordnungen im königsgerichtlichen Verfahren, nach

denen Gefolgsleute des Königs vor allem wegen Verratsvorwürfen (infidelitas) miteinander

kämpfen mußten (dazu Gal). Das eigentliche Rechtsverfahren war dieser Z. selbst, gerichtlich

waren nur Ort und Zeit vorgegeben, manchmal der Gerichtsplatz selbst, aber auch ein eigener

Kampfplatz oder eine Insel; der Sieger hatte damit seine Rechtlichkeit (sein Im-Recht-Sein)

rechtskräftig erwiesen, der Verlierer hatte im Regelfall sein Recht (und konkret: das Leben)

verloren. Bei diesem Z. als Fehdeersatz ging es um die rechtliche Stellung im Ganzen der

Lebensordnung der Sippen oder Gefolgschaften und damit auch um die soziale Anerkennung

(was - entgegen der gängigen Auffassung ab dem 19.Jh. - mit dem neuzeitlichen Begriff der

"Ehre" nicht gleichgesetzt werden darf); grundlegend war ein leibliches Rechtsverständnis

(Schild 1994), das dem Stärkeren auch die stärkere Rechtsposition zuerkannte, wofür religiöse

Vorstellungen einer Unterstützung durch eine Gottheit wohl nicht herangezogen wurden (da

die Germanen keine dem christlichen Gott vergleichbare Rechtsgottheit kannten [v.See]),

auch wenn vielleicht ein Tieropfer gebracht wurde (Schwab 508) und magische Praktiken

verwendet wurden (die das langobardische Edictum Rothari 643 [368] und die Synode von

Neuching 772 ausdrücklich verboten). Erst nach der Christianisierung griff man zur

Legitimierung dieses Rechts des Stärkeren (wie auch in der Theologie des Krieges [vgl.

Cram]) auf die Vorstellung des Gottesurteils (Dei iudicium) zurück, erstmals in den Leges

Burgundionum Ende des 5.Jhs. (Tit. VIII,2), dann auch z.B. in dem langobarischen Edictum

Rothari (198), der Lex Baiwariorum (6.-8.Jh., Tit. II,1; XII,8) und der Lex Alamannorum (um

720, Tit. LXXXI) (Jordan 1908; zu den Regelungen in den übrigen Leges vgl. Hofmann 461,

476; Hüpper-Dröge; zum Fehlen eines entsprechenden Hinweises in der Lex Salica vgl.

Hüpper-Dröge 645): wie bereits im AT vom Bundgedanken her überliefert (vgl. Psalm 16, 8;

vgl. David gegen Goliath), verleihe der christliche Gott dem gerechten Kämpfer die Kraft

zum Sieg. Dies begründete im weiteren die Legitimation der Vertretung durch Stellvertreter,

anfangs sicherlich eines Verwandten oder Gefolgsmannes, später eines Berufskämpfers (-

Kempfe, - Lohnkämpfer) (dazu Schlichtegroll, Schaer, Hils). Auf diese Weise konnten selbst

abstrakte Rechtsprobleme durch Z. entschieden werden, wie 938 in Steele bei Essen durch

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Otto I. die Frage, ob Enkel des Erblassers nach Vorversterben ihres Vaters an dessen Stelle zu

Erben berufen oder ob an seiner Stelle seine Brüder erben sollten. Auch die Synode von

Burgos ließ 1077 in einem Z. zweier Ritter klären, ob in Spanien die mozarabische oder

römische Liturgie zu beobachten sei.

Doch war in diesen Fällen der Übergang zum gerichtlichen Z. als Beweismittel fließend; es ist

sogar anzunehmen, daß die vorhandenen Quellen diese zweite Form betrafen. Über das

Verhältnis von Z. als Streitentscheidung und als Beweismittel herrscht bis heute Unklarheit

(dazu Hattenhauer). Es liegt jedenfalls auf der Hand, daß mit Stärkung der Gerichtsgewalt

zunehmend der Z. verrechtlicht, damit zunächst formgebunden ausgestaltet und sicherlich als

Streitentscheidung zugunsten des Kompositionsverfahrens zurückgedrängt wurde. Doch

mußte noch lange Zeit in besonders aggressiven und/oder emotionalen Situationen ein

"wilder" Z. zugelassen werden. So konnte durch Wegreißen der Schwurhand ein Eid

gescholten oder ein Urteilsvorschlag bekämpft werden, was zu einem solchen unmittelbaren

Z. führte. Überhaupt konnte in den Fällen des "Kampfrechtes" ("Kampfklage") der Kläger

dem (freien) Verklagten - der später im Stande ebenbürtig sein mußte - im Ansatz die

Reinigungsmöglichkeit (durch Eid mit Eideshelfern) verlegen und ihn sofort zum Z.

herausfordern; der Ssp. gewährte dieses Recht (noch) jedem freien Mann, gegen den ein

Friedbruch begangen war; in anderen Rechten wurde auf den Charakter der vorgeworfenen

Tat als eines todeswürdigen Verbrechens (vor allem Mord und Totschlag - auch zusammen

mit der Notwehrbehauptung -, Verrat, Notzucht, Frauenraub, Raub, Brandstiftung) abgestellt

(Planck, Würdinger, v.Schwerin). Darüber hinaus durften nach dem Ssp. das Kampfrecht

ausüben der Verklagte, wenn er als verurteilter rechtloser Dieb oder Räuber sich gegen eine

neue Beschuldigung nicht mit seinem Eid zu wehren vermochte (Ldr I 39), und der

Verwandte, der den beschuldigten Toten mit Kampf vertreten wollte (dazu Buchda). In diesen

Fällen war die Qualität als Beweismittel offenkundig, da dieser rechtlose Dieb oder Räuber

sich auch durch das glühende Eisen oder den Kesselfang - also zwei anderen Gottesurteilen -

reinigen konnte. Im Rahmen des Beweismittels war der Sieg im Z. noch nicht das Ende des

gerichtlichen Verfahrens, sondern mußte noch von Richter und Urteilern auf seine

Rechtmäßigkeit hin überprüft und anerkannt werden, weshalb die Beendigung des Verfahrens

erst durch Urteilsspruch erfolgte. Dieses Endurteil war reines Prozeßurteil, sollte den

Ausgang des Beweisverfahrens klarstellen und der obsiegenden Partei ein Zeugnis hierüber an

die Hand geben (Werkmüller 382). Der unterlegene Verklagte wurde zu der Strafe verurteilt,

die für das vorgeworfene (und nun verifizierte) Delikt angedroht war; sie wurde auch an dem

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Leichnam vollzogen. Der unterlegene Kläger hatte zunächst nur dem Sieger eine Buße

(wegen Beleidigung) zu leisten; später wurde die lex talionis ("talio supplicii") auf ihn

angewendet, d.h. er wurde zu der Strafe verurteilt, die der Verklagte zu befürchten hatte

(Coulin 144). Es kam auch die Bestrafung durch Handverlust vor, da der Unterlegene

offensichtlich zuvor einen Meineid geschworen hatte (dazu Thümmel 31). Auch die

Anordnung des Z.es lag in der Kompetenz der Urteiler zum Beweisurteil; manchmal konnte

dieses Gericht von dem Kampfgericht unterschieden sein (Coulin 49). Es ist anzunehmen, daß

deshalb auch die näheren Formalitäten vom Richter vorgeschrieben und deren Einhaltung von

ihm überprüft wurden. Der Ssp. sah diesbezüglich detaillierte Regeln vor (Ldr I § 63).

Ausdrückliche Rituale für den Z. sind nicht überliefert; doch kann man den zeitgenössischen

französischen Epen (Pfeffer, Linke) im Zusammenhang mit den Rechtsquellen (Coulin) eine

feste Reihenfolge von Verfahrensschritten entnehmen: Anklage vor dem Gerichtshof der

Barone, Herausforderung und Annahme derselben, Bestellung eines Kampfespfandes,

(Beweis-) Urteil, Stellung von Geiseln oder Haft, u.U. Vorbereitung durch Fechtmeister,

Nachtwache der Kämpfer in der Kirche, morgendlicher Besuch der Messe, Sühneversuch,

beiderseitiger Kampfeid (oft vorher noch ein Eid in der Sache), Verkündigung des

Friedensbannes für den Kampfplatz, Kampf, Bestrafung des Besiegten, Hinrichtung oder

Freilassung der Geiseln. Als Beweismittel bedurfte es nur des Sieges im Z., nicht auch der

Tötung des Gegners. Oft sprechen die Quellen vor allem der Karolingerzeit von einem Z.

"cum scuto et fuste" (oder "baculo"), was auf eine Bewaffnung der Kämpfer nur mit Schild

und Kampfstock (Keule, Kolben, wohl auch Streitaxt) hindeutet (Nottarp 39; dazu Hüpper-

Dröge 647). Auch sonst ist anzunehmen, daß der Z. jederzeit vorzeitig abgebrochen werden

konnte: etwa durch Eingreifen des Richters (oft verbunden mit der Aufforderung zu einem

Vergleich); als besiegt galt auch, wer über die Schranke hinauswich, durch Verlust der

Waffen oder wegen Entkräftung nicht mehr kämpfen konnte oder wer sich besiegt erklärte;

schließlich beendete - soferne nicht anderes vereinbart wurde - auch der Einbruch der Nacht

den Z. (zugunsten des Herausgeforderten). - Als Beweismittel stand der Z. stets in

Konkurrenz zu den anderen Möglichkeiten der Beweisführung, mit dem Geständnis (so in den

Epen; dazu Schnell 1993), vor allem mit dem Eid (mit Eideshelfern), wobei freilich durch das

Schelten der Z. herbeigeführt werden konnte. Häufig (z.B. in der Lex Burgundionum, von

Otto I. 967 für Italien, von Burchard von Worms 1023/25 für seine Hofleute) wurde der Z.

zugelassen, um Meineide zu verhindern, und dies trotz erheblicher Bedenken an der

Tauglichkeit dieses Rechtes des Stärkeren. Schon der Langobardenkönig Luitprand bekannte

731 sein mangelndes Vertrauen in ein solches Gottesgericht, da erfahrungsgemäß nicht immer

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der Berechtigte siegen würde; doch gestatte die alte Sitte seines Volkes nicht, den Z.

abzuschaffen. Darüber hinaus stand dieser Charakter als Gottesurteil stets in Diskussion: es

gab Befürworter (Karl d.Gr., Ivo von Chartres, auch die Verfasser des Sachsenspiegels

[allerdings nur im Land-, nicht auch im Lehensrecht vorgesehen] und des Schwabenspiegels,

ebenso zahlreiche Dichter), aber auch Gegner, die zusätzlich zu den allgemeinen Argumenten

gegen Gottesurteile (tentatio Dei, Unerforschlichkeit der Ratschlüsse Gottes, Widerspruch

zum Jüngsten Gericht) auch Beispiele offensichtlich unrichtigen Ausganges brachten und

darin (vergleichbar den römischen Gladiatorenkämpfen) einen Verstoß gegen das

Tötungsverbot sahen (der Gotenkönig Theoderich d.Gr., Erzbischof Avitus von Vienne [um

500), vor allem Agobard von Lyon 817 gegenüber Ludwig dem Frommen, 3.Synode von

Valence 855, Papst Nikolaus I. 867 gegenüber Lothar II., Papst Alexander II. 1063).

Schließlich bildete sich in der Kirche die Ablehnung des gerichtl. Z.es heraus, anfangs nur in

kirchlichen Streitsachen (so Regino von Prüm [892-915], ähnlich Burchard von Worms), dann

überhaupt (dazu vgl. Hofmann, Schwentner); in der Kreuzprobe und im Kerzenordal,

manchmal auch in der gegenseitigen Eisenprobe versuchten Konzile (z.B. 758/68 von

Verberie, 779 Reichskonzil von Herstal unter Karl d.Gr.) und Könige (vor allem Ludwig der

Fromme) einen nicht erfolgreichen Ersatz. Das 4. Laterankonzil unter Innozenz III. verbot

1215 (unter Ausdehnung früherer Vorschriften gegen ritterliche Turniere [dazu Dilcher])

endgültig den gerichtl. Z. (1243 durch Gregor IX. in die Dekretalen aufgenommen), wofür

vielleicht die Rezeption des römischen Rechtes - das keinen Z. vorsah - in den Rechtsschulen

von Paris und Bologna von Bedeutung war (so Baldwin); konsequent wurden von Gregor IX.

die anderslautenden Bestimmungen des Ssp. verboten (dazu Hugelmann). Statt dessen wurde

der Zeugenbeweis bevorzugt. Die weltlichen Herrscher übernahmen dieses Verbot teils aus

religiöser Überzeugung - so z.B. 1258 Ludwig IX. von Frankreich (zur weiteren Geschichte

der franz. Regelungen vgl. Pfeffer, Coulin, Linke, Jordan) -, teils aus Streben nach zentraler

Macht (z.B. ebenfalls in Frankreich gerichtet gegen die Ritter und Barone, die sich durch

Austragung des Z.es dem Urteilsspruch des Königs entziehen wollten); Friedrich II. verwarf

1231 in den Konstitutionen von Melfi für Sizilien den Z. als unvernünftigen Aberglauben mit

rationalen Argumenten (dazu Conrad, Dilcher). Weitere Verbote des Z.es sahen z.B. ein

Reichsschluß Rudolfs von Habsburg 1290 und das Rechtsbuch des Frankenspiegels ("Kleines

Kaiserrecht") um 1300 vor. Auch die Städte lehnten den Z. ab und trachteten nach

entsprechenden Privilegien: wohl nicht primär aus bürgerlicher Rationalität, sondern wegen

der damit verbundenen langen Zeitdauer (für die Vorbereitung der die Bürger vertretenden

Kämpfer) und aus dem Bestreben, sich so der Rechtsgewalt des Stadtherrn als des für Z.

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vorgesehenen Gerichtsherrn zu entziehen (dazu Bartlett, Schnell 1993). - Insgesamt allerdings

ist darauf hinzuweisen, daß in der gerichtl. Praxis nur äußerst selten ein Z. angeordnet und

durchgeführt wurde, meist nur bei widersprechenden Beweisen oder bei Beweisnot (vgl.

Werkmüller). Zudem wurde manchmal der Z. nur der Gegenseite angedroht, die dann meist

auf ihr Anliegen verzichtete. Auch sonst blieb selbst bei den Anhängern dieses Beweismittels

eine gewisse Skepsis bestehen, die sich in den vielfältigen Versuchen der Herstellung von

Chancengleichheit (paradigmatisch etwa der Ssp) zeigte, was eigentlich vom Charakter als

Gottesurteil her nicht zu begründen war (was bereits Petrus Cantor um 1190 erkannte).

Bemerkenswert sind diesbezüglich die Vorschriften für den Z. von Mann und Frau, wie sie

ein Zusatz zur Lex Baiuvariorum, das Augsburger Stadtrecht 1276/81, das Freisinger

Rechtsbuch 1328, das Landrechtsbuch Kaiser Ludwigs 1346 (dazu Osenbrüggen 236), die

Erläuterungen zu Lausanner Bischofsgesetzen (um 1380), das großgeraner Landgerichtsbuch

1420 (dazu Zimmermann 279) und das Würzburger Brückengericht (um 1450) enthielten

(Minkowski, Nottarp 294 ff.) und die das jüngste der drei Fechtbücher des Hansen Thalhofer

von 1467 illustriert (dazu Schlichtegroll, Fehr 1923): Die Frau ist danach eindeutig in ihrer

Bewegungsfreiheit gegenüber dem in einer tiefen Grube stehenden Mann bevorzugt. Ob

solche Geschlechterkämpfe tatsächlich stattgefunden haben, ist höchst fraglich; 1381

jedenfalls wurde die Kampfklage einer Bauerntochter gegen ihren ritterlichen Vergewaltiger

in Würzburg abgelehnt. Die Spiezer Chronik des 15. Jhs. von Diebold Schilling berichtet

allerdings von dem Sieg einer Frau 1288 in Bern; in der Dichtung wird Gleiches erzählt (so

"Apollonius von Tyrland" des Heinrich von Neustadt [um 1300], "Herpin" der Elisabeth von

Nassau-Saarbrücken [um 1330/40]) (dazu Frenzel).

Nach dem allmählichen Verschwinden des Z.es als eines Beweismittels zunächst im Zivil-,

dann auch im Strafverfahren blieb eine dritte Form des gerichtl. Z.es bestehen bzw. bildete

sich zur ersten Form zurück: als Z. unter Aufsicht des Gerichts(herrn) (unter öffentlicher

Aufsicht [so die Bezeichnung bei Zimmermann 283]). Anlaß war im Regelfall eine

Ehrbeleidigung eines Ritters, eines angesehenen Bürgers oder Bauerns, auf die der Verletzte

vor eigenen (auch städtischen, auf Privileg gegründeten) "Kampfgerichten" mit der

Aufforderung zum Z. reagierte. Eigene Ordnungen dieses Kampfrechtes erhielten - durch den

Gerichtsherrn wohl aufgrund eines Reichsschlusses 1271 von Rudolf von Habsburg (Nottarp

306) - etwa Nürnberg (1410), Würzburg (1512; abgedruckt bei Nottarp 307) und Schwäbisch-

Hall (1544). Im Regelfall erbat der "Forderer" (oder "Kläger") für den Z. vom Magistrat

"Platz und Schirm", was nach dreimaligem Versöhnungsversuch bewilligt wurde. Die Stadt

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stellte einen eingehegten Kampfplatz zur Verfügung, für jeden Kämpfer eine Hütte, daneben

Totenbahre, Kreuz und Totentücher; die Tore wurden geschlossen, Frieden ausgerufen; und

der öffentliche Z. vor Zuschauern (unter der Aufsicht des Gerichts[herrn]) konnte beginnen.

Auch hier war Vertretung durch Kempen möglich, doch gab es ausgebildete Fechtmeister, die

die Parteien vorbereiteten (Fehr 1908; Hils). Im Regelfall endete der Z. mit dem Tod einer der

Parteien. Im 16.Jh. verschwand diese Form des Z.es allmählich.

Übrigblieb (oder entstand neu) der außergerichtliche Z., der sich jedenfalls in einer neuen

Gestalt in den Söldnerheeren unter spanisch-französischem Einfluß ab dem 16.Jh.

herauszubilden begann und als - Duell im eigentlichen Sinne bezeichnet wird (dazu

umfassend Frevert). Maßgebend war nun nicht mehr der Sieg in einem Z., sondern die

Tatsache, daß sich beide Gegner wegen einer Beleidigung oder Kränkung einem vielleicht

tödlichen Kampf stellten und auf diese Weise zu erkennen gaben, daß sie ihre "Ehre" als

Adelige, aber auch als Bürger, selbst als Bauer höher schätzten als ihr Leben; freilich war im

Regelfall Ebenbürtigkeit vorausgesetzt. Man konnte sich in unmittelbarer und

unangekündigter Attacke duellieren, spontan ein bewaffnetes Zusammentreffen durchführen

(als "Rencontre") oder einen Z. sorgfältig einfädeln und mit Sekundanten durchführen. Das

17.Jh. war der Höhepunkt einer ausgeprägten "Duellwut". Die Herrschaftsinstanzen reagierten

bald. Die Kirche verbot im Tridentinum 1563 jedes Duell, sah die Exkommunikation der

Kämpfenden vor und behandelte den Sieger als Mörder und den Unterliegenden als

Selbstmörder. Der Staat versuchte zunächst durch Feldordnungen das "Balgen" der Soldaten

einzuschränken (dazu v.Bonin) und erließ dann eigene "Duellmandate" - erstmals 1572

Sächsische Konstitutionen des Kurfürsten August, am bedeutendsten 1668 ein Reichsschluß

über Duelle und Ehrenhändel (der aber wohl niemals publiziert wurde und dessen Rechtskraft

daher strittig blieb) - ; und kriminalisierte so diesen Z. selbst (dazu Maurer, Levi) und bereits

die Vorbereitungshandlungen dazu (vor allem das Herausfordern oder "Ausheischen", wie es

in bäuerlichen Gegenden üblich war), die freilich dadurch in die Heimlichkeit getrieben

wurden. Vor allem die Aufklärung bekämpfte diese (Un-) Sitte, selbst in der Form der

studentischen Mensuren (dazu Volkmann, Panne). Andererseits erwartete sich der Staat von

seinen Offizieren, daß sie ihre Ehre mit der Waffe verteidigten, was zu widersprüchlichen

Einschätzungen des Duells führen mußte (wie sie sich selbst in den Ausführungen Kants in

der "Metaphysik der Sitten" [Rechtslehre II.1 E] 1797 zum "Kriegsgesellenmord

[commilitonicidium]" finden), die erst durch die Einrichtung der militärischen - Ehrengerichte

beseitigt wurden. Im Rahmen der Kodifikationsbemühungen des 19.Jhs. wurde heftig um die

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Strafwürdigkeit des Duells gestritten, wobei manche eine Kontinuität zum Z. in germanischer

Zeit um eine besondere "germanische Ehre" herstellen wollten. §§ 201-210 RStGB 1871 sah

für ein eigenes Z.verbrechen nur Festungshaft vor, was die Diskussion noch in der Weimarer

Republik lebendig hielt, zumal das Reichsgericht auch die studentischen Mensuren darunter

subsumierte. Die NSDAP trat bereits 1930 für deren Straflosigkeit ein, was Mai 1933 auch

Gesetz wurde. Allgemein brachte das NS-Regime dem Z. viel Sympathie entgegen, da dieser

im deutschen Volkstum sittlich verwurzelt sei (so Kerrl); zudem entsprach er dem irrationalen

Männlichkeitskult und Blutmythos der Parteiideologen (dazu Fritsche, Frevert 256). Die

Schieds- und Ehrengerichtsordnungen von SS, SA und Wehrmacht sahen 1935 bzw. 1937 die

Verpflichtung zur Verteidigung der "deutschen Ehre" zumindest der Höhergestellten

(Offiziere) bei schweren Kränkungen vor. Mit Herannahen des Krieges änderte sich

schlagartig die Einschätzung: nun müsse der Einzelne hinter die Gemeinschaft zurücktreten

und dürfe sein Blut nicht vergeuden. Nach 1945 verlor der Z. das Interesse der öffentlichen

Diskussion. 1969 wurde der strafrechtliche Tatbestand aufgehoben, wodurch nun die

allgemeinen Vorschriften über Körperverletzung und Tötung eingreifen. Straflos sollen aber -

nachdem das Kontrollratsgesetz 1946 die 1933 verfügte Straffreiheit zunächst aufgehoben

hatte - die studentischen Mensuren (als sportliche Veranstaltung) sein (BGHSt 4, 24).

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Schild, „Todesstrafe“, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde

Todesstrafe. In der 1. Aufl. (37) vertrat v. Schwerin die These, dass die T.n der germanischen Zeit als sakrale Kultakte (nämlich: Opfer an die Götter, die die Missetat direkt oder indirekt [da gegen die Gesamtheit gerichtet] beleidigt hätte) mit rituellen Vorbereitungshandlungen vom Priester vollzogen worden seien; das Christentum habe die T.n ihres sakralen Charakters entkleidet, wodurch sie als schwerste weltliche, zum Teil aber auch ablösbare Strafen fortgelebt hätten (37, 328 f.; vgl. auch 291 f. [auch zum Privatstrafrecht]). Dieser Artikel verkürzte freilich die berühmte, weitaus differenziertere Theorie des Juristen K. v. Amira (bereits 1876, dann monographisch 1922 [1]), die zwar diesen Charakter der öffentlichen T.n herausstellte, daneben aber auch ein profanes System des allgemeinen Strafrechts (das bei gemeinen Friedensbrüchen die Vollstreckung der Friedlosigkeit gewesen sei) (1, 4, 23 ff.) und ein nicht-öffentliches (und daher nicht rechtlich näher geregeltes) Privatstrafrecht (Sippen-, Ehe-, Racherecht [Auslieferung an den Beleidigten zur Genugtuung]) (1, 7 ff., 36) anerkannte. Die sakrale T.n beschränkte v. Amira auf Friedensbrüche, die zugleich schimpfliche „Neidingswerke“ eines deshalb als entartet angesehenen Missetäters dargestellt hätten (Mord, Diebstahl und Notzucht, ferner Mordbrand, Verrat, Heeresflucht, Päderastie, Hexerei, Kultverbrechen [auch Leichenplünderung]) (1, 4, 44 ff.). In diesen Fällen sei nicht (nur negativ) die Friedlosigkeit, sondern positiv über den Missetäter eine bestimmte, ritualisiert zu vollziehende Tötung (und sogar eine Misshandlung von dessen Leichnam [als Bestrafung der Seele]) angeordnet worden (1, 30). In dem reichen rechtsarchäologischen Material der mittelalterlichen (selbst christlichen) Quellen sah v. Amira ein Weiterleben alter Rechtsbräuche und schloss daher auf die germanische Frühzeit zurück (1, 6 f.) (zum noch früheren, „primitiven“ Strafrecht einer ungeordneten Volksjustiz vgl.1, 7); doch seien dann durch die arbiträre Strafgewalt des Königs (1, 41) und (vor allem) durch die Verchristlichung die altüberkommenen germanischen Formen überlagert, verändert und schließlich durch rein weltliche, für symbolische Zwecke (einer Talion) eingesetzte T.s ersetzt worden. Hinter diesen germanischen kultischen Tötungen sah er den unbewußten „Trieb zur Reinhaltung der Rasse“ durch „Ausmerzen der Entarteten“ (1, 67, 85), wie es auch im privaten Sippenrecht, selbst im Tierreich zu finden sei. Dieser Trieb sei im Verlaufe einer „Ethisierung der Gottesidee“ (auch bei den Griechen und Römern) mit der Vorstellung der „Forderung der Gottheit, dass die von ihr stammende Rasse rein gehalten werde“, vereinigt worden (1, 233); danach werde deren Zorn (über die Entartung) über das Volk (die Rechtsgemeinschaft) kommen, wenn diese nicht den Entarteten an sie ausliefere (1, 233), weshalb die Tötung und die Darbringung des Getöteten Opfer gewesen seien: des Gehängten an den Windgott Wodan, des Geräderten an einen Sonnengott, des abgeschlagenen Kopfes an den Kampfgott Tiwaz, anderer Missetäter auch z.B. an Wasser-, Feuer-, Sumpfgottheiten, an Dämonen, Geister, selbst an die Baumseele (1, 213). Darüber hinaus sei durch die Tötung (und Vernichtung) die Gefahr der Infektion anderer bzw. des Volkes insgesamt durch die Entartung beseitigt, die Gesellschaft also gereinigt worden, weshalb die T. auch Katharsis gewesen sei (vergleichbar [anderen] zauberischen Handlungen) (1, 234). Nicht erklären konnte v. Amira den genaueren Grund der Zuordnung z.B. des geräderten Mörders (und nicht auch des gehängten Diebes) gerade an den Sonnengott (1, 235, 219).

Diese differenzierte Theorie v. Amiras lebte nur reduziert als Strafopfertheorie weiter; sie wurde von vielen übernommen (z.B. 13, 72 [zugleich als Heilzauber]; 20, 179; 44), blieb aber auch nicht unwidersprochen (z.B. 22; 26; 39; 40; 43). Sie wurde 1942 (29; dazu 3; ähnlich auch 39) von dem Juristen B. Rehfeldt an der Frage, ob die T. bei den Germanen zu der Zeit ihres Kontaktes mit dem Christentum Opfer gewesen sei, überprüft und am Schicksal der missionierenden Märtyrer (d.h. der Frevler an den Göttern) eindeutig falsifiziert. Rehfeldt wies auf die Bedeutung des Christentums und des von diesem geprägten römischen Rechts für

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die Verbreitung der T.n aufgrund des alttestamentlichen Talionsprinzips (mit Ausnahme des Diebstahls) bereits für in den Volksrechten und dann im Königsrecht hin (29, 80 ff.) und lehnte das Konzept von ursprünglichen Neidingswerken ab (29, 84 ff.). Schließlich betonte er die Schwierigkeiten v. Amiras, hinter den unterschiedlichen T.n jeweils eine dafür geeignete Gottheit zu finden, da die Germanen keine sittlich erhabenen, sondern bloß mächtige Götter (und Geister) gekannt hätten; wenn überhaupt, könnten die Ahnen (als die Wächter des alten Rechts) als Empfänger eines Strafopfers in Betracht gekommen sein; zudem habe bei den Germanen der Priesterstand gefehlt (29, 90 ff.). Rehfeldt legte den Schwerpunkt zur Erklärung der irrationalen Motive (noch im ma. Strafvollzug) und der Formähnlichkeit zu Opfern (29, 104) auf Zaubervorstellungen, die auch nach der Christianisierung weitergelebt hätten, ersetzte also die sakrale durch eine magische Theorie (29,117, 125). Auf die These der Reinhaltung der Rasse ging er nicht ein (29, 165 Fn.1), sondern stellte mehrere konkurrierende Vorstellungen heraus, die einheitlich der Unschädlichmachung des die Ordnung der Welt bedrohenden, gefährlichen und unheimlichen Missetäters gedient hätten (29, 166): zur Abwendung von Naturunheil als Wiedergutmachungszauber (z.B. Rädern), zur Auslöschung der Tat als Reinigungszauber (z.B. Verbrennen), zur Austilgung des Täters und Verhinderung seines Wiedergehens als Abwehrzauber (z.B. Pfählen). Darüber hinaus (und außerhalb der magischen Formen [vgl. 29,167]) führte Rehfeldt das Hängen der Diebe im Anschluß an O. Höfler, L. Weiser-Aall und A. Erler auf eine Entwicklung aus dem Initiationsriten des rituellen Hängens im Zusammenhang mit dem sakralen Stehlrecht der Männerbünde (das durch den Dieb missbraucht worden sei) zurück (29, 145 ff.). Das Enthaupten sah er als spiegelnde Strafe (orientiert an der analog-symbolischen Talion) an. Schließlich anerkannte er einige sonstige T.n als Abarten alter Formen zu Abschreckungszwecken (z.B. Vierteilen) und reine Abschreckungsformen (z.B. Eiserne Jungfrau) (29,155 ff., 167).

1982 (10) lehnte der Religionswissenschaftler H.-P. Hasenfratz die Strafopfertheorie v. Amiras vollinhaltlich ab, da sie zwar richtig an dem sakralen Charakter jedes archaischen Daseinsverständnisses angesetzt, aber diese Einheit bereits durch die Gegenüberstellung von sakralem und profanem Strafrecht aufgegeben habe (60). In der Sache der öffentlichen T.n (zu den Privatstrafen vgl. 11, 57 f.) sei es weder möglich, bei jeder todeswürdigen Tat eine beleidigte und beleidigungsfähige Gottheit zu finden, noch einen Verbrecher als taugliches Opfer anzusehen, noch (und vor allem) die einzelne bestimmte T. als Opfer an eine Gottheit zu qualifizieren (10, 60 ff.); es bestehe der Verdacht, dass diese Theorie ihre Ideen unbewusst aus christlichem Brunnen geschöpft und auf nichtchristliche Sachverhalte projiziert habe (10, 68). Auch die Erklärung des Hängens des Diebes durch Rehfeldt lehnte Hasenfratz – bei grundsätzlicher Anerkennung der Initiationsriten der Männerbünde und des sakralen Stehlrechts (11, 51 ff., 62 f., 66 f.) - ab (10, 29). Er ordnete die öffentliche T. dem Phänomen des „sozialen Todes“ zu, dass nämlich in archaischen Gesellschaften nicht nur die Toten als in einer anderen Seinsweise weiterlebend (vgl. 12), sondern auch bestimmte Menschen zu ihren Lebzeiten als Tote gelten, d.h. kultisch als außerhalb jedes Lebens qualifiziert und behandelt, genauer: mißhandelt würden, was vor allem für den Normüberschreiter gelte. Der archaische Mensch (10, 4 ff.) erlebe nämlich die Normensphäre gewissermaßen als den „sozialen“ Aspekt der allgemeinen, allumfassenden kosmischen Wirklichkeit (als des Bereiches, innerhalb dessen Menschsein überhaupt erst möglich sei); und ihm könne Überschreiten einer Norm mit Herausfallen aus dieser kosmischen Wirklichkeit (als der Lebenswelt) in den Bereich des Chaos (als der Un-Welt des Todes, zu der Wald, Wüste, Berg, Meer, Moor einerseits, Feuer, Wasser, Luft [Wind] andererseits gehörten [10, 14 ff.]) identisch werden (10, 13). Von daher sah Hasenfratz in der T. als der formellen Exekution eines Delinquenten (wie auch in der Verbannung des Friedlosen [10, 41 ff.]) die Ausstoßung des Normüberschreiters als des Un-Menschen (des feindlichen Un-Geheuers) (10, 13) aus der

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kosmischen „Ordnungswelt“ in den akosmischen, un-lebendigen Totenbereich des Chaos: sie sei ein „Akt der heiligen Gemeinschaft, denjenigen, der sich durch seine Un-Tat als Vertreter der Un-Welt qualifizierte, förmlich dem akosmischen Bereich zu überantworten“ (10, 69), was nicht ausschließe, dass die Gemeinschaft die Überantwortung auch einer Gottheit (oder einer andern [noch nicht sittlich vorgestellten] „Mächtigkeit“) anheim stellen könne, deren Ordnungsdomäne der Un-Täter deliktisch verletzt habe; die jeweilige Form der Tötung bestimme sich oft nach der Art des deliktischen Verhaltens (als „spiegelnde Strafe“) oder nach dem Charakter der beleidigten Gottheit bzw. Mächtigkeit, besonders aber nach dem Wunsch der Gemeinschaft, dem Exterminierten – als einem akosmischen Toten – durch Verunglimpfung und Verstümmelung (noch des Leichnams [12, 45 ff.]) die Aufnahme in die ordentliche Welt der weiter in der Gemeinschaft lebenden Toten (11, 70 ff.) und die schadenstiftende Wiedergängerei zu verunmöglichen (10, 69; 11, 70; 12, 172 ff.).

In der modernen Strafrechtsgeschichte finden diese drei Theorien zwar einige Anhänger (zur Sakralopfertheorie 30, 8 [anders 31]; 2, 32 [für Hängen]; 13, 66 [zugleich als Heilzauber]; zur Magietheorie 4; 8; 13, 72 [zugleich als Sakralstrafe]; 26; 36; 42; ähnlich 39; 45, 27; zu den Initiationsriten beim Hängen 9; 30, 7; 38; zur Theorie von Hasenfratz 34, 1029 ff.), manchmal werden sie nebeneinander gestellt (2, 33; 5, 51; 13, 72); das Problem aber wird nicht mehr behandelt, da die Quellenlage zu schlecht sei (7, 103; 31, 4; allgemein 21). Diese Angst vor unhaltbaren Spekulationen, verbunden mit dem schlechten Beispiel der früheren Fehldeutungen (zu Wilda 41, 219 ff.; zur Eisernen Jungfrau 35; zum NS 27, 78 ff.), führt auch dazu, die früher vertretene These von den ersten T.n gegenüber Unfreien (16; 28; 36, 27) nicht mehr zu diskutieren (vgl. aber 17; 18). Zusätzlich wird das terminologische Problem gesehen, ob man für die frühe Zeit überhaupt von „Straf“recht oder nur von „Sanktionen-“ bzw. „Repressionen“recht sprechen sollte (51, 12; zum Sippenstrafrecht 19). Die Diskussion konzentriert sich auf das Frühmittelalter, in dem es zu Tötungen als Sanktionen gekommen sei, die aus rationalem (Herrschafts-) Kalkül in römisch-antiker Tradition, stark beeinflusst von der christlichen Kirche (Zorn Gottes, Talion) verhängt worden seien (6; 24; 32, 39 ff., 550; 46; 47; 48; bezüglich Unfreien 25).

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Arch.f. Religionswissenschaft 28, 1930, 166-182. (21) K. Kroeschell, Germanisches Recht als Forschungsproblem, Festschr. H. Thieme, 1986, 3-19. (22) E. Mayer, Die Entstehung der germanischen T.n, GS 89, 1924, 353-396. (23) A. Montenbruck, Religiöse Wurzeln des säkularen Strafens und Zivilisation der Aggression, in: Festschr. U. Weber, 2004, 193-214. (24) H. Nehlsen, Der Grabfrevel in den germ. Rechtsaufzeichnungen.- zugleich ein Beitr.zur Diskussion um T. und Friedlosigkeit bei den Germ., in: H. Jankuhn u.a (Hrsg.), Zum Grabfrevel in vor- und frühgeschichtl. Zeit, 1978, 107-168. (25) Ders., Entstehung des öffentlichen Strafrechts bei den germ. Stämmen, in: Gerichtslauben-Vorträge (Festschr. H. Thieme), 1983, 3-16. (26) M. Pappenheim, Besprechung von: Amira, Die germanischen T.n, Zeitschr. für deutsche Philologie 50, 1926, 443-455. (27) W. Pohl, Die Germanen, 2000. (28) G. Radbruch, Der Ursprung des Strafrechts aus dem Stande der Unfreien, in: Ders., Elegantiae iuris Criminalis, ²1950, 1-12. (29) B. Rehfeldt, T.n und Bekehrungsgeschichte. Zur Rechts- und Religionsgeschichte der germanischen Hinrichtungsbräuche, 1942. (30) H. Rüping Grundriß der Strafrechtsgeschichte, ³1998. (31) Ders./ G. Jerouschek, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 42002. (32) G. Scheibelreiter, Die barbarische Gesellschaft, 1999. (33) W. Schild, Strafe, Strafrecht, in: Lex. des MAs 6, 1997, 198-201. (34) Ders., Missetäter und Wolf, in: Wirkungen europäischer Rechtskultur (Festschr. K. Kroeschell), 1997, 999-1031. (35) Ders., Die Eiserne Jungfrau. Dichtung und Wahrheit, 1999. (36) E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, ³1964. (37) C. v. Schwerin, Strafe, T., in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 4, 1918/19, 291-293, 328-329. (38) R.Stegbauer, Der Dieb dem Galgen, Diss. Erlangen-Nürnberg 1965. (39) F. Ström, On the Sacral Origin of the Germanic Death Penalties, 1942. (40) K.W. Struve, Die Moorleiche von Dätgen. Ein Diskussionsbeitrag zur Strafopfertheorie, Offa 24, 1967, 33-76. (41) S. Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte, 2000. (42) F. Sturm, Symbolische T.n, 1962. (43) U. Stutz, Bespr. von: Amira, Die germ. T.n, ZRG-GA 43, 1922, 334-343.. (44) J. de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte I, 1956. (45) E. Wadle, Die Entstehung der öffentlichen Strafe – Klassische Vorstellungen und neue Fragen -, in: H. Jung u.a. (Hrsg.), Perspektiven der Strafrechtsentwicklung, 1996, 9-30. (46) H.M. Weikmann, Hoheitliche Strafbestimmungen als Instrument fränkischer Eroberungs- und Missionspolitik, in: J. Weitzel (Hrsg.), Hoheitliches Strafen in der Spätantike und im frühen Mittelalter, 2002, 153-174. (47) L. Weiser-Aall, Zur Geschichte der altgermanischen T. und Friedlosigkeit, Arch. f. Religionswissenschaft 30, 1933, 209-xx. (48) J. Weitzel, Strafe und Strafverfahren in der MZ, ZRG GA 111, 1994, 66-147. (49) Ders., Vorverständnisse und Eckpunkte in der Diskussion um ein frühma-frk. Strafrecht, in: Festschr. G. Kleinheyer, 2001, 539-567. (50) Ders., T., in: Lex. des MAs 8, 1997, 836-838. (51) Ders., Begriff und Gegenstand des frühmittelalterlichen Sanktionenrechts, in: Recht als Erbe und Aufgabe (Festschr. H. Holzhauer), 2005, 11-18.

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„Ungerichte“ oder „Verbrechen“Mutmaßungen zur Rechtswelt des Sachsenspiegels

Im 13. Kapitel des zweiten Buches des Landrechts des Sachsenspiegels wendet sich Eike von Repgow an die LeserInnen - „Nun vernehmt“ - und teilt uns mit, dass nach einem Verfahren vor dem Landgericht des Grafen Diebe gehängt, Mörder und die, die einen Pflug rauben oder eine Mühle oder eine Kirche oder einen Friedhof berauben, Verräter, Mordbrenner und die, die ihre Vollmacht zum eigenen Nutzen missbrauchen, gerädert, (andere) Räuber, Brandstifter, Vergewaltiger (von Frauen und Jungfrauen) (als Friedensbrecher) und handhafte Ehebrecher enthauptet, überführte Ketzer, Zauberer und Giftmischer auf dem Scheiterhaufen verbrannt, Hehler wie die Diebe und Räuber und rechtsverweigernde Richter wie diejenigen, über die sie nicht richten, bestraft werden sollen.

Diese Ausführungen erinnern auf den ersten Blick in der Struktur durchaus an heutige Strafgesetzbücher: in der Nennung der Straftat – hier allerdings als Tätertyp genannt - und der Strafe, die dafür verhängt werden darf und soll. Inhaltlich hat sich freilich manches verändert: Ehebruch, Ketzerei und Zauberei sind heute nicht mehr strafbar, die Talionsbestimmung für den Richter ist durch eigene Tatbestände (z.B. Rechtsbeugung) ersetzt, auch kennen moderne Strafgesetze die Todesstrafe nicht, usw. Aber auch bezüglich der Struktur zeigt ein zweiter und genauerer Blick erhebliche Unterschiede. So ordnet z.B. Eike die einzelnen Straftaten nach der dafür vorgesehenen Strafart (Hängen, Enthaupten, usw.) und nicht wie heute nach den Rechtsgütern, die durch die jeweilige Strafbestimmung geschützt werden sollen (also Delikte gegen das Leben, gegen die körperliche Unversehrtheit, gegen das Vermögen, usw.): so als ob die Sanktion und deren Zulässigkeit im Vordergrund stehen würden und nicht die Tat oder der Täter selbst. Auch fällt die Platzierung ein und derselben Straftat auf: der Dieb soll nach II 13 § 1 – also nach unserer bereits zitierten Stelle - bei Begehung am Tag und bei einem Beutewert unter drei Schillingen (nur) zu Haut und Haar gestraft, erst bei schwerem Diebstahl gehängt werden; daneben nennt II 39 § 1 den Korndiebstahl, der - ohne Wertgrenze - bei nächtlicher Begehung ebenfalls mit Hängen, bei Begehung am Tage aber mit Enthauptung bestraft werden soll; auch II 28 § 3 kennt einen Diebstahl, nämlich den von gemähtem Gras oder geschlagenem Holz, der bei nächtlicher Begehung mit dem Galgen, bei Begehung am Tage an Haut und Haar bestraft werden soll. Auch hier scheint zu gelten: es interessiert nicht so sehr der (allgemeine) Tatbestand des Diebstahls oder der Tätertyp des Diebes, sondern die rechtliche Möglichkeit, in bestimmten Situationen einen Menschen strafen zu dürfen, weshalb der Spiegler den Korn- und Gras/Holzdiebstahl im Rahmen der Erörterung der vielfältigen Rechtsverhältnisse an Korn, Gras und Holz erwähnt: als ein rechtliches Phänomen neben den anderen (nicht strafrechtlichen).

Hier interessiert aber etwas Allgemeines – auch wenn unter II.c auf diese angesprochene Frage nochmals kurz eingegangen werden wird -, nämlich die sprachliche Kennzeichnung dieser vor dem Landgericht abzustrafenden Taten (bzw. Täter). Eike schrieb sein Rechtsbuch in einem Mittelniederdeutsch elbostfälischer Prägung, das südlichen (d.h. mitteldeutschen) Neuerungen gegenüber bereits geöffnet gewesen ist; die Originalfassung ist nicht erhalten, die bisherigen Versuche der Rekonstruktion des Urtextes sind nicht unproblematisch1. Die als

1 Vgl. dazu Bettina Fentzke, Die Sachsenspiegel-Forschung, in: Karl Kroeschell/ Albrecht Cordes (Hg.), Funktion und Form. Quellen- und Methodenprobleme der mittelalterlichen Rechtsgeschichte. Berlin 1996, S.117- 133; Karl Kroeschell, Der Sachsenspiegel in neuem Licht, in: Ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht. Berlin 1995, S.457-469; Ders., Der Sachsenspiegel als Land- und Lehnrechtsbuch,in: Ruth Schmidt-

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Einstieg zitierten Sätze werden meist in folgendem Wortlaut überliefert: „Nu uor nemt umme vngerichte welch gerichte dar ubir get“. Eike bezeichnet also diese gerichtlich abzustrafenden Taten als „ungerichte“, mit einem Wort, das sonst aus anderen Gebieten und Zeiten nicht bekannt ist2. Welches Wort Eike dafür im lateinischen Urtext verwendet hat, wissen wir nicht; vielleicht hat er das lateinische „crimina“ gebraucht. Dieses Wort „ungerichte“ 3 taucht im Sachsenspiegel an 40 (bzw. 48) Artikeln des Landrechts und je einmal in drei Artikel des Lehnsrechts auf.

Manche Übersetzer4 halten an diesem originalen „ungerichte“ fest5: z.B. Carl Gustav Homeyer 1835, Paul Kaller 20026; andere wiederum – z.B. Karl August Eckhardt 19667, Hans Christoph Hirsch 19368, Ruth Schmidt-Wiegand 19849, 199310, Werner Peters/ Wolfgang Wallbraun 199511; Jörn Weinert 200612 - wählen dafür das Wort „Verbrechen“13. Werner Peters und Friedrich Scheele geben 1993 in ihrem Glossar der Rechtswörter „ungerichte“ mit

Wiegand (Hg.), Der Oldenburger Sachsenspiegel. Faksimile-Ausgabe. Textband. Graz 1995, S.13-22; Heiner Lück, Zum Charakter und Inhalt des Sachsenspiegels sowie seiner Bedeutung für die Rechts- und Kulturgeschichte, in: Ders. (Hg.), Eike von Repgow: Sachsenspiegel. Faksimile-Ausgabe der Dredsner Bilderhandschrift. Textband. Graz 2006, S.15-20, hier 18; Friedrich Scheele, di sal man alle radebrechen. Todeswürdige Delikte und ihre Bestrafung in Text und Bild der Codices picturati des Sachsenspiegels I. Oldenburg 1992, S.21 ff.; Ruth Schmidt-Wiegand, Der Sachsenspiegel. Überlieferungs- und Editionsprobleme, in: Dies./ D. Hüpper (Hsg.), Der Sachsenspiegel als Buch. Frankfurt a. M. 1991, S.19-56.2 Außer im Schwabenspiegel. Zum Ganzen vgl. Hans Hirsch, Die Hohe Gerichtsbarkeit. Prag 1922, S.13; Rudolf His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters I. Berlin/ München 1920, S.37 f., 45 Fn.7; Horst Haider Munske, Der germanische Rechtswortschatz im Bereich der Missetaten. Berlin/ New York 1973, S.225; Takeshi Ishikawa, Das Gericht im Sachsenspiegel, in: Wirkungen europäischer Rechtskultur. Festschrift für Karl Kroeschell. München 1997, S.441-465, hier 464; Scheele, radebrechen (wie Anm.1), S.74; Viktor Friese, Das Strafrecht des Sachsenspiegels. Breslau 1898, S.30.3 Zum Wort vgl. Ishikawa, Gericht (wie Anm.2), S.463 ff.; zum Problem vgl. Dieter Meurer, "Verbrechen", in: HRG V, Sp.668-670; Wolfgang Schild, "Kriminalität", in: LexMA V, Sp.1533-1534; Ders., Verbrechen und Strafe im Mittelalter, in: Günter Gehl/ Mathilde Reichertz (Hg.), Leben im Mittelalter I. Weimar 1996, S.95-120.4 Allgemein zum Problem der Übersetzung vgl. Herbert Grundmann, Übersetzungsprobleme im Spätmittelalter, in: ZfdPh 70 ,1947/48, S.113-145; Hans Hattenhauer, Zum Übersetzungsproblem im hohen Mittelalter, in: ZRG-GA 81 ,1964, S.341-358; Philipp Heck, Übersetzungsprobleme im frühen Mittelalter. Tübingen 1931; Ekkehard Kaufmann, Deutsches Recht. Die Grundlagen. Berlin 1984, S.170 ff.; Gabriele von Olberg, Übersetzungsprobleme beim Umgang mit mittelalterlichen Rechtstexten, in: ZRG-GA 110, 1993, S.406-457.5 Vgl. das Glossarium in: Paul Kaller, Der Sachsenspiegel. München 2002, S.160. Kaller erwähnt noch Hildebrand/ Weiske 1877 und Sachße 1848, die ebenfalls mit „ungerichte“ übersetzt hätten.6 In seiner Übersetzung: vgl. Kaller, Sachsenspiegel (Anm.5), S.66. Doch die Überschrift heißt: „Strafen für verschiedene Verbrechen“.7 Vgl. Karl August Eckhardt (Hg.), Sachsenspiegel. Quedlinburger Handschrift. 2. Bearbeitung. Hannover 1966.8 Vgl. Eike von Repgow, Der Sachsenspiegel (Landrecht). In unsere heutige Muttersprache übertragen und dem deutschen Volk erklärt von Hans Christoph Hirsch. Berlin/ Leipzig 1936, S.178: in der Überschrift steht „Verbrechen“, der Text bringt „missetaten“.9 In ihrer Übersetzung in: Clausdieter Schott (Hg.), Eike von Repgow, Der Sachsenspiegel. Zürich 1984, S.106.10 In: Ruth Schmidt-Wiegand (Hg.), Eike von Repgow: Sachsenspiegel. Textband der Faksimile-Ausgabe der Wolfenbütteleler Bilderhandschrift. Berlin 1993, S.171.11 In: Schmidt-Wiegand, Oldenburger Sachsenspiegel (wie Anm.1), S.149.12 In: Lück, Textband (wie Anm.1), S.130.13 Vgl. das Glossarium in: Kaller, Sachsenspiegel (wie Anm.5), S.160. Auch mit „Missetat“ übersetzen Hildebrand/Weiske 1877, Sachße 1848, Schmidt-Wiegand 1984 (vgl. Kaller [wie Anm.5] S.156).

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„Verbrechen, Vergehen, Unrecht“ wieder14. Auch sonst sprechen die meisten Autoren, wenn sie diese Taten darstellen, von „Verbrechen“15.

Im folgenden soll versucht werden, diese Übersetzung mit „Verbrechen“ als zumindest unglücklich und missverständlich aufzuweisen: nicht (nur) aus dem Grund, weil dieses Wort zur Zeit von Eike noch gar nicht bekannt war16 (was freilich nicht zufällig so ist); sondern weil es vom Wortsinn her für das Phänomen, das Eike mit „ungerichte“ kennzeichnet, nicht passt. Deshalb möchte ich den Sprachsinn17 dieses Wortes „Verbrechen“ untersuchen, was trotz aller historischen Sorgfalt spekulativ bleiben muss; weshalb es um „Mutmaßungen“ geht. Vorgeschlagen wird als Ergebnis, bei dem Originalwort „Ungerichte“ zu bleiben, um den Unterschied der Rechtswelt Eikes – in der von einem „Verbrechen“ nicht die Rede sein konnte - zu unserem heutigen Recht deutlich zu machen, auch weil dadurch die Fremdheit dieses früheren Weltbildes offenbar wird.

Gewidmet sind diese Ausführungen dem verehrten Jubilar, in der Hoffnung, dass sie seinem strengen und methodisch sicheren Blick nicht missfallen mögen; verbunden mit den besten Wünschen für die Zukunft.

I. „Verbrechen“ als „Brechen der (Rechts-) Ordnung“

Zunächst soll der Sprachsinn von „Verbrechen“ herausgestellt werden, der dann (unter II.) an die Rechtswelt des Sachsenspiegels herangetragen werden soll.

Das „Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache“ von Friedrich Kluge und Alfred Götze leitet dieses Wort vom mittelhochdeutschen „verbrechen“ ab, das seit jeher auf ein Brechen von Recht und Rechtsfrieden eingeengt gewesen sei; das Neutrum als solches sei erst spätmittelhochdeutsch, während der mittelhochdeutsche „verbrecher“ schon seit 1280 begegne18. Kluge/ Götze verweisen auf die „Deutschen Rechtsaltertümer“ von Jakob Grimm, in denen „Verbrechen“ mit „infractio, violatio legis“ in Verbindung gebracht wird; doch sei – so Grimm19 – diese Benennung für die älteste Zeit ungenügend, „da das gesetz nicht sowohl die unerlaubte handlung verbot, als für den fall ihres eintritts eine gerichtlich forderbare buße verfügte“. „Im mittelalter brauchte man ungerichte [ ... ], unfride für verbrechen und friedensbruch.“ Dieter Meurer sieht einen synonymen Gebrauch des Wortes „Verbrechen“ mit dem heutigen „zerbrechen“, weshalb der Wortsinn auf einen „Bruch der rechtlichen Ordnung“ hinweise20.

14 In: Ruth Schmidt-Wiegand (Hg.), Wolfenbütteler Bilderhandschrift des Sachsenspiegels. Kommentarband. Berlin 1993, S.249-326, hier 309.15 So z.B. Takeshi Ishikawa, Die innere Struktur des mittelalterlichen Rechts. Das Beispiel des Sachsenspiegels, in: Kroeschell/ Cordes (wie Anm.1), S.135-152; Ders., Gericht (wie Anm.2); Scheele, radebrechen (Anm.1), S.74. – Friese, Strafrecht (wie Anm.2) verwendet durchgängig das Wort „Missetat“.16 Nach dem „Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache“ von Friedrich Kluge/ Alfred Götze (Berlin 1948, S.648; Berlin/ New York 2002, S.950) ist das Wort als Neutrum erst spätmittelhochdeutsch; das Wort „der Verbrecher“ begegnet schon seit 1280, aber ebenfalls erst lange nach der Entstehung des Sachsenspiegels (zwischen 1220 und 1235). 17 Auf das schwierige Problem der „Begriffsgeschichte“ ist hier nicht einzugehen; aus der Diskussion vgl. nur. Karl Kroeschell, Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte des Mittelalters, in: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung. Berlin 1983, S.47-77, hier 66 ff.; Hans Kurt Schulze, Mediaevistik und Begriffsgeschichte, in: Festschrift für Helmut Beumann. Sigmaringen 1977, S.388-40518 Vgl. Kluge/ Götze, Wörterbuch (wie Anm.16).19 Vgl. Jacob Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer II. Darmstadt 1974 (ursprünglich 1899), Nr.623, 624 (S.176 f.).20 Vgl. Meurer, Verbrechen (wie Anm.3), Sp.668.

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Es bietet sich daher an, das „Verbrechen“ mit dem „Brechen der (Rechts-) Ordnung“ (oder ihrem „Zerbrechen“) zu umschreiben. Zu fragen ist, ob dieses Verständnis mit der Welt des Rechts – wie sie Eike in seinem Sachsenspiegel darstellt – vereinbar ist.

II. Das Fehlen einer zu brechenden (Rechts-) Ordnung im Sachsenspiegel

Zu fragen ist demnach, ob wir im Sachsenspiegel (Rechts-) Ordnungen finden, die durch eine Tat „gebrochen“ oder „zerbrochen“ werden könnten. Dafür gibt es auf den ersten Blick vier Kandidaten, die aber ein zweiter genauerer Blick ausscheiden muss.

1. Brechen der staatlich (durch-) gesetzten Ordnung

Nur kurz ist auf die Rechtsordnung hinzuweisen, die nach modernem Verständnis durch eine Tat gebrochen werden könnte, die sich dadurch als „Verbrechen“ erweisen würde: nämlich die von der staatlichen Macht gesetzte und durchgesetzte Ordnung, wie sie der Rechtspositivismus gedacht hat (und denkt bis heute). Darauf braucht aber in diesem Rahmen nicht eingegangen zu werden. Denn es ist unstrittig, dass es einen solchen Staat zu Zeiten Eikes nicht gegeben hat21.

Doch ist zumindest anzumerken, dass der moderne juristische Begriff des „Verbrechens“ – im Unterschied zu den bloßen „Vergehen“ (die lediglich ein Ver-Gehen, ein Verlaufen oder Verirren in der rechtlichen Ordnung bedeuten22) und „Übertretungen“ (die nur die Grenze des an sich anerkannten Gebots überschreiten) - vor diesem rechtspositivistischen Hintergrund in der klassischen Strafrechtswissenschaft entfaltet worden ist. Danach ist derjenige, der ein solches Verbrechen begeht, ein Feind der staatlichen Ordnung, ein Staatsfeind, der deshalb von den staatlichen Organen bekämpft, also verfolgt und ausgeschaltet werden muss, weil ihm die Kraft zuerkannt wird, diese Ordnung wirklich zu (zer)brechen; was deshalb möglich ist, weil sie künstlich ist, eben durch die staatliche Macht gesetzt wird. Strafjustiz ist in dieser Dimension immer verbunden mit der „polizey“, der es um die Sicherung der gelebten Ordnung vor Gefahren geht; Strafrecht und Strafe werden zu einem Mittel der Gefahrenabwehr und Prävention. Der Strafrechtswissenschaft kommt dann die wichtige Aufgabe zu, die rechtlichen Grenzen eines solchen „Feindstrafrechts“ zu begründen und diese kritisch der Staatsmacht gegenüber einzubringen, was freilich nur gelingen kann, wenn sie nicht selbst einen Rechtspositivismus vertritt.

Allerdings muss auch angemerkt werden, dass der moderne Staat im 20. Jahrhundert eine Machtposition erreicht hat, die von Verbrechern nicht (mehr) in Frage gestellt werden kann; die Zeit von Schillers „Räubern“ ist lange vorbei. Deshalb kennt die Strafrechtswissenschaft kein „Verbrechen“ mehr, sondern spricht von „Straftat“, die auch nicht mehr die Ordnung bricht, sondern die staatlichen Strafgesetze „erfüllt“ (unter die das Verhalten des Betreffenden subsumiert werden kann)23. Die Einteilung in „Verbrechen“ und „Vergehen“ in § 12 StGB hat keine substantielle Bedeutung mehr; die nun zu „Ordnungswidrigkeiten“ (und damit zu „Polizeistrafrecht“) gewordenen „Übertretungen“ können qualitativ nicht mehr von den Straftaten unterschieden werden, wie auch nicht mehr die Sanktionen von „Strafe“ und

21 Vgl. nur Gerhard Dilcher , Die Zwangsgewalt und der Rechtsbegriff vorstaatlicher Ordnungen im Mittelalter, in: Albrecht Cordes/ Bernd Kannowski (Hg.), Rechtsbegriffe im Mittelalter. Frankfurt a.M. 2002, S.111-153, hier 113; Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. München 1999. – Zum sprachlichen Problem vgl. Schulze, Mediävestik (wie Anm.17), S.397 f.22 Vgl. Meurer, Verbrechen (wie Anm.3), Sp.668.23 Dazu noch immer lesenswert: Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens. Berlin 1934, S.18.

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„Geldbuße“ (für diese Ordnungswidrigkeiten) (von der Abgrenzung zum Schadenersatzrecht überhaupt abgesehen).

Die Ereignisse seit dem 11.9.2001 scheinen freilich diese Machtposition in Frage zu stellen. Die Diskussion um „Feindstrafrecht“ und damit wieder von wirklichen „Verbrechen“ wird sicherlich eröffnet (werden).

2. Brechen der (Rechts-) Ordnung Gottes

Näher liegt die Möglichkeit, die Rechtswelt des Sachsenspiegels mit der Schöpfungsordnung des Gottes in Verbindung zu bringen, eines Gottes, der nach der berühmten Wendung – die Eike nicht erfunden hat24 - im Prosaprolog „selve recht“ (oder „sulven recht“, „selber rech“, „selven regt“) ist, weshalb ihm „recht lip“ (oder „rech lip“, „regt lef“) ist25. Zu fragen ist, ob dieser rechtliche, von Recht her gedachte Gott als Gründer oder Garant einer Rechtsordnung vorgestellt ist, die durch Diebe, Räuber, Ehebrecher, Ketzer usw. „gebrochen“ wird bzw. werden kann.

a) Eike von Repgow und die Theologie:

Zu Beginn sei als Einstieg die Frage nach der theologischen Bildung des Verfassers selbst gestellt. So weit wir heute wissen, war Eike kein ausgebildeter Theologie, der eine systematische Rechtstheologie entwickelt hätte (oder hätte entwickeln können); er war wohl auch kein Geistlicher26. Aber er war jedenfalls auch nicht ein ungebildeter Ritter. Es ist anzunehmen, dass er an der Domschule des Magdeburger Erzstiftes oder in Halle oder vielleicht sogar an der angesehenen Schule am Dom zu Halberstadt ausgebildet wurde. Jedenfalls beherrschte er (auch) das Lateinische in Wort und Schrift. Doch war er sicherlich kein studierter oder sonst ausgebildeter Jurist, sondern eben ein in den damaligen Lehrinhalten gebildeter Laie.

Ein Vergleich mit dem Bildungsweg, den man für Eikes Zeitgenossen Hartmann von Aue rekonstruieren kann, lässt erkennen, dass ein Schüler neben Lesen und Schreiben Unterricht in den sieben freien Künsten (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik) und auch in den "leges" (d.h. im kanonischen Recht) erhielt27. Jedenfalls konnte Eike eine scholastische Quaestio schreiben, wie am Beispiel seiner Darlegung der (Un-) Freiheit der Menschen aufgezeigt werden kann28. Selbstverständlich

24 So Winfried Trusen, Gutes altes Recht und consuetudo - Aus den Anfängen der Rechtsquellenlehre im Mittelalter, in: Recht und Staat. Festschrift für Günther Küchenhoff. Berlin 1972, S.189-204, hier 193 f.25 Dazu vgl. Alexander Ignor, Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes von Repgow. Paderborn 1984, S.134 f.; Ishikawa, Gericht (wie Anm.2), S.442; Brigitte Janz, Rechtssprichwörter im Sachsenspiegel. Frankfurt a. M. 1989, 344 ff.; Rolf Schäfer, Christliches Bildungsgut im Oldenburger Sachsenspiegel, in: Egbert Koolman/ u.a. (Hg.), Beiträge und Katalog zu den Ausstellungen Bilderhandschriften des Sachsenspiegels - Niederdeutsche Sachsenspiegel. Oldenburg 1995, S.87-102, hier 90 ff.; Trusen, Recht (wie Anm.24), S.193 f26 So aber Sten Gagnér, Sachsenspiegel und Speculum ecclesiae, in: Niederdeutsche Mitteilungen 3, 1947, S.82-103, hier 103.27 Vgl. Ignor, Rechtsdenken (wie Anm.25), S.202 ff.28 Vgl. Werner Peters, Bezeichnungen und Funktionen des Fronboten in den mittelniederdeutschen Rechtsquellen. Münster 1991, S.57. - Zu dieser Quaestio vgl. Herbert Kolb, Über den Ursprung der Unfreiheit. Eine Quaestio im Sachsenspiegel, in: ZfdA 103, 1974, S.289-311; Clausdieter Schott, Der Sachsenspiegel als mittelalterliches Rechtsbuch, in: R. Schmidt-Wiegand (Hrsg.), Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift des Sachsenspiegels.

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kannte er auch die Bibel, zumindest in der Gestalt der Vulgata29, und einige theologische Traktate; genannt werden als beeinflussende Autoren vor allem Honorius Augustodunensis und Isidor von Sevilla30. „Eike war also literatus, aber trotz der kanonistischen Zitate kein gelehrter Jurist"31. Was aber im übrigen nicht viel heißen will: denn es gab zu seiner Zeit überhaupt noch keine wissenschaftliche Juristenausbildung, daher auch noch keine fachspezifische Juristensprache - auch wenn es "Spezialisten" des Rechts gab32 -, sondern eine stark mit der Volkssprache (auch vor Gericht) verbundene Rechtssprache, deren Inhalte ebenfalls in den lateinisch geschriebenen moraltheologischen Traktaten aufgearbeitet war. Rechtslehre war (noch) Teil der alles Praktische (den freien Willen und seine Verwirklichung) erfassenden Moraltheologie.

Jedenfalls hat Eike sich bei dieser Kennzeichnung des christlichen Gottes als „recht“ etwas gedacht. Aber es ist nicht leicht, diese Gedanken herauszubringen.

b) Der rechtliche Gott und sein Bund mit den Christenmenschen:

Blicken wir zunächst auf die Übersetzungen dieser Stelle, die allerdings nicht einheitlich sind. Ruth Schmidt-Wiegand übersetzte 1984: „Gott selbst ist Recht. Darum ist ihm das Recht so teuer“33, dann 1993: „Gott ist selber Recht, deshalb ist ihm Recht lieb“34; Werner Peters/Wolfgang Wallbraun35, Paul Kaller36 und Jörn Weinert37 meinen: „Gott ist selber Recht, deshalb ist ihm Recht lieb“. Takeshi Ishikawa tritt dafür ein, das Wort „recht“ nicht für ein Substantiv, sondern für ein Adjektiv zu halten, und schlägt vor: „Gott ist selber gerecht. Deshalb ist ihm das Recht lieb“38; doch bleibt offen, wie sich dieses „gerecht“ und dieses „Recht“ zueinander verhalten.

Es ist für das Verständnis lohnend, die unmittelbar vorangehenden und sich anschließenden Sätze zu lesen. In der Übersetzung von Paul Kaller heißt es: „Vom Recht soll niemanden abbringen weder Liebe noch Leid noch Zorn noch Gabe. Gott ist selber Recht. Deswegen ist ihm Recht lieb. Darum sollen sich alle diejenigen vorsehen, denen Gericht von Gottes wegen

Kommentarband zur Faksimile-Ausgabe. Berlin 1993, S.25-42, hier 34.29 Vgl. Gagnér, Sachsenspiegel (wie Anm.26), S.82 ff.; Ignor, Rechtsdenken (wie Anm.25), S.198 ff.; Guido Kisch, Sachsenspiegel and Bible. Notré Dame (Indiana) 1941; Hans Rost, Die Bibel im Mittelalter. Augsburg 1939, S.293.30 Vgl. Ulrich Drescher, Geistliche Denkformen in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels. Frankfurt a. M. 1989, S.50 ff.; Ders., Geistliche Denkformen und ihre Wiedergabe in der Oldenburger Bilderhandschrift, in: Niedersächsische Sparkassenstiftung (Hrsg.), Die Oldenburger Bilderhandschrift des Sachsenspiegels. Oldenburg 1993, S.23 ff.; Fentzke, Sachsenspiegel-Forschung (wie Anm.1), S.122; Gagnér, Sachsenspiegel (wie Anm.26), S.88 ff.; Kisch, Sachsenspiegel (wie Anm.29), S.89 ff.; Schäfer, Bildungsgut (wie Anm.25), S.87 ff.; Roderich Schmidt, Studien über Eike von Repgow und den Sachsenspiegel. (Masch. Diss.) Greifswald 1951.31 So Peter Johanek, Rechtsschrifttum, in: Ingeborg Glier (Hg.), Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. III/2. München 1987, S.396-431, hier 404.32 Dazu v. Olberg, Übersetzungsprobleme (wie Anm. 4), S.426, 456.33 In der von C. Schott herausgegebenen Ausgabe 1984 (wie Anm.9), S.29.34 Im Textband der Faksimilie-Ausgabe der Wolfenbütteler Bilderhandschrift (1993) (wie Anm.10), S.93.35 Im Textband der Faksimilie-Ausgabe der Oldenburger Bilderhandschrift (1995) (wie Anm.1), S.7436 Kaller, Sachsenspiegel (wie Anm.5), S.17 (nur mit einem Punkt statt dem Komma und „deswegen“ statt „deshalb“).37 Im Textband der Faksimile-Ausgabe der Dresdner Bilderhandschrift 2006 (wie Anm.1), S.45 (nur „darum“ statt „deshalb“).38 Vgl. Ishikawa, Struktur (wie Anm.15), S.140.

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anbefohlen ist, dass sie so richten, dass Gottes Zorn und sein Gericht gnädig über sie ergehen kann“39. Für Ishikawa ist der Bezug eindeutig und offensichtlich: nämlich dass dieses „Recht, das Gott dem Gerechten lieb ist“ nichts anderes sei als „das Gericht, wodurch Gott seinen Zorn und Gericht ergehen lässt. Wer die Menschen richten kann, ist eigentlich nur Gott. Aber er ist nicht in der Lage, in dieser Welt selber die Menschen zu richten. Deshalb hat Gott einigen Personen die Gerichtsbarkeit anvertraut. Diese Gerichtsbarkeit ist eben das Recht, das Gott dem Gerechten lieb ist“40. Deshalb – so folgert Ishikawa – gehe Eike von einem „Recht, das seinen Ursprung in Gott hat“, aus41, womit aber (nur) diese Gerichtsgewalt gemeint sei, die nach der Zweischwerterlehre dem Kaiser und dem Papst übergeben worden sei. Daher würden unmittelbar die Ausführungen über die Gerichtsorganisation anschließen. Freilich bleibt – so ist kritisch zu fragen - offen, wie die von Gott eingesetzten Richter nun richten sollen, damit sie Gottes Gericht bestehen können.

Dazu findet sich ein Hinweis in dem weiteren Text des Prosaprologes, in dem Eike auf die Schöpfungsgeschichte hinweist: auf das Paradies und auf den Sündenfall, der bewirkt habe, dass die Menschen irrend (wie hirtenlose Schafe) durch die Welt gegangen seien; „bis zu der Zeit, da er [WS: Gott] uns erlöste durch seinen Martertod. Nun aber, da wir bekehrt sind und uns Gott wieder geladen [angenommen] hat, nun halten wir sein Gesetz und sein Gebot, das uns seine Propheten gelehrt haben und gute geistliche Leute und auch christliche Könige gesetzt haben: Constantin und Karl, auf den noch (heute] das Sachsenland sein Recht zurückführt“42. Im (überlieferten) Original stehen für „sein Gesetz und sein Gebot“ - manchmal auch übersetzt als das göttliche „Recht und Gebot“43 oder als "sein Gesetz und seine Gebote"44 oder als "göttliche Ordnung"45 - die Worte „syne e unde sin bot“ (oder „sine e vnde sin gebot“). Eine ähnliche Formulierung findet sich in der Reimvorrede in den Zeilen 136 und 137: „went he brikt der e bot/ Swe so recht verkeret“, die Ruth Schmidt-Wiegand übersetzt als: „Denn wer das Recht verdreht, bricht den Bund mit Gott“46; Paul Kaller schreibt: „Denn der bricht des Bunds Gebot, der das Recht verkehrt“47.

Dieses Wort „e“ hängt mit den althochdeutschen Worten „ewa“, „euua“, „ea“ zusammen, die meist mit „Gesetz“, „Bund“, „Band“48 übersetzt werden. Dabei stellen die Wörterbücher49 auf 39 Vgl. Kaller, Sachsenspiegel (wie Anm.5), S.17.40 So Ishikawa, Struktur (wie Anm.15), S.141.41 So Ishikawa, Struktur (wie Anm.15), S.140 (Überschrift). – In diesem Sinne findet sich eine Formulierung in dem holländischen Sachsenspiegel aus dem 15. Jh.: „Gott ist im Anfang allen Rechts“ (zitiert in: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Rechtsbegriff in seiner geschichtlichen Entwicklung. Aufriss eines Problems, in: Archiv für Begriffsgeschichte 12, 1968, S.145-165, hier 147).42 Kaller, Sachsenspiegel (wie Anm.5), S.17. Von „Gesetz und Gebot“ sprechen auch z.B. R. Schmidt-Wiegand in ihrer Übersetzung 1984 (wie Anm.33), S.30; Dies. in ihrer Übersetzung 1993 (wie Anm.34), S.93; W. Peters/ W. Wallbraun in ihrer Übersetzung 1995 (wie Anm.35), S.75.43 Z.B. J. Weinert in seiner Übersetzung 2006 (wie Anm.37), S.44.44 So Schott, Sachsenspiegel als mittelalterliches Rechtsbuch (wie Anm.28), S.30.45 So Ignor, Rechtsdenken (wie Anm.25), S.169 ff., 185.46 In ihrer Übersetzung in der Sachsenspiegel-Ausgabe von C. Schott 1984 (wie Anm.9), S.17.47 Vgl. Kaller, Sachsenspiegel (wie Anm.5), S.12.48 Vgl. Jacob Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer I. Darmstadt 1974 (ursprünglich Berlin 1899), S.578 (Nr.417), der auch auf die lateinischen Worte „lex“, „vindiculum“, „testamentum“ hinweist.49 Vgl. Eberhard Gottlieb Graff, Althochdeutscher Sprachschatz oder Wörterbuch der althochdeutschen Sprache I. Hildesheim 1963 (ursprünglich 1834), Sp. 505 ff.; Gerhard Köbler, Wörterbuch des althochdeutschen Sprachschatzes. Paderborn 1993, S.237; August Lübben, Mittelniederdeutsches Handwörterbuch. Darmstadt 1965, S.107; Jochen Splett, Althochdeutsches Wörterbuch I/1. Berlin 1993, S.191 ff.; Rudolf Grosse (Hg.), Althochdeutsches Wörterbuch III. Berlin(Ost) 1971-1985, Sp.446 ff. – Vgl. auch Hans Eggers, Deutsche Sprachgeschichte I. Reinbek 1963, S.124 f.; Josef Weisweiler, Bedeutungsgeschichte, Linguistik und Philologie. Geschichte des ahd. Wortes euua, in: Stand und Aufgaben der Sprachwissenschaft. Festschrift für Wilhelm Streitberg. Heidelberg 1924, S.419-462; H. Wesche, Beiträge zu einer geschichte des deutschen heidentums, in:

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den Zusammenhang von rechtlicher und religiöser Sprache ab, weshalb Rechtsbrauch, Recht, Recht und Gesetz ebenso gemeint sei wie Kultbrauch, Religion; Glaube, Recht und Sitte seien untrennbar vereint. Was Eike wohl zum Ausdruck bringen wollte, ist dieses Verhältnis der Christenmenschen zu Gott, das ein Bund ist – weshalb „e“ auch für das Alte und das Neue Testament stand (und im übrigen seit dem 11. Jh. auch für den Bund der „Ehe“ verwendet wurde) - , ein Bund, der rechtlich und damit mit Geboten verbunden gedacht wird, nicht nur mit dem Dekalog des Alten Testamentes, sondern auch mit dem Gebot der Gottes- und Nächstenliebe des Neuen Testamentes; ein rechtliches Verhältnis, das deshalb von Gott auch am Jüngsten Tag gerichtet werden kann und werden wird, in einem Gericht, das dieses Verhältnis klärt und für ewig festhält.

In der Reimvorrede heißt es in Z.139 und 140 – in der Übersetzung durch Ruth Schmidt-Wiegand - weiter: „Gott selber hat uns gelehrt, dass wir alle Recht sind und Unrecht uns missfalle“. Damit wird klar, dass Christenmenschen dem Gebot der Gottesliebe folgen sollen, was bedeutet: der Liebe zu dem rechtlichen, gerechten, das Recht/ Gerechte liebenden Gott, weshalb sie auch selbst das Recht lieben sollen50. Man kann auch sagen: sie sollen rechtlich handeln: gegenüber Gott in Befolgung seiner Gebote, aber auch gegenüber dem Nächsten, wie es die beiden, miteinander verbundenen Liebesgebote des Neuen Bundes aufgeben (und weshalb der Nächste ebenfalls „Recht“ ist, also rechtlich zu behandeln ist). Wer unrechtlich handelt, verletzt nicht nur den Nächsten (als dieses Recht), sondern auch (und vor allem) den das Recht liebenden Gott, der darüber richten wird am Jüngsten Tag und der für die Verhältnisse auf Erden die Gerichtsbarkeit an König und Papst übertragen hat. Diese Gerichtsbarkeit ist im Sinne Gottes auszuführen: in Liebe zur Gerechtigkeit und in Anerkennung des Rechtes des Nächsten.

„Recht“ ist daher – wie bereits oben von Ishikawa herausgestellt – bei Eike mit „Gericht“ verbunden51, deshalb, weil damit immer ein Handeln gemeint ist: das rechtliche Handeln, das im Urteilen (und Recht-Sprechen) erfolgt. Es geht aber über das Gerichtshandeln hinaus, weil es alles Handeln gegenüber Gott und dem Nächsten umfasst; und das das Unrecht meidet, weil der Handelnde das Rechte/ das Richtige/ das Gottgewollte/ das dem Menschen als „Recht“ Zukommende liebt (und deshalb Gott auf Erden nachfolgt). Die berühmten Worte des Prosaprologes sind daher vielleicht angemessen zu übersetzen mit: „Gott ist selbst rechtlich“, was meint: er handelt mit den Menschen rechtlich: nicht nur am Jüngsten Gericht, sondern auch (und auf Erden ausschließlich) durch den Einsatz der Gerichtsherren König und Papst.

Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 61 (1937) S.1-116, hier 12 -23. – Aus rechtshistorischer Sicht vgl. Böckenförde, Rechtsbegriff (wie Anm.41), S.150 ff.; Dilcher, Zwangsgewalt (wie Anm.21), S.153; Rolf Grawert, „Gesetz“, in: Geschichtliche Grundbegriffe II. Stuttgart 1975, S.863-922, hier 868; Gerhard Köbler, Das Recht im frühen Mittelalter. Köln 1971, S.107 ff., 186 ff.; Karl Kroeschell, Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert, in: Probleme des 12. Jahrhunderts. Stuttgart 1968, S. 309-335, hier 321 ff., 329; Ders., Verfassungsgeschichte (wie Anm.17) S.76; Ruth Schmidt-Wiegand, Der Rechtswortschatz, in: Dies., Wolfenbütteler Sachsenspiegel. Kommentarband (wie Anm.14), S.219-232, hier 228; Jürgen Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht II. Köln 1985, S.1364 ff. 50 Zur Formel „iusticiam amare“ vgl. Kroeschell, Recht (wie Anm.49), S.319.51 So Ishikawa, Struktur (wie Anm.15), S.141 ff.; Ders., Gericht (wie Anm.2), S.441-465; Bernd Kannowski, Rechtsbegriffe im Mittelalter. Stand der Diskussion, in: Albrecht Cordes/ Bernd Kannowski (Hg.), Rechtsbegriffe im Mittelalter. Frankfurt a. M. 2002, S.1-28, hier 5 ff.; Kroeschell, Recht (wie Anm.49), S.317; Karin Nehlsen-von Stryk, Prozessuales und materielles Rechtsdenken im Sachsenspiegel, in: Festschrift für Sten Gagnér. Ebelsbach 1996, S.33-71. - Vgl. allgemein auch Wilhelm Ebel, Recht und Form. Vom Stilwandel im deutschen Recht. Tübingen 1975; Heiner Lück, „Recht“, in: ²RGA 24, 2003, S.209-224, hier 209 f.

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Nicht aber ist Gott mit einem Recht als Rechtsordnung gleichzusetzen. Er ist der Grund für jede rechtliche Ordnung; aber sie zu setzen und zu begründen, ist Aufgabe der Christenmenschen, die dies durch ihr rechtliches Handeln durchführen können. Besteht eine solche Ordnung, dann ist sie die Ordnung der Menschen; wird sie durch eine Tat „gebrochen“, dann ist dieses Verbrechen gegen die menschliche Ordnung gerichtet. Sie trifft freilich auch den rechtlichen, das Recht liebenden Gott, sie missachtet seine Gebote und beleidigt ihn. Aber sie kann ihn nicht verletzen, kann seine Gebote nicht zer-brechen. Gegenüber Gott gibt es kein Verbrechen, sondern nur sündhaftes, das Recht missachtendes Handeln.

c) Eike von Repgow als rechtlich handelnder Mensch:

Von daher wird der Hinweis in dem Prosaprolog auf die christlichen Könige Constantin und Karl (d. Gr.)52 verständlich. Sie waren rechtlich (und daher auch: gottgefällig) handelnde Menschen, weshalb es richtig ist, dass das Land Sachsen von ihnen „noch immer sein Recht herleitet“. In I 18 § 3 fügt Eike das Wesentliche an: „Im übrigen behielten die Sachsen das alte Recht, sofern es nicht gegen das christliche Gesetz und wider den Glauben war“53.

Auch Eike selbst stellte sich in diesen Zusammenhang. Denn sein eigenes Handeln – das Niederschreiben dieses „Spiegels der Sachsen“ – verstand er als ein solches rechtliches, gottgefälliges Handeln, getragen von der Liebe zu dem rechtlichen Gott als dem Vorbild alles richtigen Handelns, getragen auch von der Liebe zu dem Nächsten. Eike bat deshalb zu Beginn im Prosaprolog um die „Kraft des Heiligen Geistes“, der ihm helfen möge, „Recht und Unrecht der Sachsen der Gnade Gottes entsprechend und zum Nutzen der ganzen Welt dar[zu]stellen“. Am Ende des Landrechts54 verlangte er Dank – der auch dem Grafen Hoyer von Falkenstein gebühre, der ihn zum Schreiben der deutschen Fassung aufgefordert habe - von allen „frommen Helden“, die er unterrichtet habe, „wie sie dem Recht gemäß leben könnten“ (und deshalb das Jüngste Gericht Gottes bestehen könnten, weil bzw. wenn sie „ihren Sinn darauf richten, dass sie das Recht lieben“). Auch er bat für sich und den Grafen Hoyer um Aufnahme in das göttliche Reich der Seligen. „We rechte minne, de segge Amen (Wer das Recht liebt, der spreche Amen).“

Jedenfalls bedeutet „Recht“ nicht eine göttliche Ordnung, die vorgegeben und zu befolgen wäre. Es gibt die Gebote des Alten und des Neuen Testaments, die aber der näheren Bestimmung im einzelnen Handeln bedürfen. Dazu sind die Christenmenschen aufgerufen. Doch offensichtlich war die Zeit Eikes in dieser Hinsicht unsicher und fragwürdig (geworden), fiel eine alle überzeugende Lösung dieser gottgewollten Aufgabe schwer(er). Deshalb beschränkte Eike sich auf das rechtliche Handeln im Gericht, versuchte also eine solche nähere Bestimmung, indem er das gerichtliche Handeln zusammenfasste, das über das Handeln der Parteien außerhalb des Gerichts, über dessen Recht und Unrecht zu richten hat: im Auftrag des rechtlichen Gottes und in Erfüllung seiner Gebote. Der Sachsenspiegel stellt

52 Zu ihm vgl. Wilhelm Gundlach, Karl der Große im Sachsenspiegel. Eine Interpretation. Breslau 1899; Heinrich Siegel, Die deutschen Rechtsbücher und die Kaiser Karls-Sage, in: Sitzungsberichte der Kais. Akademie der Wissenschaften in Wien – Phil.- Hist. Kl. 1899.53 So die Übersetzung von R. Schmidt-Wiegand in der Ausgabe des Sachsenspiegels von C. Schott 1984 (wie Anm.9), S.51. Ähnlich auch Kaller, Sachsenspiegel (wie Anm.5), S.29. – 1993 (wie Anm.34) übersetzt R. Schmidt-Wiegand die Wolfenbütteler Bilderhandschrift mit: „nicht gegen das Gesetz der Christenheit und wider den rechten Glauben“ (S.115); ebenso W. Peters/ W. Wallbraun in ihrer Übersetzung der Oldenburger Bilderhandschrift 1995 (wie Anm.35), S.93. J. Weinert 2006 (wie Anm.37), S.66, übersetzt mit „das dem Gesetz der Christenheit und dem rechten Glauben nicht zuwider war“.54 Vgl. die Übersetzung von R. Schmidt-Wiegand in der Ausgabe des Sachsenspiegels von C. Schott 1984 (wie Anm.9), S.239.

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deshalb nur einen Teil des rechtlichen Handelns der Menschen im Sachsenland dar, nämlich denjenigen, der gerichtlich abgeurteilt werden kann und soll, weil er vor Gericht getragen wird bzw. worden ist. Es geht in ihm um das gerichtlich zu beurteilende Recht. Man kann insofern mit Jürgen Weitzel von einer „unvollkommenen“, „reduzierten“, „relativen“ Geltung55 des in ihm dargestellten Rechts sprechen, wie es einem im wesentlichen schriftlos überlieferten Recht allgemein zukommt. Der Sachsenspiegel setzt ein solches schriftloses, im Gerichtsverfahren zu findendes und gefundenes, d.h. vor Gericht klar zu fassendes, konkret zu bestimmendes und für die Parteien verlässliches (verlässlich werdendes [weil auf Gott und den König zurückführbares]) Recht voraus, will aber durch den eigenen Akt der Verschriftlichung diesen Zustand hinter sich lassen, sozusagen ein für alle geltendes Urteil darstellen und damit für mehr rechtliche Klarheit sorgen (weshalb spätere Zeiten in ihm bereits ein Gesetz sahen56).

Dies bedeutet nicht, dass es nicht außerhalb des Gerichts rechtliches Handeln (als Recht) geben würde. Im Gegenteil: das Gericht kann nur rechtlich urteilen, weil es auch außerhalb des Gerichts rechtliches (und unrechtliches) Handeln gibt57. Wird das Gericht nicht angerufen, sind und bleiben die (Christ-) Menschen an die Gebote des rechtlichen Gottes gebunden und daher zu rechtlichem Handeln aufgerufen, worüber am Jüngsten Tag auch gerichtet wird. Darüber handelt aber der Sachsenspiegel nicht; denn er beschränkt sich auf das rechtliche Beurteilen von rechtlichem und unrechtlichem Handeln im Verfahren vor dem Gericht. Der Grund dafür liegt sicherlich in der Bedeutung des Gerichts für die Klärung der Rechtsverhältnisse der Betroffenen, da in dem gerichtlichen Verfahren ein Urteil entschieden wird: in der hergestellten Öffentlichkeit58 unter Berufung auf die Gerichtsgewalt des von Gott dafür eingesetzten christlichen Königs (vertreten durch den Grafen im Landgericht).

d) „Spiegel der Sachsen“:

Wenigstens kurz soll auf den Charakter dieses „Spiegels der Sachsen“ eingegangen werden. Diese Selbstbezeichnung des Werkes hat viele Missverständnisse hervorgerufen59. Denn für uns heute liegt die Bedeutung von „Wider-Spiegelung der Realität“ nahe: so als hätte Eike das traditionelle Gewohnheitsrecht - sozusagen: als „sächsisches Gewohnheitsrecht“ - zusammengefasst60. Aber um zu verstehen, was Eike unter einem solchen „Spiegel“ verstanden hat, muss man in die außerjuristische Literatur gehen61. So ist bereits der Hinweis in der Reimvorrede – „`Spiegel der Sachsen´ sei deshalb dies Buch genannt, weil mit ihm das

55 Vgl. Jürgen Weitzel, „Relatives Recht“ und „unvollkommene Rechtsgeltung“ im westlichen Mittelalter, in: Cordes/ Kannowski, Rechtsbegriffe (wie Anm.51), S.43-62, hier 48, 59.56 Vgl. Fentzke, Sachsenspiegel-Forschung (wie Anm.1), S.129 ff.; Karl Kroeschell, Von der Gewohnheit zum Recht. Der Sachsenspiegel im späten Mittelalter, in: Hartmut Boockmann/ u.a. (Hg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Göttingen 1998, S.68-xx; Ders., Rechtsaufzeichnung und Rechtswirklichkeit: Das Beispiel des Sachsenspiegels, in: Peter Classen (Hg.), Recht und Schrift im Mittelalter. Sigmaringen 1977, S.349-380, hier 367 ff.; Rolf Lieberwirth, Die Wirkungsgeschichte des Sachsenspiegels, in: Schmidt-Wiegand, Wolfenbütteler Bilderhandschrift (wie Anm.14), S.63-86; Wolfgang Sellert, Aufzeichnung des Rechts und Gesetz, in: Das Gesetz in Spätantike und frühem Mittelalter. Göttingen 1992, S.67-102.57 Auf den Streit, ob es ein „objektives Recht“ neben der rechtlichen Regelung des Gerichtsverfahrens gibt, kann hier nicht eingegangen werden; zum Problemstand vgl. Kannowski, Rechtsbegriffe (wie Anm.51), S.13 ff., 19 ff.; Karin Nehlsen-von Stryk, Zum "Justizbegriff" der rechtshistorischen Germanistik, in: Ius Commune 17, 1990, S.189-222, hier 208 ff. Es scheint in vielem ein Streit um die Begriffe „Recht“ und „Gericht“ zu sein.58 Vgl. Weitzel, Relatives Recht (wie Anm.55), S.57.59 Zum Problem vgl. Dietlinde Munzel, "Spiegel des Rechts", in: HRG IV, Sp.1759-1761.60 In diesem Sinne wohl Heiner Lück, Über den Sachsenspiegel. Halle an der Saale 1999, S.17 ("spiegeln" als "beschreiben" des überlieferten Gewohnheitsrechts).61 Als erster juristische Spiegel gilt im übrigen das 1180 geschriebene „Speculum iuris canonici“ des Peter von Blois.

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Recht der Sachsen allgemein bekannt wird, wie durch einen Spiegel den Frauen das Antlitz, das sie erblicken“ - eine Übernahme aus den damals viel gelesenen „Sententiae“ des Kirchenvaters Isidor von Sevilla (um 560 - 636)62.

Sicherlich stand Eikes Werk in der Tradition der theologisch-moralischen Traktate und pädagogischen Lehrbücher63, die „Spiegel“ („Specula“) genannt wurden, nicht weil sie die empirische Realität eines Gegenstandes wiedergaben (also im heutigen modernen Sinne "wider-spiegelten", die Lichtstrahlen mit dem Bild des Gespiegelten zurückwarfen), sondern64

weil sie den LeserInnen mit ihrem Inhalt einen Spiegel vorhielten, der ihnen zeigte und zeigen sollte, wer sie eigentlich (geworden) waren, nämlich gemessen an dem, was sie von Gott her, seinen Geboten, ihrer Stellung in der Schöpfung sein sollten. Ein solcher „Spiegel“ entwarf die „eigentliche“, „wahre“, „essentielle“, „substantielle“ Wirklichkeit derjenigen, die sich im Spiegel betrachteten und auf diese Weise ihre Realität, nämlich: ihr Versagen, ihre Sündhaftigkeit, ihr Zurückbleiben hinter dem gottgegebenen Maß im Spiegelbild ersehen konnten; und zugleich die Aufgabe erkennen konnten, ihr eigenes Maß, ihre gottgefällige Wirklichkeit zu finden. Und er war – „wenn Gott den Spiegel umwendet und uns mit der Erde mischen und nach unserem Verdienst lohnen wird“ (wie die Reimvorrede – in der Übersetzung von Ruth Schmidt-Wiegand - weiter formuliert) - zugleich der Spruch des Jüngsten Richters über den so Gespiegelten. Heute kennen wir noch die Formulierung: „einem anderen den Spiegel vorhalten“, um ihn zu beschämen und/oder zu kritisieren. Man kann sagen: ein solches „Speculum“ war nicht empirisches Abbild der sich in ihm Betrachtenden, sondern normatives Vorbild der sich in ihm kritisch Reflektierenden; er war nicht Bericht im Sinne eines empirischen Abbildes, sondern Ermahnung, Kritik, moralische Aufforderung zu besserem und zu „eigentlichem“ (nämlich: gottgefälligem) Leben; und damit zugleich ein Weg für den sündigen Einzelnen, sein Heil vor Gott finden zu können. Ein „Spiegel“ war somit ein Buch, das einen Bereich der Wirklichkeit darstellte als „Teil der Schöpfungsordnung in seiner von Gott gewollten Form“65; und zwar als Stütze der Erinnerung an das Vor-Bild; in den Worten der karolingischen Aristokratin Dhuoda, die um 841/42 ihrem Sohn eine Lebensregel übergab: „für die Zeit, wo ich dir fehlen werde und die kommen wird, hast du als Gedächtnishilfe (memoriale) hier dieses Moralbüchlein: du kannst mich so wie in einem Spiegel anschauen, wenn du mit den Augen des Geistes und des Körpers liest und zu Gott betest“66.

62 Vgl. Clausdieter Schott, Nachwort in seiner Ausgabe des Sachsenspiegels (wie Anm.9), S.377 f.63 Dazu vgl. Franz Brunhölzl, "Speculum", in: LexMA VII, Sp.2087+2088; Gunhild Roth, "Spiegelliteratur", in: LexMA VII, Sp.2101-2104; Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. München 1995, S.25 ff.64 Dazu vgl. Gagnér, Sachsenspiegel (wie Anm.26) 89 ff.; Joachim Heinzle, Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert, in: ders., Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit II. Frankfurt a.M. 1984, S.20 f.; Ignor, Rechtsdenken (wie Anm.25), S.187; Johanek, Rechtsschrifttum (wie Anm.31), S.405 ff.; Kolb, Ursprung (wie Anm.28), S.290 ff.; Munzel, Spiegel (wie Anm.59), S.1759-1761; Schott, Nachwort (wie Anm.62), S.378; Gerhard Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium iuris. Köln 1968, S.104 ff.65 Vgl. Heinzle, Wandlungen (wie Anm.64), S.20; Ruth Schmidt-Wiegand, "Gott ist selber Recht". Die vier Bilderhandschriften des Sachsenspiegels aus Oldenburg, Heidelberg, Dresden und Wolfenbüttel, in: Dies, Oldenburger Bilderhandschrift (wie Anm.1), S.7-22, hier 8.66 Zitiert in: Wenzel, Hören (wie Anm.63), S.40 f.

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Damit war zunächst ein Ansatz bloß bei den Gewohnheiten und Sitten – nämlich: der im Land Sachsen lebenden Menschen - nicht ausreichend. Es war für Eike notwendig, das Überkommene als das „gute alte Recht“ aufzunehmen (wie es Fritz Kern 1912 in eindrucksvoller Klarheit und Einfachheit charakterisierte67). Diese Formel war zwar richtig, doch kam ihr ein anderes Inhalt zu, als Kern es meinte, nämlich: zunächst konnten auch die alten Gewohnheiten Recht nur sein, wenn sie "gut" waren, d.h. wenn sie - in den Worten des Isidor von Sevilla - mit der christlichen Religion übereinstimmten, der Ordnung dienten und dem Heil der Menschen nützten. Gratian prägte die Formulierung: die Consuetudo dürfe nicht gegen die göttliche Wahrheit und die Vernunft verstoßen, müsse also eingeordnet werden können in die Schöpfung des Gottes68. Und weil es in dieser Weise nur von den Lebenden gegenwärtig als gut aufgefasst werden kann, bedeutet der Ausweis aus "altem Recht" nur die Legitimierung der Sinnstiftung in der Gegenwart. Als erinnertes altes Recht ist es zugleich das gegenwärtig gute Recht; und umgekehrt. Deshalb war es für Eike erforderlich, die in dieser Weise erinnerten Gewohnheiten und Sitten in gute und schlechte zu (unter-) scheiden: denn nur die ersteren konnten (gegenwärtiges) Recht darstellen69. Maßstab für diese Scheidung (und damit zusammenhängend für die Kritik) war die Vereinbarkeit mit der christlichen Weltsicht, mit der göttlichen Gerechtigkeit, die der Mensch durch seine Vernunft erkennen kann (weil er Spiegelbild Gottes ist). Dabei blieb der Unterschied der göttlichen Gerechtigkeit zum menschlichem Recht bestehen: letzteres war nicht originär, lebte nicht aus eigenem Grunde, sondern war unterworfen dem Maß des ersteren, ohne durch dieses einfach ersetzt zu werden. Stets blieb die Spannung zwischen dem menschlichen Recht und seinem Maß in der göttlichen Gerechtigkeit, stets gab es Kritik und Reform, die als letztes Ziel die Herstellung einer entsprechenden rechtlichen Ordnung auf Erden anstrebten70.

In diesem Sinne knüpfte Eike einerseits erinnernd an die überkommenen Vorstellungen (Sitten, Gewohnheiten) an, wie in der Reimvorrede zu lesen ist: „Das Recht habe ich mir nicht selbst ausgedacht. Es ist uns vielmehr seit alters her von unseren rechtschaffenen (guten) Vorfahren überliefert worden. Wenn ich es vermag, will auch ich es bewahren, damit mein Schatz unter der Erde nicht mit mir vergehe“. Diese Vorfahren sind die Sachsen. Doch stellte

67 Vgl. Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter. Tübingen 1912; ders., Über die mittelalterliche Anschauung vom Recht, in: HZ 115, 1916, S.496-515. - Zu Kerns These vgl. Kannowski, Rechtsbegriffe (wie Anm.51), S.3 ff.; Köbler, Recht (wie Anm.49); Kroeschell, Recht (wie Anm.49), S.309-335; Johannes Liebrecht, Das gute alte Recht in der rechtshistorischen Kritik, in: Kroeschell/ Cordes, Funktion (wie Anm.1), S.185-204; Trusen, Recht (wie Anm.24), S.189 ff.68 Vgl. Franz Arnold, Die Rechtslehre des Magisters Gratianus, in: Studia Gratiana I. Bologna 1953, S.451-482; Carl Gerold Fürst, Zur Rechtslehre Gratians, in: ZRG-Kan.Abt. 57, 1971, S.276-284.69 Vgl. Schott, Sachsenspiegel als mittelalterliches Rechtsbuch (wie Anm.28), S.27: Gewohnheit kann Recht nur sein, wenn sie mit ratio et veritas übereinstimmt. Ähnlich auch Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte I. 12. Aufl. Köln 2005, S.248. – Zum Problem vgl. Gerhard Köbler, Zur Frührezeption der consuetudo in Deutschland, in: Hist. Jb 89, 1969, S.337-371; Ders., Recht (wie Anm.49), S.223 ff.; Hermann Krause, Dauer und Vergänglichkeit im mittelalterlichen Recht, in: ZRG-GA 75, 1958, S.206-251; Kroeschell, Rechtsaufzeichnung (wie Anm.56), S.365 ff.; Schott, Sachsenspiegel als mittelalterliches Rechtsbuch (wie Anm.28), S.27; Theuerkauf, Lex (wie Anm.64), S.98 ff.; Trusen, Recht (wie Anm.24), S.189 ff.; Udo Wolter, Die „consuetudo“ im kanonischen Recht bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, in: Gerhard Dilcher/ u.a. (Hg.), Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter. Berlin 1992, S.87-116. 70 So Trusen, Recht (wie Anm.24), S.193.

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diese Überlieferung von den rechtschaffenen Vorfahren (nur) die Erinnerung Eikes (und seiner Gewährsleute, die er befragte hatte) dar und damit deren gegenwärtiges erinnertes Wissen um ein Recht, das (in den Worten von II 18 § 3) „nicht gegen das christliche Gesetz oder wider den Glauben war“, nämlich: nicht gegen das gegenwärtige christliche Gesetz und den gelebten Glauben Eikes und seiner Zeitgenossen sein durfte. Die Überlieferung war somit gegenwärtige lebendige Erinnerung; und damit gerade nicht von den Vorfahren her bestimmt, sondern von dem gläubigen Subjekt Eike71. Insofern ist der Inhalt des Sachsenspiegels „subjektiv“72. Doch andererseits betonte Eike den objektiven Bezug dieses erinnerten Rechts auf Gott, genauer auf einen Gott, der selbst rechtlich gedacht war. Deshalb konnte Eike als wirkliches Recht der Sachsen nur die Gewohnheiten aufnehmen und darstellen, die mit der göttlichen Rechtlichkeit vereinbar, also im oben angegebenen Sinne „gute“ Gewohnheiten waren (was in den lateinischen Texten mit „consuetudo“ einzig auch gemeint war).

Dies heißt mit anderen Worten: Ansatz waren die überlieferten Gewohnheiten und Sitten der Sachsen als vergangenes, aber gegenwärtig erinnertes Leben. Doch wurden diese Lebensverhältnisse interpretiert hin auf ein normatives (und schriftlich aufzuzeichnendes) Recht, das in diesen empirischen Gestalten als rechtliches Handeln zur Erscheinung kam, das in dieser Rechtlichkeit zugleich das gottgefällige Leben darstellte. Es ging um ein sächsisches73 Recht, das für die Menschen im Sachsenland zugleich das wirkliche - weil in Gott gegründete - Recht war. Es galt, diesen „Kern“ des Richtigen herauszuschälen aus der vielfältigen und sicherlich uneinheitlichen Praxis in diesem riesigen Sachsenland74 und als spiegelndes Vorbild den Sachsen vorzuhalten.

Dabei beschränkte sich Eike – wie bereits angegeben – auf das rechtliche Handeln vor Gericht, auf das gerichtliche Handeln, das nach dem Vorbild des richtenden Gottes über das vorgebrachte Handeln urteilen sollte und durfte.

Was dem inneren Maß nicht entsprach, musste als nicht-rechtliche Praxis ausgeschieden, als bloßer Brauch, vielleicht sogar als Unrecht qualifiziert werden. In diesem Sinne wurde Eike am Ende seiner Quaestio über die Entstehung der Unfreiheit (III 42) deutlich: „Nach rechter Wahrheit hat Unfreiheit ihren Ursprung in Zwang und Gefangenschaft und unrechter Gewalt, die man seit alters zu unrechter Gewohnheit hat werden lassen und die man nun als Recht haben möchte“. Leider fehlte ihm der Mut zu der einzig möglichen Konsequenz: eben keine

71 Vgl. Kroeschell, Rechtsgeschichte I (wie Anm.69), S.248: es sei nicht möglich, diese Rechtsbücher von „Rechtsliteratur“ zu scheiden. 72 Zu diesem Verhältnis von "subjektiv" und "objektiv" vgl. Kolb, Ursprung (wie Anm.28), S.294.73 Zur Konzentration der Consuetudo (Lex) auf die eigene Gruppe und die eigene Rechtssituation im Sinne eines "landrechts" vgl. Jürgen Weitzel, Versuch über Normstrukturen und Rechtsbewusstsein im mittelalterlichen Akzident (450-1100), in: Ernst-Joachim Lampe (Hg.), Zur Entwicklung von Rechtsbewusstsein. Frankfurt a. M. 1997, S.371-402, hier 399.74 Nach III 62 §§ 1-3 besteht Sachsen aus sechzehn Bistümern (Naumburg, Merseburg, Meißen, Brandenburg, Havelberg, Kammin, Halberstadt, Hildesheim, Verden, Paderborn, Osnabrück, Minden, Münster, Lübeck, Schwerin und Ratzeburg) - zugehörig den Kirchenprovinzen Mainz und Köln sowie den Erzbistümern Bremen und Magdeburg - bzw. sieben weltlichen Fürstentümern (Herzogtum Sachsen, Pfalzgrafschaft Sachsen, Mark Brandenburg, Landgrafschaft Thüringen, Mark Meißen, Mark Lausitz, Grafschaft Aschersleben oder Anhalt) bzw. fünf königlichen Pfalzen (Grone, Werla bei Goslar, Wallhausen, Allstedt, Merseburg).

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Regelungen über Unfreie als Recht niederzuschreiben. Aber immerhin hat er sich geweigert, irgendein Dienstrecht zu berücksichtigen (vgl. III 42 § 2).

Eike spricht im Prosaprolog von der Aufgabe, Recht und Unrecht zu scheiden, wozu er starke „sinne“ benötige, die „des hiligen geistes minne“ ihm verleihen möge. Dieses Gebet hat Vorbilder im geistlichen und weltlichen Schrifttum75 und meint die Fähigkeit des Menschen, den göttlichen Willen in den Erscheinungen der Welt zu erkennen und zu befolgen. Der heilige Geist soll das Denken des Menschen, der sich - um an ein berühmtes Bild von Augustinus anzuknüpfen - im Spiegel zugleich als Ebenbild Gottes erkennt, erleuchten und zu seiner Tätigkeit als Spiegler befähigen. Eine Übersetzung von „mine sinne“ mit „Verstand“ wäre zu rationalistisch und würde das notwendige Gnadengeschenk des heiligen Geistes zu wenig berücksichtigen; angemessener ist vielleicht die Bezeichnung als „gläubige Vernunft“. Eikes Aufgabe als Spiegler bestand darin, die erinnerten Rechts- als Lebensverhältnisse im Sachsenland am Maßstab der Vernunft und der göttlichen Wahrheit zu messen76, zu scheiden und das darin wirkliche - in Gott gegründete - Recht der Sachsen heraus- und darzustellen: eingeschränkt auf das rechtliche Handeln im und vor dem Gericht.

Zugleich brachte dieses gottgefällige Recht ewiges Heil77 (weshalb auch Eike die Sachsen in die gesamte Heilsgeschichte Gottes einband78). Dieses „Recht“ war noch kein juristischer Begriff, sondern gehörte in die allgemeine Theorie des sittlich Guten, wie sie in den scholastischen Traktaten abgehandelt wurde, und meinte das „sittlich Gute“, wie es im Zusammenleben der Menschen handelnd verwirklicht werden sollte, in Erfüllung des göttlichen Willens, wie er im Dekalog, aber auch in bedeutenden Ereignissen der Heilsgeschichte zum Ausdruck gekommen ist (und mit Hilfe des heiligen Geistes erfasst werden kann)79. Daher konnte Eike auch diejenigen, „die unrecht handeln und mit diesem Buch Unrecht vollführen, und die, welches Falsches hinzufügen“ mit dem Fluch - dass sie Aussatz befallen möge - belegen. „Vor Gott sei verflucht, wer das Unrecht bereitwillig unterstützt oder mit diesem Werk vermischt, auf das ich viel Nachdenken verwendet, ehe ich es mit Gottes Beistand zu Ende gebracht habe“. Von daher sind die Ausführungen Eikes zu (Un-) Freiheit der Menschen (III 42) verständlich. Sie sind Exempla aus der damaligen theologisch-moralischen Literatur, wie sie Eike in seiner Ausbildung in der Domschule gelernt hat80. Ebenso finden sich deshalb notwendig an vielen Stellen der Rechtsdarstellung der Sachsen Übernahmen aus theologischen, biblisch-mosaischen, auch kirchenrechtlichen Quellen, wie moderne Untersuchungen in großem Maße herausgearbeitet haben81.

In anderen Worten formuliert, ist der "Sachsenspiegel" somit ein (mit viel Nachdenken verbundener) Traktat über das Recht als richtiges Handeln, das die Menschen im Sachsenland anwenden sollen bzw. müssen, wenn sie gottgefällig (und insofern: rechtlich, rechtschaffen,

75 Vgl. Drescher, Denkformen (wie Anm.30), S.71 ff.; Ignor, Rechtsdenken (wie Anm.25) S.174 ff.; Schäfer, Bildungsgut (wie Anm.25), S.87 ff.; Wenzel, Hören (wie Anm.63), S.25 ff.76 So Kroeschell, Rechtsaufzeichung (wie Anm.56), S.366; ihm folgend: Scheele, radebrechen (wie Anm.1), S.1877 Vgl. Drescher, Denkformen (wie Anm.30), S.25; Schott, Sachsenspiegel als mittelalterliches Rechtsbuch (wie Anm.28), S.28.78 Vgl. Drescher, Denkformen (wie Anm.30), S.25; Schäfer, Bildungsgut (wie Anm.25), S.92 ff.79 So Jonanek, Rechtsschrifttum (wie Anm.31), S.406. 80 Dazu Kolb, Ursprung (wie Anm.28), S.289 ff.81 Vgl. Drescher, Denkformen (wie Anm.30); Gagnér, Sachsenspiegel (wie Anm.26), 82 ff.; Kisch, Sachsenspiegel (wie Anm.29); Schäfer, Bildungsgut (wie Anm.25), 87 ff.

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sittlich gut) leben und sterben wollen; beschränkt auf das Handeln im und vor dem Gericht. Sein Inhalt ist bei aller Bezugnahme auf die Gewohnheiten der Alten nicht ein Abbild des sächsischen gerichtlichen Rechtslebens, sondern immer auch zugleich ein Vorbild82. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass Eike auch neue Rechtsvorstellungen – die nicht als Inhalt der Gewohnheiten bereits gelebt und überliefert wurden – aufnahm. Von daher ist es auch zu verstehen, dass Eike ausdrücklich die LeserInnen zu eigenem Nachdenken aufforderte. „Rechtschaffene Leute fordere ich auf, wenn ihnen irgend etwas begegnet, was ich mit meinem begrenzten Wissen übersehen habe und worüber deshalb dies Buch nichts enthält, dass sie sich in jedem Fall darum bemühen, eine Entscheidung dem Recht entsprechend zu erhalten“. Auch wer beim Lesen dieses Buches eine These finde, die ihm nicht gefalle, solle „die Angelegenheit in seinem Sinn auf ihr Ende und ihren Anfang hin überdenken; und sich bei weisen Leuten befragen, welche die Wahrheit kennen und auszulegen verstehen und auch die Gewohnheit haben, sich rechtmäßig zu verhalten. Wenn er von ihnen besseres Recht erfahren kann, so rate ich ihm, dass er sich daran hält. Denn es ist besser, die Lehren weiser Leute, die es zum Guten wenden, zu befolgen, als allein die meinige“. Recht ist eine Sache des Denkens und des Argumentierens, der Wahrheit und des sittlich Richtigen; „veritas, non auctoritas facit ius“ (im Unterschied zu den heutigen Gesetzen der staatlichen Macht).

Freilich ist anzumerken, dass durch die Beschränkung auf das im Gericht zu findende Recht die Unterscheidung (bis hin zur schlussendlichen Trennung) von „sittlichem Recht“ und „juristischem Recht“ einsetzte, die deshalb geschichtlich erfolgreich war, weil durch dieses Abstellen auf das gerichtliche Verfahren der zunehmend für erforderlich gehaltenen Rechtssicherheit zugearbeitet werden konnte, bis die maßgebenden Urteile nicht mehr im Gericht, sondern in den Gesetzen der staatlichen Macht formuliert wurden. Insofern stand Eike – um an das bekannte Hegel-Bild vom abendlichen Flug der Eule der Minerva zu erinnern – am Abend der Dämmerung einer Entwicklung, die er nochmals im Rückblick auf den langen Tag zusammenfasste, aber damit zugleich als vergangen begriff und so den Tag vollendete; und damit eigentlich für das Morgen des neuen Tages aufhob. Der Abenddämmerung wird nach der Nacht ein neuer klarer(er) Tag folgen!

So ist es im übrigen von diesem Charakter des Sachsenspiegels als eines Traktates über das richtige gerichtlich zu beurteilende Recht als über ein Sollen her verständlich, dass er leicht als Gesetz aufgefasst und verwendet werden konnte83: war er doch immer schon „gesetzt“ und als Norm gedacht. Doch war dafür eine genauere und abstrahierende Systematisierung notwendig, was durch die Anbindung an das römische Recht durch die Glossierungen - beginnend mit der Glosse des Johann von Buch (1325/55)84 - erreicht werden konnte. Eike selbst gab mit seinem Werk einen „Spiegel eines Ausschnitts der Wirklichkeit von Land und Leuten, deren Zusammenleben nach dem Recht geordnet [war]“85; er orientierte sich an den konkreten Lebensverhältnissen, deren rechtliche (d.h. gesollte, normative) Struktur er in

82 Vgl. Kroeschell, Rechtsaufzeichnung (wie Anm.56), S.366; Munzel, Spiegel (wie Anm.59), Sp.1759; Schott, Sachsenspiegel als mittelalterliches Rechtsbuch (wie Anm.28), S.42. 83 Vgl. Kroeschell, Rechtsaufzeichnung (wie Anm.56), S.378 ff. (später aufgefasst als "consuetudo in scriptis redacta" und daher als geltendes Recht beweisbar).84 Dazu Lück, Sachsenspiegel (wie Anm.60), S.137 ff.; Wolfgang Sellert, Borgerlike, pinlike und misschede klage nach der Sachsenspiegelglosse des Johann von Buch, in: Stephan Buchholz/ u.a. (Hg.)., Überlieferung, Bewahrung und Gestaltung in der rechtsgeschichtlichen Forschung. Paderborn 1993, S. 321-346, hier 322 ff.85 So Kolb, Ursprung (wie Anm.28), S.292.

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ihrem Verhältnis zum Handeln vor und im Gericht herauszuarbeiten suchte, weshalb sein System konkret war und letztlich an seiner ostfälischen Lebenswelt orientiert blieb86.

An einer Rechtsordnung als Summe von Normen war Eike nicht interessiert; nicht einmal Vollständigkeit aller Rechtsverhältnisse war sein Ziel. Denn sein Spiegel war - worauf Sten Gagnér hingewiesen hat87 - zugleich ein „Florilegium“, eine „Blütenauslese“, vergleichbar einer Exzerptensammlung. Eike stellte somit „in der Art seiner Zeit ein Florilegium des sächsischen Rechts aus anderen Florilegien zusammen“, wodurch zugleich der Gesichtskreis des bloßen Rechts überschritten wurde: „Darum hat er uns viel zu erzählen von den Gedanken seiner Zeit, von Frömmigkeit und Erlösungsträumen seines Nächsten, vom Leben und vom Tode des mittelalterlichen Menschen". Wieweit Eike dabei Realität des Rechtslebens seiner Zeit verarbeitete, wie weit er überkommene oder gar eigene christliche Vorstellungen einbrachte - man denke nur an die deutliche Übernahme zahlenmystischer Spekulationen (mit den Zahlen Drei und Sieben)88 -, ja: wie weit er vielleicht sogar aus literarischen Motiven, etwa um bei den Zuhörern aus dem ritterlichen Lebenskreis Spannung zu erzeugen oder diese einfach mit einer Verbindung von „Recht, Poesie und Humor“ zu unterhalten89, manches „erfand“, wäre einer eigenen, jedenfalls anderen Untersuchung wert. Als mögliche Kandidaten für solche „Erfindungen“ möchte ich nur anführen: das Institut des „Henkerszehnten“ (also eines Rechtes des Fronboten als des Scharfrichters bei Massenhinrichtungen auf den zehnten Mann, für den er dann Lösegeld verlangen konnte) (III 56 § 3)90, das System der „Scheinbußen“ für Beleidigungen rechtunfähiger Leute (z.B. für Spielleute den Schatten eines Mannes [d.h. des Beleidigers], für Lohnkämpfer das Blinken von einem Kampfschild gegen die Sonne, für verurteilte Diebe und Räuber zwei Besen und eine Schere) (III 45 § 9)91, die Bezeichnung des Schadenersatzes für Tiere als deren „Wergeld“ („Manngeld“) (III 51) oder die Vorschrift des I 38 § 3: „Eheliche Kinder kann der Gerichtsunfähige fürderhin nicht gewinnen, er kämpfe denn vor des Kaisers Schar so mit dem Speer einen Zweikampf, dass er einen fremden König im Kampf besiegt“.

86 So Johanek, Rechtsschrifttum (wie Anm.31), S.407. - Zur Orientierung an den "praktischen Lebensverhältnissen" im Sinne des Ordo-Gedankens vgl. Mariella Rummel, Die rechtliche Stellung der Frau im Sachsenspiegel-Landrecht. Frankfurt a. M. 1987, S.35.87 So Gagnér, Sachsenspiegel (wie Anm.26), S.86 f., 103.88 Vgl. als Beispiel die Darstellung der Ständetrias: dazu Kroeschell, Rechtsaufzeichnung (wie Anm.56), S.363.89 Diese literarische Qualität betont Kolb, Ursprung (wie Anm.28); für Schott, Sachsenspiegel als mittelalterliches Rechtsbuch (wie Anm.28), S.38, ist der Sachsenspiegel auch ein Sprachrohr der berittenen Kriegerkaste. - Anders die herrschende Ansicht, die im Sachsenspiegel zumindest ein ernstes (und humorloses) Fachbuch sieht; vgl. Ruth Schmidt-Wiegand, Der "Sachsenspiegel" Eikes von Repgow als Beispiel mittelalterlicher Fachliteratur, in: Fachsprache und Fachliteratur, LiLi 51/52, 1983, 206-226.90 Dazu vgl. Manfred Neidert, Das Recht des Fronboten auf den Henkerszehnt. Diss. Frankfurt a.M. 1982.91 Dazu vgl. Else Ebel, Das Motiv der Schein- oder Spottbuße in den Isländersagas, in: Peter Landau/ u.a. (Hrsg.), Karl von Amira zum Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1999, S.121-130; Dietlinde Munzel, "Schattenbuße", in: HRG IV, Sp.1358-1360; Scheele, radebrechen (wie Anm.1), S.84 Fn.40; Rolf Stratmann, Die Scheinbußen im mittelalterlichen Recht. Frankfurt a. M. 1978. – Für Hermann Nehlsen, "Buße (weltliches Recht)", in: LexMA II, Sp.1144-1149 hier 1147 f., belegen diese Scheinbußen die starke Verwurzelung des Bußgedankens im Rechtsbewusstsein. Eike selbst sagt (III 45 § 10): "Rechtsunfähiger Leute Bußen sind von geringem Nutzen und sind doch darum festgesetzt, damit der Buße das Strafgeld des Richters folgen kann".

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Takeshi Ishikawa hat nach meiner Überzeugung das Entscheidende zusammengefasst: "Je tiefer ich mich mit dem Gebrauch der Schlüsselbegriffe im Sachsenspiegel befasse, umso fester wird die Überzeugung, dass es sich in diesem Rechtsbuch nicht um eine bloße Aufzeichnung des damaligen Rechtslebens handelt, sondern ... um ein schöpferisch-systematisches Werk eines talentierten Juristen [WS: besser: gebildeten Rechtskundigen]. Das Recht im Sachsenspiegel ... stellt eine eigene Welt mit einer logisch klaren inneren Struktur dar“92.

e) Ergebnis:

Aber in dieser Welt findet sich keine Vorstellung einer göttlichen Rechtsordnung, die durch den Täter in seinem „Verbrechen“ gebrochen werden könnte. Obwohl auch deutlich wird, dass jede mögliche Ordnung letztlich im Lichte des rechtlichen Gottes zu betrachten ist und auf ihn zurückzuführen ist. Gott ist der Grund jeder Ordnung; aber zu fragen ist, wie diese Ordnung zu denken ist.

3. Brechen der Friedensordnung

Vielleicht ist diese Ordnung, die gebrochen werden konnte (durch ein „Verbrechen“), die Friedensordnung, die zwischen den Menschen aufgerichtet ist, weshalb das „Verbrechen“ der Sache (dem Begriff) nach „Friedensbruch“ bedeuten könnte. Zwar ist dieser Ansatz93 problematisch für die Taten, die nicht Friedensbrüche sind - wie Diebstahl94, wohl auch Ehebruch95, Ketzerei und Giftmischerei -, aber gut vertretbar für die anderen in II 13 und anderen Stellen genannten Taten bzw. Täter (auch für den rechtsverweigernden Richter96).

a) Friedensordnung:

Dieser Gedanke einer Friedensordnung steht eindeutig an vordringlicher Stelle des Sachsenspiegels. "Hört nun über den alten Frieden, der dem Land Sachsen kraft der kaiserlichen Macht und mit Zustimmung der Ritter des Landes bestätigt worden ist": so beginnt II 66 § 1, der damit sicherlich den sächsischen Landfrieden Heinrichs VII. von 122197 - dessen Datierung allerdings umstritten ist und dessen Vorschriften zu einem nicht geringen

92 So Ishikawa, Struktur (wie Anm.15), S.152. - Auf die nähere Charakterisierung dieser Welt - die dieser Verf. als Übergang von der "Welt des Eigens" hin zu "Welt des Rechts" sieht - kann hier nicht eingegangen werden.93 Zu diesem „des vrede recht“ vgl. Ishikawa, Struktur (wie Anm.15), S.146 ff., der auch das Handhaftverfahren einbezieht.

94 Vgl. dazu Elmar Wadle, Die peinliche Strafe als Instrument des Friedens, in: Johannes Fried (Hg.), Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter. Sigmaringen 1996, S.229-247, hier 240 f., wonach der Grund für die Einbeziehung des Diebstahls entweder darin lag, dass seine Ahndung sichergestellt werden sollte, weil die überkommenen Verfahren nicht mehr recht funktionierten, oder darin, dass er als möglicher Fehdegrund in einem besonderen Verfahren „erledigt“ werden sollte.95 Anders Rummel, Stellung (wie Anm.86), S.195, wonach Ehebruch als Friedensbruch aufzufassen sei.96 Dazu vgl. Louis Günther, Die Idee der Wiedervergeltung in der Geschichte und Philosophie des Strafrechts I. Erlangen 1889, S.233; Guido Kisch, Die talionsartige Strafe für Rechtsverweigerung im Sachsenspiegel, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 16, 1939, S.457-467.97 Vgl. Kroeschell, Rechtsgeschichte I (wie Anm.69), S.285, 296: Das Friedensrecht des Sachsenspiegels lese sich wie eine Übersetzung des Königsfriedens für Sachsen.

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Teil auf den Weißenburger Landfrieden Friedrichs I. Barbarossa vom Jahre 1179 zurückgehen - und die "Treuga Heinrici" von 122498 meinte (und den Mainzer Reichslandfrieden von 123599 noch nicht kannte). Doch fehlt das diesen Landfrieden Wesentliche100: es werden von Eike weder die zeitliche Begrenzung101 noch die Begründung bloß im Schwur der Ritter erwähnt102. Der Spiegler erweckt den Anschein, als ob seit alters her - vielleicht schon seit Constantin und Karl dem Großen, von denen laut Prolog das Land Sachsen noch immer sein Recht hat - im Lande Sachsen Frieden herrschen würde. Deshalb thematisierte er das lebensnotwendige Problem seiner Zeit, das überhaupt erst zu dieser Friedensbewegung geführt hatte (bis hin zum Ewigen Landfrieden von 1495), von vornherein nicht: nämlich die gewalttätigen Fehdehandlungen der Mächtigen im Kampf um die Durchsetzung ihrer (vermeintlich) eigenen Rechte103. Er konzentrierte sich auf die gerichtlichen Reaktionen auf solche Fehden-

Auch hierin zeigt sich der bereits dargelegte Charakter des „Spiegels“: nicht als einer Widerspiegelung der Realität, also des rechtlichen Lebens zur Zeit Eikes, sondern als Aufzeigen des Richtigen als des Vorbildes für christliches Leben, als das Recht, das dem rechtlichen Gott gefällt. Und dies ist das Friedensrecht, besteht doch die Pflicht eines jeden Christenmenschen, mit dem Nächsten in Frieden zu leben (als Ausfluss des Liebesgebotes). In dieser gottgefälligen Welt Eikes ist - im Gegensatz zur Realität des sächsischen Lebens zu seiner Zeit104 - der Friedenszustand gegeben und "beständig". Wenn man will, kann man sagen: Eike stellt das Recht im Sachsenland so dar, als wäre es eines der neu entstehenden Stadtrechte (auf die er sonst nicht eingeht105) (weshalb es im übrigen nicht verwunderlich ist, 98 Vgl. dazu Arno Buschmann, „Treuga Heinrici“, in: HRG V, Sp.338-340.99 Dazu vgl. Arno Buschmann, Landfriede und Verfassung. Zur Bedeutung des Mainzer Reichslandfriedens von 1235 als Verfassungsgesetz, in: Aus Österreichs Rechtsleben in Geschichte und Gegenwart. Festschrift fü Ernst C. Hellbling. Berlin 1981, S.449-472; Ferdinand Frensdorff, Beiträge zur Geschichte und Erklärung der deutschen Rechtsbücher II: Sachsenspiegel II 66 und der Landfriede, in: Mitteilungen der Königl. Gesellschaft d. Wissenschaften zu Göttingen - Phil.-Hist. Kl. 1893 (1894), S.36-70; Brigitte Janz, Wir sezzen unde gebiten ... Der "Mainzer Reichslandfriede" in den Bilderhandschriften des "Sachsenspiegels", in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 112, 1990, S.242-266; Heinrich Mitteis, Zum Mainzer Reichslandfrieden von 1235, in: ZRG-GA 62, 1942, S.13-56; Ludwig Weiland, Sächsischer Landfriede aus der Zeit Friedrichs II. und die sogenannte Treuga Heinrici regis, in: ZRG-GA 8, 1887, S.88-120.100 Dazu vgl. Wolfgang Schild, Fehde und Gewalt im Mittelalter. Anmerkungen zur mittelalterlichen Friedensbewegung und Gewaltentwicklung, in: Günter Gehl/ Mathilde Reichertz (Hg.), Leben im Mittelalter Band 2. Weimar 1998, S.95-174, hier 136 ff.101 Nach Buschmann, Treuga (wie Anm.98), S.338, ist allerdings den überlieferten Texten der Treuga Heinrici eine Befristung nicht zu entnehmen.102 Als Ausnahmen sind zu nennen: "Bricht aber einer den Frieden, den er für sich selbst gelobt hat, so geht es ihm an den Hals" (III 9 § 2); "Während des geschworenen Friedens soll man außer dem Schwert keinerlei Waffen tragen" (II 71 § 2).103 Vgl. Ishikawa, Struktur (wie Anm.15), S.138, 146. - Freilich hält Eike dieses Schweigen über die Fehde nicht durch: vgl. III 41 (zur Gefangenschaft und "Urfehde") oder Verfolgung eines Friedensbrechers. 104 Vgl. Kroeschell, Rechtsaufzeichnung (wie Anm.56), S.363 f.; Schott, Sachsenspiegel als mittelalterliches Rechtsbuch (wie Anm.28), S.40. - Vgl. aber auch Carl Ludwig von Bar, Geschichte des deutschen Strafrechts und der Strafrechtstheorien I. Berlin 1882, S.91, der die "Präsumtion eines geordneten Rechtszustandes" jedem Landfrieden zuordnet. 105 Vgl. Karl Kroeschell, Stadtrecht und Landrecht im mittelalterlichen Sachsen, in: Koolmann, Bilderhandschriften (wie Anm.25), S.17-32, S.29; Schott, Sachsenspiegel als

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dass der Sachsenspiegel - meist gemeinsam mit dem Magdeburger Stadtrecht106 - Inhalt von vielen Stadtrechten werden konnte).

Die terminologische Frage bleibt aber auch für diese (idealisierte) Rechtswelt bestehen: ob Eike sie als eine solche Friedensordnung darstellt, die „gebrochen“ werden oder „zerbrechen“ könnte. Betrachten wir die Ausführungen genauer.

b) Königsfrieden:

Dieser Friede gilt - der Tradition der "Pax Domini" („Pax Dei“) und "Treuga Domini" („Treuga Dei“) folgend107 - einerseits für bestimmte Personen und Örtlichkeiten und andererseits für bestimmte Zeiten. Es heißt in II 66 § 1: "Für alle Tage und für alle Zeit soll der Frieden gelten für Besitz und Leben von Priestern und geistlichen Leuten, von Mädchen und Frauen sowie von Juden108. Der Frieden soll weiter gelten für Kirchen und Kirchhöfe, für jedes Dorf innerhalb seines Grabens und Zaunes, für Pflüge und Mühlen sowie für alle Straßen des Königs zu Wasser oder zu Land: diese alle stehen unter beständigem Frieden, der auch für alles gilt, was dort hineinkommt." Darüber hinaus soll Frieden gehalten werden von Donnerstag bis Sonntag und an allen heiligen Tagen (II 66 § 2).

Dieser Friedenszustand wurde von Eike durch theologisch-religiöse Argumente untermauert und so über das Recht hinaus verfestigt109. Dabei griff er auf Begründungen der Gottesfrieden zurück, wie sie z.B. von Ivo von Chartres (1040-1116) oder um 1140 von Bischof Raimbald von Arles gegeben wurden110. So heißt es bezüglich der Friedenstage: "Heilige Tage und Friedenstage sind allen Leuten zu Friedenstagen bestimmt; dazu kommen in jeder Woche vier weitere Tage: der Donnerstag, Freitag, Sonnabend und Sonntag. Am Donnerstag weihte man das Salböl, mit dem man uns alle zeichnet, wenn man uns in der Taufe in die Christenheit aufnimmt. An einem Donnerstag hat Gott auch das heilige Abendmahl mit seinen Jüngern gefeiert. Damals begann für uns der neue Bund. Am Donnerstag hat Gott uns Menschen wieder zum Himmel geführt und uns den Weg dorthin, der uns bis dahin versperrt war, eröffnet. Am Freitag hat Gott den Menschen erschaffen, und Gott wurde auch an einem Freitag von dem Menschen gekreuzigt. Am Sonnabend, als er Himmel und Erde erschaffen hatte und alles, was darinnen war, ruhte er; er ruhte auch an einem Sonnabend im Grabe, nach seinem Martyrium. Am Sonnabend gibt man auch den Priestern, die die Lehrer der Christenheit sind, die Weihe für ihr Gottesamt. Am Sonntag wurden wir wegen Adams Vergehen mit Gott versöhnt; der Sonntag war der erste Tag, der je war, und er wird auch der letzte Tag sein, der Tag, an dem wir von dem Tod auferstehen und an dem diejenigen, die es um Gott verdient haben, mit Leib und Seele in den Himmel auffahren werden. Deshalb sind diese vier Tage gemeingültige Friedenstage für alle Menschen, außer für diejenigen, die auf frischer Tat ergriffen werden, die in der Reichsacht sind oder die in einem Gerichtsbezirk in der Bezirksacht sind."

mittelalterliches Rechtsbuch (wie Anm.28), S.37. - Zum Zusammenhang von Friedensbewegung und Stadt(frieden) vgl. Schild, Fehde (wie Anm.100), S.153 ff.; Luise von Winterfeld, Gottesfrieden und Stadtverfassung, in: Hansische Geschichtsblätter 32, 1927, S.8-56.106 Vgl. dazu Lück, Sachsenspiegel (wie Anm.60), S.55 ff.107 Dazu Schild, Fehde (wie Anm.100), S.136 ff. - Zur Unterscheidung vgl. Hartmut Hoffmann, Gottesfriede und Treuga Dei. Stuttgart 1964.108 Die dafür Geldzahlungen leisten mussten.109 Vgl. Drescher, Denkformen (wie Anm.30).110 Vgl. Schild, Fehde (wie Anm.100), S.142.

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Interessant ist nun die nähere Charakterisierung dieses allgemeinen Friedens. Eike stellte ihn nicht (nur) als gegebenen Zustand dar, sondern (wesentlich) als Werk des – wie wir wissen – von Gott eingesetzten Königs, der deshalb durch Friedensbruch in seinem Autoritäts- und Rechtsanspruch angegriffen wird (und darauf mit der Strafe reagieren kann)111. Deutlich wird diese Konzeption in III 2, in dem die Geistlichen und Juden als nur dann "in des Königs täglichem Frieden stehen[d]" aufgefasst werden, wenn sie keine Waffen tragen. Auch III 7 § 3 spricht von dem Richten über eine Gewalttat an einem Juden "dem Königsfrieden entsprechend, den [der Täter] gebrochen hat" und gibt sogar den Grund dieses Schutzes für Juden an: "Diesen Frieden erwirkte den Juden Josephus bei König Vespasian, als er dessen Sohn Titus von der Gicht heilte".

Das Verhältnis von allgemeinem Friedenszustand und diesen Sonderfrieden - die wir aus der Formulierung des "alten Friedens" (II 66) kennen, bezogen auf bestimmte Personen und bestimmte Örtlichkeiten - wurde von Eike als Identität gedacht und zugrunde gelegt. Deutlich wird dies in der Bestimmung des I 63 § 1, wonach das Opfer dem Täter vorwerfen musste: "dass er den Frieden ihm gegenüber gebrochen habe, auf des Königs Straßen oder im Dorfe". Damit wird nicht der "gelobte Friede" - wie ihn III 8; III 9 § 2 anführen112 - angesprochen, sondern eben auch der Friede "auf des Königs Straßen oder im Dorfe", also der allgemeine Friedenszustand. Dieser ist somit personalisiert, damit ein Verhältnis der von ihm erfassten Personen, die deshalb ein Recht auf friedliches (von fremder Gewalt verschontes) Leben haben. Selbst rechtsunfähige Leute werden durch dieses Friedensrecht geschützt (III 45 § 11; III 46 § 1). Man kann durchaus von einem untrennbaren Zusammenhang von Frieden und Recht sprechen113; aber dieses Recht ist das Rechtsverhältnis zwischen den betreffenden und betroffenen Personen: einmal das Verhältnis des Friedensbrechers zum König, sodann das Verhältnis des Friedensbrechers zu dem Opfer, das durch den Friedensbruch in seiner Rechtsstellung getroffen wird.

Daher verletzte ein Friedensbruch den König in seiner Stellung als Friedenswahrer, wozu er durch Gott eingesetzt wurde, weshalb er mit Sanktionen reagieren durfte. Und es verletzte das Opfer in seinem persönlichen Friedenszustand, der zwar letztlich auf Gott und den König

111 Vgl. Heinz Angermeier, Königtum und Landfriede im Spätmittelalter. München 1966; Götz Landwehr, Königtum und Landfrieden, in: Der Staat 7, 1984, S.84-97. - Zu dieser Idee des friedenstiftenden Königs (als des obersten Gerichts- und damit: Rechts-Herrn) vgl. Arno Buschmann, Herrscher und Landfriede im 13. Jahrhundert, in: David McLintock (Hg.), Geistliche und weltliche Epik des Mittelalters in Österreich. Göppingen 1987, S.75-98; Michael Frase, Friede und Königsherrschaft. Frankfurt a. M. 1990; Janz, Rechtssprichwörter (wie Anm.25), S.107 ff.; Schild, Fehde (wie Anm.100), S.107 ff.; Karl Schnith, Recht und Friede. Zum Königsgedanken im Umkreis Heinrichs III., in: Hist. Jb 81, 1962, S.22-57.112 Dazu vgl. Rudolf His, Gelobter und gebotener Friede im deutschen Mittelalter, in: ZRG-GA 33, 1912, S.139-223.113 Zu dieser Verbindung (auch als Formel "Pax et iustitia") vgl. die Beiträge in Fried, Träger (wie Anm.94); Hans Hattenhauer, Pax et iustitia. Hamburg 1983; Gernot Kocher, Friede und Recht, in: Sprache und Recht. Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand I. Berlin 1986, S.405-415; Schnith, Recht (wie Anm.111), S.22 ff.; Anton Schwob, fride unde reht sint sere wunt. Historiographen und Dichter der Stauferzeit über die Wahrung von Frieden und Recht, in: Sprache und Recht. Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand II. Berlin 1986, S.847-869; Hans Thieme, Friede und Recht im mittelalterlichen Reich. Leipzig 1945. - Vgl. auch die bildlichen Darstellungen von Iustitia und Pax bei Wolfgang Schild, Bilder von Recht und Gerechtigkeit. Köln 1995, S.111 ff.

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zurückgeführt wurde, aber doch eine selbständige und eigenständige Bedeutung hatte: denn – wie die Reimvorrede in Z. 139, 140 angibt – „Gott selber hat uns gelehrt, dass wir alle Recht sind“. Dies zeigt sich darin, dass die Verfolgung und Ahndung des Friedensbruches durch den verletzten König nur erfolgt, wenn der persönlich Betroffene als Kläger das Gericht anruft114. Dann beginnt die Friedenswahrung und –wiederherstellung durch den König als den Inhaber der Gerichtsgewalt, vertreten durch den Grafen im Landgericht.

Entscheidend ist also der vom Friedensbruch unmittelbar Betroffene, nicht der König, der nur mittelbar als Garant des allgemeinen Friedenszustandes betroffen ist. Wenn der unmittelbar Betroffene die Verletzung seines Friedensverhältnisses zum Täter hinnimmt, kann auch der König nicht eingreifen. Gleiches gilt, wenn die Betreffenden ihr Problem auf nicht-gerichtliche Weise lösen wollen: sei es durch Verhandlungen vor einem Vermittler, sei es durch gewaltsame Aktionen (Fehden, die freilich der König im Interesse seiner Herrschaft zurückdrängen will, was ihm zu Zeiten Eikes aber noch trotz aller Landfrieden bei weitem nicht gelungen war). Wie bereits oben angemerkt, bedeutet dies im übrigen nicht, dass das nicht-gerichtliche Handeln – etwa als Vermittlungshandeln oder Fehdehandeln - nicht ein rechtliches Handeln sein könnte115: Eike beschränkte sich nur auf das im Gerichtsverfahren zu beurteilende Handeln. Er kannte das Inquisitionsverfahren noch nicht und die Verfolgung/ Ahndung von Amts wegen, die seit 1199 im kirchlichen Disziplinarverfahren begann116. Er kannte nur den alten Klageprozess, der vor Gericht das Verhältnis von Täter und Opfer thematisierte: also ihr Rechtsverhältnis, das geordnet werden sollte und konnte nach allgemeinen Kriterien (für rechtliches Handeln), aber nur, wenn und soweit es vor Gericht gebracht wurde. Primär entschieden die beiden „Privatparteien“, wie sie ihr Verhältnis leben wollten; darin freilich zu Rechtlichkeit verpflichtet durch Gott und dafür zur Verantwortung gezogen im göttlichen Gericht; auch in den Fehden, auch in den Vermittlungsverhandlungen.

c) Konkrete Ordnung der Rechtsverhältnisse:

Von dieser Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens als eines Klageprozesses, der von der Initiative des Opfers abhängig war, zeigt sich ein deutliches Zurücktreten der königlichen Gerichtsbarkeit und damit der allgemeinen Ordnung eines Königfriedens. Es interessiert (noch) primär die konkrete Ordnung zwischen den Beteiligten – Einzelpersonen oder Sippen oder Gefolgschaften -, die ihr Verhältnis zueinander (als Rechtsverhältnis) mit eigener Kraft ordnen und bestimmen können und dies rechtlich und gottgefällig auch tun sollen. Das Anrufen des Gerichts und damit das Ansprechen eines allgemeinen Rechtszustandes erfolgt nur dort, wo die Herstellung der Ordnung den unmittelbar Betroffenen nicht aus eigener Kraft gelingt. Dabei geht es nicht nur um die Versuche zu gewaltsamer Bereinigung des Konflikts (im Wege der Fehde), sondern auch um die Verhandlungen unter Einschaltung eines Vermittlers.

Freilich will Eike mit seinem Buch eine geschriebene Ordnung für das Verhalten im und vor dem Gericht erstellen. Es ist dabei deutlich, wie er an einer allgemeinen rechtlichen Ordnung der Verhältnisse, an einer Rechtswelt, orientiert und interessiert ist. Darin stand er in der Reihe der anderen, im 12. und 13. Jh. verfassten Rechtsbücher117. Aber trotzdem ist diese 114 Dazu vgl. Janz, Rechtssprichwörter (wie Anm.25), S.449 ff.; Ekkehard Kaufmann, Wo kein Kläger, da kein Richter, in: JuS 1961, S.182-184; Gerhard Köbler, Klage, klagen, Kläger, in: ZRG-GA 92, 1975, S.1-20; Wolfgang Sellert, „Wo kein Kläger, da kein Richter“, in: HRG II, Sp.853-855; Jürgen Weitzel, „Klage, Kläger“, in: LexMA V, Sp.1190-1191. – Auf das Rügeverfahren ist hier nicht näher einzugehen.115 Zum Rechtscharakter der Fehde vgl. Dilcher, Zwangsgewalt (wie Anm.21), S.128 ff. – Zum Problem des Handhaftverfahrens vgl. Ishikawa, Struktur (wie Anm.15), S.147 ff.116 Vgl. Alexander Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532 – 1846. Paderborn 2002, S.44 ff.117 Vgl. Kroeschell, Rechtsgeschichte I (wie Anm.69), S.246 ff.

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Rechtswelt immer erst noch vermittelt über die Rechtsverhältnisse der Einzelnen118. Die Ordnung ist noch – um mit Carl Schmitt zu sprechen119 – eine konkrete.

Diese Verhältnisse der Einzelnen sind Rechtsverhältnisse, weil sie vom rechtlichen Handeln her gedacht sind und deshalb von der Verpflichtung zu gottgefälliger Erfüllung seiner Gebote. Die Einhaltung des Friedensgebotes ist Pflicht der Christen gegenüber ihrem rechtlichen Gott. Es lag von daher nahe, das Recht des Dekalogs zur Grundlage auch eines vorbildlichen Sachsenrechts zu machen. Dies betraf nicht nur das immer wichtiger werdende Verbot, einen Menschen zu töten, sondern auch Ehebruch und - vor allem - Diebstahl, der bereits von den Landfrieden als strafwürdige Missetaten aufgenommen worden war120, obwohl er im strengen Sinne keinen Friedensbruch darstellt121. Die Verbindung mit dem Frieden lag auf der Hand: jeder Verstoß gegen eines der Gebote stört den Friedensbund mit Gott.

Diese konkrete Ordnung der Lebensverhältnisse zeigt sich im übrigen in dem Phänomen, auf das in der Einleitung hingewiesen wurde, dass nämlich Eike die zu bestrafenden Taten bzw. Täter nicht nach Rechtsgütern ordnet, sondern sie in bunter Vielfalt den einzelnen Lebensverhältnissen zuordnet, die auch mit nicht strafrechtlichen Regelungen dargestellt werden. D.h.: Eike argumentiert durchaus systematisch122: aber nicht in einem abstrakten, auf allgemeine (gemeinsame) Merkmale und Beziehungen analysierten System des rechtlichen Zusammenhanges von "Straftat" und "Strafe", sondern in einem auf die Lebensverhältnisse bezogenen, damit: "konkreten" System, in dem die wichtigen Situationen des Zusammenlebens mit ihren rechtlichen Bezügen und Konsequenzen dargestellt werden123, zu denen in gleicher (und daher auch durcheinander zu nennenden) Weise öffentliches, bürgerliches und Straf-Recht gehören (oder besser: die noch nicht in der heute üblichen Weise unterschieden waren). Fast könnte man heute (von einem heutigen Blick aus:) meinen: der Spiegler kannte zwar bereits Strafrecht, aber nicht in einem scharfen Unterschied zum bürgerlichen Recht, also jedenfalls nicht qualitativ, sondern nur in bunter Mannigfaltigkeit unterschieden je nachdem, ob in dem bestimmten Lebensverhältnis ein Mensch getötet, verstümmelt, geprügelt und geschoren werden durfte oder ob er einem Geschädigten den Ersatz des Schadens bezahlen musste oder ob sonst eine bestimmte Rechtsfolge (wie etwa eine Rückgabepflicht [III 47 § 1]) anzumerken war. Denn in einem Merkmal waren alle diese rechtlichen Wirkungen des Lebensverhältnisses gleich: sie folgten nicht einfach aus der Natur der Sache von selbst, konnten auch nicht von irgendeinem „Gewohnheitsrecht" abgeleitet werden124, sondern wurden vom Gericht in einem rechtlichen Verfahren festgesetzt. Diese Abhängigkeit des Rechts vom Gericht(sverfahren)125 war dem Spiegler offensichtlich das

118 Vgl. Kannowski, Rechtsbegriffe (wie Anm.51), S.14.119 Zu diesem Begriff vgl. C. Schmitt, Arten (wie Anm.23), S. 13 ff. Dazu allgemein vgl. Wolfgang Schild, Das konkrete Ordnungsdenken als Methode der Rechtsgeschichte, in: Rechtsgeschichte & Interdisziplinarität. Festschrift für Clausdieter Schott. Frankfurt a. M. 2001, S.143-154.120 Vgl. dazu Wadle, Strafe (wie Anm.94), S.240 f.121 Noch weniger kann der Ehebruch als Friedensbruch eingeschätzt werden; anders Rummel, Stellung (wie Anm.86), S.195.122 Zum Problem des "Gedankenganges" des Sachsenspiegels vgl. Käthe Ingeborg Beier, Die Systematik des Sachsenspiegels (Landrecht). Diss. Kiel 1962; Ignor, Rechtsdenken (wie Anm.25), S.260 ff.; Ernst Molitor, Der Gedankengang des Sachsenspiegels, in: ZRG-GA 65, 1947, S.15-69; Theuerkauf, Lex (wie Anm.64), S.117 ff.123 In diesem Sinne vgl. Nehlsen-von Stryk, Rechtsdenken (wie Anm.51), S.42.124 Dazu vgl. Jürgen Weitzel, Gewohnheitsrecht und fränkisch-deutsches Gerichtsverfahren, in: Dilcher, Gewohnheitsrecht (wie Anm.69), S.67-86. 125 Dazu vgl. Ignor, Rechtsdenken (wie Anm.25), S.156 ff.;; Ders., Indiz und Integrität. Anmerkungen zum Gerichtsverfahren des Sachsenspiegels, in: Ruth Schmidt-Wiegand (Hg.),

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Wichtigste und Wesentliche, hinter dem die einzelnen Unterschiede zurücktraten. Man kann also sagen: der Sachsenspiegel war an einem prozessualen Rechtsbegriff (oder besser: Rechtsverständnis) ausgerichtet im Gegensatz zu dem heutigen theoretischen, an Universitäten gelehrten Rechtsbegriff, der am materiellen Strafrecht (also der Lehre von den Straftatbeständen, unter deren gesetzliche Formulierung die Lebenssachverhalte zu subsumieren sind, die daher von den betreffenden Personen „erfüllt“ werden) primär interessiert ist. Recht war damals noch nicht festgesetzt, niedergeschrieben, ein Text eines rechtlichen Sollens mit verbindlicher Geltung, unter den das soziale Sein des Lebens subsumiert und das dann darauf angewendet werden konnte und sollte; sondern Recht wurde zwar einerseits im Alltag in den einzelnen Verhältnissen der Menschen mit der Selbstverständlichkeit des Gewohnten und als Sitte Üblichen gelebt, doch in diesen Zusammenhängen in einer eher unbestimmten, pragmatischen, "sachgedanklichen" Weise126; erst der Konflikt um unterschiedliche Rechtswirkungen verlangte die genaue Bestimmung des Rechts im Einzelfall, die durch das Verfahren vor Gericht unter Heranziehung der sozialen Autoritäten, denen man die richtige Rechtskunde (Rechtsweisheit) zutraute, durchgeführt wurde127. Das Gericht war (noch) nicht ein staatliches Organ, das das Recht durchzusetzen helfen sollte; sondern128 es war eine Instanz der anerkannten Autoritäten, die unter Beteiligung der Öffentlichkeit im Zusammenspiel von Richter (als dem Leiter des Verfahrens, der aufgrund seiner Persönlichkeit und im Namen des obersten Gerichtsherrn - des Königs - die

Text – Bild - Interpretation I. München 1986, S.77-91, hier 77; Ishikawa, Struktur (wie Anm.15), S.135 ff.; Ders., Gericht (wie Anm.2) S.441 ff.; Köbler, Recht (wie Anm.49); Karl Kroeschell, Der Rechtsbegriff der Rechtsgeschichte, in: ZRG-GA 111, 1994, S.310-329; Lück, Sachsenspiegel (wie Anm.60), S.13; Nehlsen-von Stryk, Rechtsdenken (wie Anm.51), S.33 ff.; Jürgen Weitzel, "Deutsches Recht", in: LexMA III, Sp.777-781; Ders., Dinggenossenschaft (wie Anm.49); Ders., Zum Rechtsbegriff der Magdeburger Schöffen, in: Dietmar Willoweit/ Winfried Schich (Hrsg.), Studien zur Geschichte des sächsisch-magdeburgischen Rechts in Deutschland und Polen. Frankfurt 1980, S.62-93; Ders., Versuch (wie Anm.73), S.371 ff.126 Zur Kennzeichnung als "Überzeugungsrecht" vgl. Nehlsen-von Stryk, Rechtsdenken (wie Anm.51), S.36; Weitzel, Gewohnheitsrecht (wie Anm.124), S.79 ff.; Ders., Gewohnheiten im lübischen und im sächsisch-magdeburgischen Rechtskreis, in: Recueils de la Société Jean Bodin 52, 1986, S.325-358, hier 331. - Zum Thema vgl. auch Raoul van Canegem, Das Recht im Mittelalter, in: Wolfgang Fikentscher/ u.a. (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Tradition. Freiburg i. Br. 1980, S.609-667; Kroeschell, Recht (wie Anm.49), S.309 ff.; Ders., Rechtsfindung. Die mittelalterlichen Grundlagen einer modernen Vorstellung, in: Festschrift für Hermann Heimpel III. Göttingen 1971, S.498-517; Wolfgang Schild, Recht, in: Peter Dinzelbacher (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte Darmstadt 1993, S.513-533; Gustav Klemens Schmelzeisen, Rechtsfindung im Mittelalter, in: ZRG-GA 91, 1974, S.73-89.127 So überzeugend Weitzel, Dinggenossenschaft (wie Anm.49); Ders., Versuch (wie Anm.73). Dazu vgl. Nehlsen-von Stryk, Justizbegriff (wie Anm.57), S.217 ff. - Vgl. auch die Theorie eines sinnlich-leiblich-gelebten Rechtes als der einzelnen konkreten Rechtsverhältnisse bei Schild, Recht (wie Anm.126), S.513 ff.128 Vgl. dazu Gerhard Buchda, "Gerichtsverfahren", in: HRG I, Sp.1551-1554; Hermann Conrad, Die Gestalt und soziale Stellung des Richters im Wandel der Zeit. o.O. 1962; Helmut Hillmann, Das Gericht als Ausdruck deutscher Kulturentwicklung im Mittelalter. Stuttgart 1930; Ignor, Indiz (wie Anm.125), S.79; Gerhard Köbler, Richten - Richter - Gericht, in: ZRG-GA 87, 1970, S.57-113; Götz Landwehr, "Urteilfragen" und "Urteil finden" nach spätmittelalterlichen, insbesondere sächsischen Rechtsquellen, in: ZRG-GA 96, 1979, S.1-37; Jürgen Weitzel, "Gerichtsverfahren. Germanisches und deutsches Recht", in: LexMA IV, Sp.1333-1335.

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Emotionen bannen konnte) und den rechtsweisen (recht-schaffen[d]en) Urteilern - den Schöffen129 -, die den den Konflikt lösenden Rechtsspruch erarbeiten sollten und konnten: selbstverständlich nicht als ihre eigene (subjektive) Rechtsmeinung, sondern mit dem Anspruch, das immer schon - und damit auch: gegenwärtig - geltende Recht der Altvorderen „erinnert" zu haben130.

Deshalb fällt es – um ein (weiteres) Beispiel zu geben - heute so schwer, die bereits genannte Geldstrafe (das Strafgeld) von der Geldzahlung als "(Geld-) Buße" einerseits, vom Schadenersatz (vor allem "Wergeld" ["Manngeld"] bei Tötung eines Menschen) andererseits zu unterscheiden: denn der Sachsenspiegel macht ausdrücklich diesen Unterschied von Geldstrafe und Buße (vgl. nur II 14 § 1 oder II 15 § 2 oder III 50) und von Buße und Manngeld (vgl. III 45), ohne freilich ihn qualitativ anzugeben; außer dass die Geldstrafe an den Richter und die Buße wie auch der Schadenersatz an die gegnerische Partei geht (III 53 § 2), dass die Höhe der Geldstrafe sich nach der Stellung des Richters (vgl. III 64) oder nach der Schwere der Missetat und die Höhe der Buße wie des Schadenersatzes sich nach dem Wert des Schadens richtet und dass offensichtlich die Buße dem Strafgeld folgt (vgl. III 45 § 10). Manche Rechtshistoriker131 sehen in der Buße zugleich den bürgerlichrechtlichen Schadenersatz, die daher beide einheitlich und wesentlich von der Geldstrafe/ dem Strafgeld als Strafe zu unterscheiden seien; andere wiederum anerkennen diese Unterscheidung von Geldstrafe und Buße nur innerhalb eines weit gefassten Strafbegriffes selbst, unterscheiden also Geldstrafe/ Strafgeld und Buße als öffentliche (an den Richter zu zahlende) und private (an den Verletzten zur Genugtuung wegen der in der Missetat [auch] liegenden Beleidigung zu zahlende) Strafe, und nehmen zusätzlich Geldzahlungen als (zivilrechtlichen) Schadenersatz an, der - wie z.B. in III 3 („wem [Geisteskranke] Schaden zufügen, dem soll es ihr Vormund bezahlen“) oder III 48 §§ 1, 3, 4 - dann nicht als eine solche Strafe (im weiten Sinne) aufgefasst werden könne. Eine dritte Meinung, die m. E. das Richtige trifft, legt die Unterscheidung in drei Geldleistungen - im übrigen meist in Vieh132 - zugrunde: Geldstrafe (Strafgeld) an den Richter, Buße als Genugtuung (im Sinne eines immateriellen Schadenersatzes) für die in der Missetat liegende Beleidigung an das Opfer und materieller Schadenersatz an das Opfer bzw. im Falle des Wergeldes (Manngeldes)133 an die Angehörige des Toten.

129 Dazu vgl. Friedrich Battenberg, "Schöffen, Schöffengericht", in: HRG IV, Sp.1463-1469; Jürgen Weitzel, "Schöffe, -ngericht, -nbank", in: LexMA VII, Sp.1514-1516.130 Dazu Hanna Vollrath, Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften, in: HZ 233, 1981, S.571-594.131 Zu dieser Diskussion vgl. Friese, Strafrecht (wie Anm.2), S.171 ff.; Hugo Hälschner, Das preußische Strafrecht I. Bonn1855, S.46; Hans-Rudolf Hagemann, „Gewette“, in: HRG I, Sp.1674-1675; Otto Hammer, Die Lehre vom Schadenersatze nach dem Sachsenspiegel und den verwandten Rechtsquellen. Breslau 1885; Hans Hattenhauer, Über Buße und Strafe im Mittelalter, in: ZRG-GA 100, 1983, S.53-74, hier 66; His, Strafrecht I (wie Anm.2), S.609; Heinz Holzhauer, "Geldstrafe", in: HRG II, Sp.1466-1474; Ishikawa, Struktur (wie Anm.15), S.146 f.; Ekkehard Kaufmann, "Buße", "Friedensgeld", in: HRG I, Sp.575 ff., 1296 f.; Hermann Nehlsen, Buße (wie Anm.91), Sp. 1144 ff.; Scheele, radebrechen (wie Anm.1), S.61 f.; Schott, Sachsenspiegel als mittelalterliches Rechtsbuch (wie Anm.28), S.33. 132 Dazu vgl. Peter Ilisch, Geld zur Zeit des Sachsenspiegels, in: Mamoun Fansa (Hg.), Aus dem Leben gegriffen - Ein Rechtsbuch spiegelt seine Zeit. Oldenburg 1995, S.361-366.133 Das Wergeld ist für Eike nur mehr Schadenersatz; vgl. Schott, Sachsenspiegel als mittelalterliches Rechtsbuch (wie Anm.28), S.33. - Zum Problem vgl. Wolfgang Schild, "Wergeld", HRG V, Sp.1268-1271.

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d) Ergebnis:

Als Ergebnis ist festzuhalten, dass der Sachsenspiegel auch nicht von einer Friedensordnung ausgeht, die durch eine Tat „gebrochen“ werden könnte, die dadurch zu einem „Verbrechen“ würde. Der Friedensbruch betrifft primär das Verhältnis der Menschen, die es durch ihre „privaten“ Aktionen regeln und bestimmen, und zwar durchaus in einer rechtlichen (oder unrechtlichen) Weise. Erst durch das Vor-das-Gericht-Bringen wird daraus eine Tat oder ein Täter, dessen Beurteilung der Sachsenspiegel regelt.

4. Brechen des Verhältnisses zum Opfer

Nun könnte man das „Verbrechen“ als Bruch dieses Verhältnisses zum Opfer umschreiben. Aber dafür passt das Wort seinem Sprachsinn nicht. Denn es ist – im Unterschied zur einer „Verletzung“ des Opfers, einer Gewalttat, einer „Missetat“, auch der „Missachtung“ seiner Rechtsstellung – auf den allgemeinen Bereich der Ordnung des Zusammenlebens bezogen. Deshalb passt ein „Verbrechen“ auch nicht zum Klageverfahren, sondern begründet ein Verfolgungsinteresse der Gesamtheit.

III. „Ungerichte“ als „vor Gericht als Unrecht strafbare Taten“

Als Ergebnis folgt aus der Ablehnung der Übersetzung mit „Verbrechen“ der Vorschlag, bei dem Wort „ungerichte“ zu bleiben. Freilich trifft die Kritik von Schulze zu, dass derjenige, der ein „Quellenwort“ einfach stehen lasse, eigentlich nichts sage; es sei erforderlich, aus einem stummen Zeichen einen Begriff werden zu lassen, der sachgemäß sei134.

Betrachten wir deshalb zum Abschluss nur kurz den möglichen Wortsinn von „ungerichte“. T. Ishikawa135 bestimmt ihn als „Negation des Gerichts“ oder als „Gegensatz zum Gericht“; doch wird dies nur verständlich, wenn man bedenkt, dass – wie ausgeführt - Ishikawa dieses „Gericht“ mit dem „Recht“ gleichsetzt. „Negation des Gerichts“ bedeutet von daher „Negation des Rechts“, aber eben eines Rechts, das erst vor Gericht geklärt und für die Parteien wie für die Öffentlichkeit Rechtskraft gewinnt, wird das Urteil doch getragen von der Gerichtsgewalt des Königs (der dazu von dem rechtlichen Gott eingesetzt worden ist). Außerhalb des gerichtlichen Verfahrens ist es offensichtlich schwierig (geworden), ein rechtliches Urteil abzugeben und durchzustehen (allgemein zu machen), auch wenn die Pflicht zu rechtlichem Handeln Gott gegenüber weiterhin unbedingt besteht. Ob ein Gewalthandeln rechtlich ist, weil es im Rahmen der herkömmlich anerkannten Fehde geschieht, oder ob es unrechtlich ist, lässt sich nicht (mehr) verlässlich sagen, in den Zeiten, wo die Gottes- und Landfriedensbewegung die Sensibilität für die Notwendigkeit eines gewaltfreien Zusammenlebens gesteigert hat (und damit dem Herrschaftsinteresse der Könige entgegengekommen ist). Die Konfliktgegner können versuchen, sich auf eine gemeinsame Beurteilung durch Einschaltung von Vermittlern zu einigen, was ebenfalls ein rechtliches Handeln darstellt. Ein verlässliches, alle bindendes Urteil darüber kann aber nur in dem gerichtlichen Verfahren gegeben werden, in dem dieses Handeln als rechtliches Handeln oder als „ungericht[e]“ bestimmt und damit als strafbare Handlung qualifiziert wird. „Ungerichte“ sind somit „vor Gericht als Unrecht [bestimmte und daher] strafbare Taten“. Dafür wollte Eike von Repgow eine Begründungshilfe geben, indem er das alte gute Recht – in der oben diskutierten Bedeutung – aufzeichnete; und damit zugleich eine neue Zeit des sich nun an schriftlichen Texten orientierenden rechtlichen Denkens einleitete.134 Vgl. Schulze, Mediävestik (wie Anm.17), 395.135 Vgl. Ishikawa, Gericht (wie Anm.2), S.464. – Ruth Schmidt-Wiegand geht in ihrer Abhandlung über den „Rechtswortschatz“ (wie Anm.49) auf das Wort „ungerichte“ nicht ein.

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