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Mit einem Gottesdienst im Petersdom hatPapst Franziskus am Aschermittwoch, 17. Fe-bruar, die Fastenzeit begonnen. Der Gottes-dienst wurde live von den vatikanischen Me-dien übertragen. Als Zeichen der Umkehr undBuße legte der Erzpriester von Sankt Peter,Kardinal Angelo Comastri, dem Papst das tra-ditionelle Aschenkreuz auf. Franziskus sagtein der Predigt:
Wir beginnen den Weg der Fastenzeit. An sei-
nem Anfang stehen die Worte des Propheten Joël,
welche die Richtung angeben, der wir folgen sol-
len. Es ist eine Einladung, die aus dem Herzen
Gottes kommt, der uns mit weit geöffneten Ar-
men und mit sehnlich blickenden Augen anfleht:
»Kehrt um zu mir von ganzem Herzen« (Joël
2,12). Kehrt um zu mir. Die Fastenzeit ist eine
Rückkehr zu Gott. Wie oft haben wir, vor lauter
Beschäftigung oder aus Gleichgültigkeit, zu ihm
gesagt: »Herr, ich werde später zu dir kommen,
warte … Heute kann ich nicht, aber morgen
werde ich anfangen, zu beten und etwas für die
anderen zu tun.« Und so geht es einen Tag nach
dem anderen. Jetzt appelliert Gott an unser Herz.
Im Leben werden wir immer irgendwelche
Dinge zu tun haben und Ausreden finden, aber,
Brüder und Schwestern, heute ist es an der Zeit,
zu Gott zurückzukehren.
Kehrt um zu mir – sagt er – von ganzem Her-
zen. Die Fastenzeit ist eine Reise, die unser ganzes
Leben, uns als Ganze miteinbezieht. Es ist eine
Zeit, um die Wege zu überprüfen, die wir gehen,
eine Zeit, um wieder den Pfad zu finden, der uns
nach Hause zurückführt, und um die grundle-
gende Verbindung mit Gott wiederzuentdecken,
von dem alles abhängt. Die Fastenzeit ist nicht
eine Reihe von Opfervorsätzen, sie lässt uns er-
kennen, worauf das Herz gerichtet ist. Das ist der
Kern der Fastenzeit: Worauf ist mein Herz gerich-
tet? Versuchen wir uns zu fragen: Wohin führt
mich das Navigationsgerät meines Lebens – zu
Gott oder zu meinem eigenen Ich? Lebe ich, um
dem Herrn zu gefallen oder um beachtet, gelobt,
bevorzugt zu werden, an erster Stelle zu stehen
und so weiter? Habe ich ein »flatterhaftes« Herz,
das einen Schritt vorwärts und einen Schritt rück-
wärts macht, das ein wenig den Herrn und ein
wenig die Welt liebt, oder habe ich ein Herz, das
fest in Gott steht? Fühle ich mich wohl mit mei-
nen Scheinheiligkeiten, oder kämpfe ich darum,
mein Herz von aller Falschheit und Unwahrheit
zu befreien, die es anketten?
Die Reise der Fastenzeit ist ein Auszug aus der
Knechtschaft in die Freiheit. Es sind vierzig Tage;
sie erinnern an die vierzig Jahre, in denen das
Volk Gottes durch die Wüste zog, um in sein Her-
kunftsland zurückzukehren. Aber wie schwer
war es, Ägypten zurückzulassen! Es war viel
schwieriger, das Ägypten im Herzen des Volkes
Gottes, dieses Ägypten, das sie immer in sich tru-
gen, zurückzulassen als das Land Ägypten selbst
… Es ist sehr schwierig, Ägypten hinter sich zu
lassen. Während der Reise gab es stets die Versu-
chung, den Zwiebeln nachzutrauern (vgl. Num
11,5), zurückzugehen, sich an die Erinnerungen
der Vergangenheit zu klammern, an irgendein
Idol. Auch für uns ist es so: Die Rückkehr zu
Gott wird durch unsere
krankhaften Anhäng-
lichkeiten behindert,
sie wird aufgehalten
durch die verführeri-
schen Schlingen des
Lasters, durch die
falsche Sicherheit des
Geldes und des Scheins,
durch das lähmende
Gejammer, sich als Op-
fer zu sehen. Um den Weg gehen zu können,
müssen wir diese Illusionen entlarven.
Aber fragen wir uns: Wie können wir also auf
unserem Weg zu Gott vorankommen? Dabei hel-
fen uns die Beispiele von Rückkehren, von denen
uns das Wort Gottes erzählt.
Schauen wir auf den verlorenen Sohn, und
wir verstehen, dass es auch für uns an der Zeit ist,
zum Vater zurückzukehren. Wie der verlorene
Sohn haben auch wir den Geruch von Zuhause
vergessen, wir haben kostbare Güter für belang-
lose Dinge verschleudert und stehen mit leeren
Händen und einem unzufriedenen Herzen da.
Wir sind gefallen: Wir sind Kinder, die ständig fal-
len, wir sind wie kleine Kinder, die zu laufen ver-
suchen, aber hinfallen und jedes Mal von ihrem
Vater aufgerichtet werden müssen. Es ist die Ver-
gebung des Vaters, die uns immer wieder auf die
Beine bringt: Die Vergebung Gottes, die Beichte,
ist der erste Schritt auf unserer Rückkehr. Zur
Beichte habe ich gesagt: Ich bitte die Beichtväter,
seid wie ein Vater, nicht mit der Peitsche, son-
dern mit der Umarmung.
Dann müssen wir zu Jesus zurückkehren, wir
müssen es wie der Aussätzige machen, der ge-
heilt wurde und umkehrte, um ihm zu danken.
Alle zehn waren geheilt worden, aber nur er ist
auch gerettet worden, weil er zu Jesus zurück-
kehrte (vgl. Lk 17,12-19). Wir alle haben Leiden
im geistlichen Bereich, doch allein können wir sie
nicht heilen; wir alle haben tiefsitzende Laster,
doch allein können wir sie nicht ausrotten; wir
alle haben Ängste, die uns lähmen, doch allein
können wir sie nicht überwinden. Wir müssen
diesen Aussätzigen nachahmen, der umkehrte
und sich vor den Füßen Jesu zu Boden warf. Wir
brauchen die Heilung durch Jesus, wir müssen
unsere Wunden vor ihn hinlegen und ihm sagen:
»Jesus, hier bin ich vor dir, mit meiner Sünde, mit
meinem Elend. Du bist der Arzt, du kannst mich
befreien. Heile mein Herz.«
Noch einmal: Das Wort Gottes fordert uns auf,
zum Vater zurückzukehren, es bittet uns, zu Je-
sus zurückzukehren, und wir sind aufgerufen,
zum Heiligen Geist zurückzukehren. Die Asche
auf unserem Haupt erinnert uns daran, dass wir
Staub sind und zum Staub zurückkehren wer-
den. Aber unserem Staub hat Gott seinen Geist
des Lebens eingehaucht. Wir können also nicht
leben, indem wir dem Staub nachjagen und Din-
gen hinterherlaufen, die heute sind und morgen
vergehen. Kehren wir zurück zum Geist, der le-
bendig macht, kehren wir zurück zum Feuer, das
unsere Asche wiederauferstehen lässt, zu dem
Feuer, das uns lehrt zu lieben. Wir werden immer
Staub sein, aber, wie ein liturgischer Hymnus
sagt, »verliebter« Staub. Beten wir wieder zum
Heiligen Geist, entdecken wir wieder neu das
Feuer des Lobpreises, das die Asche des Jammers
und der Resignation verbrennt.
Brüder und Schwestern, unsere Rückkehr zu
Gott ist nur möglich, weil es seine Hinkehr zu uns
gegeben hat. Andernfalls wäre sie nicht möglich.
Bevor wir zu ihm gekommen sind, ist er zu uns
herabgestiegen. Er kam uns zuvor und ging uns
entgegen. Für uns ist er tiefer herabgestiegen, als
wir es uns vorstellen konnten: Er hat sich zur
Sünde gemacht, er hat sich zum Tod gemacht. Ge-
nau daran hat uns der heilige Paulus erinnert:
»[Gott] hat den, der keine Sünde kannte, für uns
zur Sünde gemacht« (2 Kor 5,21). Um uns nicht al-
lein zu lassen und um uns auf unserem Weg zu
begleiten, ist er in unsere Sünde und unseren Tod
hinabgestiegen, hat er die Sünde berührt, hat er
unseren Tod berührt. Unsere Reise bedeutet also,
uns an der Hand nehmen lassen. Der Vater, der
uns zur Rückkehr ruft, ist derjenige, der das Haus
verlässt, um uns zu suchen; der Herr, der uns
heilt, ist derjenige, der sich am Kreuz verwunden
ließ; der Heilige Geist, der uns dazu bringt, unser
Leben zu ändern, ist derjenige, der kräftig und
sanft unserem Staub Leben einhaucht.
Darum also die Bitte des Apostels: »Lasst euch
mit Gott versöhnen!« (V. 20). Lasst euch versöh-
nen: Der Weg beruht nicht auf unserer eigenen
Kraft; keiner kann sich aus eigener Kraft mit Gott
versöhnen, es ist nicht möglich. Die Bekehrung
des Herzens – mit den Zeichen und Handlungen,
die sie zum Ausdruck bringen – ist nur möglich,
wenn sie vom Primat des Handelns Gottes aus-
geht. Wir kehren zu ihm nicht durch unsere
Fähigkeiten und Verdienste zurück, die wir her-
ausstellen, sondern durch seine Gnade, die wir
annehmen. Die Gnade rettet uns, das Heil ist
reine Gnade, reines Geschenk. Jesus hat es uns
im Evangelium klar gesagt: Was uns gerecht
macht, ist nicht unsere vor den Menschen geübte
Gerechtigkeit, sondern unsere aufrichtige Bezie-
hung zum Vater. Der Anfang unserer Rückkehr
zu Gott ist die Erkenntnis, dass wir seiner bedür-
fen, dass wir seiner Barmherzigkeit bedürfen, sei-
ner Gnade. Dies ist der richtige Weg, der Weg der
Demut. Merke ich, dass ich seiner bedarf, oder
genüge ich mir selbst?
Heute neigen wir unser Haupt, um die Asche
zu empfangen. Am Ende der Fastenzeit werden
wir uns noch mehr hinabbeugen, um die Füße un-
serer Brüder und Schwestern zu waschen. Fas -
tenzeit heißt demütig hinabsteigen in uns selbst
und zu den anderen. Sie bedeutet zu verstehen,
dass die Erlösung nicht ein Hinaufsteigen zum
Ruhm ist, sondern ein Hinabsteigen aus Liebe. Fa-
stenzeit heißt, dass wir uns klein machen.
Um auf diesem Weg nicht vom Kurs abzu-
kommen, stellen wir uns vor das Kreuz Jesu – es
ist der stille Lehrstuhl Gottes. Schauen wir jeden
Tag auf seine Wundmale, auf die Wundmale, die
er in den Himmel mitgenommen hat und die er
dem Vater immer zeigt, wenn er Fürbitte für uns
einlegt. Schauen wir jeden Tag auf seine Wund-
male. In diesen Öffnungen erkennen wir unsere
Leere, unsere Versäumnisse, die Wunden der
Sünde, die Schläge, die uns wehgetan haben.
Doch genau da sehen wir, dass Gott nicht mit
dem Finger auf uns zeigt, sondern seine Hände
weit für uns öffnet. Seine Wunden sind offen für
uns, und durch diese Wunden sind wir geheilt
(vgl. 1 Petr 2,24; Jes 53,5). Küssen wir sie, und
wir werden verstehen, dass genau dort, in den
schmerzhaftesten Wunden des Lebens, Gott mit
seiner unendlichen Barmherzigkeit auf uns war-
tet. Denn dort, wo wir am verletzlichsten sind,
wo wir uns am meisten schämen, ist er uns ent-
gegengekommen. Und jetzt, da er uns entgegen-
gekommen ist, lädt er uns ein, zu ihm zurückzu-
kehren, um die Freude wieder zu finden, dass wir
geliebt sind.
UNICUIQUE SUUM NON PRAEVALEBUNT
Redaktion: I-00120 Vatikanstadt
51. Jahrgang – Nummer 7 – 19. Februar 2021Wochenausgabe in deutscher Sprache
Schwabenverlag AG
D-73745 Ostfildern
Einzelpreis
Vatikan d 2,20
Heilige Messe am Aschermittwoch im Petersdom
Die Vergebung Gottes ist der erste Schritt unserer Rückkehr
In dieser Ausgabe
Generalaudienz als Videostream aus der
Bibliothek des Apostolischen Palastes
am 10. Februar ............................................................................................ 2
Ansprache des Papstes beim Angelusgebet
am Sonntag, 14. Februar........................................................... 3
Eine Geschichte aus dem Zweiten Welt-
krieg – Fluchtweg in den Vatikan ........................ 5
Interview mit Kardinal Tagle sechs Jahre
nach dem Besuch des Papstes auf den
Philippinen............................................................................................................ 6
Empfang für das beim Heiligen Stuhl
akkreditierte Diplomatische Korps........... 7-10
Programm der Apostolischen Reise
in den Irak.......................................................................................................... 10
90 Jahre Radio Vatikan............................................................ 11
Zeit der Erneuerung von Glaube,
Hoffnung und Liebe
Botschaft von Papst Franziskus
zur österlichen Bußzeit
Seite 12
In dieser Zeit der #Umkehr erneuern
wir unseren Glauben, schöpfen wir vom
»lebendigen Wasser« der Hoffnung und
empfangen mit offenem Herzen die Liebe
Gottes, die uns zu Brüdern und Schwestern
in Christus werden lässt. #Fastenzeit
Tweet von Papst Franziskus
19. Februar 2021 / Nummer 7 L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
2 Aus dem Vatikan
Liebe Brüder und Schwestern, guten Tag!
In der vorigen Katechese haben wir gesehen,
dass das christliche Gebet in der Liturgie »veran-
kert« ist. Heute werden wir näher beleuchten,
dass es aus der Liturgie immer ins tägliche Leben
zurückkehrt: auf den Straßen, in den Büros, in
den Transportmitteln… Und dort geht das Ge-
spräch mit Gott weiter: Wer betet ist wie der Ver-
liebte, der den geliebten Menschen immer im
Herzen trägt, wo auch immer er sich befindet.
Tatsächlich wird alles in diesen Dialog mit
Gott hineingenommen: Jede Freude wird Grund
zum Lob, jede Prüfung ist Anlass zur Bitte um
Hilfe. Das Gebet ist immer lebendig im Leben,
wie ein glühendes Feuer: Auch wenn der Mund
nicht spricht, spricht jedoch das Herz. Jeder Ge-
danke, auch wenn er scheinbar »weltlich« ist,
kann vom Gebet durchdrungen sein. Auch im
menschlichen Verstand gibt es einen betenden
Aspekt, denn er ist ein Fenster, das sich zum Ge-
heimnis hin öffnet: Es erhellt die wenigen
Schritte, die vor uns liegen, und öffnet sich dann
auf die ganze Wirklichkeit – jene Wirklichkeit,
die dem menschlichen Verstand vorausgeht und
ihn übersteigt. Dieses Geheimnis hat kein beun-
ruhigendes oder beängstigendes Gesicht, nein:
Christus zu kennen schenkt uns Vertrauen, dass
dort, wohin unsere Augen und die Augen unse-
res Geistes nicht schauen können, nicht das
Nichts ist, sondern etwas, das uns erwartet, eine
unendliche Gnade. Und so flößt das christliche
Gebet dem menschlichen Herzen eine unbesieg-
bare Hoffnung ein: Welche Erfahrung wir auch
immer auf unserem Weg machen, die Liebe
Gottes kann sie zum Guten wenden.
In diesem Zusammenhang heißt es im Kate-
chismus: »Wenn wir das Wort des Herrn hören
und an seinem Pascha-Mysterium teilnehmen,
lernen wir zu bestimmten Zeiten beten. Doch
sein Geist wird uns zu jeder Zeit, in den Ereignis-
sen eines jeden Tages, als Quelle des Gebetes ge-
schenkt. […] Die Zeit liegt in den Händen des Va-
ters; wir begegnen ihm in der Gegenwart, nicht
gestern oder morgen, sondern heute« (Nr. 2659).
Heute begegne ich Gott, immer gibt es das Heute
der Begegnung.
Es gibt keinen so wunderbaren Tag wie das
Heute, das wir leben. Jene Menschen, die immer
nur an die Zukunft denken – »Ja, die Zukunft wird
besser sein…« –, aber das Heute nicht so neh-
men, wie es kommt: Das sind Menschen, die in
der Phantasie leben. Sie wissen das Konkrete der
Wirklichkeit nicht anzunehmen. Und das Heute
ist wirklich, das Heute ist konkret. Und das Gebet
geschieht im Heute. Jesus kommt uns heute ent-
gegen, in diesem Heute, das wir leben. Und das
Gebet verwandelt dieses Heute in Gnade, oder
besser: Es verwandelt uns. Es besänftigt den
Zorn, es stützt die Liebe, es vervielfältigt die
Freude, es flößt die
Kraft der Vergebung
ein. Irgendwann wird
es uns so vorkommen,
dass nicht mehr wir le-
ben, sondern dass die
Gnade in uns lebt und
wirkt durch das Gebet.
Und wenn uns ein Ge-
danke des Zorns, der
Unzufriedenheit
kommt, der uns zur
Bitterkeit führt, dann halten wir inne und sagen
wir zum Herrn: »Wo bist du? Und wohin gehe
ich?« Und der Herr ist dort, der Herr wird uns das
rechte Wort geben, den Rat, um voranzugehen
ohne diesen bitteren Saft des Negativen. Denn
das Gebet ist – um ein weltliches Wort zu ge-
brauchen – positiv. Immer. Es bringt dich voran.
Jeder neue Tag wird, wenn er im Gebet ange-
nommen wird, vom Mut begleitet, so dass die
Probleme, denen man begegnen muss, keine
Hindernisse mehr sind für unser Glück, sondern
ein Ruf Gottes, Gelegenheit zur Begegnung mit
ihm. Und wenn man vom Herrn begleitet wird,
fühlt man sich mutiger, freier und auch glückli-
cher.
Beten wir also immer für alles und für alle,
auch für die Feinde. Jesus hat uns das geraten:
»Betet für die Feinde.« Beten wir für unsere Lie-
ben, aber auch für jene, die wir nicht kennen; be-
ten wir sogar für unsere Feinde, wie ich gesagt
habe; die Schrift lädt uns oft dazu ein. Das Gebet
macht bereit zu einer überreichen Liebe. Beten
wir besonders für die unglücklichen Menschen,
für jene, die in der Einsamkeit weinen und ver-
zweifeln, weil sie nicht glauben, dass es noch ein
liebevolles Herz gibt, das für sie schlägt. Das Ge-
bet vollbringt Wunder; und so verstehen die Ar-
men, durch Gottes Gnade, dass auch in ihrer un-
sicheren Situation das Gebet eines Christen das
Mitleid Jesu vergegenwärtigt hat: Denn er
schaute mit großer Zärtlichkeit auf die vielen
Menschen, die erschöpft umherirrten wie
Schafe, die keinen Hirten haben (vgl. Mk 6,34).
Der Herr ist – vergessen wir das nicht – der Herr
des Mitleids, der Nähe, der Zärtlichkeit: drei
Worte, die man nie vergessen darf. Denn das ist
der Stil des Herrn: Mitleid, Nähe, Zärtlichkeit.
Das Gebet hilft uns, die anderen zu lieben,
trotz ihrer Fehler und ihrer Sünden. Die Person ist
immer wichtiger als ihr Handeln, und Jesus hat
die Welt nicht gerichtet, sondern er hat sie geret-
tet. Es ist ein furchtbares Leben, das Leben jener
Menschen, die die anderen immer richten, die
immer verdammen, verurteilen: Es ist ein furcht-
bares, unglückliches Leben. Jesus ist gekommen,
um uns zu retten: Öffne dein Herz, vergib, recht-
fertige die anderen, verstehe, sei auch du den an-
deren nahe, habe Mitleid, habe Zärtlichkeit wie
Jesus. Man muss alle und jeden liebhaben und im
Gebet daran denken, dass wir alle Sünder und
gleichzeitig von Gott geliebt sind, jeder einzelne.
Wenn wir diese Welt so lieben, sie mit Zärtlich-
keit lieben, werden wir entdecken, dass jeder Tag
und alle Dinge in sich verborgen ein Bruchstück
des Geheimnisses Gottes tragen.
Weiter heißt es im Katechismus: »Eines der
Geheimnisse des Reiches Gottes, die den ›Klei-
nen‹, den Dienern Christi, den Armen der Selig-
preisungen geoffenbart worden sind, ist es, in
den Ereignissen jeden Tages und jeden Augen-
blickes zu beten. Es ist gut und richtig, dafür zu
beten, dass das Reich der Gerechtigkeit und des
Friedens sich auf den Gang der Geschichte aus-
wirkt; es ist ebenso wichtig, die schlichten und
alltäglichen Situationen mit Hilfe des Gebetes zu
durchdringen. Alle Gebetsformen können der
Sauerteig sein, mit dem der Herr das Gottesreich
vergleicht« (Nr. 2660).
Der Mensch – die menschliche Person, der
Mann und die Frau – gleicht einem Hauch, einem
Grashalm (vgl. Ps 144,4; 103,5). Der Philosoph
Pascal schrieb: »Es muss nicht das ganze Weltall
sich rüsten, um ihn zu zerschmettern; eine
Dampfwolke, ein Wassertropfen genügt, ihn zu
töten« (Gedanken, 186). Wir sind schwache We-
sen, aber wir verstehen es zu beten: Das ist un-
sere größte Würde, es ist auch unsere Stärke. Nur
Mut. In jedem Augenblick, in jeder Situation be-
ten, denn der Herr ist uns nahe. Und wenn ein
Gebet nach dem Herzen Jesu geschieht, dann er-
langt es Wunder.
(Orig. ital. in O.R. 10.2.2021)
Generalaudienz als Videostream aus der Bibliothek des Apostolischen Palastes am 10. Februar
Das Gebet im Alltag vollbringt WunderAppelle bei der Generalaudienz
Gebet für Opfer der Naturkatastrophe
in Indien
Nach der Katechese und den Grüßen in
verschiedenen Sprachen sagte der Papst
aus aktuellem Anlass:
Ich bringe meine Nähe zum Ausdruck
zu den Opfern des Unglücks, das vor drei
Tagen im Norden Indiens geschehen ist,
wo ein Teil eines Gletschers abgebrochen
ist und eine gewaltige Flutwelle hervorge-
rufen hat, die die Baustellen von zwei
Kraftwerken unter sich begraben hat. Ich
bete für die ums Leben gekommenen Ar-
beiter und für ihre Familien sowie für alle
Menschen, die verletzt wurden und Scha-
den genommen haben.
Glückwünsche zum Mond-Neujahr
Außerdem übermittelte er gute Wün-
sche zum Jahresbeginn, der in einigen tra-
ditionellen Kalendersystemen Asiens am
12. Februar gefeiert wurde.
Im Fernen Osten und in verschiedenen
anderen Teilen der Welt werden am kom-
menden Freitag, dem 12. Februar, viele
Millionen Männer und Frauen das Mond-
Neujahr feiern. Ihnen allen und ihren
Familien möchte ich meinen herzlichen
Gruß senden, verbunden mit dem
Wunsch, dass das neue Jahr Früchte der
Brüderlichkeit und der Solidarität tragen
möge. In diesem besonderen Augenblick,
in dem man sich mit großer Sorge den Her-
ausforderungen der Pandemie stellen muß,
die nicht nur den Leib und die Seele der
Menschen betrifft, sondern auch die ge-
sellschaftlichen Beziehungen beeinflusst,
bringe ich den Wunsch zum Ausdruck,
dass jeder volle Gesundheit und ein ruhi-
ges Leben genießen möge. Während ich
abschließend dazu einlade, um das Ge-
schenk des Friedens und jeglichen weite-
ren Gutes zu beten, erinnere ich daran,
dass man diese durch Güte, Achtung, Weit-
sichtigkeit und Mut erlangt, wobei man nie
vergessen darf, in erster Linie für die Ar-
men und die Schwachen Sorge zu tragen.
(Orig. ital. in O.R. 10.2.2021)
Wer betet, ist wie ein Verliebter –
stets trägt er den geliebten Menschen im
Herzen, wo auch immer er sich befindet.
So können wir zu jeder Zeit beten,
in allen Situationen des täglichen Lebens:
unterwegs, im Büro, im Zug … mit Worten
und in der Stille des Herzens.#Gebet
Tweet von Papst Franziskus
Ein besonderes Buch aus dem IrakVatikanstadt. Ein christliches
liturgisches Buch, das auf zahlrei-
chen Umwegen der Zerstörungs-
wut der Dschihadisten in Karakosh
entkommen ist, wurde dem Papst
im Rahmen der Generalaudienz vor-
gestellt. Das christliche Manuskript
aus dem Nordirak ist in Italien re-
stauriert worden und soll der Ge-
meinde von Karakosch zurückgege-
ben werden. Bevor der IS im Jahr
2014 in die Ninive-Ebene einfiel
und christliche Stätten verwüstete,
hatten Priester die 600 Jahre alte
Handschrift zusammen mit an-
deren Werken eingemauert.
Später gelangte sie über Mos-
suls syrisch-katholischen Erzbi-
schof Yohanna Moshe nach Ita-
lien.
Bei der 116-seitigen Perga -
menthandschrift handelt es
sich um eine Sammlung von
Gebeten und liturgischen Tex-
ten für die Zeit nach Ostern.
Das Manuskript ist in aramäi-
scher Sprache und syrischer Schrift
abgefasst und enthält farbige Minia-
turen. Fachleute des staatlichen ita-
lienischen Instituts für die Konser-
vierung von Archiven und Büchern
untersuchten und restaurierten
zehn Monate lang gemeinsam mit
weiteren Experten das Buch, dessen
Erhaltungszustand als prekär be-
schrieben wird.
Einzelheiten zur Rückgabe an
die christliche Gemeinde von Kara-
kosch sind noch nicht bekannt.
Papst Franziskus will die Stadt bei
seiner Irak-Reise im März besu-
chen. 98 Prozent der Bewohner der
Stadt sind Christen und gehören
mehrheitlich der syrisch-katholi-
schen Kirche an. 8 Prozent der
Christen sind syrisch-orthodox. Die
christlichen Einwohner nennen die
Stadt Baghdeda. 12 km östlich von
Mossul gelegen, war sie bis 2014 die
größte christliche Stadt im Irak.
19. Februar 2021 / Nummer 7 L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
3Aus dem Vatikan und der Weltkirche
Liebe Brüder und Schwestern,
guten Tag!
Der Petersplatz ist wunderschön in der
Sonne! Er ist wunderschön!
Das heutige Evangelium (vgl. Mk 1,40-45) be-
richtet von der Begegnung zwischen Jesus und ei-
nem Aussätzigen. Aussätzige galten als unrein
und mussten gemäß den Vorschriften des Geset-
zes außerhalb der Stadt bleiben. Sie waren von je-
der menschlichen, sozialen und religiösen Bezie-
hung ausgeschlossen: Sie durften zum Beispiel
nicht die Synagoge betreten, sie durften nicht den
Tempel betreten, auch nicht aus religiösen Grün-
den. Jesus hingegen ließ sich von diesem Mann
ansprechen, er war innerlich bewegt, er streckte
sogar seine Hand aus und berührte ihn. Das war
zu jener Zeit undenkbar. Auf diese Weise erfüllt
er die Frohe Botschaft, die er verkündet: Gott ist
unserem Leben nahegekommen, er hat Mitleid
mit dem Schicksal der verwundeten Menschheit,
und er kommt, um jede Barriere niederzureißen,
die uns daran hindert, unsere Beziehung zu ihm,
zu den anderen und zu uns selbst zu leben. Er ist
uns nahegekommen… Nähe.
Merkt euch dieses Wort gut: Nähe. Mitleid:
Das Evangelium sagt, dass Jesus den Aussätzigen
sah und Mitleid mit ihm hatte. Und Zärtlichkeit.
Drei Worte, die auf Gottes Stil hinweisen: Nähe,
Mitleid, Zärtlichkeit. In dieser Episode können
wir zwei »Übertretungen« sehen, die aufeinan-
dertreffen: die Übertretung des Aussätzigen, der
sich Jesus nähert – denn das hätte er nicht gedurft
– und Jesus, der, von Mitleid bewegt, ihn zärtlich
berührt, um ihn zu heilen – und das hätte er nicht
tun dürfen. Beide übertreten sie etwas. Es han-
delt sich um zwei Übertretungen.
Die erste Übertretung ist die des Aussätzigen:
trotz der Vorschriften des Gesetzes kommt er aus
der Isolation heraus und nähert sich Jesus. Seine
Krankheit wurde als göttliche Strafe angesehen,
aber in Jesus konnte er ein anderes Antlitz Gottes
sehen: nicht den Gott, der züchtigt, sondern den
Vater des Mitleids und der Liebe, der uns von der
Sünde befreit und uns niemals von seiner Barm-
herzigkeit ausschließt. So kann jener Mann aus
seiner Isolation herauskommen, denn in Jesus
findet er Gott, der sein Leid teilt. Jesu Haltung
zieht ihn an, sie drängt ihn, aus sich herauszuge-
hen und ihm seine schmerzvolle Geschichte an-
zuvertrauen.
Bitte erlaubt mir, in diesem Zusammenhang
an so viele gute Priester und Beichtväter zu den-
ken, die diese Haltung einnehmen: die Men-
schen anzuziehen, so viele Menschen, die sich
wertlos fühlen, die sich »am Boden« fühlen we-
gen ihrer Sünden… Aber mit Zärtlichkeit, mit
Mitleid… Wie gut sind jene Beichtväter, die nicht
mit der Peitsche in der Hand dastehen, sondern
nur empfangen, zuhören und sagen, dass Gott
gut ist und dass Gott immer vergibt, dass Gott
nicht müde wird zu vergeben. Für diese barm-
herzigen Beichtväter bitte ich euch alle heute um
einen Applaus, hier auf dem Platz. [Die Pilger und
Gläubigen auf dem Petersplatz spenden Beifall.]
Die zweite Übertretung ist die von Jesus:
Während es das Gesetz verbot, Aussätzige zu be-
rühren, ist er innerlich bewegt, reicht ihm die
Hand und berührt ihn, um ihn zu heilen. Jemand
könnte sagen: Er hat gesündigt, er hat getan, was
das Gesetz verbietet, er ist einer, der das Gesetz
übertritt. Es ist wahr, er ist einer, der das Gesetz
übertritt. Er beschränkt sich nicht auf Worte, son-
dern berührt ihn. Und mit Liebe zu berühren be-
deutet, eine Beziehung herzustellen, in Gemein-
schaft zu treten, sich auf das Leben des anderen
einzulassen, bis hin zum Teilen der eigenen
Wunden. Mit dieser Geste zeigt Jesus, dass Gott
nicht gleichgültig ist, dass er keinen »Sicherheits-
abstand« hält. Vielmehr kommt er uns voll Mit-
leid nahe und berührt unser Leben, um es mit
Zärtlichkeit zu heilen. Das ist der Stil Gottes:
Nähe, Mitleid und Zärtlichkeit. Gottes Übertre-
tung; in diesem Sinne ist er ein großer »Gesetzes -
übertreter«.
Brüder und Schwestern, auch heute leiden in
der Welt so viele unserer Brüder und Schwestern
an dieser Krankheit, an der Hansen-Krankheit
oder an anderen Krankheiten und Situationen,
mit denen leider soziale Vorurteile verbunden
sind. »Das ist ein Sünder!« Denkt an den Moment
(vgl. Lk 7,36-50), als diese Frau zum Festmahl
kam und duftendes Öl über die Füße Jesu ausgoß.
Die anderen sagten: »Wenn er ein Prophet wäre,
dann wüsste er, wer diese Frau ist: eine Sünde-
rin.« Verachtung. Stattdessen nimmt Jesus auf, ja
er dankt sogar: »Deine Sünden sind dir verge-
ben.« Die Zärtlichkeit Jesu. Und das gesellschaft-
liche Vorurteil, Menschen mit dem Wort wegzu-
stoßen: »Der da ist unrein, der da ist ein Sünder,
der da ist ein Betrüger, der da…« Ja, manchmal
stimmt das, aber man sollte nicht vorschnell ur-
teilen. Es kann jedem von uns passieren, dass wir
Wunden, Versagen, Leiden, Egoismus erleben,
die uns gegenüber Gott und anderen ver-
schließen, denn die Sünde verschließt uns in uns
selbst, aus Scham, aus Demütigung, aber Gott
will unsere Herzen öffnen.
Angesichts all dessen verkündet uns Jesus,
dass Gott keine Idee oder abstrakte Lehre ist,
sondern Gott ist derjenige, der sich mit unserer
verwundeten Menschlichkeit »beschmutzt« und
keine Angst hat, mit unseren Wunden in Kon-
takt zu kommen. »Aber Pater, was sagst du da?
Dass Gott sich selbst beschmutzt?« Nicht ich
sage es, sondern der heilige Paulus sagt es: Er
hat sich zur Sünde gemacht (vgl. 2 Kor 5,21). Er,
der kein Sünder ist, der nicht sündigen kann, hat
sich zur Sünde gemacht. Schau, wie Gott sich
beschmutzt hat, um uns nahe zu kommen, um
Mitleid zu haben und um seine Zärtlichkeit
deutlich zu machen. Nähe, Mitleid und Zärtlich-
keit.
Um die Regeln des guten Rufs und der gesell-
schaftlichen Gepflogenheiten einzuhalten, brin-
gen wir unseren Schmerz oft zum Schweigen
oder tragen Masken, um ihn zu verbergen. Damit
wir unseren Egoismus pflegen oder unsere inne-
ren Ängste im Zaum halten können, wollen wir
mit dem Leid der anderen nicht allzu viel zu tun
haben. Bitten wir den Herrn stattdessen um die
Gnade, diese beiden »Übertretungen« des heuti-
gen Evangeliums zu leben. Die des Aussätzigen,
damit wir den Mut haben, aus unserer Isolation
herauszutreten und – anstatt dort zu bleiben und
uns selbst zu bemitleiden oder unser Versagen,
unsere Beschwerden zu betrauern – zu Jesus zu
gehen, so wie wir sind: »Herr, so bin ich.« Wir
werden diese Umarmung spüren, diese Umar-
mung Jesu, die so schön ist. Und dann die Über-
tretung Jesu: eine Liebe, die uns über Konventio-
nen hinausgehen, uns Vorurteile und die Angst
vor der Einmischung in das Leben der anderen
überwinden lässt. Lasst uns lernen, »Überschrei-
ter« zu sein wie diese beiden: wie der Aussätzige
und wie Jesus.
Die Jungfrau Maria, die wir jetzt im Gebet des
Angelus anrufen, möge uns auf diesem Weg be-
gleiten.
(Grüße siehe Seite 4)
Neapel. Erzbischof Domenico Batta -
glia will entschieden gegen die Camorra
und organisierte Kriminalität vorgehen.
»Die Kirche ist aufgerufen, in diesem Kampf
eine prophetische Rolle zu spielen«, sagte er
der Tageszeitung »Avvenire«. Die Camorra
verspreche Freiheit und schnelle Gewinne,
in Wirklichkeit halte sie die Menschen ge-
fangen, so der Erzbischof von Neapel. Die
einzige Waffe von Kirche und Staat in die-
sem Kampf sei Glaubwürdigkeit.
******
Paris. In Frankreich wird derzeit nach
Steinen für die Restaurierung der bei einem
Großbrand im April 2019 zerstörten Pari-
ser Kathedrale Notre-Dame gesucht. Ge-
meinsam mit dem französischen Büro für
Geologie und Bergbauforschung würden
Ȋsthetisch und physikalisch kompatible
Steine« ausgewählt, die den beschädigten
entsprechen und sie ersetzen können.
Das ursprüngliche Material wurde im
12./13. Jh. aus dem Untergrund von Paris
gewonnen. Entsprechende Kalksteine
werden heute noch in zehn Steinbrüchen
im Pariser Umland abgebaut.
******
Bogotá. In der Panamazonas-Region
Südamerikas sind nach Angaben des
kirchlichem Amazonas-Netzwerks Re-
pam bislang 48.343 Menschen an Corona
gestorben. Zudem wurden knapp zwei
Millionen Infektionen gezählt.
Kurz notiert
Ansprache von Papst Franziskus beim Angelusgebet am Sonntag, 14. Februar
Gott hält keinen Sicherheitsabstand
Vatikanstadt. Papst Franziskus hat europäi-
sche Akademiker in der Zusammenarbeit über
kulturelle und religiöse Grenzen hinweg be-
stärkt. Die Covid-Pandemie mache die Notwen-
digkeit einer Kultur der Begegnung für die ganze
Menschheit schmerzlich bewusst, erklärte er bei
einer Begegnung mit Vertretern des Instituts für
Europäische Studien am Freitag, 12. Februar, im
Vatikan. Der Wunsch nach Begegnung müsse
wachsen. Es gelte, Berührungspunkte zu suchen,
Brücken zu bauen und Projekte zu entwerfen, die
alle einschlössen. Das in Stockholm ansässige In-
stitut und der Erzbischof der schwedischen
Hauptstadt, Kardinal Anders Arborelius, hatten
2018 eine Kooperation mit dem Bildungs-Netz-
werk »Scholas Occurentes« begründet. Kardinal
Arborelius nahm mit der Delegation des Instituts
an der Audienz im Vatikan teil.
Heilung des Aussätzigen, Mosaik von P. Marko Ivan Rupnik SJ.
Vatikanstadt. Papst Franziskus hat die Rolle
einer gesunden Ernährung für eine gute und ge-
rechte Entwicklung der Gesellschaft betont. Da-
her sollte gesunde Ernährung ein allgemeines
Menschenrecht sein, forderte der Papst in einer
von Erzbischof Paul Gallagher, Sekretär für die
Beziehungen mit den Staaten im Vatikanischen
Staatssekretariat, unterzeichneten Botschaft an
eine Online-Konferenz der Welternährungsorga-
nisation FAO am 12. Februar in Rom, an der auch
Generaldirektor Qu Dongyu teilnahm. Noch im-
mer fehle es vielen Menschen, vor allem Kin-
dern, an einer grundlegenden Versorgung, be-
klagte der Papst. Hunger bleibe eine »tödliche
Geißel«.
Darüber hinaus wies Franziskus in der Bot-
schaft auf die wichtige Bedeutung von Hülsen-
früchten für die globale Ernährung hin: Linsen,
Bohnen, Erbsen und Kichererbsen seien auf den
Tischen vieler Familien zu finden und deckten ei-
nen breiten Bedarf an Proteinen. Als nahrhaftes
und zugleich anspruchsloses Gemüse seien sie
über geografische Grenzen, Schichten und Kultu-
ren hinweg verbreitet.
Schließlich warb Franziskus für eine scho-
nende und nachhaltige Landwirtschaft. Beson-
ders von Landfrauen und indigenen Frauen lasse
sich lernen, wie gemeinsame Anstrengung und
Opferbereitschaft den Zugang zu Nahrungsmit-
teln und eine gerechte Verteilung sicherstellen
könnten, betonte er. Anlass der FAO-Veranstal-
tung war der internationale Tag der Hülsen-
früchte, der jährlich am 10. Februar begangen
wird.
Gesunde Ernährung
als allgemeines
Menschenrecht
Kultur der Begegnung
600 Jahre Franziskaner im Heiligen Land
Jerusalem. Die Franziskaner im Heiligen
Land feiern den Beginn ihrer internationalen Ver-
netzung vor 600 Jahren. Am 14. Februar 1421 er-
teilte Papst Martin V. den sogenannten »Kommis-
sariaten« die offizielle Genehmigung, Almosen
und Spenden für die Arbeit der Franziskaner im
Orient anzunehmen. Heute unterstützen Büros
in rund 50 Ländern die Franziskaner-Kustodie in
Jerusalem. Anlässlich des Jubiläums hat Kustos P.
Francesco Patton den 15. Februar zum Gebetstag
für die Wohltäter der Kustodie ausgerufen.
Papst Franziskus sprach dem »wertvollen
Dienst« der Kommissariate in einem handschrift-
lichen Brief an Patton seinen Segen und seine Un-
terstützung aus. Die Aufgabe der Kommissariate
sei nach all den Jahrhunderten weiterhin aktuell,
nämlich »die Sendung der Kustodie des Heiligen
Landes zu unterstützen, zu fördern und zu ver-
bessern«. Dies ermögliche das Netzwerk kirchli-
cher, geistlicher und wohltätiger Beziehungen, in
deren Mittelpunkt das Land Jesu stehe.
Die Franziskaner sind seit 1217 im Heiligen
Land präsent. Noch zu Lebzeiten des heiligen
Franziskus wurden die ersten Brüder ausgesandt,
um von der Kreuzfahrerbastion Akko aus eine
Ordensprovinz mit mehreren Niederlassungen
aufzubauen. 1342 ernannte Papst Clemens VI.
durch eine Bulle die Franziskaner zu den recht-
mäßigen Hütern (Kustoden) der heiligen Stätten
im Heiligen Land. Das Jubiläum wurde am 15. Fe-
bruar mit einer feierlichen heiligen Messe in der
Jerusalemer Grabeskirche begangen.
Rechte für Migranten
Madrid. Ein Umdenken in der Migrations -
politik hat eine Gruppe von 70 katholischen
Politikern und Führungspersönlichkeiten aus
Lateinamerika und Spanien von ihren Regierun-
gen gefordert. Migranten bräuchten mehr Rechte
und dürften nicht länger als Kriminelle angese-
hen oder dem organisierten Verbrechen ausgelie-
fert sein, heißt es in einer gemeinsamen Er-
klärung, von der das Portal »Vida Nueva«
berichtet. Migrationspolitik müsse sich vor allem
auf die Anerkennung und den Schutz der Men-
schenrechte konzentrieren, heißt es in dem Ma-
nifest der »Academia de Lideres Catolicos« mit
Sitz in Santiago de Chile. Dringend notwendig sei
daher die Einführung wirksamer Programme
zum Schutz und zur Betreuung von Migranten.
Die derzeitige Haltung gegenüber Migranten sei
unmenschlich.
Privataudienzen
Der Papst empfing:
12. Februar:
– den Präfekten der Kongregation für den Klerus,
Kardinal Beniamino Stella;
– den Apostolischen Nuntius in Nigeria und Stän-
digen Vertreter bei der Westafrikanischen Wirt-
schaftsgemeinschaft, Antonio Guido Filipazzi,
Titularerzbischof von Sutri;
13. Februar:
– den Apostolischen Nuntius in Kuba, Giam-
piero Gloder, Titularerzbischof von Telde;
15. Februar:
– den Apostolischen Nuntius in der Zentralafri-
kanischen Republik und im Tschad, Santiago De
Wit Guzmán, Titularerzbischof von Gabala;
– den Präfekten der Kongregation für die Institute
geweihten Lebens und die Gesellschaften apos -
tolischen Lebens, Kardinal João Braz de Aviz,
mit dem Sekretär des Dikasteriums, José Rodrí-
guez Carballo, Titularerzbischof von Belcastro.
Bischofskollegium
Ernennungen
Der Papst ernannte:
10. Februar:
– zum Bischof und Prälaten der Territorialprälatur
Corocoro (Bolivien): Pascual Limachi Ortiz,
bisher Weihbischof in der Diözese El Alto und Ti-
tularbischof von Belesasa;
– zu Weihbischöfen in der Metropolitan-Erzdiö-
zese Lima (Peru): Guillermo Antonio Cornejo
Monzón, vom Klerus der Diözese Lurín, bisher
Pfarrer der Pfarrei »El Niño Jesús«, Dekan des
zweiten Dekanats sowie Verantwortlicher für die
Senioren- und Gefängnispastoral, mit Zuweisung
des Titularsitzes Decoriana; P. Juan José Sala-
verry Villarreal OP, bisher Rektor des »Insti-
tuto Superior de Estudios Teológicos Juan XXIII«
(ISET) und Bischofsvikar für dasa gottgeweihte
Leben in der Metropolitan-Erzdiözese Lima, mit
Zuweisung des Titularsitzes Asolo;
11. Februar:
– zum Metropolitan-Erzbischof von Karatschi
(Pakistan): Benny Mario Travas, bisher Bischof
der Diözese Multan;
– zum Bischof der Diözese Cachoeiro de Itapemi-
rim (Brasilien): Luiz Fernando Lisboa, bisher
Bischof von Pemba (Mosambik), mit gleichzeiti-
ger Erhebung zum Erzbischof »ad personam«;
15. Februar:
– zum Bischof der Diözese Lisala (Demokrati-
sche Republik Kongo): Joseph-Bernard Likolo
Bokal’Etumba, vom Klerus der Erzdiözese
Kinshasa, bisher Sekretär der bischöflichen Kom-
mission für den Gottesdienst und die Sakramen-
tenordnung der Kongolesischen Bischofskonfe-
renz;
– zum Weihbischof in der Erzdiözese San Anto-
nio (Vereinigte Staaten von Amerika): Gary W.
Janak, vom Klerus der Diözese Victoria in Texas,
mit Zuweisung des Titularsitzes Dionisiana;
– zum Bischof der Diözese Chur (Schweiz): Jo-
seph Maria Bonnemain, vom Klerus der Perso-
nalprälatur Opus Dei, bisher Offizial des Kirchen-
gerichts und Kanoniker des Domkapitels.
Rücktritte
Der Papst nahm die Rücktrittsgesuche an:
11. Februar:
– von Kardinal Joseph Coutts von der Leitung
der Metropolitan-Erzdiözese Karatschi (Paki-
stan);
– von Bischof Roberto Bordi, Titularbischof von
Mutugenna, von seinem Amt als Weihbischof im
Apostolischen Vikariat El Beni (Bolivien);
15. Februar:
– von Bischof Joseph Aind von der Leitung der
Diözese Dibrugarh (Indien);
– sein Nachfolger ist der bisherige Bischof-Koad-
jutor der Diözese, Albert Hemrom;
– von Bischof Marian Eleganti, Titularbischof
von Lamdia, von seinem Amt als Weihbischof in
der Diözese Chur (Schweiz).
Todesfälle
Am 4. Februar ist der emeritierte Bischof von
Port-de-Paix in Haiti, Pierre-Antoine Paulo,
aus dem Orden der Oblaten der Unbefleckten
Jungfrau Maria, im Alter von 76 Jahren gestor-
ben.
Am 6. Februar ist der emeritierte Bischof von
Luziâna in Brasilien, Afonso Fioreze, aus dem
Orden der Passionisten, im Alter von 78 Jahren
gestorben.
Am 12. Februar ist der emeritierte Bischof von
Nkayi in der Republik Kongo, Bernard Nsayi, im
Alter von 78 Jahren in der Gemelli-Klinik in Rom
gestorben.
Am 15. Februar ist der emeritierte Erzbischof
des Ordinariats für die in Osteuropa lebenden
armenisch-katholischen Gläubigen, Neshan Ka-
rakéhéyan, im Alter von 89 Jahren im Bischofs-
haus in Kanaker, Jerewan, in Armenien gestor-
ben.
Der Apostolische Stuhl
Römische Kurie
Der Papst ernannte:
12. Februar:
– zu ordentlichen Mitgliedern der Päpstlichen
Akademie für das Leben: P. Paolo Benanti TOR,
Dozent für Moraltheologie, Bioethik und Neuro -
ethik an der Päpstlichen Universität Gregoriana
(Italien); Sr. Margarita Bofarull Buñuel RSCJ,
Dozentin für Moraltheologie an der »Universidad
Centroamericana José Simeón Cañas« (El Salva-
dor); Prof. Gualtiero Walter Ricciardi, Profes-
sor und Direktor der Abteilung für Frauen- und
Kindergesundheitswissenschaft und allgemeines
Gesundheitswesen an der Katholischen Univer-
sität vom Heiligen Herzen (Italien); Prof. Maria
Chiara Carrozza, Professorin für Wirtschaftsin-
genieurwesen an der Hochschule »Scuola Nor-
male Superiore« in Pisa (Italien).
Apostolische Nuntiaturen
Der Papst ernannte:
11. Februar:
– zum Apostolischen Nuntius in Bahrain: Eu-
gene Martin Nugent, Titularerzbischof von
Domnach Sechnaill, Apostolischer Nuntius in
Kuwait und in Katar.
VATIKANISCHES BULLETIN
L’OSSERVATORE ROMANOWochenausgabe in deutscher Sprache
51. JahrgangHerausgeber: Apostolischer Stuhl
Verantwortlicher Direktor: Andrea Monda
Redaktion
I-00120 Vatikanstadt; Tel.: 00 39/06 69 84 58 60;Internet: http://www.vatican.va; E-Mail: [email protected]: Foto-Service und Archiv O.R.Tel.: 00 39/06 69 84 51 47; E-Mail: [email protected]
Verlag: Schwabenverlag AG; Vorstand: Ulrich Peters Vertrieb: Annika Wedde; Anzeigen: Angela RösselPostfach 42 80; D-73745 Ostfildern; Tel.: (07 11) 44 06-0; Fax: (07 11) 44 06 138;Internet: http://www.schwabenverlag.de; E-Mail: [email protected]: Pressehaus Stuttgart Druck GmbHPlieninger Straße 150, D-70567 Stuttgart;Jahresabonnement: Deutschland e 98,50; Schweiz sFr. 135,–; restl. Europa e 102,50; Übersee e 129,50.
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19. Februar 2021 / Nummer 7
4
L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
Aus dem Vatikan
Der Vatikan hat zu einer friedlichen
und raschen Beilegung der Spannungen in
Myanmar aufgerufen. Jene, die die Verant-
wortung im Land hätten, müssten sich in
den Dienst von Gemeinwohl, Menschen-
und Bürgerrechten sowie sozialer Gerech-
tigkeit und Stabilität stellen, erklärte der
Ständige Beobachter des Heiligen Stuhls
bei den Vereinten Nationen in Genf, Erz-
bischof Ivan Jurkovic, bei einer Sondersit-
zung des UN-Menschenrechtsrats zur
Krise in Myanmar am Freitag, 12. Februar,
in Genf. Der Heilige Stuhl verfolge die Ent-
wicklungen aufmerksam und mit »großer
Besorgnis«, so Jurkovic.
*******
Der Papst hat die Rekrutierung von
Minderjährigen für bewaffnete Kampf-
einsätze verurteilt. »Wer Kindern statt Brot,
Büchern und Spielzeug Waffen gibt, be-
geht ein Verbrechen nicht nur gegen die
Kleinen, sondern gegen die ganze
Menschheit«, hieß es in einem am Freitag,
12. Februar, verbreiteten Tweet des Paps -
tes. Der 12. Februar wird als Internationa-
ler Tag gegen den Einsatz von Kindersolda-
ten begangen.
*******
Die Republik Österreich erhöht ihre
vertraglich festgelegten Entschädigungs-
zahlungen an die katholische Kirche und
andere Kirchen und Religionsgemein-
schaften um 20 Prozent gegenüber 2009.
Österreichs Botschafterin beim Heiligen
Stuhl, Franziska Honsowitz-Friessnig, und
Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin
tauschten am Mittwoch, 10. Februar, die
Ratifikationsurkunden zum Siebenten Zu-
satzvertrag zum vermögensrechtlichen
Konkordatsvertrag aus, wie das Presseamt
des Heiligen Stuhls mitteilte. Damit tritt der
im Nationalrat im Dezember 2020 mit den
Stimmen aller Fraktionen beschlossene
Vertrag zwischen Österreich und dem Hei-
ligen Stuhl in Kraft, der den inflationsbe-
dingten Wertverlust der Entschädigungs-
zahlungen für Enteignungen während des
NS-Regimes ausgleichen soll.
Aus dem Vatikanin Kürze
Worte des Papstes nach dem Angelusgebet
Liebe Brüder und Schwestern!
Ich schaue immer mit Dankbar-
keit auf das Engagement derer, die
sich für die Migranten einsetzen. Ih-
nen allen danke ich für das, was sie
für die Migranten tun. Heute
schließe ich mich insbesondere den
Bischöfen Kolumbiens an, die ihre
Dankbarkeit für den Entschluss der
kolumbianischen Verantwortungs-
träger zum Ausdruck bringen, den
venezolanischen Migranten, die
sich im Land aufhalten, einen tem-
porären Schutzstatus zu gewähren
und damit deren Aufnahme, Schutz
und Integration zu fördern. Das tut
kein sehr reiches, hochentwickeltes
Land, nein, das tut ein Land mit vie-
len Problemen im Hinblick auf die
Entwicklung, die Armut und den
Frieden, mit fast 70 Jahren Guerilla-
krieg… Aber in Bezug auf dieses
Problem hatte es den Mut, auf diese
Migranten zu schauen und ihnen
diesen Aufenthaltsstatus zu ge-
währen. Mein Dank geht an Kolum-
bien. Vielen Dank!
Heute, am Fest der heiligen Cy-
rill und Methodius, der Evangelisie-
rer der slawischen Völker, die vom
heiligen Johannes Paul II. zu Mitpa-
tronen Europas erklärt wurden,
grüße ich voll Zuneigung alle Ge-
meinschaften, die in den von den
heiligen Brüdern evangelisierten
Gebieten leben. Ihre Fürsprache
möge uns helfen, neue Wege zu fin-
den, das Evangelium zu vermitteln.
Die beiden hatten keine Angst,
neue Wege zu finden, um das Evan-
gelium weiterzugeben. Und möge
ihre Fürbitte in den christlichen Kir-
chen den Wunsch stärken, unter
Achtung der Unterschiede auf die
volle Einheit zuzugehen.
Und natürlich darf heute, am Va-
lentinstag, ein Gedanke und ein
Wunsch an die Verlobten, an die Ver-
liebten nicht fehlen: Ich begleite sie
mit meinem Gebet und segne sie.
Schließlich geht mein Gruß an
euch, an die Gläubigen aus Rom und
an die Pilger. Ich sehe, da sind Fran-
zosen, Mexikaner, Spanier, Polen…
Seid alle willkommen! Viele Grüße!
Am nächsten Mittwoch begin-
nen wir die Fastenzeit. Es wird eine
Zeit der Gnade sein, um der Krise,
die wir durchleben, durch unseren
Glauben und unsere Hoffnung Sinn
zu geben.
Vergessen wir also nicht die drei
Worte, die den Stil Gottes deutlich
machen. Vergesst nicht: Nähe, Mit-
leid, Zärtlichkeit. Wollen wir sie ge-
meinsam sagen? Nähe, Mitleid,
Zärtlichkeit.
Ich wünsche euch allen einen
gesegneten Sonntag. Bitte vergesst
nicht, für mich zu beten. Gesegnete
Mahlzeit und auf Wiedersehen.
Danke!
Fortsetzung von Seite 3
Moskau/Rom. Die bekannte Jesui-
tenzeitschrift »Civiltà Cattolica erscheint
seit 12. Februar auch auf Russisch. Bisher
gab es die monatlich erscheinende Zeit-
schrift neben Italienisch auch auf Englisch,
Französisch, Chinesisch, Japanisch und
Koreanisch. Erstellt wird die russische
Ausgabe vom Sankt-Thomas-Institut in
Moskau unter der Leitung des deutschen
Jesuiten Stephan Lipke.
Kurz notiert
19. Februar 2021 / Nummer 7 L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
5Geschichte und Kultur
Von Andrea De Angelis und Franco Piroli
Ein altes Holzbrett, das in den kalten
Kriegsnächten aus einem Fenster in der
Via del Mascherino geschoben wird
und sich zwischen die Zinnen einer im 13. Jahr-
hundert errichteten Mauer einfügt, die den Päps -
ten die Flucht aus dem Vatikan in die Engelsburg
ermöglichte. Diese Mauer, »Passetto del Borgo«
genannt, wurde so zum Weg, auf dem die von Na-
tionalsozialisten und Faschisten Verfolgten sich
in den Vatikan retten konnten, um am Leben zu
bleiben. Dass in den Jahren 1943 und 1944 Dut-
zende von ihnen dort beherbergt wurden, ver-
steckt in den Wohnungen von Prälaten und Mon-
signori oder in die Palatingarde aufgenommen, ist
eine dokumentierte Tatsache. Vor Kurzem kam
ein neues Fragment dieser Geschichte ans Tages-
licht, in den Erinnerungen einer älteren Dame,
die diese Geschehnisse als Kind miterlebt hatte.
Drei Meter und 40 Zentimeter: Das ist die Ent-
fernung, die das Gebäude in der Via del Masche-
rino von der Mauer trennt. Der Abstand musste
in leichtem Anstieg bewältigt werden, auf einem
fünf Meter langen Holzbrett. Gerade so lang, dass
es an beiden Enden auflag und so den Menschen
erlaubte, in wenigen Sekunden aus Italien in den
Vatikan zu gelangen. Immer in der Nacht, wenn
die Umrisse von Personen und Dingen kaum zu
erkennen sind. Dies geschah häufiger in jenem
Winter 1943/1944, als Rom von den Nationalso-
zialisten besetzt war.
Unbekannte Gesichter
»Manchmal saßen morgens Menschen in der
Küche, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, si-
cherlich nicht am Abend vorher, wenn ich schla-
fen ging. Sie saßen an unserem Tisch, aßen und
sprachen mit meinen Eltern. Ich habe Papa ge-
fragt, wer sie seien, aber ich erhielt keine Ant-
wort. Dann am nächsten Morgen waren sie ver-
schwunden.« Das erzählt Antonietta Cecchini
Vatican News. Sie ist mittlerweile 82 Jahre alt
und war zu jener Zeit ein Kind von fünf Jahren.
»Es war kalt, es war im Winter. Ich erinnere mich
an den warmen Kohlenofen in der Küche. Ich sah
jene Menschen, sie grüßten mich, und am nächs -
ten Tag waren sie weg. Es waren immer neue Ge-
sichter.«
»Einmal, es wird ungefähr acht Uhr abends
gewesen sein, habe ich das Holzbrett gesehen,
das aus dem Küchenfenster in die Mauer ge-
genüber ragte. Aber auch da erklärten mir meine
Eltern nicht, was sie taten.« Einige Jahre später
habe sie ihren Vater erneut gefragt, »was dieses
Holzbrett zu bedeuten hatte und warum immer
wieder einmal Fremde in unserer Wohnung ge-
wesen waren, immer nur für einige Stunden. Bei
jener Gelegenheit sagte er mir, dass es Men-
schen waren, die gerettet werden mussten, und
dass ich weiterhin zu niemandem etwas sagen
sollte«, erzählt die Tochter Antonietta nicht ohne
Rührung.
»Mein Großvater hasste Gewalt und war
sehr nachdenklich. Was er getan hat, dieses
Holzbrett, das war sehr mutig.« Mit diesen Wor-
ten beschreibt Stefano, der Enkel von Cesare
Cecchini, diese Rettungsaktionen. »Er war ein
Mann, der nicht auffallen wollte, jemand, der
viel arbeitete. Er war kein Mitglied der faschisti-
schen Partei, hielt sich aber in der Öffentlichkeit
mit der Äußerung seiner Überzeugungen
zurück.« Eine Vorsicht, die sich für das Gelingen
jenes Planes als grundlegend erwies, Menschen
aus dem Küchen- oder Badfenster in den Vatikan
zu helfen. Dabei unterstützte ihn seine Frau Na-
talina, die als Krankenpflegerin im römischen
Polyklinikum arbeitete.
Die Familie Cecchini wohnte bis in die
1960er-Jahre in diesem Haus, aber nie hatte je-
mand über diese Rettungsaktionen gesprochen,
aus Angst vor Rache oder Gewalt. Heute ist in
dem Gebäude das Sicherheitsinspektorat der ita-
lienischen Polizei beim Vatikan untergebracht.
Der leitende Beamte war unter den ersten, der
von dieser Episode aus der Geschichte der Fami-
lie Cecchini erfuhr. »Jemand hat mir von dieser
Geschichte erzählt, und dann habe ich mich mit
Antonietta und dem Enkel getroffen. Eine hero-
ische Geschichte, die in diesen Räumen geschah,
wo sich heute unsere Büros befinden.« Er er-
wähnt eine Audienz des Papstes für das Inspek-
torat für Öffentliche Sicherheit »Vatikan«: »Fran-
ziskus hat uns aufgefordert, nicht nur die
unserer Wachsamkeit anvertrauten heiligen Stät-
ten des katholischen Glaubens zu hüten, son-
dern auch die Wurzeln der Zivilisation. Diese
Geschichte erlaubt es uns, dieser großherzigen
edelmütigen Gesten zu gedenken und ihnen
Ehre zu erweisen.«
Der Gang in der Mauer führt in die Erste Log-
gia des Apostolischen Palasts. Dutzende Men-
schen wurden in jener Zeit im Vatikan in Sicher-
heit gebracht. Diesbezügliche Dokumente aus
dem Pontifikat von Papst Pius XII. in der Zeit des
Zweiten Weltkriegs, die in den Vatikanarchiven
zu finden sind, wurden in elf Bänden veröffent-
licht. Im zehnten Band dieser Actes et Documents
du Saint Siège relatifs à la Seconde Guerre Mon-
diale ist der Bericht von Msgr. Guido Anichini ent-
halten. Er war seit 1928 Kanoniker des Peters-
doms und berichtet in einem auf den 13. Februar
1944 datierten Dokument über die Flüchtlinge in
den Räumlichkeiten der Kanoniker.
Gefahr für Leib und Leben
Anichini schreibt an den Papst: »Die väterli-
che Güte Eurer Heiligkeit, die sich erneut in so be-
wegender Weise gezeigt hat, bringt mir meine
Pflicht zu Bewusstsein, treu darzulegen, was ge-
tan wurde, meinerseits und durch einige Kanoni-
ker des Petersdoms, um den aus verschiedenen
Gründen Verfolgten zu helfen, indem sie in den
Räumlichkeiten des Kanonikerhauses aufgenom-
men wurden.« Er fährt fort: »Als ich am vergan-
genen 1. November endlich nach Rom zurück-
kommen konnte […], sah ich, dass im Kano-
nikerhaus, das als abgetrenntes Terrain betrach-
tet wird, das der besonderen Jurisdiktion des Kar-
dinalerzpriesters unterstellt ist, bereits nicht we-
nige Personen untergebracht waren, deren Le-
ben bedroht war. Daher war ich der Meinung,
dass auch ich mich nicht weigern durfte, im Haus
gefährdete Personen und Verwandte dessen auf-
zunehmen, der meine glückliche Rückkehr be-
werkstelligt hatte.« Es geht um die Wintermonate
zwischen November 1943 und Februar 1944, in
denen Antonietta Cecchini als Kind etwas von
den nächtlichen Rettungsaktionen ihrer Eltern
mitbekommen hatte.
Weiter ist im Bericht von Msgr. Anichini zu le-
sen, dass in verschiedenen Kanonikerwohnun-
gen weitere Gäste aufgenommen wurden, »drin-
gende, gravierende Fälle besonders von Per-
sonen, die von den Italienischen Rassegesetzen
betroffen waren«. Es folgt eine lange Liste mit Na-
men, angefangen von einem Herrn di Adri und
seiner Familie, »der zwar katholisch ist, aber dies
nicht ausreichend dokumentieren kann, um als
arisch zu gelten, und der daher gesucht wurde,
weil er nach Polen deportiert werden sollte«, bei
»Msgr. Fioretti seine Eltern, auch sie Katholiken,
geflohen und grausamer Verfolgung ausgeliefert,
weil sie nicht arisch sind«.
Die Liste geht weiter und enthält den Namen
eines Offiziers des »Regio Esercito«, des »Königli-
chen Heeres«, der in Lebensgefahr war, »weil er
aus politischen Gründen erschossen werden
sollte«. Auch ein Beamter des Innenministeriums
ist darunter, der »das neue Regime abgelehnt
hat«, wie weitere Personen, die unter dem Vor-
wand rassistischer Motive oder aus politisch-mi-
litärischen Gründen gesucht wurden«. Manch ei-
ner von ihnen könnte über jenes Holzbrett in den
Vatikan gelangt sein, das aus dem Haus der Fa-
milie Cecchini immer wieder in die Mauer auf der
gegenüberliegenden Seite geschoben wurde.
(Orig. ital. in O.R. 3.2.2021)
Eine Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg: Vergessener Fluchtweg in den Vatikan für Verfolgte
Drei Meter bis zur Rettung
Der Verbindungsgang zwischen der Engelsburg und dem Apostolischen Palast war als schneller
Fluchtweg für die Päpste gedacht. Seit 1277 war die Engelsburg in ihrem Besitz. Als freistehen-
der Bau ließ sie sich leichter verteidigen. Über die Mauer gelangt man direkt in den Vatikan (Foto
rechts, im Hintergrund der Apostolische Palast).
Antonietta
Cecchini blickt aus
dem Küchen fenster
(links), wo sich
heute das
Sicherheitsinspek-
torat befindet. Aus
diesem Fenster
gelangten die
Flüchtenden über
ein Holzbrett auf
die gegenüberlie-
gende Mauer, die
in den Vatikan
führt (Rekonstruk-
tion, rechts).
19. Februar 2021 / Nummer 7 L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
6 Kirche in der Welt
Ein Zeugnis der Barmherzigkeit und desMitleids von einem wahren Mann Gottes ge-genüber einem Volk, das trotz vielen Leids nieseinen tiefen Glauben verloren hat. Das ist dieErinnerung, die Kardinal Louis G. Tagle auchnoch sechs Jahre nach der Apostolischen Reisevon Papst Franziskus auf die Philippinen be-wahrt. Der Präfekt der Kongregation für dieEvangelisierung der Völker, seinerzeit Erzbi-schof von Manila, berichtet darüber in diesemInterview mit unserer Zeitung.
Von Gianluca Biccini
Vom 15. bis 19. Januar 2015 besuchte der Hei-
lige Vater, aus Sri Lanka kommend, das Land, das
in Asien die größte Anzahl von Katholiken auf-
weist. Können Sie uns einige persönliche Erinne-
rungen an jene Tage erzählen?
Zwei Aspekte kommen mir in den Sinn:
zunächst einmal die persönliche Aufmerksam-
keit des Heiligen Vaters gegenüber den Zeichen
der Zeit. Der Besuch, der unter dem Thema
»Barmherzigkeit und Mitleid« stand, fand mitten
in den Vorbereitungen auf die 500-Jahr-Feier der
Verkündigung des Evangeliums auf den Philippi-
nen statt, und wir Bischöfe hatten beschlossen,
dass 2015 das »Jahr der Armen« werden sollte.
Der Papst ist eigens für die Opfer des Taifuns
Haiyan (Yolanda) gekommen, aber ich konnte aus
nächster Nähe sehen, dass er nicht nur daran in-
teressiert war, zu geben, sondern auch von den
Bedürftigen und Leidenden zu empfangen und
sich mit ihren Zeugnissen auseinanderzusetzen.
Dabei habe ich sein Staunen – wie das eines klei-
nen Jungen – über all das Gesehene und Gehörte
bewundert. Er hat mir mehr als einmal zugeflü-
stert: »Dieser Mann hat einen großen Glauben.«
Oder: »Sind wirklich so viele Menschen hier?«
Ganz zu schweigen von meinen Emotionen
im Haus der Stiftung Tulay ng Kabataan: es bietet
Mädchen und jungen Frauen Unterkunft, die von
der Straße geholt wurden, und liegt nur wenige
Schritte von der Kathedrale von Manila entfernt.
Auf diesen Besuch legte er ganz besonderen
Wert, da ich ihm in den vorausgegangenen Mo-
naten Hunderte von ihren Briefen geschickt
hatte. Und dann war da die kleine Glyzelle Palo-
mar, ein von dieser Stiftung gerettetes Mädchen,
das während der Begegnung mit Jugendlichen
auf dem Sportplatz der »Universidad de Santo
Tomás« schluchzend fragte, warum Kinder lei-
den. Und Franziskus erklärte, dass die einzige
Antwort darin bestehe, zu lernen, wie sie zu wei-
nen.
Und der zweite Aspekt?
Der zweite Aspekt war seine Sorge um das
Leid der Familien von Tacloban, das Ende 2013
vom Taifun verwüstet worden war: Im Anschluss
an die heilige Messe auf dem Flughafengelände
der Hauptstadt fuhr Franziskus trotz des schlech-
ten Wetters in einem offenen Auto zur Residenz
des Erzbischofs von Palo, um so viele Menschen
wie möglich begrüßen zu können. Unterwegs ließ
er den Wagen vor dem zerstörtem Haus einer
Fischerfamilie anhalten. In der Erzbischöflichen
Residenz war eigentlich eine anderthalbstündige
Ruhepause eingeplant, aber die widrigen Wetter-
bedingungen haben diese Zeit auf nur fünfzehn
Minuten verkürzt, und der Papst wollte sie für den
Austausch von Geschichten und Erfahrungen
nutzen. Da ich ein wenig die Rolle des Dolmet-
schers übernommen hatte, bat er mich, alles in ei-
ner Frage zusammenzufassen: »Wie geht es Ihrer
Familie?« Denn wir hatten Menschen vor uns, die
alle oder viele ihrer Lieben verloren hatten. Der
Papst kam nicht einmal zum Essen, sondern er
hörte sich die kurzen Geschichten an und um-
armte schweigend alle Anwesenden; dann ent-
schuldigte er sich dafür, dass so wenig Zeit zur Ver-
fügung stand, woraufhin einer der Gäste mit
Tränen in den Augen ausrief: »Sag das nicht, Hei-
liger Vater! Deine Anwesenheit ist mehr wert als
alles andere. Wer sind wir? Wir sind arme Leute,
wir verdienen diese ganze Aufmerksamkeit
nicht.« Wir erlebten diese Momente wie eine Fa-
milie, die das Leid miteinander teilt, und wir ha-
ben überströmende Liebe und Hoffnung erlebt!
An der Abschlussmesse im Rizal-Park in Ma-
nila sollen mehr als sechs Millionen Menschen
teilgenommen haben. Wie war es möglich, so
viele Gläubige zu mobilisieren?
Den Angaben der Sicherheitskräfte zufolge
soll die Zahl sogar noch höher gewesen sein, un-
ter Einbeziehung der Menschen in den Seiten-
straßen. Aber was in der westlichen Welt unvor-
stellbar hohe Zahlen zu sein scheinen, ist für uns
Filipinos normal: Wir sind es gewohnt, bei den
wichtigsten religiösen Festen immense Men-
schenmengen zu sehen. Man denke nur etwa an
die Traslación, die tradi-
tionelle Prozession mit
der Statue des Schwar-
zen Nazareners von
Quiapo, bei der sich all-
jährlich am 9. Januar –
zumindest vor der Pan-
demie – Millionen von
Filipinos aus dem
ganzen Land versam-
melt haben; oder die
Verehrung des »Santo
Niño« von Cebu, dessen
Fest immer am dritten
Sonntag im Januar be-
gangen wird. Es sind
Formen der Verehrung
Christi und seiner Mut-
ter Maria, bei denen wir
Hirten uns darauf be-
schränken, die Liturgie,
das Studium der Bibel
und höchstens noch die Sicherheitsmaßnahmen
zu organisieren, und die offizielle Einladung aus-
sprechen: aber es bedarf keiner besonderen
Mobilisierung, es ist eine spontane Massenbewe-
gung.
So war es auch im Moment, als der Papst –
sichtbares Zeichen der Gegenwart des Herrn als
Hirte der Kirche, und im Jahr 2015 auch Zeichen
der Hoffnung auf einen Neubeginn nach den Na-
turkatastrophen – da war: Es war ganz normal, so
viele Menschen zu sehen; auch wenn ich geste-
hen muss, dass auch ich von den schwindelerre-
genden Zahlen ein wenig überrascht war. Für
uns bedeutet Präsenz soviel wie Gebet: dem
Herrn nicht nur mit Worten, sondern auch mit
dem Leib zu danken. Das ist der Grund dafür,
dass man auf den Philippinen die geballte Energie
und Kraft der Volksfrömmigkeit sieht. Sie ist eine
Frucht der Mystik des Volkes, die im über-
schwänglichen Empfang für den Heiligen Vater
zum Ausdruck gekommen ist. Die Filipinos sind
bekannt für ihr Lächeln, das die Liebe zu Gott
ausdrückt, für ihre innige Frömmigkeit, ihre tiefe
Verehrung Jesu und der Gottesmutter und ihre
Liebe zum Rosenkranzgebet.
Kommen wir in die Gegenwart zurück: Papst
Franziskus hat durch die Ausrufung des Aktions-
jahres »Amoris laetitia« die Familie in den Mittel-
punkt des kirchlichen Lebens gestellt. Sie kennen
das Nachsynodale Schreiben nur allzu gut, da Sie
zu den delegierten Vorsitzenden der beiden in
den Jahren 2014 und 2015 vom Papst einberufe-
nen Bischofsversammlungen zu diesem Thema
gehörten. Welche Auswirkungen kann eine sol-
che Initiative auf die Philippinen haben?
In jeder Diözese, Pfarrei, katholischen Schule
oder kirchlichen Bewegung im Land gibt es immer
dieses seelsorgliche Interesse an den Familien,
und ich bin überzeugt, dass dieses besondere Jahr
einer bereits vorhandenen Realität in vielerlei Hin-
sicht weitere Impulse geben wird. In besonderer
Weise wird es als Ermutigung für die philippini-
schen Migranten dienen – denken wir nur an die
vielen, die in Italien leben, und an ihren oft unter-
schätzten Beitrag zum Leben und zum Wohlstand
der Gesellschaft, in der sie leben. Zusammen mit
ihren Seelsorgern sind sie aufgerufen, die Familie
als »Hauskirche« wiederzuentdecken und die Be-
rufung eines jeden in der Weitergabe des Glau-
bens von den Eltern an die Kinder, aber auch von
den Älteren an die Jüngeren oder von den Groß-
eltern an die Enkelkinder und umgekehrt zu
wecken. Denn es steht außer Zweifel, dass es mit-
unter die Kinder sind, die die Erwachsenen zum
Wachsen im Glauben erziehen.
Ein zweiter Aspekt hat mit dem Evangelisie-
rungsauftrag der Familie zu tun, und das gilt so-
wohl in der Heimat als auch in den Ländern, in
die diese Menschen auswandern. Im Nahen
Osten zum Beispiel vertraute mir der Apostoli-
sche Vikar Paul Hinder an, dass die Kirchen dank
der Filipinos vor allem bei den Sonntagsmessen
voll sind, aber auch unter der Woche wirken sie
mit an der Gestaltung von Gebetsgruppen oder
Bibelkreisen. Ich möchte daran erinnern, dass es
sich um Frauen und Männer handelt, die ihr Zu-
hause verlassen haben, um Arbeit zu suchen,
aber sie haben auch eine Mission gefunden, die
nicht nur individueller Art ist, sondern den ge-
samten Kreis der Familie mit einbezieht. Und auf
diese Weise werden viele Migranten- und Flücht-
lingsfamilien in schwierigen Situationen zu
Werkzeugen der Evangelisierung.
Vor rund einem Jahr hat Sie der Papst zu einer
neuen Aufgabe als Präfekt der Kongregation für
die Evangelisierung der Völker nach Rom geru-
fen. Welche Elemente der in Manila gesammel-
ten seelsorgerischen Erfahrung bringen Sie in
Ihren jetzigen Dienst ein?
Wenn wir auf die Weltkarte schauen, bemer-
ken wir die große geographische Entfernung zwi-
schen diesen beiden Metropolen, und in der Tat
sind es verschiedene Welten, mit verschiedenen
Sprachen und Lebensweisen. Aber sie haben
auch viel gemeinsam, und ich danke dem Herrn
für meinen bischöflichen Dienst in der Haupt-
stadt der philippinischen Nation, dem Zentrum
der Politik und Kultur sowie dem Land der inter-
nen wie auch externen Migration. Kurzum, ich
war auch in Manila mit Vielfalt konfrontiert, aber
in einem begrenzteren geographischen Rahmen.
Durch die Teilnahme an vielen Treffen der Föde-
ration der Asiatischen Bischofskonferenzen
(FABC) habe ich aber mein Wissen über einen
Kontinent vertieft, auf dem der katholische
Glaube nicht wie auf den Philippinen in der
Mehrheit ist.
Jetzt, als enger Mitarbeiter des Papstes im Va-
tikan, sehe ich, dass die Realität der Gemein-
schaft in der katholischen Kirche, die nicht ab-
strakt ist, kein abstrakter Begriff ist, sondern
etwas Konkretes. Sie ist gleichsam ein Geschenk
der Einheit des Heiligen Geistes, die in der
Lebendigkeit der Ortskirchen zum Ausdruck
kommt, von denen jede etwas zur Katholizität
beitragen kann. Und ich bin hier, um die Erfah-
rungen und die Wunden, die Träume und die Lei-
den der Filipinos und der Asiaten zu teilen und
so mit dem geistigen und kulturellen Erbe mei-
nes Landes zum Reichtum der katholischen Kir-
che beizutragen.
Kardinal Tagle schildert seine Erinnerungen an den Besuch des Papstes auf den Philippinen
Barmherzigkeit, Mitleid und die Kraft der Tränen
Von 2011 bis 2019
war Kardinal Tagle
(links) Erzbischof von
Manila und begleitete
den Papst 2015 auf
seiner Apostolischen
Reise durch das Land.
Seit 2019 ist er Prä-
fekt der Kongregation
für die Evangelisie-
rung der Völker.
Glyzelle kann ihre Tränen nicht zurückhalten, als sie dem Papst
am 18. Januar 2015 in Manila vom Leid der Kinder erzählt.
Papst Franziskus besucht eine Fischerfamilie, deren Haus vom Taifun zerstört wurde.
L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
7
19. Februar 2021 / Nummer 7
Aus dem Vatikan
Exzellenzen, meine Damen und Herren,
ich danke dem Doyen, Seiner Exzellenz Herrn
George Poulides, dem Botschafter von Zypern,
für seine freundlichen Worte und guten Wünsche
in Ihrer aller Namen, und möchte mich vor allem
für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, wel-
che Ihnen die Absage des für den 25. Januar vor-
gesehenen Termins vielleicht bereitet hat. Ich
danke Ihnen für Ihr Verständnis und Ihre Geduld
und dass Sie die Einladung, heute Morgen an un-
serer traditionellen Begegnung teilzunehmen,
trotz der Schwierigkeiten angenommen haben.
Wir treffen uns heute in der geräumigeren
Aula delle Benedizioni, um größeren Abstand
zwischen den Personen halten zu können, wie es
die Pandemie erfordert. Der Abstand ist jedoch
rein physisch. Unser Zusammenkommen sym-
bolisiert eher das Gegenteil. Es ist ein Zeichen der
Nähe, jener Verbundenheit und gegenseitiger
Unterstützung, nach der die Familie der Nationen
streben muss. In dieser Zeit der Pandemie ist
diese Pflicht umso dringlicher, weil jedem klar ist,
dass das Virus keine Grenzen kennt und nicht
einfach isoliert werden kann. Die Verantwortung
für seine Bekämpfung betrifft daher einen jeden
von uns persönlich, aber auch unsere Länder.
Ich bin Ihnen daher dankbar für Ihren tägli-
chen Einsatz zur Förderung der Beziehungen
zwischen Ihren Ländern bzw. den von Ihnen ver-
tretenen Internationalen Organisationen und
dem Heiligen Stuhl. Im Laufe dieser Monate
konnten wir zahlreiche Zeichen gegenseitiger
Verbundenheit austauschen, auch dank der mo-
dernen Technik, die es ermöglicht hat, die von der
Pandemie verursachten Einschränkungen zu
überwinden.
Zweifelsohne hoffen wir alle, so schnell wie
möglich wieder zum unmittelbaren persönlichen
Kontakt zurückzukehren, und unser heutiges
Treffen möchte in diesem Sinne ein gutes Omen
sein. Ebenso ist es mein Wunsch, in Kürze die
Apostolischen Reisen wiederaufzunehmen, be-
ginnend mit der für den kommenden März ge-
planten Reise in den Irak. Die Reisen sind in der
Tat ein wichtiger Aspekt der Sorge des Nachfol-
gers Petri für das Volk Gottes auf der ganzen Welt
sowie des Dialogs des Heiligen Stuhls mit den
Staaten. Außerdem sind sie oft eine günstige Ge-
legenheit, um in einem Geist des Austauschs und
des Dialogs die Beziehungen zwischen den ver-
schiedenen Religionen zu vertiefen. In unserer
Zeit ist der interreligiöse Dialog ein wichtiger Be-
standteil der Begegnung zwischen den Völkern
und Kulturen. Wenn er nicht als Verzicht auf die
eigene Identität verstanden wird, sondern als Ge-
legenheit zu einem vertieften Kennenlernen und
gegenseitiger Bereicherung, stellt er eine Chance
für die Religionsführer und die Gläubigen der ver-
schiedenen Bekenntnisse dar und kann die Arbeit
der politischen Entscheidungsträger in ihrer Ver-
antwortung für das Gemeinwohl unterstützen.
Ebenso wichtig sind die internationalen Ver-
einbarungen, die es erlauben, die Bande des ge-
genseitigen Vertrauens zu vertiefen, und die die
Kirche in die Lage versetzen, wirksamer zum
geistlichen und sozialen Wohl Ihrer Länder bei-
zutragen. In diesem Zusammenhang möchte ich
hier den Austausch der Ratifikationsurkunden
des Rahmenabkommens zwischen dem Heiligen
Stuhl und der Demokratischen Republik Kongo
und des Abkommens über den Rechtsstatus der
katholischen Kirche in Burkina Faso erwähnen
sowie die Unterzeichnung des Siebenten Zusatz-
vertrags zwischen dem Heiligen Stuhl und der
Republik Österreich zum Vertrag zur Regelung
von vermögensrechtlichen Beziehungen vom
23. Juni 1960. Darüber hinaus haben der Heilige
Stuhl und die Volksrepublik China am 22. Okto-
ber vereinbart, die Gültigkeit des 2018 in Peking
unterzeichneten vorläufigen Abkommens bezüg-
lich der Ernennung von Bischöfen in China um
weitere zwei Jahre zu verlängern. Es handelt sich
um eine Übereinkunft, die im Wesentlichen pas -
toraler Natur ist. Der Heilige Stuhl hofft, dass der
eingeschlagene Weg im Geiste des Respekts und
gegenseitigen Vertrauens weitergeht und zur Lö-
sung von Fragen gemeinsamen Interesses wei-
terhin beiträgt.
Liebe Botschafterinnen und Botschafter,
das vor kurzem zu Ende gegangene Jahr hat
über die vielen Todesfälle hinaus bedrückende
Angst, Entmutigung und Verzweiflung hinterlas-
sen. Es hat die Menschen in eine Spirale der Ab-
sonderung und des gegenseitigen Verdachts ver-
setzt und die Staaten dazu bewegt, Barrieren zu
errichten. Die vernetzte Welt, an die wir gewöhnt
waren, ist einer Welt gewichen, die wieder frag-
mentiert und geteilt ist. Nichtsdestotrotz sind die
Auswirkungen der Pandemie wirklich global,
weil sie zum einen
tatsächlich die gesamte
Menschheit und alle
Länder der Erde betrifft,
zum anderen aber auch
weil sie viele Aspekte
unseres Lebens berührt
und zur Verschärfung
von Krisen beiträgt, »die
eng miteinander zusam-
menhängen, wie die
Klima-, Ernährungs-, Wirtschafts- und Migrati-
onskrisen«.1 Aufgrund dieser Überlegungen hielt
ich es für angebracht, die Vatikanische Covid-19-
Kommission zu gründen, um die Reaktion des
Heiligen Stuhls und der Kirche auf die aus den
Diözesen der ganzen Welt kommenden Anre-
gungen zu koordinieren, um der gesundheitli-
chen Notlage und den Bedürfnissen zu begeg-
nen, die die Pandemie ans Licht gebracht hat.
Von Anfang an war nämlich klar, dass die
Pandemie einen großen Einfluss auf unseren ge-
wohnten Lebensstil haben würde und zu einer
Abnahme von Komfort und zum Schwinden von
etablierten Gewissheiten führen würde. Sie ver-
setzte uns in eine Krise und zeigte uns das Ge-
sicht einer Welt, die nicht nur an einem Virus er-
krankt war, sondern auch was die Umwelt
betrifft, die wirtschaftlichen und politischen Pro-
zesse und erst recht die menschlichen Beziehun-
gen. Sie hat die Risiken und Folgen einer von
Egoismus und Wegwerfmentalität geprägten Le-
bensweise ans Licht gebracht und uns vor die Al-
ternative gestellt, den bisherigen Weg fortzuset-
zen oder einen neuen Weg einzuschlagen.
Ich möchte daher auf einige der Krisen einge-
hen, die durch die Pandemie verursacht oder
deutlicher sichtbar wurden, und gleichzeitig die
Chancen betrachten, die sich daraus für den Auf-
bau einer menschlicheren, gerechteren, solidari-
scheren und friedlicheren Welt ergeben.
Gesundheitskrise
Die Pandemie hat uns mit voller Wucht zwei
unausweichliche Dimensionen der menschli-
chen Existenz vor Augen gestellt: Krankheit und
Tod. Gerade dadurch erinnert sie auch an den
Wert des Lebens, jedes einzelnen menschlichen
Lebens, und an seine Würde in jedem Augen-
blick seines irdischen Weges, von der Empfängnis
im Mutterleib bis zu seinem natürlichen Ende.
Bedauerlicherweise ist festzustellen, dass sich
unter dem Vorwand, vermeintliche subjektive
Rechte zu garantieren, eine wachsende Zahl von
Gesetzgebungen in der ganzen Welt von der un-
abdingbaren Pflicht, menschliches Leben in jeder
Phase zu schützen, zu entfernen scheint.
Die Pandemie erinnert uns auch an das Recht
auf eine allgemeine Fürsorge, die jedem Men-
schen zukommt, wie ich auch in meiner Bot-
schaft zum Weltfriedenstag am 1. Januar dieses
Jahres betont habe. »Jede menschliche Person ist
– in der Tat – Selbstzweck, niemals einfach Mit-
tel, das nur seines Nutzens wegen geschätzt
wird; sie ist dazu geschaffen, um in der Familie,
in der Gemeinschaft, in der Gesellschaft zusam-
menzuleben, wo alle Mitglieder an Würde gleich
sind. Aus dieser Würde leiten sich die Men-
schenrechte ab, aber auch die Pflichten, die zum
Beispiel an die Verantwortung erinnern, die Ar-
men, die Kranken, die Ausgegrenzten […] aufzu-
nehmen und ihnen zu helfen.«2 Wenn das Recht
auf Leben im Falle der Schwächsten unterdrückt
wird – wie sollen dann die übrigen Rechte wirk-
sam gewährleistet werden?
In diesem Sinne erneuere ich meinen Appell,
jedem Menschen die Fürsorge und den Beistand
zukommen zu lassen, den er braucht. Dazu ist es
notwendig, dass sich die Verantwortlichen in der
Politik und in der Regierung für einen allgemei-
nen Zugang zu einer medizinischen Grundver-
sorgung einsetzen, wie auch für die Schaffung
von lokalen medizinischen Zentren und Gesund-
heitseinrichtungen, welche den tatsächlichen Be-
dürfnissen der Bevölkerung entsprechen, sowie
für die Verfügbarkeit von Behandlungen und Me-
dikamenten. In der Tat kann es nicht sein, dass
die Logik des Profits in so sensiblen Bereichen
wie der Gesundheitsversorgung und der allge-
meinen Fürsorge den Ton angibt.
Es ist auch unerlässlich, dass die beträchtli-
chen medizinischen und wissenschaftlichen
Fortschritte, die im Laufe der Jahre gemacht wur-
den und die es ermöglicht haben, in sehr kurzer
Zeit wirksame Impfstoffe gegen das Coronavirus
zu entwickeln, der gesamten Menschheit zugute -
kommen. Ich rufe daher alle Staaten auf, sich ak-
tiv an den internationalen Initiativen zu beteili-
gen, die darauf abzielen, eine gerechte Verteilung
der Impfstoffe sicherzustellen – und zwar nicht
nach rein wirtschaftlichen Kriterien, sondern un-
ter Berücksichtigung der Bedürfnisse aller, vor al-
lem der Bevölkerungen besonders bedürftiger
Länder.
In jedem Fall muss der Zugang zu Impfstoffen
angesichts eines so heimtückischen und unbere-
chenbaren Feindes wie Covid-19 immer von ei-
nem verantwortungsvollen persönlichen Verhal-
ten begleitet sein, das darauf abzielt, die Aus-
breitung der Krankheit zu verhindern, und zwar
durch die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen,
an die wir uns in den letzten Monaten gewöhnt
haben. Es wäre fatal, allein auf den Impfstoff zu
setzen, als wäre er ein Allheilmittel, das von ei-
nem kontinuierlichen Engagement des Einzel-
nen für die eigene Gesundheit und die anderer
Menschen befreit. Die Pandemie hat uns gezeigt,
dass niemand eine Insel ist, so der berühmte Satz
des englischen Dichters John Donne, und dass
gilt: »Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn
ich bin Teil der Menschheit.«3
Umweltkrise
Nicht nur Menschen erkranken, sondern
auch unsere Erde. Die Pandemie hat uns einmal
mehr gezeigt, wie anfällig sie ist und wie sehr sie
der Hilfe bedarf.
Es gibt sicherlich wesentliche Unterschiede
zwischen der Gesundheitskrise, die durch die
Pandemie hervorgerufen wurde, und der ökolo-
gischen Krise, die durch die wahllose Ausbeu-
tung der natürlichen Ressourcen verursacht
wurde. Letztere ist viel komplexer und anhalten-
der und erfordert gemeinsame langfristige Lö-
sungen. Tatsächlich sind die Auswirkungen zum
Beispiel des Klimawandels – sowohl die direkten,
wie extreme Wetterereignisse, etwa Über-
schwemmungen und Dürren, als auch die indi-
rekten, wie Unterernährung oder Atemwegser-
krankungen – oft mit langwierigen Folgen
verbunden.
Die Lösung dieser Krisen erfordert eine inter-
nationale Zusammenarbeit in der Sorge um unser
gemeinsames Haus. Ich hoffe daher, dass die
nächste Klimakonferenz der Vereinten Nationen
(COP26) im November diesen Jahres in Glasgow
eine wirksame Vereinbarung zur Bekämpfung
der Folgen des Klimawandels ermöglichen wird.
Jetzt ist es an der Zeit zu handeln, denn die Aus-
wirkungen fortgesetzter Untätigkeit sind bereits
spürbar.
Ich denke da zum Beispiel an die Auswirkun-
gen auf die vielen kleinen Inseln im Pazifik, die
allmählich zu verschwinden drohen. Diese
Tragödie verursacht nicht nur die Zerstörung
ganzer Dörfer, sondern zwingt auch die lokalen
Gemeinschaften und insbesondere die Familien,
ständig umzuziehen, was mit dem Verlust ihrer
Identität und Kultur verbunden ist. Ich denke
auch an die Überschwemmungen in Südostasien,
vor allem in Vietnam und auf den Philippinen, die
zahlreiche Opfer gefordert und ganze Familien
um ihren Lebensunterhalt gebracht haben.
Ebensowenig kann man die fortschreitende Erd -
erwärmung ignorieren, die verheerende Brände
in Australien und Kalifornien verursacht hat.
Auch in Afrika gibt der Klimawandel, der
durch unüberlegtes menschliches Handeln und
nun auch durch die Pandemie verschärft wird,
Anlass zu großer Sorge. Ich beziehe mich in ers -
ter Linie auf die unsichere Ernährungslage, von
der im letzten Jahr insbesondere Burkina Faso,
Mali und Niger betroffen waren, wo Millionen
Empfang für das beim Heiligen Stuhl akkreditierte Diplomatische Korps
Geschwisterlichkeit und Hoffnung sind wie MedikamenteAnsprache von Papst Franziskus am 8. Februar
Fortsetzung auf Seite 8
Derzeit unterhalten 183 Staaten diplomatische Beziehungen zum Heiligen Stuhl. Hinzu kommen noch
die Europäische Union und der Souveräne Malteserorden. Insgesamt 88 Botschaftskanzleien haben
ihren Sitz in Rom.
Die Pandemie hat uns mit voller Wucht
zwei unausweichliche Dimensionen
der menschlichen Existenz vor Augen gestellt:
Krankheit und Tod. Gerade dadurch erinnert sie
auch an den Wert des Lebens, jedes einzelnen
menschlichen Lebens, und an seine Würde in jedem
Augenblick seines irdischen Weges, von der Empfängnis
im Mutterleib bis zu seinem natürlichen Ende.
L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
8
19. Februar 2021 / Nummer 7
Aus dem Vatikan
von Menschen Hunger leiden. Ich denke da auch
an die Situation im Südsudan, wo die Gefahr ei-
ner Hungersnot besteht und wo außerdem eine
ernste humanitäre Notlage herrscht. Mehr als
eine Million Kinder leiden an Mangelernährung,
während humanitäre Korridore oft blockiert und
die Präsenz humanitärer Organisationen in dem
Gebiet eingeschränkt werden. Auch um diese Si-
tuation in den Griff zu bekommen, ist es drin-
gender denn je, dass die südsudanesischen Ver-
antwortungsträger allen Zwist überwinden und
den politischen Dialog im Hinblick auf eine voll-
ständige nationale Aussöhnung weiterführen.
Wirtschaftliche und soziale Krise
Das Ziel, das Coronavirus einzudämmen, hat
viele Regierungen dazu veranlasst, Maßnahmen
zur Einschränkung der Freizügigkeit zu ergrei-
fen. Diese haben über mehrere Monate zur
Schließung von Geschäften und zu einem allge-
meinen Rückgang der Produktion geführt, was
schwerwiegende Auswirkungen auf die Unter-
nehmen, vor allem auf kleine und mittlere Be-
triebe, hat wie auch auf die Beschäftigung und
damit auf das Leben von Familien und ganzen
Gesellschaftsschichten, insbesondere der schwä-
cheren.
Die daraus folgende Wirtschaftskrise hat eine
weitere Krankheit unserer Zeit ans Licht ge-
bracht, nämlich die einer Wirtschaft, die auf der
Ausbeutung und dem Wegwerfen von Men-
schen und natürlichen Ressourcen basiert. Dabei
hat man allzu oft die Solidarität und andere Werte
vergessen, die die Wirtschaft in die Lage verset-
zen, einer ganzheitlichen menschlichen Ent-
wicklung zu dienen und nicht nur Einzelinteres-
sen. Zudem sind die soziale Bedeutung der
Wirtschaftstätigkeit und die universelle Bestim-
mung von Gütern und Ressourcen aus dem Blick
geraten.
Die aktuelle Krise ist daher ein günstiger An-
lass, das Verhältnis zwischen Mensch und Wirt-
schaft neu zu überdenken. Es braucht eine Art
»neue kopernikanische Wende«, die die Wirt-
schaft in den Dienst des Menschen stellt und
nicht umgekehrt; die beginnt, »eine andersgear-
tete Wirtschaft zu studieren und zu praktizieren,
eine Wirtschaft, die Leben lässt und nicht tötet,
die inklusiv ist und nicht exklusiv, die menschli-
cher macht und nicht entmenschlicht, die sich
der Sorge für die Schöpfung widmet und sie nicht
ausbeutet«.4
Um die negativen Folgen dieser Krise zu
bekämpfen, haben viele Regierungen verschie-
dene Initiativen und die Bereitstellung erhebli-
cher finanzieller Mittel geplant. Allerdings hat
man auch oft versucht, diesem Problem von glo-
balem Ausmaß mit Teillösungen zu begegnen.
Heute ist es weniger denkbar denn je, dass man
es alleine schafft. Zum Erhalt der Arbeitsplätze
und zum Schutz der ärmsten Bevölkerungs-
schichten braucht es gemeinsame und abge-
stimmte Initiativen, auch auf internationaler
Ebene. In dieser Hinsicht halte ich das Bemühen
der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaa-
ten für bedeutsam, die trotz aller Schwierigkeiten
zeigen konnten, dass man durch beherztes Han-
deln zu zufriedenstellenden Kompromissen zum
Wohle aller Bürger gelangen kann. Die im Rah-
men von Next Generation EU bereitgestellten
Mittel sind ein bedeutendes Beispiel dafür, dass
Zusammenarbeit und eine gemeinsame Nutzung
von Ressourcen im Geiste der Solidarität nicht
nur wünschenswerte, sondern auch wirklich er-
reichbare Ziele sind.
In vielen Teilen der Welt hat die Krise vor
allem diejenigen getroffen, die im informellen
Sektor arbeiten und als erste den Verlust ihrer
Existenzgrundlage erleiden mussten. Da sie
außerhalb der formellen Wirtschaft leben, haben
sie auch keinen Zugang zu sozialen Absicherun-
gen, einschließlich Arbeitslosenversicherung
und Gesundheitsversorgung. Aus Verzweiflung
haben daher viele nach anderen Einkommens-
möglichkeiten gesucht und sich der Ausbeutung
durch illegale Arbeit oder Zwangsarbeit, Prostitu-
tion und verschiedene kriminelle Aktivitäten,
Menschenhandel inbegriffen, ausgesetzt.
Dementgegen hat jeder Mensch das Recht –
er hat das Recht! – auf »die geeigneten Mittel zu
angemessener Lebensführung«5 und muss in die
Lage versetzt werden, sie zu erhalten. Es ist in der
Tat notwendig, dass für alle die wirtschaftliche
Stabilität gewährleistet wird, um das Übel der
Ausbeutung zu verhindern und dem Wucher und
der Korruption, die zahlreiche Länder der Welt
heimsuchen, entgegenzuwirken wie auch so vie-
lem anderen Unrecht, das sich jeden Tag vor den
müden und unaufmerksamen Augen unserer
heutigen Gesellschaft ereignet.
Die vermehrt zu Hause verbrachte Zeit hat zu
einem schlechten Gebrauch von Computern und
anderen Medien geführt. Dies hatte schwerwie-
gende Auswirkungen auf die gefährdetsten Per-
sonengruppen, insbesondere auf Arme und Ar-
beitslose. Sie sind eine leichtere Beute für die
Cyberkriminalität in ihren ganz entwürdigenden
Formen, von Betrug bis hin zu Menschenhandel,
zu Ausbeutung durch Prostitution, auch Kinder-
prostitution, und zu Kinderpornografie.
Die pandemiebedingte Schließung der Gren-
zen hat zusammen mit der Wirtschaftskrise
ebenso verschiedene humanitäre Notlagen ver-
schärft, sowohl in Konfliktgebieten als auch in
vom Klimawandel und von der Dürre betroffe-
nen Regionen sowie in Flüchtlings- und Migran-
tenlagern. Ich denke dabei insbesondere an den
Sudan, wohin Tausende von Menschen aus der
Region Tigray geflüchtet sind, sowie an andere
Länder in Afrika südlich der Sahara oder auch
an die Provinz Cabo Delgado in Mosambik, wo
viele gezwungen waren, ihren ursprünglichen
Lebensraum zu verlassen und sich nun in sehr
prekären Verhältnissen befinden. Meine Gedan-
ken gehen auch in den Jemen und in das ge-
liebte Syrien, wo neben anderen ernsten
Notsitua tionen ein großer Teil der Bevölkerung
von Ernährungsunsicherheit betroffen ist und
die Kinder durch Unterernährung ausgezehrt
sind.
In einigen Fällen werden humanitäre Krisen
durch Wirtschaftssanktionen verschärft, die am
Ende meist nicht die politisch Verantwortlichen,
sondern vor allem die schwächsten Bevölke-
rungsschichten treffen. Deshalb sieht der Heilige
Stuhl, selbst wenn er die Logik hinter den Sank-
tionen versteht, sie als nicht wirksam an und
hofft auf ihre Lockerung, nicht zuletzt, um die hu-
manitären Hilfen zu ermöglichen, vor allem was
Medikamente und medizinisches Gerät betrifft,
die in dieser Zeit der Pandemie äußerst notwen-
dig sind.
Die derzeitige Konjunkturlage sollte dement-
sprechend auch als ein Anlass gesehen werden,
den ärmsten Ländern die Schuldenlast zu erlas-
sen oder zumindest zu reduzieren, die faktisch
ihre Erholung und volle Entwicklung verhindert.
Auch im vergangenen Jahr stieg die Zahl der
Migranten weiter an, die wegen der Grenz -
schließungen auf immer gefährlichere Routen
ausweichen mussten. Der massive Zustrom
führte zudem zu einem Anstieg der Zahl illegaler
Zurückweisungen, die oft durchgeführt wurden,
um Migranten daran zu hindern, Asyl zu bean-
tragen, was einen Verstoß gegen den Grundsatz
der Nichtzurückweisung (non-refoulement) dar-
stellt. Viele werden abgefangen und in Sammel-
und Inhaftierungslager zurückgeschickt, wo sie
Folter und Menschenrechtsverletzungen ausge-
setzt sind, wenn sie nicht im Meer und bei der
Überquerung anderer natürlicher Grenzen den
Tod finden.
Die humanitären Korridore, die in den letzten
Jahren eingerichtet wurden, tragen sicherlich
dazu bei, einige der genannten Probleme anzu-
gehen und viele Leben zu retten. Das Ausmaß
der Krise macht es jedoch immer dringlicher, die
Ursachen, die zur Migration führen, an der Wur-
zel zu bekämpfen, und erfordert zugleich eine ge-
meinsame Anstrengung zur Unterstützung der
Erstaufnahmeländer, welche die moralische Ver-
pflichtung, Leben zu retten, übernehmen. In die-
ser Hinsicht sieht man mit besonderem Interesse
den Verhandlungen über das neue Migrations-
und Asylpaket der Europäischen Union entge-
gen. Hierbei ist jedoch festzustellen, dass kon-
krete politische Maßnahmen und Mechanismen
nicht funktionieren werden, wenn sie nicht
durch den notwendigen politischen Willen und
das Engagement aller Beteiligten, einschließlich
der Zivilgesellschaft und der Migranten selbst, ge-
stützt werden.
Der Heilige Stuhl schätzt alle zugunsten der
Migranten unternommenen Anstrengungen und
unterstützt die Bemühungen der Internationalen
Organisation für Migration (IOM) – in diesem
Jahr feiert sie ihr 70-jähriges Bestehen – unter
voller Achtung der in ihrer Konstitution genann-
ten Werte und der Kultur der Mitgliedsstaaten, in
denen die Organisation tätig ist. Ebenso bleibt der
Heilige Stuhl als Mitglied des Exekutivkomitees
des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten
Nationen (UNHCR) den Grundsätzen des Genfer
Abkommens über die Rechtsstellung der Flücht-
linge von 1951 und des Protokolls von 1967 treu,
in denen die rechtliche Definition eines Flücht-
lings, seine Rechte und die rechtliche Verpflich-
tung der Staaten, ihn zu schützen, festgelegt sind.
Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die Welt nicht
mehr einen so dramatischen Anstieg der Flücht-
lingszahlen erlebt wie heute. Es ist daher drin-
gend notwendig, die Bemühungen zu ihrem
Schutz zu verstärken, auch für die Binnenvertrie-
benen und alle gefährdeten Personen, die vor Ver-
folgung, Gewalt, Konflikten und Krieg zu fliehen
gezwungen sind. In diesem Zusammenhang
bringt der Heilige Stuhl, trotz der bedeutenden
Anstrengungen der Vereinten Nationen bei der
Suche nach konsequenten Lösungen und kon-
kreten Vorschlägen zum Problem der Zwangs-
vertreibung, seine Besorgnis über die Lage der
Vertriebenen in verschiedenen Teilen der Welt
zum Ausdruck. Ich beziehe mich vor allem auf
die Region Zentralsahel, wo sich die Zahl der Bin-
nenvertriebenen in weniger als zwei Jahren ver-
zwanzigfacht hat.
Krise der Politik
Die Probleme, die ich bisher genannt habe,
weisen auf eine viel tiefere Krise hin, die in ge-
wisser Weise an der Wurzel der anderen liegt und
deren dramatische Tragweite gerade durch die
Pandemie deutlich gemacht wurde. Es ist die
Krise der Politik, die schon seit einiger Zeit viele
Gesellschaften betrifft und deren zermürbende
Auswirkungen während der Pandemie zutage
getreten sind.
Einer der emblematischen Faktoren dieser
Krise ist das Anwachsen der politischen Ge-
gensätze und die Schwierigkeit, wenn nicht gar
Unfähigkeit, gemeinsame und abgestimmte Lö-
sungen für die Probleme zu finden, die unseren
Planeten heimsuchen. Dieser Trend, den man
schon seit einiger Zeit beobachten kann, breitet
sich auch in Ländern mit einer langen demokrati-
schen Tradition immer weiter aus. Die Demokra-
tie lebendig zu erhalten ist eine Herausforderung
dieses Moments in der Geschichte6, die alle Staa-
ten direkt angeht, mögen sie groß oder klein sein,
wirtschaftlich fortgeschritten oder auf dem Weg
der Entwicklung. In diesen Tagen denke ich be-
sonders an das Volk von Myanmar, dem ich
meine Verbundenheit und Nähe bekunde. Der
Weg der Demokratisierung der letzten Jahre
wurde durch den Staatsstreich vergangene Wo-
che jäh unterbrochen. Dabei wurden einige
führende Politiker verhaftet, und ich hoffe, dass
sie umgehend freigelassen werden als ermuti-
gendes Zeichen für einen ehrlichen Dialog zum
Wohl des Landes.
So stellte im Übrigen Pius XII. in seiner denk-
würdigen Radioansprache von Weihnachten
Empfang für das beim Heiligen Stuhl akkreditierte Diplomatische Korps
Fortsetzung auf Seite 9
Fortsetzung von Seite 7
Mädchen in einem nordäthiopischen Flüchtlingslager.
Foto: Kirche in Not
L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
9
19. Februar 2021 / Nummer 7
Aus dem Vatikan
1944 fest: »Seine Meinung sagen über die ihm
auferlegten Pflichten und Opfer und nicht ge-
zwungen sein, zu gehorchen, ohne gehört wor-
den zu sein – das sind zwei Rechte des Bürgers,
die in der Demokratie, wie schon ihr Name sagt,
ihren Ausdruck finden.«7 Demokratie beruht auf
gegenseitigem Respekt, auf der Möglichkeit für
alle, zum Wohl der Gesellschaft beizutragen, und
auf der Überlegung, dass unterschiedliche Mei-
nungen die Gewalt und Sicherheit der Staaten
keineswegs untergraben, sondern in einer ehrli-
chen Auseinandersetzung gegenseitig berei-
chern und es ermöglichen, angemessenere Lö-
sungen für die anstehenden Probleme zu finden.
Der demokratische Prozess erfordert, dass ein
Weg des inklusiven, friedlichen, konstruktiven
und respektvollen Dialogs zwischen allen Glie-
dern der Zivilgesellschaft in jeder Stadt und Na-
tion beschritten wird. Obschon die Ereignisse auf
verschiedene Weise und in unterschiedlichen
Kontexten das vergangene Jahr von Ost bis West
auch – ich wiederhole – in Ländern mit einer lan-
gen demokratischen Tradition geprägt haben, so
zeigen sie doch, wie unausweichlich diese Her-
ausforderung ist und dass man von der morali-
schen und sozialen Verpflichtung, mit einer posi-
tiven Haltung an sie heranzugehen, nicht
entbunden werden kann. Die Entwicklung eines
demokratischen Bewusstseins verlangt, dass in-
dividualistische Tendenzen überwunden werden
und die Achtung des Rechtsstaats obsiegt. Das
Recht ist nämlich die unabdingbare Vorausset-
zung für die Ausübung jeder Gewalt und muss
von den übergeordneten Organen unabhängig
von den herrschenden politischen Interessen ge-
währleistet werden.
Leider schlägt sich die Krise der Politik und der
demokratischen Werte auch auf internationaler
Ebene nieder. Dies hat Auswirkungen auf das ge-
samte multilaterale System wie auch die offen-
sichtliche Folge, dass Organisationen, die zur För-
derung von Frieden und Entwicklung – auf der
Grundlage des Rechts und nicht des »Rechts des
Stärkeren« – konzipiert wurden, ihre Wirksam-
keit beeinträchtigt sehen. Sicherlich darf nicht
verschwiegen werden, dass im Laufe der letzten
Jahre das multilaterale System auch einige Gren-
zen erkennen ließ. Die Pandemie ist eine Gele-
genheit, die nicht vertan werden darf, um über
organische Reformen nachzudenken und sie um-
zusetzen, damit die internationalen Organisatio-
nen ihre eigentliche Berufung wiederentdecken,
der Menschheitsfamilie zu dienen, um das Leben
eines jeden Menschen und den Frieden zu be-
wahren.
Ein Zeichen der Krise der Politik ist gerade das
oft auftretende Widerstreben, Wege zu Reformen
einzuschlagen. Man braucht keine Angst vor Re-
formen haben, auch wenn sie Opfer und nicht
selten einen Mentalitätswandel erfordern. Jeder
lebendige Körper muss sich ständig reformieren,
und in dieser Perspektive sind auch die Reformen
zu sehen, die den Heiligen Stuhl und die Römi-
sche Kurie betreffen.
Jedenfalls mangelt es nicht an ermutigenden
Zeichen wie dem Inkrafttreten des Atomwaffen-
verbotsvertrags vor wenigen Tagen und der Ver-
längerung des Neuen Vertrags zur Verringerung
strategischer Waffen (New START) zwischen der
Russischen Föderation und den Vereinigten Staa-
ten von Amerika auf weitere fünf Jahre. Zieht
man andererseits, wie ich auch in der letzten En-
zyklika Fratelli tutti bekräftigt habe, »die Haupt-
bedrohungen für Frieden und Sicherheit mit
ihren vielen Aspekten in dieser multipolaren
Welt des 21. Jahrhunderts in Betracht […], dann
kommen einem nicht wenige Zweifel aufgrund
der Unangemessenheit nuklearer Abschreckung
als wirksamer Antwort auf diese Herausforde-
rungen«.8 In der Tat kann »eine auf Angst ge-
gründete Stabilität [nicht nachhaltig sein], inso-
fern sie die Angst noch vergrößert und vertrau-
ensvolle Beziehungen zwischen den Völkern
untergräbt«.9
Die Bemühungen auf dem Gebiet der Abrüs -
tung und der Nichtverbreitung von Atomwaffen,
die trotz Schwierigkeiten und mangelnder Bereit-
schaft intensiviert werden müssen, sollten gleich-
falls in Bezug auf chemische Waffen und gegenü-
ber konventionellen Waffen durchgeführt wer-
den. Es gibt zu viele Waffen auf der Welt! »Des-
halb fordern Gerechtigkeit, gesunde Vernunft
und Rücksicht auf die Menschenwürde dringend,
dass der allgemeine Rüstungswettlauf aufhört
[und dass die] bereits zur Verfügung stehenden
Waffen auf beiden Seiten und gleichzeitig ver-
mindert werden«10, wie der heilige Papst Johan-
nes XXIII. im Jahr 1963 sagte. Während mit der
weiteren Verbreitung von Waffen die Gewalt auf
allen Ebenen zunimmt und wir um uns herum
eine von Kriegen und Spaltungen zerrissene Welt
sehen, verspüren wir ein immer größeres Bedürf-
nis nach Frieden, nach einem Frieden, der »nicht
nur die Abwesenheit von Krieg [ist], sondern […]
ein sinnerfülltes Leben, das in persönlicher Erfül-
lung und im brüderlichen Austausch mit anderen
gelebt wird und darauf ausgerichtet ist«.11
Wie sehr wünschte ich mir, dass 2021 das
Jahr ist, in dem endlich der Syrien-Konflikt, der
vor zehn Jahren begann, ein Ende findet! Dazu
bedarf es eines neuen Interesses auch seitens
der internationalen Gemeinschaft, ehrlich und
mutig die Ursachen des Konflikts anzugehen und
nach Lösungen zu su-
chen, durch die alle unab-
hängig von ihrer ethni-
schen oder religiösen
Zugehörigkeit als Bürger
zur Zukunft des Landes
beitragen können.
Mein Wunsch nach
Frieden gilt selbstver-
ständlich auch dem Heili-
gen Land. Gegenseitiges
Vertrauen zwischen Israelis und Palästinensern
muss die Grundlage für einen erneuten und ent-
schlossenen direkten Dialog zwischen den Par-
teien sein, um einen Konflikt zu lösen, der schon
zu lange andauert. Ich fordere die internationale
Gemeinschaft auf, diesen direkten Dialog zu un-
terstützen und zu erleichtern, ohne zu meinen,
Lösungen auferlegen zu können, die nicht das
Wohl aller im Blick haben. Palästinenser und Is-
raelis – dessen bin ich mir sicher – hegen beide
den Wunsch, in Frieden leben zu können.
Ebenso hoffe ich auf ein neues politisches En-
gagement auf nationaler und internationaler
Ebene zur Förderung der Stabilität des Libanon,
der eine innere Krise durchmacht und Gefahr
läuft, seine Identität zu verlieren und noch stär-
ker in die Spannungen dieser Region verwickelt
zu werden. Es ist notwendiger denn je, dass die-
ses Land seine einzigartige Identität bewahrt,
auch als Gewähr für einen pluralen, toleranten
und vielfältigen Nahen Osten, in dem die christli-
che Präsenz ihren eigenen Beitrag leisten kann
und nicht auf eine zu schützende Minderheit re-
duziert wird. Die Christen bilden das historische
und soziale Bindegewebe des Libanon, und es
muss ihnen die Möglichkeit zugesichert werden,
durch die vielseitigen Bildungs-, Gesundheits-
und Wohltätigkeitswerke weiterhin für das Wohl
des Landes wirken zu können, zu dessen Grün-
dern sie gehören. Eine Schwächung der christli-
chen Gemeinschaft birgt das Risiko, das innere
Gleichgewicht und den Libanon selbst zu zer-
stören. Unter diesem Gesichtspunkt sind auch
die Fragen rund um die Präsenz der syrischen
und palästinensischen Flüchtlinge zu behandeln.
Darüber hinaus besteht ohne eine schnelle wirt-
schaftliche Erholung und einen raschen Wieder-
aufbau die Gefahr eines Bankrotts des Landes,
was gefährliche fundamentalistische Strömun-
gen zur Folge haben könnte. Deswegen ist es not-
wendig, dass alle politischen und religiösen Füh-
rer ihre Eigeninteressen zurückstellen und sich
dem Ziel der Gerechtigkeit und der Durch-
führung echter Reformen zum Wohle der Bürger
verpflichten. Dazu gehört, dass sie transparent
handeln und die Verantwortung für ihr Handeln
übernehmen.
Frieden wünsche ich auch für Libyen, das
ebenfalls unter einem mittlerweile langen Kon-
flikt leidet, und ich hege die Hoffnung, dass das
jüngste »Libysche Politische Dialogforum«, das im
November letzten Jahres unter der Schirmherr-
schaft der Vereinten Nationen in Tunesien statt-
fand, tatsächlich den ersehnten Versöhnungspro-
zess im Land einleiten
können wird.
Auch andere Regionen
der Welt geben Anlass zur
Sorge. Ich beziehe mich in
erster Linie auf die politi-
schen und sozialen Span-
nungen in der Zentralafri-
kanischen Republik sowie
auf die Spannungen in
Lateinamerika im Allge-
meinen, deren Wurzeln in der großen Ungleich-
heit, Ungerechtigkeit und Armut liegen, welche
die Würde des Einzelnen verletzen. Ebenso gilt
meine besondere Aufmerksamkeit der Ver-
schlechterung der Beziehungen auf der koreani-
schen Halbinsel, die in der Zerstörung des inner-
koreanischen Verbindungsbüros in Kaesong
gipfelte; ferner der Lage im Südkaukasus, wo
mehrere schwelende Konflikte fortbestehen, von
denen einige im letzten Jahr wieder aufgeflammt
sind und die Stabilität und Sicherheit der gesam-
ten Region bedrohen.
Schließlich kann ich eine weitere schwere
Geißel unserer Zeit nicht unerwähnt lassen – den
Terrorismus. Jedes Jahr fordert er zahlreiche Op-
fer unter der wehrlosen Zivilbevölkerung auf der
ganzen Welt. Dieses Übel erfuhr seit den 1970er-
Jahren einen Anstieg und fand in den Anschlägen
vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staa-
ten von Amerika einen Höhepunkt, als fast drei -
tausend Menschen getötet wurden. Leider hat
die Zahl der Attentate in den letzten zwanzig Jah-
ren zugenommen und verschiedene Länder auf
allen Kontinenten betroffen. Ich beziehe mich
hier insbesondere auf den Terrorismus vor allem
in Afrika südlich der Sahara, aber auch in Asien
und Europa. Ich denke an alle Opfer und an ihre
Familien, die durch blinde Gewalt, die durch
ideologische Verzerrungen der Religion motiviert
ist, geliebte Menschen verloren haben. Zudem
sind die Ziele solcher Angriffe oft gerade Gottes-
häuser mit zum Gebet versammelten Gläubigen.
In diesem Zusammenhang möchte ich unterstrei-
chen, dass der Schutz von Gottesdienststätten di-
rekt aus der Verteidigung der Gedanken-, Gewis-
sens- und Religionsfreiheit folgt und eine Pflicht
für die zivilen Behörden darstellt, unabhängig
von politischer Couleur oder Religionszugehörig-
keit.
Exzellenzen, meine Damen und Herren,
gegen Schluss meiner Ausführungen möchte
ich noch auf eine letzte Krise eingehen, die viel-
leicht die schwerwiegendste von allen ist: die
Krise der menschlichen Beziehungen, die Aus-
druck einer allgemeinen anthropologischen Krise
ist, welche die Vorstellung von der menschlichen
Person und ihre transzendente Würde betrifft.
Die Pandemie, die uns zu langen Monaten der
Isolation und oft auch der Einsamkeit gezwungen
hat, ließ das Bedürfnis, das jeder Mensch nach
menschlichen Beziehungen hat, deutlich wer-
den. Ich denke vor allem an die Studierenden, die
nicht regelmäßig zur Schule oder zur Universität
gehen konnten. Ȇberall wurde versucht, mit di-
gitalen Unterrichtsangeboten schnell darauf zu
reagieren. Dies hat nicht nur eine ausgeprägte
Ungleichheit zwischen den pädagogischen und
technologischen Möglichkeiten ans Licht ge-
bracht, sondern bei vielen Kindern und Jugendli-
chen aufgrund des Lockdowns und zahlreicher
anderer bereits bestehender Mängel auch einen
Rückstand im natürlichen pädagogischen Ent-
wicklungsprozess ergeben.«12 Darüber hinaus
hat die Zunahme des Fernunterrichts auch zu ei-
ner größeren Abhängigkeit der Kinder und Ju-
gendlichen vom Internet und generell von den
Formen virtueller Kommunikation geführt. Da-
durch sind sie aber auch schutzloser und werden
verstärkt kriminellen Online-Aktivitäten ausge-
setzt.
Wir erleben eine Art »Bildungskatastrophe«.
Ich möchte das wiederholen: Wir erleben eine
Art »Bildungskatastrophe«, vor der wir zum Wohl
der künftigen Generationen und der Gesellschaft
insgesamt nicht untätig bleiben dürfen. »Heute
bedarf es eines Neubeginns für ein Bildungs -
engagement, das alle Glieder der Gesellschaft
miteinbezieht«13, denn Bildung ist »das natürliche
Gegenmittel zur individualistischen Kultur […],
die bisweilen in einen wahren Kult des Ich und in
die Vorherrschaft der Gleichgültigkeit ausartet.
Unsere Zukunft darf nicht von der Spaltung, von
der Verarmung des Denkens und der Vorstel-
lungskraft, des Zuhörens, des Dialogs und des
gegenseitigen Verständnisses gekennzeichnet
sein«.14
Die langen Zeiten des Lockdowns erlaubten
es ihnen aber auch, mehr Zeit mit ihren Familien
zu verbringen. Für viele war es ein wichtiger Mo-
ment, die Beziehungen mit ihren Familienan-
gehörigen neu zu entdecken. Andererseits gilt,
dass »Ehe und Familie zu den kostbarsten Gütern
der Menschheit zählen«15 und die Wiege jeder
Zivilgesellschaft bilden. Der heilige Johannes
Paul II. – im Vorjahr haben wir den 100. Ge-
burtstag dieses großen Papstes gefeiert – rief in
seiner wertvollen Lehre über die Familie in Erin-
Geschwisterlichkeit und Hoffnung sind Medikamente für eine kranke Welt
Fortsetzung auf Seite 10
Die Pandemie ist eine Gelegenheit,
die nicht vertan werden darf, um über organische
Reformen nachzudenken und sie umzusetzen,
damit die internationalen Organisationen
ihre eigentliche Berufung wiederentdecken,
der Menschheitsfamilie zu dienen,
um das Leben eines jeden Menschen
und den Frieden zu bewahren.
Mein Wunsch nach Frieden gilt
selbstverständlich auch dem Heiligen Land.
Gegenseitiges Vertrauen zwischen Israelis und
Palästinensern muss die Grundlage
für einen erneuten und entschlossenen
direkten Dialog zwischen den Parteien sein,
um einen Konflikt zu lösen,
der schon zu lange andauert.
19. Februar 2021 / Nummer 7 L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
10 Aus dem Vatikan
nerung: »Angesichts der weltweiten Dimension,
die die verschiedenen sozialen Probleme heute
aufweisen, erfährt die Familie, wie sich ihr Auf-
trag für die Entwicklung der Gesellschaft in bis-
her nicht gekannten Ausmaßen erweitert.« Die
Familien kommen diesem Auftrag vor allem da-
durch nach, dass »sie ihren Kindern das Beispiel
eines Lebens geben, das sich auf die Werte der
Wahrheit und Freiheit, der Gerechtigkeit und der
Liebe gründet«.16 Doch nicht alle konnten im ei-
genen Zuhause in Ruhe leben, und manchmal
kam es beim Zusammenleben zu häuslicher Ge-
walt. Ich appelliere an alle, an die Behörden und
die Zivilgesellschaft, die Opfer von Gewalt in der
Familie zu unterstützen. Wir wissen leider, dass
es die Frauen sind, oft zusammen mit ihren Kin-
dern, die den höchsten Preis zahlen.
Die erforderlichen Maßnahmen zur Eindäm-
mung der Ausbreitung des Virus hatten Auswir-
kungen auch auf verschiedene Grundfreiheiten,
einschließlich der Religionsfreiheit aufgrund der
Einschränkung der Gottesdienste und der Bil-
dungs- und Wohltätigkeitsarbeit der Religionsge-
meinschaften. Es darf jedoch nicht außer Acht ge-
lassen werden, dass die religiöse Dimension
einen grundlegenden Aspekt der menschlichen
Person und der Gesellschaft darstellt, der nicht ab-
gewertet werden darf; und man darf nicht ver-
nachlässigen, dass man bei allem Bestreben,
Menschenleben vor der Ausbreitung des Virus zu
schützen, die spirituelle und moralische Dimen-
sion des Menschen gegenüber der körperlichen
Gesundheit nicht für zweitrangig halten darf.
Die Freiheit der Religionsausübung ist zudem
kein Zusatz zur Versammlungsfreiheit, sondern
rührt wesentlich vom Recht auf Religionsfreiheit
her, welches das erste und grundlegende Men-
schenrecht ist. Daher muss sie wie die Gesund-
heit und die körperliche Unversehrtheit von den
zivilen Behörden geachtet, geschützt und vertei-
digt werden. Im Übrigen kann eine gute Pflege
des Körpers nie von der Pflege der Seele absehen.
In seinem Schreiben an Cangrande della Scala
hebt Dante Alighieri hervor, dass es das Ziel sei-
ner Göttlichen Komödie ist, »diejenigen, die die-
ses Leben leben, aus dem Zustand des Elends zu
befreien und zu einem Zustand des Glücks zu
führen«.17 Dies ist, wenngleich mit unterschiedli-
chen Rollen und in unterschiedlichen Bereichen,
ebenso die Aufgabe sowohl der religiösen als
auch der zivilen Autoritäten. Die Krise der
menschlichen Beziehungen und folglich auch die
anderen von mir genannten Krisen können nur
überwunden werden, wenn die transzendente
Würde jeder menschlichen Person, die nach dem
Bild und Gleichnis Gottes geschaffen wurde, ge-
achtet wird.
Mit der Erwähnung des großen florentini-
schen Dichters, dessen 700. Todestag in diesem
Jahr begangen wird, denke ich gerne auch be-
sonders an das italienische Volk, das als erstes in
Europa mit den schwerwiegenden Folgen der
Pandemie zu tun hatte. Ich möchte es auffordern,
sich von den gegenwärtigen Schwierigkeiten
nicht entmutigen zu lassen, sondern gemeinsam
am Aufbau einer Gesellschaft zu arbeiten, in der
niemand ausgesondert oder vergessen wird.
Liebe Botschafterinnen und Botschafter,
im Jahr 2021 haben wir keine Zeit zu verlie-
ren. Und wir werden sie insofern nicht vergeu-
den, als wir es verstehen, mit vollem Einsatz zu-
sammenzuarbeiten. In diesem Sinne glaube ich,
dass die Geschwisterlichkeit das wahre Heilmittel
gegen die Pandemie und gegen die vielen Übel
ist, die uns getroffen haben. Geschwisterlichkeit
und Hoffnung sind wie Medikamente, welche
die Welt heute wie Impfstoffe braucht.
Ihnen und Ihren Ländern erbitte ich reiche
Gaben des Himmels in dem Wunsch, dass dieses
Jahr ein günstiges sein möge, um die geschwis -
terlichen Bande zwischen der ganzen Mensch-
heitsfamilie zu festigen.
Vielen Dank!
Fußnoten
1 Botschaft zum 54. Weltfriedenstag (8. De-
zember 2020), 1.2 Ebd., 6.3 J. Donne, Meditation XVII.4 Schreiben zur Veranstaltung »Economy of
Francesco« (1. Mai 2019).5 Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in Terris
(11. April 1963), 6.6 Vgl. Ansprache an das Europäische Parla-
ment, Straßburg (25. November 2014).7 Radioansprache an die Völker der ganzen
Welt, 24. Dezember 1944.8 Botschaft an die Konferenz der Vereinten
Nationen zur Aushandlung einer rechtsverbindli-
chen Übereinkunft zum Verbot von Kernwaffen
(23. März 2017): AAS 109 (2017), 394-396; En-
zyklika Fratelli tutti, 262.9 Ebd.10 Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris
(11. April 1963), 60.11 Angelus, 1. Januar 2021.12 Videobotschaft anlässlich des Treffens
»Global compact on education. Together to look
beyond« (15. Oktober 2020).13 Ebd.14 Ebd.15 Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben
Familiaris consortio (22. November 1981), 1.16 Ebd., 48.17 Epistula XIII, 39.
Empfang für das Diplomatische KorpsFortsetzung von Seite 9
Programm der Apostolischen Reise von Papst Franziskus in den Irak
Vatikanstadt/Bagdad. Papst Franziskus
will vom 5. bis 8. März den Irak besuchen. Das
Presseamt des Heiligen Stuhls gab Einzelheiten
zu der Reise am Montag, 8. Februar, offiziell be-
kannt. Der Irak-Besuch ist die erste Auslandsreise
des Papstes seit Ausbruch der Corona-Pandemie.
Wegen der andauernden Infektionsgefahr und
der Sicherheitslage im Irak erfolgt der Besuch un-
ter hohen Schutzvorkehrungen.
Die christliche Gemeinschaft im Irak zählt zu
den ältesten weltweit. Besonders infolge des Irak -
kriegs 2003 und des IS-Terrors ab 2014 sank die
Zahl der Christen stark. Schätzungen gehen von
einem Bevölkerungsanteil von einem Prozent
aus. Die Mehrheit im Land stellen schiitische
Muslime.
Franziskus reist als erster Papst in das Land
im Nahen Osten. Er tut dies auf Einladung der
irakischen Regierung und der örtlichen Kirche.
Der Patriarch von Babylon der Chaldäer, Kardi-
nal Louis Raphaël I. Sako, ist Oberhaupt der
chaldäisch-katholischen Kirche, die ungefähr
500.000 Gläubige umfasst; viele leben jedoch
im Ausland. Daneben gibt es im Irak römisch-ka-
tholische, syrisch-katholische und armenisch-ka-
tholische Christen sowie weitere hauptsächlich
altorientalische Kirchen. Der Papst wird auch
mit Staatspräsident Barham Salih und dem Ober-
haupt der Schiiten, Großajatollah Ali al-Sistani,
zusammentreffen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Franziskus sich
in ein Land mit prekärer Sicherheitslage begibt.
Ungeachtet mehrerer Anschläge auf christliche
Kirchen in Ägypten reiste er im April 2017 nach
Kairo; im November 2015 eröffnete er trotz an-
gespannter Lage in der Zentralafrikanischen Re-
publik in Bangui das »Jahr der Barmherzigkeit«
und besuchte die Große Moschee und ein Flücht-
lingslager.
Insgesamt wird der Papst während der Reise
vier Ansprachen und zwei Predigten halten,
außerdem gibt es das Angelusgebet am Sonntag
und ein Gebet für die Opfer des Krieges. Das Pro-
gramm im Einzelnen:
Freitag, 5. März
Rom - BagdadVormittag
– Abflug vom Flughafen Rom/Fiumicino
nach Bagdad
Nachmittag
– Landung auf dem Internationalen Flughafen
Bagdad
– Willkommenszeremonie auf dem Interna-
tionalen Flughafen Bagdad
– Begegnung mit dem Premierminister im VIP-
Bereich des Internationalen Flughafens Bagdad
– Begrüßungszeremonie im Präsidentenpa-
last in Bagdad
– Höflichkeitsbesuch beim Staatspräsidenten
in dessen Büro im Präsidentenpalast in Bagdad
– Begegnung mit den Vertretern der Regie-
rung, der Zivilgesellschaft und mit dem Diplo-
matischen Korps im Salon des Präsidentenpa-
lasts in Bagdad
– Begegnung mit den Bischöfen, Priestern, Or-
densleuten, Seminaristen und Katecheten in der
syrisch-katholischen Sayidat-al-Nejat Kathedrale
(Kathedrale »Unsere Liebe Frau der Erlösung«) in
Bagdad
Samstag, 6. März
Bagdad - Najaf - Ur - Bagdad
Vormittag
– Abflug nach Najaf
– Landung auf dem Flughafen Najaf
– Höflichkeitsbesuch beim Großajatollah
Sayyid Ali Al-Husayni Al-Sistani in Najaf
– Abflug nach Nassiriya
– Landung auf dem Flughafen Nassiriya
– Interreligiöse Begegnung in der Ebene von
Ur
– Abflug nach Bagdad
– Landung auf dem Internationalen Flughafen
Bagdad
Nachmittag
– Heilige Messe in der chaldäischen St.-Josefs-
Kathedrale in Bagdad
Sonntag, 7. März
Bagdad - Erbil - Mosul - Karakosch - Erbil - Bagdad
Vormittag
– Abflug nach Erbil
– Landung auf dem Flughafen von Erbil
– Empfang durch die Religionsführer und
Vertreter des öffentlichen Lebens der Autono-
men Region Kurdistan im VIP-Bereich des Flug-
hafens Erbil
– Begegnung mit dem Präsidenten und dem
Premierminister der Autonomen Region Kurdi-
stan im VIP-Bereich des Flughafens Erbil
– Abflug im Helikopter nach Mosul
– Landung auf dem Landefeld in Mosul
– Gebet für die Kriegsopfer am Hosh al-Bieaa
(Kirchplatz) in Mosul
– Abflug im Helikopter nach Karakosch
– Landung auf dem Landefeld von Karakosch
– Besuch der Gemeinschaft von Karakosch in
der Kirche der Unbefleckten Empfängnis in Kara-
kosch
– Weiterfahrt nach Erbil
Nachmittag
– Heilige Messe im Stadion »Franso Hariri« in
Erbil
– Abflug nach Bagdad
– Landung auf dem Internationalen Flughafen
Bagdad
Montag, 8. März
Bagdad - RomVormittag
– Abschiedszeremonie auf dem Internationa-
len Flughafen in Bagdad
– Abflug nach Rom
– Landung auf dem Internationalen Flughafen
Rom/Ciampino
Zeitverschiebung
Rom +1Std. UTC
Bagdad +3Std. UTC
Blick in die Ninive-Ebene, seit jeher eine Hoch-
burg der Christen im Irak.
Kritik an ungleicher
Verteilung von
Covid-Impfstoffen
Vatikanstadt. Das globale Ungleichgewicht
bei der Verteilung von Corona-Impfstoffen ist aus
Sicht von Kardinal Peter Turkson, Präfekt des Di-
kasteriums für den Dienst zugunsten der ganz-
heitlichen Entwicklung des Menschen, »nicht
mehr tragbar«. »Der Süden schaut auf den Nor-
den, um an Impfstoffe zu kommen, während
man diese direkt vor Ort produzieren könnte«,
sagte der aus Ghana stammende Kurienkardinal
in einem Interview mit dem Portal Vatican News
zum »Welttag der Kranken« am 11. Februar.
In Afrika gebe es schon jetzt mehrere mögli-
che Produktionsstandorte für Vakzine, etwa im
Senegal, in Äthiopien, Kenia und Südafrika, so
Turkson. Die gültigen Patentregeln für die Impf-
stoffe ließen eine Herstellung in Afrika aber bis-
lang nicht zu, kritisierte er und erneuerte die For-
derung des Heiligen Stuhles nach einer globalen
Impfstrategie, die den Zugang aller Staaten zu sol-
chen Impfstoffen garantiert.
Zuletzt hatten die Weltgesundheitsorganisa-
tion und das Kinderhilfswerk der Vereinten Na-
tionen bekannt gegeben, dass mehr als drei Vier-
tel der bisher verabreichten 128 Millionen
Impfdosen gegen Covid-19 in nur zehn Ländern
verimpft wurden, die 60 Prozent des weltweiten
Bruttoinlandsproduktes (BIP) repräsentieren. In
rund 130 Ländern mit 2,5 Milliarden Menschen
sei »noch keine einzige Dosis des Impfstoffs ver-
abreicht« worden, hieß es in der Erklärung. Der
Vatikan hat immer wieder gefordert, dass alle
Menschen möglichst schnell Zugang zu einer
Impfung gegen Covid-19 erhalten müssten. »Wir
sehen, dass Regierungen nur auf ihre eigenen
Leute schauen und sich erst dann um andere
kümmern«, so Kardinal Turkson beim diesjähri-
gen Weltwirtschaftsforum Davos.
19. Februar 2021 / Nummer 7 L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
11Aus dem Vatikan
Gute Wünsche an Radio Vatikan (90)
von Schwester André (117)Paris. Als treue Hörerin von Ra-
dio Vatikan sendet Schwester André
ihre besten Wünsche an den Radio-
sender des Papstes. »Radio Vatikan,
alles Gute zum Geburtstag! 90 Jahre
alt… Aber das ist jung!«, amüsiert
sie sich. Die älteste katholische Or-
densfrau der Welt wurde am ver-
gangenen 11. Februar 117 Jahre alt,
das heißt am Vorabend des Ju-
biläums von Radio Vatikan.
Sie lebt – seit ihrem 105. Le-
bensjahr – in einem Seniorenheim
in Toulon am Mittelmeer. Seit Okto-
ber 2017 gilt Schwester André auch
als älteste lebende Französin, seit
Juni 2019 als älteste Europäerin. Al-
lerdings wird das Geburtsdatum
von Tava Colo auf der französischen
Komoren-Insel Mayotte in Ostafrika
mit 22. Dezember 1902 angegeben.
Nach der Japanerin Kane Tanaka
(118) ist Schwester André die
zweitälteste Frau der Welt mit ver-
bürgtem Alter.
Geboren am 11. Februar 1904 im
südfranzösischen Ales als Lucile
Randon, hat Schwester André drei
französische Republiken erlebt,
zehn Päpste – von Pius X. bis Fran-
ziskus – und die deutsche Besat-
zung im Zweiten Weltkrieg. Mit
zwölf Jahren begann sie als Kinder-
mädchen zu arbeiten; später war sie
Hauslehrerin. Zu ihren Arbeitge-
bern zählte auch die Autobauerfa-
milie Peugeot. Erst 1923, mit 19 Jah-
ren, ließ sie sich taufen. 1944 trat sie
in Paris als Novizin in den Orden
der Vinzentinerinnen ein.
Seit 2009 ist Schwester André
im Seniorenheim; sie ist erblindet
und sitzt im Rollstuhl. Sie hat viele
Kriege und Katastrophen erlebt –
und beklagt statt eigener körperli-
cher Beschwernisse vor allem,
»dass die Menschen nicht in Ein-
tracht leben können«. In einem In-
terview zu ihrem 115. Geburtstag
berichtete sie über ihre 2018 ge-
storbene Zwillingsschwester: »Sie
ruft mich, sie zieht mich. Beten Sie
für mich, dass der gute Gott mich
nicht mehr zu lange warten lässt.
Er übertreibt!«
Vom Coronavirus geheilt, das
mehrere Bewohner ihres Hauses
befallen hat, hat Schwester André
dieser Tage die Aufmerksamkeit
der internationalen Medien auf
sich gezogen. Sie hat sich trotz al-
lem einen lebendigen Geist be-
wahrt, genährt durch ihre Freund-
schaften mit den anderen Heim-
bewohnern und durch ihr eifriges
Radiohören, das ihr ein Fenster zur
Welt und zum Zeitgeschehen bietet
und ihr Anregungen zum Gebet in
vielen Anliegen gibt. Zu ihrem
115. Geburtstag hatte sie einen Ro-
senkranz von Papst Franziskus er-
halten und im Interview gesagt,
dass sie den Heiligen Vater »sehr
mutig« finde.
Mit den Worten »Betet für
mich… und ich bete für euch«,
schließt sie ihre kurze Botschaft der
guten Wünsche an Radio Vatikan,
ein Ausdruck, der an Papst Franzis-
kus erinnert.
Radio Vatikan startet
zum 90. Geburtstag
ein Internetradio
Vatikanstadt. Zum 90-jährigen Beste-
hen seines Radiosenders startet der Vati-
kan ein Internetradio. Wie das Dikaste-
rium für die Kommunikation mitteilte,
wird das Programm zunächst in sieben
Sprachen gesendet: Italienisch, Deutsch,
Französisch, Englisch, Spanisch, Portugie-
sisch und Armenisch. Im Laufe des Jahres
sollen gut 20 weitere Sprachen dazukom-
men. Jede Sprache werde ein eigenes Web -
radioprogramm mit viel Musik haben,
kündigte der Präfekt des Dikasteriums,
Paolo Ruffini, an.
Schon jetzt ist Radio Vatikan über Satel-
lit, Digital-Radio und Kurzwelle zu hören.
Auch konnten die täglichen Nachrichten-
sendungen in Form von Podcasts schon
bisher über das Portal www.vatican-
news.va angehört werden.
Bekanntere Köpfe sind etwa der italie-
nische Jesuit Federico Lombardi als frühe-
rer Direktor des Senders, der zeitweise
auch als Direktor des Presseamtes des Hei-
ligen Stuhls fungierte. Die deutschspra-
chige Sektion wurde jahrzehntelang von
den Jesuiten Eberhard von Gemmingen
und Bernd Hagenkord geleitet. Aktuell lei-
tet der deutsche Journalist Stefan von Kem-
pis die deutschsprachige Abteilung von Ra-
dio Vatikan/Vatican News. Insgesamt
sendet Radio Vatikan weltweit in 41 Spra-
chen.
»Das Radio ist ein Medium, das es ge-
schafft hat, sich im Lauf der Zeit zu wan-
deln, ohne jemals seinen Wert und seinen
Charme zu verlieren«, erklärte der Präfekt
Ruffini zum Start des Webradio-Angebots.
Radio habe »diese schöne Eigenschaft,
dass es die Herzen anspricht«, fügte er an
und erinnerte an die Bedeutung, sich auf
die Stimme, die man aus den Lautspre-
chern hört, zu konzentrieren.
Unter den vatikanischen Medien noch
wesentlich älter als Radio Vatikan ist die
1861 gegründete Zeitung »L’Osservatore
Romano«, deren italienische Ausgabe im
Juli 160 Jahre alt wird. Die deutsche Aus-
gabe gibt es seit Oktober 1971, sie kann
in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen
begehen. Bereits seit 25 Jahren gibt es
außerdem den vatikanischen Internetauf-
tritt vatican.va; aufgebaut wurde er von
der US-amerikanischen Ordensfrau Judith
Zoebelein.
Jubiläums-Briefmarken mit
besonderem Stempel
Vatikanstadt. Zum 90. Geburtstag von Ra-
dio Vatikan gibt die Vatikanpost eine eigene Brief-
marke heraus. Auch das 160-jährige Jubiläum der
Vatikanzeitung »L’Osservatore Romano« wird mit
einer eigenen Briefmarke gewürdigt. Ab dem 22.
Februar werden die beiden Postwertzeichen aus-
gegeben; ihr Wert liegt bei 1,15 Euro für die Radio-
Vatikan- und bei 2,40 Euro für die Osservatore-
Briefmarke. Ein eigener Stempel mit lateinischer
Umschrift zeigt eine Ausgabe der Vatikanzeitung
und das Mikrofon, über das Papst Pius XI. im Fe-
bruar vor 90 Jahren den Vatikan-Rundfunk star-
tete.
Vatikanstadt. Mittlerweile acht Päpste hat
das Radio seit seiner Gründung begleitet, Papst
Franziskus ist der sechste von ihnen, der einen
»runden Geburtstag« seines Senders mitfeiern
kann. Auch in seinen Glückwünschen an die
Mitarbeiter des Radios versäumt er es nicht, im-
mer wieder ausgesprochene Forderungen an die
Medien aufzugreifen. Er schreibt:
»Liebe Brüder und Schwestern, alles Gutezum Jahrestag. Es ist wichtig, die Erinnerungan unsere Geschichte zu bewahren und nichtder Vergangenheit nachzuhängen, sondernSehnsucht nach der Zukunft zu haben, die auf-zubauen wir gerufen sind. Danke für Eure Arbeit. Danke für die Liebe, die ihr hinein-steckt. Das Radio hat diese schöne Eigen-schaft: es trägt das Wort auch in die entlegens -ten Orte. Und reichert es heute auch mitSchrift und Bild an. Macht weiter damit, mitMut und Kreativität zur Welt zu sprechen undso eine Kommunikation aufzubauen, die in derLage ist, uns die Wahrheit der Dinge sehen zulassen.«
Die Mitarbeiter des Radios begannen den Tag
mit einer Dankesmesse im Petersdom. Kardinal-
staatssekretär Pietro Parolin verwies in seiner
Predigt auf drei Merkmale einer gelungenen
Kommunikation: Offenheit für die Veränderun-
gen der zeitgenössischen Situation, Universalität
durch ein weit verzweigtes Netz-
werk und direkter Kontakt. Er
schloss mit den Worten: »Dazu,
liebe Brüder und Schwestern, er-
mutige ich euch, damit ihr in den
unvermeidlichen Mühen des All-
tags euren Dienst auf den Kontakt
zum Herrn gründet, der durch eure
Arbeit hindurchscheint. So bleibt
ihr offen für die Bedürfnisse der Zeit und pflegt
die universale Dimension, die euch auszeichnet.
Indem ich euch erneut von Herzen danke, versi-
chere ich euch meines Gebets für euch und alle,
denen eure Arbeit zugute kommt, damit sie
durch die von euch übermittelten Worte berührt
werden mögen vom göttlichen Wort, das rettet.«
Der Vormittag endete mit einem virtuellen
Treffen, in dem der Präfekt des Dikasteriums,
Paolo Ruffini, darauf hinwies, dass es gut sei, der
Vergangenheit zu gedenken, denn nur so könne
Neues entstehen, das nicht auf Sand gebaut sei.
»Erinnern bedeutet auf der einen Seite den Reich-
tum der Vergangenheit zu schätzen und zu nüt-
zen und auf der anderen Seite, Zukunft auf -
zubauen.« Er unterstrich, dass das Radio eine
großartige Schule des Journalismus sei, weil es
auf wahre Kommunikation setzen und die richti-
gen Worte finden müsse, um alle Menschen an-
zusprechen, und das nicht nur oberflächlich, son-
dern in der Tiefe, mit einer christlichen Deutung
der Zeit und als direkte Informationsquelle für das
päpstliche Lehramt.
Glückwünsche von Papst Franziskus zum 90-Jahr-Jubiläum von Radio Vatikan
Mit Mut und Kreativität
Das Gemälde im Marconi-Saal zeigt die acht Päpste, die seit der Gründung des Radios über dessen
Mikrofone zur Welt gesprochen haben. Abzulesen ist an dem Bild auch die Entwicklung dieser Geräte
zum Aufnehmen von Tönen, ganz links das von Papst Pius XI. verwendete achteckige Mikro aus den
1930er-Jahren. Hinter ihm der Nobelpreisträger Guglielmo Marconi (1874-1937), italienischer Radio-
pionier.
Das #Radio hat diese schöne
Eigenschaft: es trägt das Wort
auch in die entlegens ten Orte.
#WorldRadio Day #WeltRadioTag.
Tweet von Papst Franziskus
am 13. Februar
So fing alles an: Am 12. Februar 1931 gegen 17 Uhr trat Papst Pius XI. in einer eigens in den
Vatikanischen Gärten eingerichteten Sendeanstalt ans Mikrofon. Zum ersten Mal war die mit
elektromagnetischen Wellen übertragene Stimme des Papstes auf der ganzen Erde zugleich zu
hören, wie der ebenfalls anwesende Erfinder Guglielmo Marconi betonte. »Laudetur Jesus
Christus« ist von Anfang an das Erkennungssignal. Radio Vatikan beleuchtet in der Radio -
akademie des Monats Februar die bewegte Geschichte des Radios, das von den Anfängen bis
heute als »Stimme des Papstes« immer auf Sendung ist.
19. Februar 2021 / Nummer 7 L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
12 Aus dem Vatikan
»Siehe,
wir gehen nach Jerusalem hinauf«
(Mt 20,18 )
Liebe Brüder und Schwestern,
als Jesus seinen Jüngern sein Leiden, seinen
Tod und seine Auferstehung ankündigt, um den
Willen des Vaters zu erfüllen, da enthüllt er ihnen
zugleich den tieferen Sinn seiner Sendung und
ruft sie, an dieser Sendung zum Heil der Welt teil-
zunehmen.
Auf dem Weg der Fastenzeit, der uns zur Feier
der österlichen Geheimnisse führt, denken wir
an den, der sich »erniedrigte [und] gehorsam
[war] bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz« (Phil
2,8). In dieser Zeit der Umkehr erneuern wir un-
seren Glauben, schöpfen wir vom »lebendigen
Wasser« der Hoffnung und empfangen mit offe-
nem Herzen die Liebe Gottes, die uns zu Brüdern
und Schwestern in Christus werden lässt. In der
Osternacht werden wir unser Taufversprechen
erneuern, um durch das Wirken des Heiligen
Geistes als neue Menschen wiedergeboren zu
werden. Wie das gesamte christliche Leben wird
schon der Weg der Fastenzeit gänzlich vom Licht
der Auferstehung erhellt, das die Gesinnung, die
Haltung und die Entscheidungen dessen beseelt,
der Christus nachfolgen will.
Fasten, Gebet und Almosen sind, nach Jesu
Verkündigung (vgl. Mt 6,1-18), sowohl Bedin-
gung als auch Ausdruck unserer Umkehr. Der
Weg der Armut und des Verzichts (das Fasten),
der liebevolle Blick und die Wohltaten für den
verletzten Mitmenschen (das Almosen) und das
kindliche Gespräch mit dem Vater (das Gebet) er-
lauben uns, einen ehrlichen Glauben, eine le-
bendige Hoffnung und eine tätige Liebe zu ver-
wirklichen.
1. Der Glaube ruft uns auf, die Wahrheit anzunehmen und ihre
Zeugen zu werden vor Gott und unseren Brüdern und Schwestern
Die in Christus offenbar gewordene Wahrheit
anzunehmen und zu leben heißt in dieser Fas -
tenzeit vor allem, sich vom Wort Gottes anspre-
chen zu lassen, das uns von Generation zu Ge-
neration von der Kirche überliefert wird. Diese
Wahrheit ist nicht ein Gedankengebäude, das nur
wenigen erlesenen klugen oder vornehmen Köp-
fen zugänglich wäre. Sie ist eine Botschaft, die
wir dank eines verständigen Herzens empfangen
und begreifen können, das offen ist für die Größe
Gottes, der uns liebt, noch bevor wir darum wis-
sen. Diese Wahrheit ist Christus selbst, der unser
Menschsein ganz und gar angenommen hat und
so zum Weg geworden ist, der zur Fülle des Le-
bens führt. Dieser Weg ist anspruchsvoll, aber of-
fen für alle.
Das Fasten als Erfahrung des Verzichtes führt
alle, die sich in der Einfachheit des Herzens darum
mühen, zur Wiederentdeckung der Gaben Gottes
und zum Verständnis unserer Wirklichkeit als Ge-
schöpfe nach seinem Bild und Gleichnis, die in
ihm Vollendung finden. Wer fastet und sich frei-
willig auf die Erfahrung der Armut einlässt, wird
arm mit den Armen und »sammelt« somit einen
Schatz an empfangener und geteilter Liebe. So
verstanden und praktiziert hilft das Fasten, Gott
und den Nächsten zu lieben, da, wie der heilige
Thomas von Aquin lehrt, die Liebe eine Bewe-
gung der Aufmerksamkeit für den anderen ist, die
ihn als eines Wesens mit sich selbst betrachtet
(vgl. Enzyklika Fratelli tutti, 93).
Die Fastenzeit dient dazu, den Glauben zu
vertiefen beziehungsweise Gott in unser Leben
einzulassen und ihm zu erlauben, bei uns »Woh-
nung zu nehmen« (vgl. Joh 14,23). Fasten heißt
unser Dasein von allem befreien, was es belastet,
auch von der Übersättigung durch – wahre oder
falsche – Informationen und durch Konsumarti-
kel, um so die Türen unseres Herzens für den zu
öffnen, der ganz arm, aber zugleich »voll Gnade
und Wahrheit« (Joh 1,14) zu uns kommt – für den
Sohn Gottes, des Erlösers.
2. Die Hoffnung als »lebendiges Wasser«, das uns fähig macht,
unseren Weg weiterzugehen
Die Samariterin, die Jesus am Brunnen bittet,
ihm zu trinken zu geben, versteht nicht, als er ihr
sagt, er könne ihr »lebendiges Wasser« (Joh 4,10)
geben. Zunächst denkt sie natürlich an normales
Wasser, Jesus aber meint den Heiligen Geist, den
er im Ostergeheimnis in Überfülle schenken
wird und der uns die Hoffnung eingießt, die nicht
enttäuscht. Bereits bei der Ankündigung seines
Leidens und Todes zeigt Jesus diese Hoffnung an,
wenn er sagt: »Und am dritten Tag wird er aufer-
weckt werden« (Mt 20,19). Jesus spricht zu uns
von der Zukunft, die uns die Barmherzigkeit des
Vaters weit aufgetan hat. Mit ihm und dank ihm
hoffen heißt glauben, dass die Geschichte nicht
einfach mit unseren Fehlern, unseren Gewalt-
tätigkeiten und Ungerechtigkeiten und mit der
Sünde, welche die Liebe kreuzigt, zu Ende geht.
Es bedeutet, aus seinem offenen Herzen die Ver-
gebung des Vaters zu schöpfen.
In der gegenwärtigen sorgenreichen Situa-
tion, in der alles zerbrechlich und unsicher er-
scheint, könnte es als Provokation wirken, von
Hoffnung zu sprechen. Die Fastenzeit ist dazu da,
um zu hoffen, um von neuem den Blick auf die
Geduld Gottes zu richten. Er hört nicht auf, für
seine Schöpfung zu sorgen, während wir sie allzu
oft schlecht behandelt haben (vgl. Enzyklika Lau-
dato siʼ, 32-33; 43-44). Es ist eine Hoffnung auf
Versöhnung, zu der uns der heilige Paulus ein-
dringlich ermahnt: »Lasst euch mit Gott versöh-
nen!« (2 Kor 5,20). Durch
den Empfang der Verge-
bung im Bußsakrament,
das im Zentrum unseres
Weges der Umkehr steht,
können wir unsererseits
Vergebung weitergeben:
Weil wir selbst Vergebung
empfangen haben, kön-
nen auch wir vergeben,
wenn wir zum aufmerksamen Dialog fähig sind
und dem Verwundeten hilfreich zur Seite stehen.
Die Vergebung Gottes, auch mittels unserer
Worte und Gesten, erlaubt uns, Ostern im Geist
der Geschwisterlichkeit zu leben.
In der Fastenzeit wollen wir mehr darauf be-
dacht sein, »Worte der Ermutigung zu sagen, die
wieder Kraft geben, die aufbauen, die trösten und
die anspornen, statt Worte, die demütigen, die
traurig machen, die ärgern, die herabwürdigen«
(Enzyklika Fratelli tutti, 223). Um Hoffnung zu
vermitteln reicht es manchmal schon, »ein
freundlicher Mensch« zu sein, »der seine Ängste
und Bedürfnisse beiseitelässt, um aufmerksam
zu sein, ein Lächeln zu schenken, ein Wort der Er-
mutigung zu sagen, einen Raum des Zuhörens in-
mitten von so viel Gleichgültigkeit zu ermögli-
chen« (ebd., 224).
In der Sammlung und im stillen Gebet wird
uns die Hoffnung als Inspiration und inneres
Licht geschenkt, das die Herausforderungen und
Entscheidungen auf dem Weg unserer Sendung
erhellt. Deshalb ist es so wichtig, sich im Gebet
zu sammeln (vgl. Mt 6,6) und im Verborgenen
dem liebevollen Vater zu begegnen.
Die Fastenzeit voll Hoffnung leben heißt
spüren, dass wir in Christus Zeugen einer neuen
Zeit sind, in der Gott »alles neu macht« (vgl. Offb
21,1-6). Es bedeutet, die Hoffnung Christi zu emp-
fangen, der sein Leben am Kreuz hingibt und den
Gott am dritten Tag auferweckt, und zugleich
»stets bereit« zu sein, »jedem Rede und Antwort
zu stehen, der von [uns] Rechenschaft fordert
über die Hoffnung, die [uns] erfüllt« (1 Petr 3,15).
3. Die auf den Spuren Christi in Aufmerksamkeit und Mitgefühl
gegenüber jedem Menschen gelebte Liebe ist der
höchste Ausdruck unseres Glaubensund unserer Hoffnung
Die Liebe freut sich, wenn sie den anderen
wachsen sieht. Daher leidet sie, wenn der andere
in Bedrängnis ist: einsam, krank, obdachlos, ver-
achtet, bedürftig … Die Liebe ist der Impuls des
Herzens, der uns aus uns selbst herausgehen und
ein Band der Teilhabe und Gemeinschaft entste-
hen lässt.
»Ausgehend von der sozialen Liebe ist es mög-
lich, zu einer Zivilisation der Liebe voranzu-
schreiten, zu der wir uns alle berufen fühlen kön-
nen. Die Liebe kann mit ihrer universalen
Dynamik eine neue Welt aufbauen, weil sie nicht
ein unfruchtbares Gefühl ist, sondern vielmehr
das beste Mittel, um wirksame Entwicklungs-
möglichkeiten für alle zu finden« (Enzyklika Fra-
telli tutti, 183).
Die Liebe ist ein Geschenk, das unserem Leben
Sinn verleiht und dank dessen wir den Bedürfti-
gen als Teil unserer eigenen Familie, als Freund, als
Bruder oder Schwester betrachten. Das Wenige,
das man in Liebe teilt, wird niemals aufgebraucht,
sondern wird zu Vorräten des Lebens und des
Glücks. So geschah es mit dem Mehl und dem Öl
der Witwe von Sarepta, die dem Propheten Elija
ein kleines Gebäck anbot (vgl. 1 Kön 17,7-16), oder
bei der wunderbaren Brotvermehrung, als Jesus
die Brote segnete, brach und den Jüngern zum
Austeilen an die Menge gab (vgl. Mk 6,30-44). Ge-
nauso geschieht es mit unserem – großen oder
kleinen – Almosen, wenn es nur mit Freude und
Schlichtheit gegeben wird.
Eine Fastenzeit der Liebe leben heißt sich um
den kümmern, der aufgrund der Covid-19-Pande-
mie eine Situation des Leidens, der Verlassenheit
oder Angst durchmacht. Angesichts großer Un-
gewissheit bezüglich der Zukunft denken wir an
das Wort, das Gott an seinen Knecht richtet:
»Fürchte dich nicht, denn ich habe dich aus-
gelöst!« (Jes 43,1), während wir durch unsere
Liebe ein Wort des Vertrauens anbieten und den
anderen spüren lassen: Gott liebt dich wie einen
Sohn und eine Tochter.
»Nur mit einem durch die Liebe geweiteten
Blick, der die Würde des anderen wahrnimmt,
können die Armen in ihrer unfassbaren Würde
erkannt und mit ihrem eigenen Stil und ihrer Kul-
tur geschätzt werden und so wirklich in die Ge-
sellschaft integriert werden« (Enzyklika Fratelli
tutti, 187).
Liebe Brüder und Schwestern, jede Etappe un-
seres Lebensweges ist eine Zeit des Glaubens,
Hoffens und Liebens. Dieser Aufruf, die Fasten-
zeit als einen Weg der Umkehr, des Gebets und
des Teilens unserer Güter zu leben, soll uns hel-
fen, in unserem gemeinschaftlichen wie persön-
lichen Erinnern den Glauben, der vom lebendi-
gen Christus kommt, die Hoffnung, die vom
Hauch des Heiligen Geist beseelt wird, und die
Liebe, deren unerschöpfliche Quelle das barm-
herzige Herz des Vaters ist, zu erneuern.
Maria, die Mutter des Erlösers, treu zugegen
am Fuß des Kreuzes und im Herzen der Kirche,
stehe uns mit ihrer fürsorglichen Gegenwart bei,
und der Segen des Auferstandenen geleite uns
auf dem Weg zum österlichen Licht.
Rom, St. Johannes im Lateran,
am 11. November 2020,
Gedenktag des heiligen Martin von Tours
Botschaft von Papst Franziskus zur österlichen Bußzeit 2021
Fastenzeit – Zeit der Erneuerung von Glaube, Hoffnung und Liebe
»Wie das gesamte christliche Leben wird schon der Weg der Fastenzeit gänzlich vom Licht der Aufer-
stehung erhellt… Christus selbst, der unser Menschsein ganz und gar angenommen hat und so zum
Weg geworden ist, der zur Fülle des Lebens führt. Dieser Weg ist anspruchsvoll, aber offen für alle.«
Der Weg der Armut und des Verzichts (das Fasten ),
der liebevolle Blick und die Wohltaten
für den verletzten Mitmenschen (das Almosen )
und das kindliche Gespräch mit dem Vater (das Gebet )
erlauben uns, einen ehrlichen Glauben,
eine lebendige Hoffnung und
eine tätige Liebe zu verwirklichen.