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Rolf Peter Sieferle HEIMATSCHUTZ UND DAS ENDE DER ROMANTISCHEN UTOPIE „Heimat" war ursprünglich ein romantischer, d. h. ein gegenrevolu- tionärer Entwurf. Gegen das aufklärerische Programm der Verwirk- lichung einer universellen, allgemeingültigen Vernunft setzte die Romantik einen organischen Gegenentwurf, der von der Unwie- derholbarkeit des Individuellen her argumentierte. Jede konkrete Kultur trägt ihren eigenen Wert in sich, d. h. sie darf nicht nur als Abweichung von einer universellen Norm verstanden werden. Na- tur, Staat und Gesellschaft bilden einen gewachsenen Körper, der nicht in seine Bestandteile zerlegt werden kann, ohne daß das Le- ben aus ihm entwieche. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile; Gewachsenes, Gewordenes, Historisches steht höher als Ge- machtes, Konstruiertes, also Mechanisches. Im Heimatbegriff drängt sich diese Konzeption bildhaft zusammen; Heimat ist der Wuschort, der für die Wirklichkeit des romantischen Programms steht. Die Idee der Heimat beschwor ein utopisches Bild: den Drei- klang von Volk, Natur und Individuum, eine organische Symbiose, die Wurzel jeder wahren und lebendigen Kultur sein sollte. „Natur" wurde in diesem Zusammenhang als eine ganz bestimmte „Land- schaft" aufgefaßt, die den eigentümlichen Lebensraum des Volkes bildete, das diese Landschaft als Kulturlandschaft geschaffen hatte und dessen Wesen mit dieser Landschaft harmonisierte. Das Volk besitzt seine nationale Seele, seine eigentliche Identität in dieser Landschaft, ohne die es „entwurzelt" und verloren ist. Für den Bauern besonders ist der Boden kein beliebiger Ort, kein bloßes Produktionsmittel, aus dem er seinen Ertrag gewinnt, sondern er ist seine „Heimat", ein Raum, der zu dem Selbst des Bauern untrenn- bar gehört. Vergleichbar verhält es sich mit dem Handwerker, dem städtischen Kleinbürger: Die Gemeinde ist ihm „Heimat" in dem Sinne, daß sie nicht nur den materiellen Mittelpunkt seines Lebens bildet, sondern zugleich das normative Zentrum bildet, von dem er die Maßstäbe seiner Existenzweise erhält: seine Ehre, seinen sozia- len Status, das Netz von Beziehungen, das seinem Leben Sinn ver- leiht. Dieser Begriff von „Heimat" oder auch „Volk" konnte nun im 19. Jahrhundert, mit der vordringenden Industrialisierung und Moder- nisierung, einen durchaus polemischen Sinn gewinnen. „Heimat" und „Volk" werden zu Metaphern, die es erlauben, einen Zusam- menhang zwischen den Erfahrungen der Naturzerstörung, des Tra- ditionsverlustes, der sozialen Deklassierung und den neuen indu- striegesellschaftlichen Verhaltenszumutungen herzustellen. „Hei- mat" und „Volk" stehen daher für eine gelungene Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft, von Natur und Gesellschaft, yon Beschränktheit und Unendlichkeit, von Geschichte und Gegen- wart. Gerade das Konzept der heimatlichen Landschaft als gewachse- ner Kulturlandschaft wurde jetzt wichtig. Zur Heimat gehörten auch ihre Bewohner, ihre Dörfer und Städte, die Felder und Kanäle, Wege und Brücken, Trachten und Feste. Die „Landschaft" ist im- mer „Heimat" eines „Volkes"; nur in dieser Verbindung wird der Heimatbegriff sinnvoll. Dahinter steckt der Impetus, in der organi- schen Konkretheit der Nautr, die mit den menschlichen Artefakten verschmolzen ist, eine Anschauung historisch-gewachsener Exi- stenzformen zu gewinnen, die sich immer auch gegen die mechani- sche Abstraktheit industrieller und gesellschaftsverändernder Pro- gramme wenden ließ. Die Harmonie der Kulturlandschaft, die or- ganische Symbiose von Siedlung, Feld und Wald, werden zum Sinnbild einer traditionellgeschlossenen Gesellschaftsordung. Die in langen Zeiträumen gewordene Ordnung der bäuerlichen Land- schaft, die verwunschene Schönheit der Häuser, die aussehen, als seien sie wie Bäume aus dem Boden gewachsen, belegen anschau- lich, daß überkommene Verhältnisse sich nicht ungestraft zerlegen und willkürlich neu konstruieren lassen. Die romantische Kultur- landschaft in ihrer Einheit von Siedlung und Natur illustriert somit ein durch und durch konservatives Programm. Ein Gefühl dafür, daß die „romantische" Kulturlandschaft, dieses Bild, dessen Schönheit und Harmonie das Versprechen einer ge- lungenen Versöhnung von Gesellschaft und Natur, von Indivi- duum und Gemeinschaft enthalten sollte, aktuell bedroht war, wird im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer stärker artikuliert. Die länd- liche Heimat beginnt, ihre Eigenart zu verlieren, der Universalis- mus, der zur allgemeinen „Entzauberung" führt, zur Rationalisie- rung der Lebenswelt, zur Bürokratisierung und zweckrationalen Planifizierung, wird auch die Physiognomie der Landschaft verän- dern. Die Heimat ist von der modernen Gleichschaltung bedroht. Dieses Gefühl findet sich z. B. besonders deutlich in den Westfäli- schen Schilderungen der Annette von Droste-Hülshoffaus dem Jahre 1842. Sie beschreibt darin eine wahre Märchenlandschaft, eine inni- ge Symbiose von Mensch und Natur, doch schließt sich dem ein dü- sterer Ausblick an: „So war die Physiognomie des Landes bis heute, und so wird es nach vierzig Jahren nimmer sein. - Bevölkerung und Luxus wachsen sichtlich, mit ihnen Bedürfnisse und Industrie. Die kleinen malerischen Heiden werden geteilt; die Kultur des lang- sam wachsenden Laubwaldes wird vernachlässigt, um sich im Nadelholze einen schnellern Ertrag zu sichern, und bald werden auch hier Fichtenwälder und endlose Getreideseen den Charakter der Landschaft teilweise umgestaltet haben, wie auch ihre Bewohner von den uralten Sitten und Gebräuchen mehr und mehr ablassen; fas- sen wir deshalb das Vorhandene noch zuletzt in seiner Eigentümlichkeit auf, ehe die schlüpferige Decke, die allmählich Europa überfließt, auch diesen stillen Erdwinkel überleimt hat."" Das reale Substrat der Heimat, das, woran sich eine mögliche Iden- tität des Volkes oder der Nation orientieren könnte,wird sich verän- dern. Die Möglichkeit, die Besonderheit des Nationalcharakters an der gewachsenen Eigenart der Kulturlandschaft, am Weichbild der Städte und den regionalen Eigentümlichkeiten der Alltagskultur abzulesen, wird verschwinden. Die Homogenisierung durch Indu- strie und Moderne wird alle Unterschiede abschleifen. Die völki- sche Heimatutopie wird damit an Plausibilität verlieren: Land- schaft wird zum reinen Nutzraum, zur physischen Umwelt, doch ihre magischen, sinnstiftenden Qualitäten wird sie verlieren. Dieser frühen Irritation lagen bereits im 19. Jahrhundert reale Veränderungen zugrunde, die stichwortartig so zusammengefaßt werden können: • Landwirtschaft. Im Zuge der Bauernbefreiung und der Durchset- zung der „rationellen Landwirtschaft" kam es zu Gemeinheitstei- lungen. Teile der Dorfgemarkung, die zuvor gemeinschaftlich be- wirtschaftet wurden, wurden jetzt privatisiert und den einzelnen Wirtschaftseinheiten zugeschlagen. Da man gleichzeitig zu neuen Produktionsmethoden überging, wurde die Struktur der Felder um- gestaltet, was zum Teil durch behördliche Planungen beschleunigt wurde („Verkuppelung"). Größere Feldeinheiten entstanden, Hek- ken und Gehölze fielen, Geometrie kam in die Landschaft. Wege wurden geradlinig angelegt, kreuzten sich in rechten Winkeln; die Grenzen von Feld und Wald wurden „rasiert", Waldwiesen ver- schwanden, Bäche wurden begradigt, in Rohre gelegt, Flüsse ge- staut und kanalisiert. • Forstwirtschaft. Der große Holzmangel des 18. Jahrhunderts führte zu großangelegten Versuchen, die Erträge der Wälder zu er- höhen. Zu diesem Zweck wurden die vielfachen bäuerlichen „Ne- bennutzungen" der Forsten abgelöst; der Wald verwandelte sich in einen „Holzacker", der möglichst große Flächenerträge bringen sollte. Zu diesem Zweck wurden vielfach Fichtenmonokulturen an- gelegt, wurden unerwünschte Baumarten aus dem Wald ferngehal- ten, wurden Feuchtgebiete drainiert und „Ödflächen" aufgeforstet. Der „deutsche Wald" wurde zunehmend von der „Wildnis" zur Pro- duktionsstätte von Holz. 38

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Rolf Peter Sieferle

HEIMATSCHUTZ UND DAS ENDE DERROMANTISCHEN UTOPIE

„Heimat" war ursprünglich ein romantischer, d. h. ein gegenrevolu-tionärer Entwurf. Gegen das aufklärerische Programm der Verwirk-lichung einer universellen, allgemeingültigen Vernunft setzte dieRomantik einen organischen Gegenentwurf, der von der Unwie-derholbarkeit des Individuellen her argumentierte. Jede konkreteKultur trägt ihren eigenen Wert in sich, d. h. sie darf nicht nur alsAbweichung von einer universellen Norm verstanden werden. Na-tur, Staat und Gesellschaft bilden einen gewachsenen Körper, dernicht in seine Bestandteile zerlegt werden kann, ohne daß das Le-ben aus ihm entwieche. Das Ganze ist mehr als die Summe seinerTeile; Gewachsenes, Gewordenes, Historisches steht höher als Ge-machtes, Konstruiertes, also Mechanisches. Im Heimatbegriffdrängt sich diese Konzeption bildhaft zusammen; Heimat ist derWuschort, der für die Wirklichkeit des romantischen Programmssteht.

Die Idee der Heimat beschwor ein utopisches Bild: den Drei-klang von Volk, Natur und Individuum, eine organische Symbiose,die Wurzel jeder wahren und lebendigen Kultur sein sollte. „Natur"wurde in diesem Zusammenhang als eine ganz bestimmte „Land-schaft" aufgefaßt, die den eigentümlichen Lebensraum des Volkesbildete, das diese Landschaft als Kulturlandschaft geschaffen hatteund dessen Wesen mit dieser Landschaft harmonisierte. Das Volkbesitzt seine nationale Seele, seine eigentliche Identität in dieserLandschaft, ohne die es „entwurzelt" und verloren ist. Für denBauern besonders ist der Boden kein beliebiger Ort, kein bloßesProduktionsmittel, aus dem er seinen Ertrag gewinnt, sondern er istseine „Heimat", ein Raum, der zu dem Selbst des Bauern untrenn-bar gehört. Vergleichbar verhält es sich mit dem Handwerker, demstädtischen Kleinbürger: Die Gemeinde ist ihm „Heimat" in demSinne, daß sie nicht nur den materiellen Mittelpunkt seines Lebensbildet, sondern zugleich das normative Zentrum bildet, von dem erdie Maßstäbe seiner Existenzweise erhält: seine Ehre, seinen sozia-len Status, das Netz von Beziehungen, das seinem Leben Sinn ver-leiht.

Dieser Begriff von „Heimat" oder auch „Volk" konnte nun im 19.Jahrhundert, mit der vordringenden Industrialisierung und Moder-nisierung, einen durchaus polemischen Sinn gewinnen. „Heimat"und „Volk" werden zu Metaphern, die es erlauben, einen Zusam-menhang zwischen den Erfahrungen der Naturzerstörung, des Tra-ditionsverlustes, der sozialen Deklassierung und den neuen indu-striegesellschaftlichen Verhaltenszumutungen herzustellen. „Hei-mat" und „Volk" stehen daher für eine gelungene Vermittlung vonIndividuum und Gemeinschaft, von Natur und Gesellschaft, yonBeschränktheit und Unendlichkeit, von Geschichte und Gegen-wart.

Gerade das Konzept der heimatlichen Landschaft als gewachse-ner Kulturlandschaft wurde jetzt wichtig. Zur Heimat gehörtenauch ihre Bewohner, ihre Dörfer und Städte, die Felder und Kanäle,Wege und Brücken, Trachten und Feste. Die „Landschaft" ist im-mer „Heimat" eines „Volkes"; nur in dieser Verbindung wird derHeimatbegriff sinnvoll. Dahinter steckt der Impetus, in der organi-schen Konkretheit der Nautr, die mit den menschlichen Artefaktenverschmolzen ist, eine Anschauung historisch-gewachsener Exi-stenzformen zu gewinnen, die sich immer auch gegen die mechani-sche Abstraktheit industrieller und gesellschaftsverändernder Pro-gramme wenden ließ. Die Harmonie der Kulturlandschaft, die or-ganische Symbiose von Siedlung, Feld und Wald, werden zumSinnbild einer traditionellgeschlossenen Gesellschaftsordung. Diein langen Zeiträumen gewordene Ordnung der bäuerlichen Land-schaft, die verwunschene Schönheit der Häuser, die aussehen, alsseien sie wie Bäume aus dem Boden gewachsen, belegen anschau-lich, daß überkommene Verhältnisse sich nicht ungestraft zerlegen

und willkürlich neu konstruieren lassen. Die romantische Kultur-landschaft in ihrer Einheit von Siedlung und Natur illustriert somitein durch und durch konservatives Programm.

Ein Gefühl dafür, daß die „romantische" Kulturlandschaft, diesesBild, dessen Schönheit und Harmonie das Versprechen einer ge-lungenen Versöhnung von Gesellschaft und Natur, von Indivi-duum und Gemeinschaft enthalten sollte, aktuell bedroht war, wirdim Verlauf des 19. Jahrhunderts immer stärker artikuliert. Die länd-liche Heimat beginnt, ihre Eigenart zu verlieren, der Universalis-mus, der zur allgemeinen „Entzauberung" führt, zur Rationalisie-rung der Lebenswelt, zur Bürokratisierung und zweckrationalenPlanifizierung, wird auch die Physiognomie der Landschaft verän-dern. Die Heimat ist von der modernen Gleichschaltung bedroht.Dieses Gefühl findet sich z. B. besonders deutlich in den Westfäli-schen Schilderungen der Annette von Droste-Hülshoffaus dem Jahre1842. Sie beschreibt darin eine wahre Märchenlandschaft, eine inni-ge Symbiose von Mensch und Natur, doch schließt sich dem ein dü-sterer Ausblick an:

„So war die Physiognomie des Landes bis heute, und so wird es nach vierzig Jahrennimmer sein. - Bevölkerung und Luxus wachsen sichtlich, mit ihnen Bedürfnisseund Industrie. Die kleinen malerischen Heiden werden geteilt; die Kultur des lang-sam wachsenden Laubwaldes wird vernachlässigt, um sich im Nadelholze einenschnellern Ertrag zu sichern, und bald werden auch hier Fichtenwälder und endloseGetreideseen den Charakter der Landschaft teilweise umgestaltet haben, wie auchihre Bewohner von den uralten Sitten und Gebräuchen mehr und mehr ablassen; fas-sen wir deshalb das Vorhandene noch zuletzt in seiner Eigentümlichkeit auf, ehe dieschlüpferige Decke, die allmählich Europa überfließt, auch diesen stillen Erdwinkelüberleimt hat.""

Das reale Substrat der Heimat, das, woran sich eine mögliche Iden-tität des Volkes oder der Nation orientieren könnte,wird sich verän-dern. Die Möglichkeit, die Besonderheit des Nationalcharakters ander gewachsenen Eigenart der Kulturlandschaft, am Weichbild derStädte und den regionalen Eigentümlichkeiten der Alltagskulturabzulesen, wird verschwinden. Die Homogenisierung durch Indu-strie und Moderne wird alle Unterschiede abschleifen. Die völki-sche Heimatutopie wird damit an Plausibilität verlieren: Land-schaft wird zum reinen Nutzraum, zur physischen Umwelt, dochihre magischen, sinnstiftenden Qualitäten wird sie verlieren.

Dieser frühen Irritation lagen bereits im 19. Jahrhundert realeVeränderungen zugrunde, die stichwortartig so zusammengefaßtwerden können:• Landwirtschaft. Im Zuge der Bauernbefreiung und der Durchset-zung der „rationellen Landwirtschaft" kam es zu Gemeinheitstei-lungen. Teile der Dorfgemarkung, die zuvor gemeinschaftlich be-wirtschaftet wurden, wurden jetzt privatisiert und den einzelnenWirtschaftseinheiten zugeschlagen. Da man gleichzeitig zu neuenProduktionsmethoden überging, wurde die Struktur der Felder um-gestaltet, was zum Teil durch behördliche Planungen beschleunigtwurde („Verkuppelung"). Größere Feldeinheiten entstanden, Hek-ken und Gehölze fielen, Geometrie kam in die Landschaft. Wegewurden geradlinig angelegt, kreuzten sich in rechten Winkeln; dieGrenzen von Feld und Wald wurden „rasiert", Waldwiesen ver-schwanden, Bäche wurden begradigt, in Rohre gelegt, Flüsse ge-staut und kanalisiert.• Forstwirtschaft. Der große Holzmangel des 18. Jahrhundertsführte zu großangelegten Versuchen, die Erträge der Wälder zu er-höhen. Zu diesem Zweck wurden die vielfachen bäuerlichen „Ne-bennutzungen" der Forsten abgelöst; der Wald verwandelte sich ineinen „Holzacker", der möglichst große Flächenerträge bringensollte. Zu diesem Zweck wurden vielfach Fichtenmonokulturen an-gelegt, wurden unerwünschte Baumarten aus dem Wald ferngehal-ten, wurden Feuchtgebiete drainiert und „Ödflächen" aufgeforstet.Der „deutsche Wald" wurde zunehmend von der „Wildnis" zur Pro-duktionsstätte von Holz.

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• Bevölkerungswachstum und Industrialisierung führten zur Ent-stehung der ersten großen Bevölkerungszentren. Dieser Prozeß derVerstädterung wurde vielfach als „Landflucht" beklagt. Die Städteverloren ihren geschlossenen Charakter. Zum Teil hatten sie schonim späten 18. Jahrhundert ihre jetzt militärisch sinnlos gewordenenMauerringe eingebüßt. Nun begannen sie, sich rapide auszudeh-nen ins Umland zu fließen und die Landschaft zu zersiedeln.• Industrialisierung der Bauwirtschaft brachte eine stilistische Ho-mogenisierung der Siedlungen. Die regionalen Besonderheiten desBauens verschwanden. Der Allerweltsstil des Historismus ließ inLondon, Paris, Madrid, New York wie in deutschen Groß- wieKleinstädten prinzipiell die gleichen Bauten entstehen. Das neueTransportsystem der Eisenbahnen machte alle Baumaterialiengrundsätzlich überall verfügbar. Man baute jetzt „nach Katalog".Der Architekt ersetzte den handwerklichen Baumeister.• Schließlich traten die ersten größeren Umweltprobleme auf. DieIndustrialisierung zeigte in der Verseuchung von Luft und Gewäs-sern eine unschöne Kehrseite. Die einsetzende chemische Indu-strie entließ neuartige Stoffe in ihre Umgebung; der Übergang zurVerbrennung fossiler Energieträger ließ die Emissionen schwefel-haltiger Gase nach oben schnellen, so daß es zu ersten Rauchschä-den an der Vegetation kam (freilich erst noch lokal begrenzt). DieGroßstädte gingen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurSchwemmkanalisation über, so daß die Gewässer mit organischenSubstanzen überdüngt und verseucht wurden.• Mit dem Vordringen des Automobils seit dem ausgehenden 19.Jahrhundert wurde eine Trassierung der Verkehrswege universell,die sich bereits mit der Eisenbahn angedeutet hatte. Städte, Land-straßen, schließlich ganze Landschaften wurden „verkehrsgerecht"umgestaltet. Ganze Stadtviertel wichen den Großbahnhöfen; Stras-sen wurden begradigt, verbreitert; Tore und Türme, Erker und Vor-gärten verschwanden.

Die „romantische", als Heimat verstandene historische Landschaftverwandelte sich sukzessive, mit einer spürbaren Beschleunigungseit dem Ende des 19. Jahrhunderts, in die moderne Industrie- undAgrarlandschaft. Diese Realität der Industrielandschaft wurdeästhetisch zunächst eher verdrängt. Landschaftsmalerei, Lyrik, Rei-seschilderungen beschworen nach wie vor die alte „intakte" Kultur-landschaft, während die Industrielandschaft als „Unland" ausge-blendet wurde. Die „eigentliche" heimatliche Landschaft existierteja immer noch irgendwo, in immer weiterer Ferne, auf dem Lande,in den Bergen, an der Küste.

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden dann immermehr Stimmen laut, die den Verlust der heimatlichen Landschaft,ihre Überformung durch Technik und Industrie beklagten. Eine be-sondere Bedeutung gewann der Musiker Ernst Rudorff, der 1880einen Aufsatz mit dem Titel: „Über das Verhältnis des modernenLebens zur Natur"2' verfaßte, in dem er ein erstes Panorama derVeränderungen und Verwüstungen der Landschaft entfaltete, diemit der Industrialisierung, vor allem aber mit der Modernisierungder Landwirtschaft einherging.

Rudorff wurde mit diesem öfter nachgedruckten Aufsatz zumPionier der deutschen Heimatschutzbewegung. Mehr als zwanzigJahre später brachte er eine Broschüre mit dem Titel „Heimat-schutz" heraus, worin er seine Kritik zu einer generellen ästheti-schen Zivilisationskritik erweiterte. Diese Broschüre sollte späterder Heimatschutzbewegung ihren Namen geben. Rudorff schilder-te voller Entsetzen die schleichenden Veränderungen der Land-schaft und der Städtebilder, die immer unübersehbarer wurden.„Was haben die letzten Jahrzehnte aus der Welt und insbesondere aus Deutschlandgemacht? Was ist aus unserer schönen, herrlichen Heimat mit ihren malerischen Ber-gen, Strömen, Burgen und alten Städten geworden... Auf der einen Seite Ausbeutungaller Schätze und Kräfte der Natur durch industrielle Anlagen aller Art, Vergewalti-gung der Landschaft durch Stromregulierungen, Eisenbahnen, Abholzungen undandere schonungslose, lediglich auf Erzielung materieller Vorteile gerichtete Verwal-tungsmaßregeln, mag dabei an Schönheit und Poesie zu Grunde gehen, was da will;auf der anderen Seite Spekulationen auf Fremdenbesuch, widerwärtige Anpreisunglandschaftlicher Reize, und zu gleicher Zeit Zerstörung jeder Ursprünglichkeit, alsogerade dessen, was die Natur zur Natur macht."

Im einzelnen wandte er sich gegen disproportionierte modernhisto-ristische Bauten, gegen Hotelpaläste in landschaftlich schönen Ge-bieten, gegen die „Erschließung" von Naturschönheiten durchStraßen und Zahnradbahnen, gegen Werbeanlagen in der Land-schaft und in historischen Siedlungen und vor allem gegen die Zer-störung der herkömmlichen kleingliedrigen Landschaft im Zuge

der Rationalisierung der Landwirtschaft. Was die Droste 1842 amHorizont gesehen hatte, war für ihn bittere Wirklichkeit: Der Ver-lust der Heimat.

Rudorffs Kritik an der Landschaftsveränderung, an der Zerstö-rung der überkommenen Heimat stand im Kontext einer sozialkon-servativen Haltung, die seine Wahrnehmungen leitete. Er befürch-tete, daß die neuen Produktions- und Verkehrsverhältnisse mit derschönen Landschaft auch die vertrauten ständischen Traditionenund gesellschaftlichen Gefüge auf dem Lande zerstörten. Zur har-monischen, schönen Landschaft, zur unberührten oder traditionellheilen, landwirtschaftlich kultivierten Natur gehörten auch Men-schen, die in patriarchalisch geordneten und auf den Betrachter an-heimelnd wirkenden Beziehungen leben. Zur Klage über die Ver-schandelung gehörte daher auch die über gesellschaftliche Auflö-sung.„Knechte und Dienstmägde sind nicht zu haben, weil alles gewinn- und vergnügungs-süchtige Volk den Weg zur Fabrikarbeit in die Stadt sucht. So ist zum Vorteil wenigereine natürliche Daseinsform künstlich beseitigt, bei der jedes einzelne Glied der Ge-samtheit auf seine Rechnung kam.""

Aus diesen Worten wird deutlich, daß Rudorff aus der Position vonjemandem sprach, der durch die Industrialisierung etwas zu verlie-ren und wenig zu gewinnen hatte. Die Landarbeiter zogen offenbarein Leben in den monströsen Fabrikstädten der Harmonie einerländlichen Gemeinschaft vor. Wie schon Jeremias Gottheifund Wil-helm Heinrich Riehl sollte Rudorff mit seinem Appell an ihr Heimat-gefühl keinen allzu großen Erfolg haben. Sie hatten, so versprach esihnen nicht nur die Sozialdemokratie, sondern auch die industriellePropaganda, zumindest eine Zukunft zu gewinnen.

Auf der Verliererseite standen andere, nämlich Personen wie Ru-dorff selbst, also Bildungsbürger, die ästhetisch sensibilisiert waren,von materieller Not und körperlicher Arbeit befreit, und denendurch die Industrialisierung die vertrauten Fluchträume in die Na-tur, in Stille und Beschaulichkeit genommen wurden. Die Kompen-sation durch Waren, die das Industriesystem für den zerstörten Na-turgenuß und als Entschädigung für Disharmonie und Häßlichkeitder Industrielandschaft und der Siedlungen anbot, akzeptierten sienicht. Die angebotenen Fabrikprodukte waren in ihren Augen billi-ger Ramsch. Aus der Perspektive des Bildungsbürgers, aus der Ru-dorff die Veränderungen der Landschaft notierte und die ihm seinLamento gestattete, war die Zerstörung der Landschaft, die herauf-ziehende Häßlichkeit der Industrieregionen, der Verlust der ge-wohnten, differenzierten und beseelten Natur, das Schwinden derbunten, vielgestaltigen Volkskultur der Preis für den Massenwohl-stand (für das „gewinn- und vergnügungssüchtige Volk"); ein Preis,den er selbst bezahlen mußte, für den er jedoch nichts erhielt.

Ernst Rudorff hatte mit seiner zivilisationskritischen Klage offen-bar genau das ausgesprochen, was viele seiner Zeitgenossen emp-fanden. Seine Aufsätze und schließlich die Publikation der Bro-schüre „Heimatschutz" stießen auf breite Resonanz in der Öffent-lichkeit. Im Jahre 1904 wurde schließlich auf Anregung des Archi-tekturtheoretikers Paul Schultze-Naumburg und unter BeteiligungRudorfls der Bund Heimatschutz gegründet, der sich bald in zahl-reichen Landesverbänden organisierte. In der Heimatschutzbewe-gung faßten sich alle die Bestrebungen zusammen, die angesichtsder massiven Veränderungen der landschaftlichen und städtischenUmgebung im Verlauf der Industrialisierung im Sinne einer kon-servativen Kritik formuliert worden waren. Aus der Satzung desBundes wird deutlich, wie weit er seine Aufgaben faßte:„Der Zweck des Bundes ist, die Deutsche Heimat in ihrer natürlichen und geschicht-lich gewordenen Eigenart zu schützen. Das Arbeitsfeld des Bundes teilt sich in fol-gende Gruppen:a) Denkmalpflege.b) Pflege der überlieferten ländlichen und bürgerlichen Bauweise; Erhaltung des vor-handenen Bestandes.c) Schutz des Landschaftsbildes einschließlich der Ruinen.d) Rettung der einheimischen Tier- und Pflanzenwelt sowie der geologischen Eigen-tümlichkeiten.e) Volkskunst auf dem Gebiete der beweglichen Gegenstände.0 Sitten, Gebäuche, Feste und Trachten."5'

Auf lokaler Ebene, in einzelnen Regionen und Städten, bestandenschon seit längerer Zeit Vereine, die sich der Pflege der Volkskunde,der Ortsverschönerung, der Denkmalpflege, der Traditionspflege,aber auch des Naturschutzes, besonders des Vogelschutzes annah-men. Unter dem Begriff „Heimatschutz" konnten alle diese Bestre-bungen zusammengefaßt werden. Die praktischen Aufgaben, diesich der Bund vornahm, waren recht vielfältig und blieben fast im-

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mer punktuell beschränkt. Sie reichten vom Kampf gegen Aus-sichtstürme, die die Landschaft verschandelten, gegen Reklameta-feln, Förderung von Heimatmuseen, Anregung und Mitarbeit beider Gesetzgebung, Planung von Kraftwerken unter landschafts-schützerischen Gesichtspunkten, Maßnahmen gegen die Gewäs-serverunreinigung, gegen Flurbereinigung, Steinbrüche und Stau-seen bis hin zur Bauberatung, pädagogischen Aufklärung und zurOrganisation internationaler Zusammenarbeit.

Es mag überraschen, daß die Heimatschutzbewegung, anders alsihr Name vermuten läßt, nicht primär nationalistisch orientiert war.Dies wird in den Ansätzen zur internationalen Zusammenarbeitdeutlich. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden zwei internationaleHeimatschutzkongresse abgehalten, 1909 in Paris, 1912 in Stutt-gart. Auf dem Stuttgarter Kongreß waren Teilnehmer aus Deutsch-land, Frankreich, Italien, der Schweiz, England, Holland, Däne-mark, Österreich, Belgien,-Norwegen und sogar aus Japan versam-melt. Der Volkswirt KarlJohann Fuchs ging auf die Bedeutung derinternationalen Zusammenarbeit ein:„Internationale Kongresse für Heimatschutz - sind sie nicht ein Widerspruch imWorte selbst? Kann man etwas so Nationales wie den Heimatschutz überhaupt inter-national betreiben?... Das dem ganzen Heimatschutz zugrunde liegende Problem istdoch in allen modernen Kulturstaaten dasselbe. Es ist der Kampf gegen den rück-sichtslos das Gewordene und seine Schönheiten zerstörenden Kapitalismus, der inletzter Linie bei allen Fragen des Heimatschutzes zugrunde liegt."6'

Die Suche nach einem Ausweg aus dem devastierenden Wirken desKapitalismus sollte ein verbindendes Element sein, ohne daß, wieetwa bei der Sozialistischen Internationale, zugleich kulturelle Ho-mogenisierung, soziale Egalisierung und gleichförmige „Entwick-lung" gefordert wurden. Die eigentümliche Heimat sollte bewahrtwerden, doch war daraus kein Gegensatz zu anderen Völkern abzu-leiten.„Nur wer die eigene Heimat und Art liebt und schätzt - nicht in rohem, überheben-den Chauvinismus, sondern in verfeinerter Reflexion und Erkenntnis ihrer kulturel-len Bedeutung - , wird auch Heimat und Eigenart anderer achten. Und so könnenauch die internationalen Heimatschutz-Kongresse ein wichtiges Mittel sein zur kul-turellen Annäherung der Völker."71

Aus diesen Sätzen wird deutlich, daß es falsch wäre, die Heimat-schutzbewegung vorbehaltlos als eine reaktionäre, nationalistischeoder gar präfaschiste Bewegung einzuschätzen, so sehr das Vokabu-lar von „Volk", „Heimat", „Brauch" diesen Schluß den heutigenZeitgenossen nahezulegen scheint. Ebenso falsch wäre es, die kon-servative Kritik am Kapitalismus, die in der Heimatschutzbewe-gung die Zerstörung der „romantischen" Landschaft ins Visiernahm, nur als „reaktionäre" Verteidigung eines gesellschaftlichenStatus quo zu verstehen, stand sie doch in durchaus polemischemVerhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Von den etabliertenMächten, d. h. von den tatsächlich Maßgeblichen in Industrie,Landwirtschaft und Bürokratie wurde sie belächelt, ihre Vertreterdiskriminiert, wenn nicht verfolgt. So überrascht es nicht, daß derBund der Industriellen 1911 eine „Kommission zur Beseitigung derAuswüchse der Heimatschutzbestrebungen" einsetzte.

Betrachtet man das politische Spektrum in Deutschland zu An-fang dieses Jahrhunderts, so kann man beobachten, daß sich eineneue Kritikfront gegen den Kapitalismus bildete, die neben die älte-re soziale oder sozialistische trat, diese ergänzte, jedoch von entge-gengesetzten Voraussetzungen ausging. In gewisser Weise handel-te es sich hierbei um eine Transformation des älteren „romanti-schen" Antikapitalismus, jedoch mit dem Unterschied, daß die hei-matschützlerische Position kein Bündnis mehr mit'„konservativen"Agrariern eingehen konnte. Ästhetisch-kulturelle und soziale Op-position waren im Vormärz noch vielfach miteinander verbunden,war doch die „soziale Frage" ursprünglich eine konservative Ent-deckung, die gegen die heraufziehende bürgerlich-kapitalistischeEpoche ausgespielt werden konnte. Im Laufe des 19. Jahrhundertswurde die „soziale Frage" zunehmend zu einer Domäne der Lin-ken, namentlich der Sozialdemokratie (wenn auch der Einfluß derkonservativen Sozialpolitik nicht unterschätzt werden sollte.) Dadie Linke aber den technischen Fortschritt und die Industrialisie-rung mit der Rezeption des Marxismus zunehmend positiver sah,blieb die Kritik an der kulturellen Überformung der Lebensweltdurch die Rationalität des Kapitalismus und durch die moderneTechnik zunächst marginal, wurde sie nur von wenigen konservati-ven Außenseitern vertreten.

Dies änderte sich um die Jahrhundertwende. Nun entstand einneuer kritischer Konservatismus, in dessen Umkreis auch die Hei-

matschutzbewegung gehört. Beide waren sie gegen die herrschen-de Tendenz: fortschrittliche, linke Gesellschaftskritik und konser-vative, rechte Zivilisationskritik richteten sich gegen die bestehen-den Verhältnisse, doch identifizierten sie in ihnen jeweils andereMängel. Die Zivilisationskritiker bemerkten das Moment ästheti-schen Verfalls, das Aufkommen neuer Physiognomien von Stadtund Land und entwickelten ein Gespür für die Elemente der Zer-störung, die mit der Modernisierung verbunden waren. Die Linkesah dagegen die Spuren der Tradition bloß als lästige Überreste an,als Hindemisse auf dem Weg in eine bessere Zukunft.

Diese Komplementarität von linker und rechter Kapitalismuskri-tik machte sich seit der Jahrhundertwende darin geltend, daß jededer beiden Strömungen jeweils spezifische Krisenmomente undBedürfnisverletzungen durch das entstehende Industriesystemwahrnehmen konnte, ohne daß es ihnen möglich gewesen wäre,diese Beobachtungen in einer synthetisierenden Erklärung zusam-menzufassen. Beide besaßen sie aufgrund ihrer Orientierung auf„Fortschritt" oder „Tradition" eine spezifische Problemblindheit.Die Progressiven waren auf das soziale und politische Feld konzen-triert. Mit hoher Sensibilität nahmen sie alle Formen der Unterpri-vilegiertheit, von sozialer Ungleichheit, politischer Repression undvon Fortwirken überkommener Mißstände wahr. Da ihr Begriff vonModerne auf die Einheit von Egalität, Aufklärung, Technik und In-dustrie zielte, besaßen sie kein Gespür für die ästhetischen unddann auch ökologischen Depravierungen, die die Industrialisierungmit sich brachte. Ihr Ziel war letztlich die Herrschaft der Vernunft,und das implizierte auch eine effektive Naturbeherrschung, für diejede „Entwicklung der Produktivkräfte" ein Schritt in die richtigeRichtung war.

Die grundlegende Identifikation des Komplexes „Modernität"wurde von den Zivilisationskritikern geteilt, nur eben umgekehrtbewertet. Sie entwickelten daher eine feine Witterung für die Zer-störung der Natur, der traditionellen, bunten Regionalkultur, dieverwüstenden Effekte der neuen Architektur, für das brutale, er-folgsorientierte, „amerikanisierte" Verhalten der bourgeoisen Auf-steiger sowie die geschmacklichen Greuel der Massenproduktion.Der gesellschaftlichen, hygienischen und politischen Kehrseite dervon ihnen rückblickend gepriesenen Ständegesellschaft schenktensie dagegen kaum Aufmerksamkeit.

Hierin wird deutlich, daß beide Seiten von einer spiegelbildlichverkehrten Utopie ausgingen, einmal auf die Zukunft, das andereMal in die Vergangenheit projiziert. Diese Spiegelung vermitteltedas Bild einer lebenswerten Gesellschaft, von dem aus die schlechteWirklichkeit identifiziert und kritisiert werden konnte. Sie schnittjedoch jeweils einen Teil der Realität ab; er blieb im Dunkel, außer-halb der Projektion, und konnte daher auch in der zeitgenössischenRealität nicht ausgemacht werden.

Umweltzerstörung, Landschaftsverschandelung, Verunstaltungder Städte und Ausrottung von Pflanzen und Tieren waren „links"keine Themen8'; umso deutlicher wurden sie „rechts" aufgenom-men. Das gesamte Panorama der Kritik an Landschaftszerstörungals Moment einer umfassenden Kulturvernichtung entfaltete Lud-wig Klages in einer Rede, die an 1913 auf dem Hohen Meißner ver-sammelte Anhänger der Jugendbewegung gerichtet ist.„Eine Verwüstungsorgie ohnegleichen hat die Menschheit ergriffen, die 'Zivilisation'trägt die Züge entfesselter Mordsucht, und die Fülle der Erde verdorrt vor ihrem gifti-gen Anhauch. Zerrissen ist der Zusammenhang zwischen Menschenschöpfung undErde, vernichtet für Jahrhunderte, wenn nicht für immer, das Urlied der Landschaft.Dieselben Schienenstränge, Telegraphendrähte, Starkstromleitungen durchschnei-den mit roher Geradlinigkeit Wald und Bergprofile, sei es hier, sei es in Indien, Ägyp-ten, Australien, Amerika: die gleichen grauen vielstöckigen Mietskasernen reihensich einförmig aneinander, wo immer der Bildungsmensch seine 'segenbringende'Tätigkeit entfaltet; bei uns wie anderswo werden die Gefilde 'verkoppelt', d. h. inrechteckige und quadratische Stücke zerschnitten, Gräben zugeschüttet, blühendeHecken rasiert, schilfumstandene Weiher ausgetrocknet; die blühende Wildnis derForsten von ehedem hat ungemischten Beständen zu weichen, soldatisch in Reihengestellt und ohne das Dickicht des 'schädlichen' Unterholzes; aus den Flußläufen,welche einst in labyrinthischen Krümmungen zwischen üppigen Hängen glitten,macht man schnurgerade Kanäle; die Stromschnellen und Wasserfälle, und wäre esselbst der Niagara, haben elektrische Sammelstellen zu speisen; Wälder von Schlotensteigen an ihren Ufern empor, und die giftigen Abwässer der Fabriken verjauchen daslautere Naß der Erde.... Unter den Vorwänden von 'Nutzen', 'wirtschaftlicher Ent-wicklung', 'Kultur' geht es in Wahrheit auf Vernichtung des Lebens aus. Er(der Fort-schritt) trifft es in allen seinen Erscheinungsformen, rodet Wälder, streicht die Tierge-schlechter, löscht die ursprünglichen Völker aus, überklebt und verunstaltet mit demFirnis der Gewerblichkeit die Landschaft und entwürdigt, was er von Lebewesennoch übrigläßt, gleich dem 'Schlachtvieh' zur bloßen Ware, zum vogelfreien Gegen-stande eines schrankenlosen Beutehungers."9'

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Konservative Zivilisationskritiker, Heimat- und Naturschützerhofften zum großen Teil, die Tendenz zur Zerstörung der heimatli-chen Landschaft umkehren zu können. Ende der zwanziger Jahreglaubten nicht wenige von ihnen, die nationalsozialistische Bewe-gung, die ja ebenfalls mit der Rhetorik von „Heimat", „Blut und Bo-den" hantierte, würde ihre Forderungen nach Erhaltung der tradi-tionellen Landschaft, nach Kontrolle der Technikentwicklung, nachBeendigung des Prozesses der Verstädterung, nach effektivemSchutz von Pflanzen und Tieren, von natürlichen Biotopen und ge-wachsenen Städtebildern, erfüllen.

Als ein Beispiel dafür, welche Faszination die nationalsozialisti-sche Ideologie für Heimatschützer besitzen konnte, soll der Vorsit-zende des Bundes Heimatschutz, Paul Schultze-Naumburg ge-nannt werden. Er hatte über einen Zeitraum von mehr als zwanzigJahren hinweg mit wachsendem Entsetzen die Veränderungen inStadt und Land beobachtet, die der industrielle Aufstieg Deutsch-lands mit sich brachte und hatte sie in seiner Buchserie „Kulturar-beiten" dokumentiert. Absicht dieser Publikation war es, einenSinn für die Harmonien der traditionellen Landschaft und der orga-nischen Ensembles von Siedlungen zu wecken. Hinter seinen Be-mühungen stand die Vorstellung, es sei möglich, das natürlicheSchönheitsempfinden der Menschen neu zu beleben, indem guteVorbilder gezeigt wurden, die sich an die Tradition des ländlich-regionalen Bauens anlehnten.

Seinen Anregungen blieb aber ein wirklicher Erfolg versagt. Esgelang der Heimatschutzbewegung nicht, eine wirkliche Richtungs-änderung zu bewirken und die Gestalt der Landschaft im Sinne derHeimatutopie zu retten. Die Verschandelung von Stadt und Land,die Naturzerstörung und industrielle Überformung ging unaufhalt-sam weiter, da halfen keine Appelle, keine Broschüren und keineFestreden. Es drängte sich der Eindruck auf, daß eine sehr elemen-tare Kraft am Werke sein mußte, die diese Zerstörung bewirkte:„Eine disharmonische und schmutzige Welt ist heute um uns aufgebaut. ... Warenfrüher die menschlichen Niederlassungen die Edelsteine in dem Kranze einer reinenNatur, so ist heute einer Pilzsaat gleich eine neue Welt von ausdrucksloser Physiogno-mie aufgegangen, die nicht allein selbst trostlose Dumpfheit und Gleichgültigkeit aufder Stirn trägt, sondern auch in ihrem hemmungslosen Wachstum die Natur be-schmutzt und verdrängt." '

Die Bemühungen, daran etwas zu ändern, waren offensichtlich aufkeinen fruchtbaren Boden gefallen. Nicht alle Menschen nahmenAnstoß an den Monstrositäten der industriell durchgestaltetenWelt; es war nur eine Minderheit, der sie überhaupt auffielen unddie unter ihnen litt. Keine Belehrung, kein Hantieren mit guten undschlechten Beispielen hatten geholfen; es schien sich um „ur-sprüngliche Gegensätze im Fühlen" zu handeln. Aber wie war daszu erklären?

Schultze-Naumburg hatte ja früher, ganz im Sinne des romanti-schen Begriffs von Volk und Heimat, die stilistische Geschlossen-heit traditioneller Siedlungen, die harmonische Einheit von Land-schaft und Bauten aus einem kollektiven Sinn für Schönheit herge-leitet, daraus, daß sich die Volksseele in einer wohlproportioniertenund unverwechselbaren Physiognomie ausdrückte. Diese Einheit-lichkeit schien nun abhanden gekommen zu sein; die Disproportio-niertheit der Umwelt rührte aus einer neu aufgetretenen innerenSpaltung im Gefühlsleben des Volkes, aus der modernen Zerrissen-heit seiner Mentalität.

Dies war ein Befund, der einem Anhänger des völkischen Idealsschwer zu schaffen machen mußte. Eine solche fundamentale Um-wälzung mußte eine sehr elementare Ursache haben. Die gängigeRassentheorie bot eine Lösung: „Das Volk selbst hat sich in seinerArt, seinen Erbanlagen geändert oder doch verschoben."1" DieUmweltverschlechterung hatte also eine unmittelbare biologischeUrsache, sie entsprang einer Verschlechterung der Rasse.

Schultze-Naumburg folgte hier dem verbreiteten Muster der ras-senhygienischen Theorie, wonach der medizinische Fortschritt, diezunehmende Hygiene im Alltag sowie die staatliche Armenfürsor-ge die Mechanismen der natürlichen Auslese aufgehoben hatten,wodurch sich rassisch Minderwertige fortpflanzen und vermehrenkonnten. Dies führte zu einer Verschlechterung der völkischenSubstanz und es war dann nur folgerichtig, wenn sich diese auch inder Gestalt der Umwelt ausdrückte:„Der Grund für die flaue Physiognomie unserer allgemeinen Umwelt ist die über-mäßige Vermehrung der Unschöpferischen, der Gestalt- und Farblosen, der Haib-und Viertelmenschen, der Schönheitsarmen und deshalb auch nicht Schönheitsdur-

stigen, die unserer Zeit ihren Stempel aufdrücken." „Anders als durch eine Mehrungder Minderwertigen auf dem Wege der Fortpflanzung läßt sich die allerorts beobach-tete Erscheinung, daß unsere gesamte Umwelt ständig trüber und häßlicher wird undimmer dumpfere und stumpfere Züge annimmt, in ihren tieferen Ursachen nicht er-klären."125

Solche rassentheoretischen Argumentationen lagen seit der Jahr-hundertwende gewissermaßen auf der Straße und konnten zur uni-versalen Erklärung beunruhigender Prozesse verwandt werden, zu-mal sie schlechthin unbeweisbar waren und deshalb mit ihnen be-liebig hantiert werden konnte. Die Rassentheorie bildete bekannt-lich auch den Kern der nationalsozialistischen Weltanschauung,doch sollte man nicht übersehen, daß diese Theorie zahlreiche(anthropologische, rassenhygienische oder antisemitische) Varian-ten besaß. Schultze-Naumburg glaubte wie Hitler und viele andereZeitgenossen daran, die Geschichte der Gesellschaften und Staatensei letztlich als eine Geschichte der Rassenkämpfe zu erklären. Ausdieser Ideologie konnten freilich recht unterschiedliche Konse-quenzen gezogen werden - sie reichten vom kulturpessimistischenQuietismus bis zum Genozid.

Schultze-Naumburg setzte schließlich Ende der zwanziger Jahrewie manche andere Heimatschützer seine ganze Hoffnung auf denSieg der nationalsozialistischen Bewegung, von der er eine radikaleUmkehr erwartete. Ähnlich verhielt sich auch WaltherSchoenichen,der spätere Direktor, der 1935 im Zusammenhang mit dem neu ver-abschiedeten Reichsnaturschutzgesetz eingerichteten Reichsstellefür Naturschutz. Er zitierte 1933 in der Zeitschrift „Naturschutz"den Leitsatz Hitlers: „Das deutsche Volk muß gereinigt werden",und schloß daran die Frage an: „Und die deutsche Landschaft?".13'Schoenichen reklamierte die Einlösung der Forderungen des Na-turschutzes, weil er dachte, der Nationalsozialismus gehe tatsäch-lich an die Verwirklichung der völkischen Heimatutopie.

Hier unterlag er allerdings einer fundamentalen Fehleinschät-zung, der auch heute noch viele unterliegen, die meinen, beim Na-tionalsozialismus habe es sich in erster Linie um eine „romanti-sche", volkstümliche Blut-und-Boden-Bewegung gehandelt. Dieseideologischen Elemente gab es zwar durchaus und sie sicherten ihmdie Loyalität vieler konservativer Zivilisationskritiker, die sich vonihm eine antikapitalistische Wende versprachen. Die tatsächlichePriorität des Nationalsozialismus lag jedoch in der politischenMachtentfaltung zu zwei Zwecken: der Eroberung neuen Lebens-raums und der Ausschaltung des Judentums. Alles übrige war demnur taktisch zugeordnet; es verstand sich daher von selbst, daß tech-nische und industrielle Potenzen enorm zu steigern waren, dennwie sonst sollte ein moderner Krieg gewonnen werden können?

Die Realität des nationalsozialistischen Regimes zeigte bald, daßdie heimatschützlerischen wie so viele andere Erwartungen ent-täuscht wurden. Industrialisierung und Mechanisierung der Land-wirtschaft gingen weiter, der Arbeitsdienst wurde auf die Ödgebietelosgelassen, die Städte wuchsen und die traditionelle Regionalkul-tur wurde nachhaltig zerstört und gleichgeschaltet, wenn dies auchfolkloristisch drapiert wurde. Von seinem Ergebnis her war der Na-tionalsozialismus eine technokratische Bewegung in romantischemGewand.

Mit dem Sieg des Nationalsozialismus wurde das komplementä-re Muster obsolet, das die Wahrnehmung der Kapitalismuskritikergeleitet hatte. Wir haben gesehen, daß die Natur- und Heimat-schutzbewegung ihre Sensibilität für verwüstende Auswirkungender Industrialisierung vor der Folie einer konservativen Utopie ent-wickelt hatte. Umgekehrt hatte der Mythos vom Fortschritt denBlick der Gesellschaftskritiker für Privilegien, Ungerechtigkeitenund soziale Herrschaftsverhältnisse geschärft. DerNationalsozialis-mus nahm die konservative Utopie im Blut-und-Boden-Mythosauf, formulierte sie jedoch rassentheoretisch, antisemitisch und letzt-lich auch technokratisch um, so daß sie zur Legitimation einerPraxis verwandt werden konnte, die im totalen Krieg und im Völ-kermord kulminierte. Die Kritik daran konnte im Grunde nur nochvon links kommen, weil die Rechte, selbst wenn sie die nationalso-zialistischen Verbrechen nicht billigte, keinen Bezugspunkt mehrhatte, von dem aus sie Kritik äußern konnte. Für die Linke warenNatur- und Landschaftsschutz jedoch weiterhin „rechte", wennnicht „faschistische" Themen.

Lange hatte es den Anschein, als habe der Rekurs auf Natur undLandschaft seine Legitimität verloren. Die Zivilisationskritik, diesich an der Utopie von Volk und Heimat orientierte, teilte die mora-

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lische Niederlage des Nationalsozialismus. Hinzu kam, daß das rea-le Substrat dieser Utopie, die Anschauung einer „intakten" gewach-senen Kulturlandschaft zunehmend verschwand. Es fiel immerschwerer, in der Landschaft die Harmonie einer beseelten Naturoder die gewachsene Einheit von Siedlung und Vegetation, von Na-tur und Kultur sehen zu wollen. Wenn sie doch noch beschworenwurde, so wirkte dies falsch, gekünstelt und wurde von der Avant-garde als „Kitsch" denunziert. Die röhrenden Hirsche, die blauenBergseen, die efeubewachsenen Fachwerkhäuser wirkten nicht nurauf den Schlafzimmerbildern lächerlich und reaktionär, sondernauch in der Landschaft selbst.

Was Klages und die Heimat- und Naturschutzbewegung ausspra-chen, war das Ende, der Untergang der „romantischen" Landschaft,ihre Transformation in die moderne Industrielandschaft. Was manheute erblickt, wenn man mit offenen Augen durch die Gegendgeht, hat in der Tat nur noch wenig mit dem zu tun, was einst als har-monische Kulturlandschaft erschien. Ernst Jünger, konservativerRevolutionär ohne konservatorisch-heimatschützlerischen Affekt,drückte dies 1932 mit den lapidaren Worten aus: „Die Landschaftwird konstruktiver und gefährlicher, kälter und glühender; esschwinden aus ihr die letzten Reste der Gemütlichkeit dahin."14'Jünger formulierte dies noch in der geschichtsphilosophischenGewißheit, darin kündige sich der „Vorgriff" auf etwas Neues an;eine Gedankejifigur, die er mit Vertretern der „Moderne" durchausteilte.

In der Heimatschutzbewegung um 1900 artikulierte sich ein Auf-schrei, daß die identische Gestalt der Landschaft verloren ging. IhreZerstörung wurde voller Wut und Verzweiflung notiert. Heute istdie Landschaft verschwunden, sind nur noch museale Reste von ihrüberliefert. Sie existiert nicht mehr als ästhetische Totalität, als dasunbefragte Naturschöne, als selbstverständliches Anschauungs-stück einer gewachsenen Kultur, dessen naive Harmonie gestattet,sich spontan in sie zu versenken. Sie wurde industriell mobilisiert,ist in rasanter Veränderung begriffen; sie gibt nicht mehr das un-wandelbare Maß, an dem der Wandel abgelesen werden kann.

Das alles wurde solange nicht als störend empfunden, wie derFortschrittsmythos noch intakt war. Jeder Einbruch galt dann nurals Umbruch; an die Stelle der Trümmer sollte immer noch etwas„Besseres" treten. Man fühlte sich auf einer Reise die irgendwannzu einem Ziel führen sollte; daß die Züge laut und die Bahnhöfeschmutzig waren, störte dabei weniger. Dieser Fortschrittsglaubeist in den letzten Jahren abhanden gekommen, und nun wird dieZerstörung eben doch als Abschluß, als Verlust gesehen. Die neuenatur- und denkmalschützlerische Mentalität scheint daher Ähn-lichkeiten mit der Heimatschutzbewegung zu haben, aus vergleich-baren Motiven zu stammen.

Aber es bestehen doch gravierende Unterschiede. Die Heimat-schutzbewegung ging vom Bild einer intakten, zu bewahrendenTradition aus, von einem Bestand, der zu „schützen" war, also vordem industriellen Zugriff gerettet werden sollte und konnte. Heutegibt es dagegen keine Tradition mehr, an die man anknüpfen könn-te, keinen Bestand, der zu wahren ist. Die Utopie von Volk und Hei-mat liegt im Dunkel der Vergangenheit; niemand würde in einemAgrarproduzenten von heute den „ewigen Bauern" sehen wollen;keiner käme auf den Gedanken, in den gerade absterbenden Forst-plantagen den deutschen Märchenwald zu sehen. Der Wunschnach der Erhaltung der „Natur" wird zwar allgemein vertreten, dochsind die Biotope häufig erst anzulegen, müssen die Naturschutzge-biete renoviert, entrümpelt, ausgegrenzt, überwacht und verwaltetwerden.

Daraus wird deutlich, daß die Residuen der Naturlandschaftselbst keine Natur mehr sind, denn sie wachsen und existieren nichtaus sich selbst heraus. Sie sind Surrogate, technische Produkte, diebestimmten touristischen, wasserbaulichen oder konservatori-schen Bedürfnissen entgegenkommen sollen, wie ein Zoo dem Be-dürfnis der Anschauung „wilder" Tiere dient. Die geschützte Land-schaft ist, wie die geschützte Altstadt, ein Relikt der Vergangenheit,sie wird zur Kulisse, die geschminkt und renoviert werden muß. Andieser Musealisierung der „Heimat" wird am deutlichsten sichtbar,daß sie an ihrem Ende angelangt, daß sie „modern" geworden ist.

Die Moderne schafft keine bleibenden Gegenstände. Alles istvorläufig, zum alsbaldigen Gebrauch bestimmt, Sperrmüll aufAbruf. Sie erzeugt einen Strom von Gegenständen, der den Alltag

durchzieht und eine Spur der Zerstörung hinterläßt. Die Relikte derVergangenheit sind davon nicht ausgenommen; sie werden nur umden Preis ihrer totalen Entleerung und Isolation konserviert, nur ih-re äußere Hülle bleibt erhalten eine Ahnung ihrer ursprünglichenForm, während sie zugleich entkernt, saniert und modernisiert wer-den.

Weshalb konserviert aber die Moderne überhaupt? Sie tut dies janur widerstrebend, gezwungenermaßen. In ihrem technisch-öko-nomischen Kern widerstrebt ihr die Musealisierung, da sie ihrer to-talen Mobilisierung entgegensteht, ihren Elan bremst. Hat sie alsoein schlechtes Gewissen, ist sie an ihrer Identität irre geworden? Istsie erschöpft, gesteht sie ihr Unvermögen zur Bildung eines blei-benden Stils ein und klammert sich deshalb an die Trümmer derVergangenheit? Oder besteht nicht ihr letzter Triumph geradedarin, daß sie unter dem Etikett des „Schutzes" die Absorption vor-antreibt? Der „moderne" Stil war ja, von heute aus gesehen, ein rüh-render Versuch, einer dynamischen, nomadischen Epoche ein blei-bendes Gesicht geben zu wollen. Es wird sich jetzt zeigen, daß dermoderne Synkretismus nichts mehr ausläßt, auch nicht die Relikteder Tradition. Damit enthüllt sich derNeohistorismus als die wah-re, die „ehrliche" Physiognomie der Gegenwart - er zieht alles inseinen Bann, verzehrt alles, saugt auch das Vergangene auf. Dochgeschieht dies weder im Namen einer „romantischen" noch einer„fortschrittlichen" Utopie; es handelt sich lediglich um ein zeitlosesSpiel der Elemente, in dem durchaus auch Figuren des Heimat-schutzes benutzt werden können, weshalb auch nicht? Anythinggoes.

Wer heute seinen Blick für Ensemblewirkungen an den „Kultur-arbeiten" Schultze-Naumburgs schulen möchte, kann dies mitgutem Gewissen tun. Der Vorwurf ist absurd, solches habe „schoneinmal" zum Nationalsozialismus geführt. Die Geschichte wieder-holt sich nicht und schon gar nicht in gleichen Konstellationen. Nurweil Schultze-Naumburg für das „Deutsche Haus" plädiert hat, sollman für alle Zeiten so bauen wie in den fünfziger Jahren? Oder sollman keine Massenmotorisierung betreiben, weil Hitler Autobah-nen hat bauen lassen? Wer eine bestimmte normative Vorstellungdavon hat, was „modern" sei, sollte dies nicht mit pseudohistori-schen Gründen propagieren. Die konservativen und fortschrittli-chen Geschichtsphilosophien des frühen 20. Jahrhunderts sindheute endgültig obsolet geworden. Die Achsen, auf denen sich dieElemente des „Fortschritts" und der „Tradition" gruppiert hatten,haben ihre Verbindlichkeit verloren. Nicht jede technische Neue-rung wird von dem, der sich selbst für „fortschrittlich" hält, vorbe-haltlos begrüßt werden. Umgekehrt wird der moderne „Konservati-ve" im Zweifelsfall immer für den wirtschaftlichen und technischen„Fortschritt" sein.

Die romantische Heimat-Utopie hat ausgedient. Die alten ideo-logischen Komplexe haben nichts Zwangsläufiges mehr; eine Kon-tinuität ästhetischer, kultureller und sozialer Tradition existiertnicht. Es steht daher jedem frei, sich aus der Geschichte zu holen,was ihm gefällt und was er heute, in der Gegenwart, in der er selbstlebt, für angemessen und richtig hält.

Anmerkungen:

1) A. v. Droste-Hülshoff, Bilder aus Westfalen (1842), Werke, München 1970,977 f.2) E. RudorfT, Über das Verhältnis des modernen Lebens zur Natur, PreuB. Jahr-

bücher 45,1880, 261-763) E. Rudorff, Heimatschutz, Leipzig/Berlin 1901, 44) a.a.O., 395) Mitteilungen des Bundes Heimatschutz 1,1904/05, 16) HeimatschuU 8,1912, 58 f.7) ebd.8) Dies gilt jedenfalls für die politische Hauptströmung, also die sozialdemokra-

tische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung. Marginale linke Gruppie-rungen innerhalb der Lebensreformbewegung, die von links „Zurück zum Land"forderten, sollten daher nicht überschätzt werden, so nahe es liegt, in ihnen„Vorläufer" der Grünen zu sehen.

9) L. Klages, Mensch und Erde (1913), in: Mensch und Erde. Sieben Abhand-lungen, Jena 1929, 20, 22f., 25

10) P. Schultze-Naumburg, Kunst und Rasse, München 1928,12411) a.a.O., 13612) a.a.O., 145; ders.. Die Gestaltung der Landschaft, in: Der deutsche Heimat-

schutz. Ein Rückblick und Ausblick, München 1930, 1413) W. Schoenichen, „Das deutsche Volk muß gereinigt werden." - Und die

deutsche Landschaft?, Naturschutz 14,1932/33, 205-0914) E. Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932), Stuttgart 1982, 173

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