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Helden der Kindheit - pkmagazin.de · bindung erscheint für mich nah und offensichtlich: Pauls Haut ist der Schutzschild gegen die Einflüsse von außen. Seine eigenen Kräfte reichen

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32 Unter Nebelschleiern … wartet Heilung. Die Folgen des dritten Reiches und ihreVerarbeitung aus der Sicht eines Seelsorgers. Von Gottfried Wenzelmann

36 Elisabeths Haus am MeerVon Hoffnung und Lebensmut und der Verantwortung für das eigene Leben. Von Fabienne Berg

38 DER NLP-COACH:All You Need Is Love

„Ich habe mir meine Träume abgeschminkt!“ – Und was nun? Von Gabriele Lönne

42 Ich sehe, höre und verstehe dichVom Ich zum Du. Die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen im Zeitalter von Web 2.0.Von Andrea König-Wenskus

46 „Ich sammle das Licht!“Eine Reise in das Wunderwerk Auge erweitert die Perspektiveund kann Selbstheilungskräfte wecken.Von Judith Bolz

08 Die Welt als SpielplatzÜber Licht und lange Schatten, über den Schöpfer des „Bösen“ und die Helden der Kindheit. Von Sascha Neumann

12 Weise FreundeSchlange, Schildkröte und andere Tiere können Kindern hel-fen, Krisen zu überwinden. Von Christian Lerch

16 Augen zu – Mund aufKinder beim Zahnarzt: altersgerechte Kommunikation undhypnotische Interventionen. Von Ute Stein

20 Mitten in der HölleErziehung und provokative Therapie: Vom Umgang mit der„ganzen Wahrheit“. Von Frank Wartenweiler

24 Durch Zauberkraft verbunden Therapeutisches Zaubern für und mit Trennungsfamilien. Von Annalisa Neumeyer

28 Ich schaffe das!Selbsthypnose und Mentaltraining in der Arbeit mit jungen Menschen. Von Martin Braun

TITEL THEMEN

6/2014 In diesem Heft

4 Kommunikation & Seminar 6/2014

Spielen und heilenHelden der Kindheit

Die ganze WahrheitProvokative Therapie –für Eltern

Vom Ich zum DuReden im Zeitalter von Web 2.0

08 20 42

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50 Beweg dich!Das Systembrett als Strategischer Sandkasten. Eine Intervention als Wegbereiter für echte Veränderung. Von Hartmut Kriese

54 Atmen Sie noch oder sprechen Sie schon?

Was unsere Stimme von uns verrät.Und wie sich damit arbeiten lässt.Von Meik Schwalm

56 TAGUNGSBERICHTKonsensmilch für den Notfall

DVNLP-Kongress 2014

Reise in das AugePerspektive und Selbstheilungskräfte

Der NLP-Coach: Love, love, love

DVNLP-Kongress: Potenziale

6/2014 Kommunikation & Seminar 5

3 Editorial

6 Pinnwand

7 Nachgefragt bei ...

58 News

61 Bücher

78 Vorschau

78 Impressum

Diese Rubriken finden Sie im Service-Teil am Ende des Hefts:

66 Trainer-Porträts

69 Seminarkalender

Rubriken

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54

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Niedlich sind sie ja, diese Tests. Vier- bis Sechsjährigen wird eine begehrte Nascherei vor die Nase gesetztund versprochen, dass sie eine zweite Süßigkeit erhalten, wenn sie mit dem Verzehr der ersten so lange

warten, bis die Versuchsleiterin wieder kommt. Dann ist das Kind mit sich allein. Und widersteht mehr oder weniger tapfer und trickreich. Oder es erliegt der Versuchung.

Die Versuchsanordnung stammt aus den 1960er-Jahren, entwickelt vom Psychologen Walter Mischel in denUSA. Er hatte die Fähigkeit von Vorschulkindern messen wollen, eine kurzfristige Belohnung (ein

Marshmallow) für ein lohnenderes Ziel (zwei Marshmallows) aufzuschieben. Nach Jahren erkundete Mischeldann, was aus seinen kleinen Probanden von einst geworden war. Er fand dies: Wer dem Marshmallow seiner-zeit souverän widerstanden hatte, wies die besseren Schulnoten vor, zeigte mehr Initiative und Kooperation.Und zwar unabhängig von seiner Intelligenz. Die Fachwelt war fasziniert und sammelte fleißig weiter Daten.Der Grad der Standhaftigkeit im zarten Alter schien komplette Schicksale vorherzusagen: vorzeitigen Schul-abbruch, ungewollte Schwangerschaft, Spielsucht und Kriminalität bei den Unbeherrschten. Mehr Selbst -bewusstsein, mehr Uni-Abschlüsse, höhere Gehälter bei den Selbstbeherrschten. An der Cornell University nunwill ein Forscherteam herausfinden, wie sich die Fähigkeit zum „Belohnungsaufschub“ bei Kindern am bestentrainieren ließe und welche „positiven“ Effekte das auf das spätere Leben haben würde.

Was habe ich für das Kind gewonnen, wenn ich aus einem simplen Test auf sein künftiges Leben schließe?Wie bereit bin ich mit einem solchen Konzept im Kopf, mich eines Kindes so anzunehmen, wie es gerade

ist – ohne es „besser“ machen zu wollen, sprich: beherrschter, weniger naschhaft und deutlicher ausgerichtet aufein „lohnendes“ Ziel? Wie bereit bin ich zu vertrauen, dass dieses Kind seinen Weg findet? Und zwar unabhängigdavon, wie erfolgreich es in einer Versuchsanordnung einem Schaumzucker zu widerstehen vermochte? In einem dieser Filmchen auf YouTube sehe ich ein kleines Mädchen, wie es völlig gebannt und selbstvergessen,noch im Beisein der Versuchsleiterin, den klebrigen Marshmallow in seinen Mund stopft. Es hat sofort mein Herzgewonnen, ich stelle alles infrage, was Forscher aus dem Test ableiten werden, und wünsche dem Kind das Allerbeste: Glück und Sinn. Und dass es selbst herausfinden darf, was das ist. Mag sein Umfeld der Versuchungwiderstehen, ihm einen normierten Weg dorthin zu weisen. AutorInnen dieser Ausgabe zeigen schon einmal, wiedas geht: unvoreingenommen dem Kind zu begegnen.

Liebe LeserInnen, liebe AutorInnen. Dieses Magazin wird mit der ersten Ausgabe des neuen Jahres in neuemOutfit erscheinen: frisch, klar, modern. Es wird dann „Praxis Kommunikation“ heißen und zusätzlich

komplett als Online-Version ins Netz gestellt. Ich bin dem Junfermann Verlag sehr dankbar für die Neuerungen.Sie zeigen deutlicher als bisher, worauf es uns ankommt: auf konkrete Erfahrungen und Erkenntnisse von Kommunikations-Profis. Auf die „angewandte Psychologie in Coaching, Training und Beratung“, wie der Untertitel künftig heißt. Es bleibt unser Anspruch, dieser Branche eine geistige Heimat und eine Plattform fürden Diskurs zu bieten.

Lassen Sie uns gut ins neue Jahr starten. Und bleiben Sie dem Magazin treu. Ich wünsche Ihnen eine froheWeihnacht und eine gute Zeit zwischen den Jahren.

Ihre

Verheißung und Versuchung

Regine RachowChefredakteurin

6/2014 Kommunikation & Seminar 3

Editorial

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und sagen sie ihm, dass es so nicht weitergeht! Auf uns hörtes nicht!“ Dann stelle ich mich auf Kontakt mit wenig Wor-ten ein.

Die Art der Kindertherapie, mit der ich arbeite und in derich ausgebildet wurde, basiert auf den Ansätzen von CarlRogers, dem Gründer der Gesprächspsychotherapie, undVirginia Axline, der Gründerin der „Personzentrierten Spiel- therapie“. Spieltherapie bringt es auf den Punkt: Für Kinderbis zur Pubertät ist die Welt meist ein großer Spielplatz.Dem Kind begegnen verschiedene Entwicklungsaufgaben,die es bewältigt – bestenfalls eben spielerisch. Bewältigt esdiese Aufgaben nicht, können Verhaltensauffälligkeiten ent-

„Kindertherapie wirkt wie ein Breitbandantibiotikum!“,erkläre ich Eltern häufig, wenn sie wissen wollen,

was ich mit ihren Kindern in den Sitzungen mache. So kannes sein, dass sich das Verhalten des Kindes „wie gewünscht“verändert. Und es ist ebenso möglich, dass ich am Symptomvorbei therapiere und sogar etwas anderes bewirke als ge-wünscht. Wie funktioniert diese Form der Kindertherapie?

In der Erwachsenentherapie hat der eine oder andere die Er-fahrung gemacht, dass Reden hilft: Dort wird meist ge-sprochen und selten geschwiegen. Ein Gespräch ist in derTherapie mit Kindern kaum möglich, auch wenn Eltern mirgern den Auftrag erteilen: „Reden Sie mit unserem Kind

8 Kommunikation & Seminar 6/2014

TITEL Die Welt als Spielplatz

Über Licht und lange Schatten, über den Schöpfer des „Bösen“ und die Helden der Kindheit.

Die Welt als Spielplatz Von Sascha Neumann

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Paul greift zu einer großen Schachtel mit der Abbildung desWeltalls. Wir bauen gemeinsam an einem Raumschiff. Eshat viele Kanonen, unzählige Antriebsdüsen und jedeMenge Schutzschilder. Mit dieser Aufgabe beschäftigt ersich viele Wochen in den Therapiesitzungen und meine Auf-gabe ist es, gleich einem Detektiv herauszufinden: Was istsein Motiv? Was will er für sich sicherstellen, während erdieses Spiel spielt? Meine erste Ahnung: Er ist auf der Su-che nach Sicherheit in dem kleinen Raumschiff in den un-endlichen Weiten des Weltalls. Der Aufbau des Schiffes hilftdabei: Es verfügt über Schutzschilde, um die Feinde abzu-halten, und über Waffen, um sie niederzuringen. Die Ver-bindung erscheint für mich nah und offensichtlich: PaulsHaut ist der Schutzschild gegen die Einflüsse von außen.Seine eigenen Kräfte reichen nicht aus, seine Haut schafftes nicht – sie juckt, schmerzt und versagt.

Ich spreche nicht direkt mit ihm über meine Erkenntnis,sondern biete ihm indirekt eine Metapher an, um eine ArtÜbertragungsleistung zu erbringen. Auf der unbewusstenEbene kann er für sich sorgen, aber er kriegt es noch nichtso umgesetzt, dass es ihm mit dem „echten Schutzschild“,seiner Haut, besser geht. Das ist meine Vermutung. Daherbitte ich ihn, zur nächsten Sitzung seine Fettcreme mitzu-bringen. Wir bekleben und beschriften sie neu: „Schudz -shilt“ hat Paul jetzt auf die Tube geschrieben. Als seineMutter in abholt, ruft er ihr schon an der Tür zu: „Mama, ichhabe einen Schutzschild!“ und läuft glücklich mit ihr dieTreppe hinunter. Ich bin zufrieden und freue mich übermeine Intervention in der Hoffnung, dass Ruhe eintritt inden täglichen Creme-Prozeduren, da ihm nun der Zweckder Creme klar geworden ist.

Eine Woche später wird deutlich: Weit gefehlt! So einfach istes nicht! Der Aufkleber von der Tube wurde abgerissen, derKampf zwischen Mutter und Sohn bleibt unverändert. Seufz!Kindertherapeut sein, heißt auch Fehleinschätzungen zu in-tegrieren, darauf zu reagieren und weiterzuarbeiten.

Auch in den folgenden Wochen bleibt Paul bei seinem Fo-kus: Wir basteln weiter an seinem Raumschiff, fügen neueWaffen hinzu. Er erzählt mir dabei von seiner großen Lei-denschaft: „Star Wars – Krieg der Sterne“.

Eine kurze Krieg-der-Sterne-Kunde für Unwissende: „StarWars“ ist ein Heldenepos, erdacht vom Drehbuchautor, Re-gisseur und Produzenten George Lucas. Im Wesentlichenhandelt Star Wars vom andauernden Kampf zwischen Gutund Böse. Dieser Kampf spielt sich „vor langer Zeit“ in ei-ner „weit, weit entfernten Galaxie“ ab und gilt deshalb alsmoderne Version eines Märchens. Auch die Charaktere stel-len Archetypen aus Märchen, Heldensage und Fantasy dar.Im Mittelpunkt stehen die Kontrahenten Darth Vader alsschwarzer Ritter und Luke Skywalker als klassischer Held,

stehen, die das Kind in seiner Entwicklung hemmen undden Eltern meist Sorgen bereiten. Die Kindertherapie willdem Kind helfen, die Entwicklungsaufgabe im Spiel anzu-regen und zu bewältigen. Ein Beispiel aus meiner Arbeitveranschaulicht, worum es geht und wie wir Kindern imAlltag bei genauer Beobachtung helfen können, ihre Ent-wicklungsaufgaben gut zu bewältigen.

Paul (alle Namen und Orte geändert) ist sieben, sehr zier-lich und der Kleinste in der Klasse. Aufgrund seiner gutausgeprägten Intelligenz ist er früh eingeschult worden. Erlebt mit seiner Schwester Luise (11) und seinen Eltern ineinem Einfamilienhaus in Zehlendorf. Das Kind ist gut ver-sorgt und hat die besten Voraussetzungen für eine optimaleEntwicklung, es leidet jedoch leider seit der Geburt unterstarker Neurodermitis.

Der Junge ist in guter ärztlicher Behandlung, doch als dieEltern vorstellig werden, wird klar, dass die Medizin nur ei-nen Teil des Problems behandeln kann: Der Junge möchteregelmäßig „aus der Haut fahren“ und wirkt oft traurig.Zweimal am Tag, wenn die Mutter ihn mit all ihrer Liebemit speziellen Fettcremes eincremen möchte, wird deutlich,dass es so nicht weitergeht. Die Mutter schildert, dass ihrSohn schreit und schlägt und sich der Versorgung völlig ver-weigert. Es ist ein Kampf ohne Sieger: Am Ende weinenbeide und liegen sich erschöpft in den Armen – ohneCreme. Das soll anders werden. Die Mutter hofft auf eineUnterstützung zur Stabilisierung der Mutter-Sohn-Bezie-hung. Auch der Vater klagt, doch er erlebt seine Beziehungzum Sohn als nicht so schlimm.

Nach einer vollständigen Anamnese starte ich die Kinder-therapie: Einmal wöchentlich kommt Paul für 50 Minutenzu mir, vorerst für 25 Sitzungen. Zwischendurch findenrückbindende Elterngespräche statt. Die Vorgabe für dasKind ist stets dieselbe: „Wir haben 50 Minuten Zeit in die-sem Raum, in dem du alles spielen darfst, was du möchtest.Es gibt zwei Bedingungen: Niemand wird absichtlich ver-letzt. Kein Gegenstand wird absichtlich zerstört.“ Der Raumist bestückt mit allem, was ein Kind spielen könnte undmöchte: Die Dinge laden ein zum Toben und Bewegen, zurKontaktaufnahme oder zur Distanz; es gibt Regelspiele –vom Kartenspiel über Monopoly bis hin zu vielen unbe-kannten Schachteln und Kartons. Da sind Konstruktions-spiele wie Lego, Bausteine, weißes Papier und Stifte,Schere und Kleber zum Basteln und schließlich Kostümefür Rollenspiele. Alles Weitere ergibt sich von allein. DasKind greift gezielt zu dem, was es in diesem Moment zur ei-genen Entwicklung benötigt.

Und was ist meine Aufgabe dabei? Ich beobachte, was ge-schieht, und begleite durch beschreibende Worte – keineFragen, keine Bewertung.

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TITEL

10 Kommunikation & Seminar 6/2014

Im Abschlussgespräch erzählen die Eltern, wie selbstbe-wusst ihr Sohn inzwischen auftritt. Auch übernimmt erselbst zuweilen das Eincremen. Und es tauchen neue Pro-bleme auf: Paul versteht sich kaum noch mit seiner Schwe-ster, denn als Bruder mit gestärktem Selbstbewusstsein tuter nicht mehr das, was Luise will. Jedes Antibiotikum hateben auch Nebenwirkungen.

der die Prinzessin Leia aus der Hand des bösen Imperatorsbefreit. Diese archetypischen Motive und mythologischenElemente sind vermischt und in eine Handlungswelt proji-ziert, die an klassische Science-Fiction erinnert.

Ich beobachte Paul, wie er sich in dieser Dualität zwischenGut und Böse positioniert. Wie er mit sich klärt: WelcheRolle würde ich selbst übernehmen? In unseren Rollen-spielen wählt er nicht den Helden und Retter der Prinzessin,sondern er identifiziert sich mit dem Bösen. Und hier ent-scheidet er sich nicht etwa für das offensichtlich Böse inGestalt des schwarzen Ritters, sondern für das abgrundtiefBöse: für den dunklen Imperator, der Darth Vader erschaf-fen hat und kontrolliert. Diese Figur übt auf den Jungen einestarke Faszination und Attraktion aus.

Wir basteln alles, was ein wahrer Imperator braucht: einenschwarzen Umhang und ein großes Laserschwert. Um dasrichtige Material für die Utensilien zu finden, gehen wirhinaus in den Herbst. Dann steht Paul zünftig kostümiertauf dem Bürgersteig in der niedrig stehenden Sonne undbeobachtet seinen langen Schatten. Hier beginnt die Hei-lung! In Stille, andächtig fast, steht er dort, bewegt dasSchwert immer wieder hin und her und betrachtet minuten-lang seine Imperator-Paul-Version, die vor ihm erschienenist. Als ob sie zu ihm sagen wolle: „Ja – das bist auch du!“

Die Eltern zeigen sich im Gespräch besorgt, sie fragen sich,was aus ihm werden mag, wenn er so viel Genuss am Bö-sen zeigt. Ich beruhige sie und erkläre, dass es um die Ba-lance geht – da wo Licht ist, da ist auch Schatten. Nichts istwahr ohne sein Gegenteil!

Paul hatte kaum die Möglichkeit gehabt, seine „dunkle“Seite zeigen zu dürfen, auch mal „böse“ zu sein – als Klein-ster in der Klasse, den das Umfeld fast ausschließlich als„süß“ und „goldig“ bezeichnet. Bestenfalls erntet er seinerHauterkrankung wegen Mitleid. Tatsächlich: Das Breitband -antibiotikum wirkt. Gestärkt akzeptiert Paul seit seiner Be-gegnung mit seinem Schatten als Schöpfer von Darth Vaderdie täglichen Behandlungen der Mutter, und zwar als „gan-zer Kerl“. Er grenzt sich ab von seiner mitleidvollen Um-gebung. Der Ausschlag verschwindet nicht vollends, Paulbleibt empfindlich, doch nehmen die Symptome stark ab.

Die Welt als Spielplatz

Auskünfte von Sascha Neumann, Berlin

Bei welcher Gelegenheit fühlen Sie sich heute zuweilen los-gelöst und glücklich wie als Kind? Ich bin ein Kind vom Lande. Das bedeutet: Man setzemich an einen Teich und erlaube mir, den Fröschenbeim Quaken zuzuhören und ich bin glücklich wie alsKind...

Wie alt war Ihre jüngste Klientin oder jüngster Klient? Als Klient in der Kindertherapie: fünf Jahre.

Wie oft geschieht es im Coaching oder Training, dass dieKindheit Ihrer erwachsenen Klienten oder Seminarteilneh-mer Bedeutung erlangt oder zum Gegenstand wird?Im Grunde jedes Mal, da jeder Mensch das ist, was eran Erfahrungen mitbringt – somit auch die Erfahrungenund Erlebnisse als Kind, die sie oder er als Anliegen imCoaching mit einbringt.

Wie gut kann ein Coaching-Prozess sein, wenn er nicht beider Kindheit des Klienten landet?Keine Ahnung – kommt ja nie vor ;-)

Sascha Neumann, Lehrtrainer und Lehr-coach (DVNLP) mit eigenem Institut inBerlin. Website: www.ifapp.de

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TITEL Mitten in der Hölle

nur wenige Momente präzisen Beobachtens. Die Folgerung:Hier hatten die Eltern etwas zu lernen, dann bestünde Aus-sicht auf Erfolg in kurzer Zeit. Keine noch so lange Einzel-therapie würde das beklagte Verhalten ändern, weil ich alsTherapeut nicht die Rolle eines Erziehers habe. Das bleibtSache der Eltern!

An einer Erziehungsberatungsstelle haben mir von 1998 bis2006 Hunderte von Eltern ihre Kinder wegen fehlenden Ge-horsams zur Behandlung angeboten. Aber Kinder sind keinedefekten Uhren, die man zur Reparatur bringt, sondern äu-ßerst sensible kleine Persönlichkeiten. Sie nehmen z.B. ihrUmfeld umfassender wahr als Erwachsene und stimmen ihr

Ein Schulpsychologe hatte mir nach aufwendiger Abklä-rung einen Jungen zur Psychotherapie zugewiesen: Er seiinteressant, intelligent und auch sensibel. Dem stimmte ichrasch zu. Zugleich fiel mir auf, dass er im Umgang mit sei-ner Mutter geringschätzige Grimassen und Bemerkungenmachen konnte, so viel er wollte, ohne dass sie auch nur einWort dazu gesagt hätte. Sie schien solches Benehmen ge-wohnt zu sein und es einfach wegzustecken.

Nun hatte die Schule ihn eben darum zur Abklärung ge-schickt, weil er mit seinem Benehmen untragbar gewordenwar. Kein Wunder! Die Eltern hatten ihm nie beigebracht,sein Benehmen zu zügeln. Dies zu erkennen kostete mich

Erziehung und Provokative Therapie: Vom Umgang mit der „ganzen Wahrheit“.

Mitten in der Hölle Von Frank Wartenweiler

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Verhalten deshalb sehr viel schneller auf veränderte Bedin-gungen ab. Wenn also das Umfeld sich verändert, kann al-les sehr schnell wieder seine Ordnung finden. Geschiehtdies nicht, wird das Kind sein Fehlverhalten trotz Einzel-behandlung häufig beibehalten. Es bringt ihm einen Ge-winn, auch wenn wir Erwachsene den nicht erkennen. Inunserem Beispiel ist das möglicherweise der Status in derKlasse, weil kein anderer sich traut so frech zu sein. Diesmacht Kinderpsychotherapie zu einem zwar netten, dochhäufig nutzlosen Unterfangen.

Des Teufels AdvokatEinzeltherapien über immer raffiniertere Diagnosen undManipulation von Toleranzgrenzen zu rechtfertigen erlaubtuns auf bequeme Art über gravierende Mängel unserer Er-ziehung hinwegzusehen. Wir beharren hartnäckig auf dentraditionellen Methoden Belehrung und Konditionierung(strafen und belohnen) und verleugnen kollektiv ihre feh-lende Effektivität: Belehrung wirkt nicht, Konditionierungnur bedingt. Mit beidem beschränken wir uns auf Verhal-tenssteuerung von außen, was die Wirksamkeit weiter min-dert: Strafende „Polizisten“ sind nicht immer zur Stelle undman kann sie umgehen!

Dabei könnten wir es heute besser, leichter und erst recht ef-fizienter haben. Kaum kommen im Alltag Strategien zumTragen, bei denen wir Kinder von klein auf gezielt darin an-leiten, starke innere Referenzen zur Kontrolle ihres Verhal-tens zu entwickeln. Es geht um präzise und dauerhaft wirk-same Dinge, die nicht nur dem jungen Menschen, sondernauch der Organisation ihres Hirns überhaupt erst gerechtwerden.

Natürlich ist eine Änderung der Erziehungsweise weit un-bequemer als eine Kindertherapie. Denn dabei sind alle Be-teiligten direkt in die – wie oben gezeigt: vermiedene –Hölle der Konflikte hineinzuführen und dann herauszufor-dern, sich anders zu positionieren. Erziehungsratgeber undFachliteratur haben mir kaum Anleitungen dazu geboten.Anregungen bekam ich aus der Provokativen Therapie vonFrank Farrelly, dessen direkter Schüler ich war und der The-rapeuten die Rolle des „Advokaten des Teufels“ nahelegte.Einige Hinweise verdanke ich den Lehrgeschichten des le-gendären Hypnotherapeuten Milton H. Erickson. Auf die-sem Hintergrund gelang es mir, Interventionen zu entwik-keln, die rasch zu besseren Resultaten führten. Es wuchsenZuversicht und Kompetenz, wo ich früher Ohnmacht emp-funden hatte, weiter der Eindruck, ein für die Gesellschaftnotwendiges „Tool“ zu entwickeln. Ich gewann sogar Spaßdaran, mitten in der Hölle zu sitzen. Wie funktioniert diesnun praktisch?

Zuvor, weil ich keineswegs den Nutzen von Einzelthera-pie mit Kindern generell infrage stelle, eine kurze Bemer-

kung zu ihrer Indikation. Sehr vereinfacht gesagt ist siem. E. dann angebracht, wenn das Kind selbst deutlichenLeidensdruck erfährt: Ängste (zu versagen), Phobien, Verstimmungen. Häufig ist auch eine Kombination mit Fa-milien- und anderen Formen von Therapie des Umfeldesindiziert, z. B. bei Mobbing, psychosomatischen Be-schwerden, Essstörungen. Wenn aber hauptsächlich dasUmfeld an inadäquaten Verhaltensweisen eines Kindes lei-det, dann ist eine Therapie der Eltern mit dem Kind ange-zeigt: bei asozialen Verhaltensweisen von ungehörigemBenehmen bis zu Gewalt gegen andere, Diebstahl, Ein-brüchen, Vandalenakten etc., und auch bei ADHS.

„Zum letzten Mal!“Als ich mich vor Jahren eines Nachmittags einem spontanenImpuls folgend vor den Augen der Eltern mit einem klei-nen Schläger verbündete, ahnte ich nicht, welch dramati-schen Effekt dies haben sollte – einen, der auch meine Er-wartungen weit übertreffen sollte. Ich war es schlicht leid,an der Beratungsstelle bis zu neun Stunden am Tag im Stun-dentakt dieselbe öde Klage zu hören. Vor mir saß ein Junge,neun Jahre alt, mit der Diagnose ADHS, der nebst der be-kannten Unaufmerksamkeit und Unruhe notorisch denSchulunterricht störte, seine zwei Brüder plagte oder zu ge-meinsamen Streichen anfeuerte und weithin als Schlägerbekannt war.

Die Eltern waren am Ende ihres Lateins. Eben hatte er aufdem Weg nach Hause einen anderen Jungen blutig geschla-gen, war selbst zufrieden, ruhig und sehr hungrig zum Es-sen daheim angelangt. Die Eltern hatten per Telefon bereitsvon der Tat erfahren. Wie üblich verteidigte der Knabe seinTun: Er sei es ja nicht gewesen, der angefangen hatte ... Ichmochte kein Wort mehr von dieser Art Diskussion hörenund wandte mich ihm deshalb strahlend und mit verschwö-rerischer Stimme zu: „He Mann, spielt ja keine Rolle, werangefangen hat. Hauptsache es hat überhaupt einer ange-fangen, sonst würde ja nix laufen. Und ich bin überzeugt,dass du es nicht nur einem gezeigt hast. Nach einem hast dudoch noch gar nicht genug! Komm schon: wer durfte nochan deinen Fäusten riechen?“

Die Eltern waren entsetzt, denn sie verkannten meine Ab-sicht. Und die war, die ganze Wahrheit aus dem Mund ihresSohnes an den Tag zu bringen. Andererseits hatte ich be-reits ihr Vertrauen; so machte ich denn weiter in diesem Ton.Der Junge war erst überrascht, gewann dann rasch Zutrauenzu seinem neuen „Kumpel“ und „beichtete“ mir im Verlaufder Stunde sämtliche Schlägereien des Tages mit pikantenDetails. Zu meinem Erstaunen, denn es geschah vor den El-tern, die die Wahrheit ja nicht erfahren sollten! Diese Intervention saß! Bei jeder weiteren Schlägerei, vonder die Eltern hörten, wurden sie sichtbar zorniger. Ich hattenur auf ihre Folgerungen zu warten. Der Vater wandte sich

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am Ende der Sitzung enttäuscht und empört an seinen Sohn:„So führst du uns die ganze Zeit an der Nase herum. Zumletzten Mal. Das verspreche ich dir.“ Er wirkte entschieden,sich dies nie mehr bieten zu lassen, und brauchte offen-sichtlich keinen weiteren Rat! Es war demütigend genug,dass ich ihm vorgeführt hatte, wie leicht man an die Wahr-heit kommt, wenn man sie denn hören will.

Seither fordere ich als ersten Referenzpunkt von Kindernnach asozialen Handlungen – immer in Gegenwart der El-tern – detailliert Rechenschaft über diese Handlungen. Hateiner ein Fahrrad des Kumpels demontiert, einen Einbruchbegangen, andere geschlagen, gestohlen, einen Vandalen-akt begangen ... egal was es war, ich will eine einfache undvollständige Beschreibung der eigenen Handlungen mit kla-rem Anfang und klarem Endpunkt. Ich kommentiere dasGeschehene mit keinem Wort. Meine Aufmerksamkeit gilteinzig der Vollständigkeit und Ordnung des Berichts.

Fordernd, doch mit RespektHäufig sagen Kinder als Erstes: „Weiß ich doch nichtmehr!“ Diese Antwort – Ausdruck einer Verleugnung –nehme ich nicht hin. So entgegne ich: „Natürlich nicht,denn du hast noch nie über so etwas nachdenken müssen.Jetzt verlange ich es von dir. Das ist also das erste Mal, dassdu nachdenkst. Also hopp, mach vorwärts. Ich will nämlichsogar, dass es schnell geht.“ Auf diese Weise habe ich stetsinnerhalb weniger Minuten präzise und umfassende Dar-stellungen erhalten.

Dass Kinder so leicht kooperieren, liegt an der Atmosphäre:Ich begegne ihnen zwar fordernd, dennoch sanft, stets mitRespekt und ruhigem Ernst, zuversichtlich, neugierig, auchspielerisch. Ich rüge nie, ich kommentiere die Vorfälle nichteinmal. Ich leite sie einfach bei einer neuen Aufgabe an: of-fen über sich nachzudenken und nützliche Grundlagen fürpersönliches Handeln zu entwickeln. Ich sorge lediglich da-für, dass sie auf der richtigen Spur bleiben. Wenn irgendmöglich, lasse ich Humor aufkommen. In hartnäckigen Fäl-len bestehe ich auf andauernden Blickkontakt, auch dies mitErfolg. Kinder spüren schnell, dass ich ihnen die Bewälti-gung dieser schwierigen Aufgabe zutraue und dass sie ihnenauch gelingt. Mehr noch, sie spüren, dass sie eine relevante,soziale Fertigkeit erwerben, die zu realer Verantwortungführt, etwas, das letztlich interessanter ist als Computer-spiele, die ewig virtuell bleiben werden.

Mitunter heftig sind die Reaktionen der Eltern, weil ich ih-nen jede Möglichkeit zur Verleugnung in wenigen Augen-blicken entziehe. Rasch, lange vor Beendigung des Be-richts, stöhnen diese auf: „Aber das kannst du doch nichttun!“ Eben doch! Der Bericht beweist es gerade. An dieserStelle würde ohne mein Wirken die Wahrheitssuche bereitsihr Ende finden und in Belehrung münden. Aber ich mache

weiter und bestehe darauf, dass Eltern sich die ganze Wahr-heit anhören, ohne sich einzumischen. Wenn sie ihre eige-nen Verleugnungen nicht aufgeben, dauern die Problemean. – Die Reaktionen reichen von Enttäuschung, Empörung,Wut, Tränen bis zum Zusammenbruch, wenn das Beneh-men des Kinds zu sehr von einem extrem geschönten Ide-albild abweicht.

Das eigene Verhalten beurteilen lassenNicht selten bekunden Eltern am Ende Verwunderung dar-über, dass das Kind mir nicht einfach weggelaufen sei! Dieszeugt von tiefen persönlichen Ängsten und dem Fehlen voninnerer Stärke, Autorität und Reife. Neben der Arbeit mitdem Kind gilt es, die Reaktionen der Eltern aufzufangen,damit sie sich fassen und ruhiger auf das neue, reale Bildschauen können, das ihr Kind im Moment abgibt. Es gilt,sich mit ihren Ängsten und Verleugnungen zu beschäftigenund Eltern innerlich zu stärken.

Es ist bemerkenswert, wie wenig diese Art Wahrheits -findung in Ratgebern zur Erziehung eine Rolle spielt. ImGegensatz zu gängigen Vorgehensweisen setzt die hier dar-gestellte einzig bei einem internalen Prozess an: der Wahr-nehmung des eigenen Verhaltens. Und sie setzt auch imWeiteren auf die Macht innerer Faktoren. Denn Offenba-rung der Wahrheit ist erst der Anfang. Die nächste Fragegilt den Folgen: Was soll nach und mit dem Vorgefallenengeschehen?

Zur Bildung eines zweiten Referenzpunktes verlange ich,dass Kinder ihr eigenes Verhalten beurteilen: Was halten sieselbst von ihrem Tun? Meist kommen sie zu ähnlichenSchlüssen wie Erwachsene! Kein Wunder. Sie erblicken –nach Auflösung einer Verleugnung zum ersten Mal – wiein einem Spiegel ein ungeschminktes, unvorteilhaftes Bildvon sich, so wie es von anderen gesehen wird. Dieses ent-spricht bestimmt nicht ihrem Ideal. Es geht also um ihrSelbstbild. An dieser Stelle stimmen Erwachsene und Kindzum ersten Mal überein! Dies ist sehr wichtig im Hinblickauf weitere Kooperation. Ist dies nicht ein elegantes undmehr zur Würde des Menschen passendes Vorgehen als Be-lohnen und Strafen, wie man es zum Abrichten von Hundeneinsetzt?

Schritt zur EinsichtZur Bildung eines dritten Referenzpunktes verlange ich,dass Kinder die Wirkung ihres Benehmens auf andere er-kennen, sich in andere hineinversetzen und ausmalen, wel-che Gefühle ihr Verhalten bei den direkt Betroffenen, denEltern, Geschwistern, Freunden etc. auslöst. Ja, Kinder kön-nen das, sehr gut sogar, mit ganz wenig Anleitung, sich z.B.vorzustellen, wie die Mutter sich fühlt, wenn sie, währendsie mit Liebe das Mittagessen für die Familie kocht, per Te-lefon darüber unterrichtet wird, wie ihr Sohn sich wieder

22 Kommunikation & Seminar 6/2014

TITEL Mitten in der Hölle

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einmal damit vergnügt hat, einen anderen blutig zu schla-gen. Dies geht unter die Haut, es führt zu Betroffenheit,schmerzlichen Erkenntnissen, Reue und häufig Tränen.

Von da an ist Verhaltensänderung nicht mehr eine Folge vonKonditionierung, sondern von etwas viel Reiferem – vonEinsicht. Man unterlässt Dinge aus Rücksicht auf andere,weil man sie nicht verletzen möchte. Dieses – auch gesell-schaftlich relevante – Resultat lohnt den Aufwand für dienicht eben als leicht zu bezeichnende Arbeit. Unsere Kulturbedarf dringend mehr Rücksicht und Integrität.

Wenn ich Kinder schließlich zur Bildung eines vierten Re-ferenzpunktes nach sinnvollen Konsequenzen frage, äußernsie, dass eine Strafe fällig wäre, und schlagen Verbote vorvon Fernsehen, Computerspielen und Ausgang. Das ist es,was sie kennen. Was hat nun Fernsehverbot mit körperli-cher Verletzung oder der Beschädigung eines Fahrrads zutun? Nichts! Hier wurde jemandem ein Schaden zugefügt.Die Frage ist, wie man so etwas wieder in Ordnung bringt,und dies mündet in engagierte Einsätze der Wiedergutma-chung, z. B. das Fahrrad zu reparieren oder das Geld für dieReparatur durch Arbeit zu verdienen.

Alle Dialoge führe ich ausnahmslos in Gegenwart der El-tern. Nur so macht diese Arbeit Sinn. Sie sollen als Erstedie Wahrheit und ihre persönlichen Reaktionen darauf ken-nenlernen. Weiter führe ich ihnen ein Modell vor, das siespäter übernehmen können. Es ist neu und ungewohnt, je-doch einfach und strukturiert. Sie können bei mir die Wir-kung beobachten: wie ihr Kind sein Verhalten ändert – näm-lich sofort und in eine konstruktive Richtung. Dennochmache ich mir keine Illusionen über die Verbreitung diesesVorgehens: weder hat es Tradition, noch gibt es dafür eineInstitution.

Auch für Eltern praktikabelManche Eltern haben den Ansatz verstanden und mit vielErfolg übernommen, wie ich noch viele Jahre später hörenkann. Andere erkennen schon gar nicht, dass ich etwas an-deres mache als sie selbst! Dass ich keine belehrenden Mo-nologe halte, nicht rüge, nicht strafe, sondern Schritt fürSchritt zur Bildung innerer Referenzen anleite. So fatal wir-ken sich Verleugnungen aus!

Es geht um die Entwicklung eines reifen Gewissens. Aufdas muss man nicht warten, sondern man „installiert“ es.Dazu im Alltag anzuleiten und die Entwicklung über langeZeit zu überwachen, ist Aufgabe der Eltern. Wegen der so-fort wahrnehmbaren Resultate wirken meine Demonstra-tionen motivierend. Aber nicht alle Eltern sind gewillt, sich

ihren Ängsten zu stellen, Verleugnungen aufzugeben undneues Verhalten zu erlernen. Dies geht an die Substanz undist anstrengender als das Kind zur Einzeltherapie zu fahren!Bei mangelnder Kooperationsbereitschaft ein Kind einzelnzu behandeln, das halte ich für unangemessen. Ich überlassedann Eltern sich selbst, bis der wachsende Leidensdruck siezur Veränderung zwingt. Chance und Stärke des präsen-tierten Modells sind, dass es auf Reflexion des eigenen Ver-haltens basiert, dass es Kinder durch Bildung von klarenReferenzpunkten ein starkes Instrument zur Steuerung deseigenen Verhaltens von innen her bietet und so zu klugerUrteilsbildung und reifen Überzeugungen führt. Aber wer-den diese Dinge – wie man heute smart und unverbindlichsagt – je einen Markt haben?

Heute, viele Jahre später und in eigener Praxis, wenn ichnoch gelegentlich mit Kindern und ihren Eltern arbeite,beobachte ich, dass alles noch so funktioniert wie damals:Eltern fragen kaum danach, was in den Köpfen ihrer Kin-der vor sich geht. Wir haben es so gelernt und geben es soweiter.

Kürzlich beklagte ein 14-Jähriger ein unentschuldigtes Ver-säumnis im Schulzeugnis, weil er an einem Tag einfachkeine Lust gehabt hatte, zur Schule zu gehen. Seine Mutterreagierte mit einem leisen Schwall von vagen Ermahnungen– eine Belehrung hatte begonnen. Ich kommentierte, siewolle damit vor allem sich selbst beruhigen, und fragte, obsie denn nicht wissen wolle, was im Kopf ihres Sohnes dazuvorgehe. „Doch, tatsächlich“, antwortete sie überrascht.

Es zeigte sich, dass er wegen des Makels im Zeugnis Angstbekommen hatte, keinen Ausbildungsvertrag zu erhalten.Eine reife Reaktion, welche die Mutter besser zu beruhigenvermochte als ihre Ermahnungen. Diese Angst ist es, dieihn von weiteren Fehlern abhalten wird, und nicht eine Be-lehrung, der er sowieso nicht zuhört.

Wir haben in der Kommunikation in kurzer Zeit riesigeFortschritte gemacht. Mit dem Mobiltelefon können wirheute überall über weite Distanzen jederzeit mit anderenMenschen sprechen. Und wie nahe sind wir damit dem, wasim anderen vorgeht?

6/2014 Kommunikation & Seminar 23

Frank Wartenweiler, seit Jahrzehnten alsPsychotherapeut tätig, heute noch in kleinemUmfang in eigener Praxis in Zürich. Buch-veröffentlichung u. a.: „Provozieren erwünscht, aber bitte mit Feingefühl“, Junfermann, 2003.

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