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HELDEN verehrt – verkannt – vergessen Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten Beitrag der Arbeitsgruppe, Klasse 7c Gesamtschule Nordkirchen Nordkirchen, im Februar 2009

Helden verehrt - verkannt - vergessen · Frau Zurmühlen: Zeitzeugeninterview mit einer Nachbarin S.32 Die Holocaustgedenkstätte in Jerusalem S.34 Darstellung in der Kirchenzeitung

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HELDEN verehrt – verkannt – vergessen

Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten

Beitrag der Arbeitsgruppe, Klasse 7c

Gesamtschule Nordkirchen

Nordkirchen, im Februar 2009

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Helfer – Retter – Helden ?

Fünf Bauernfamilien im Münsterland in den letzten zwei Jahren

des „Dritten Reiches“ (1943-1945)

Heinrich und Maria Aschoff aus Herbern

Hubert und Josefine Pentrop aus Nordkirchen

Bernhard und Johanna Sickmann aus Werne

Heinrich und Therese Silkenbömer aus Nordkirchen

Hermann und Franziska Südfeld aus Südkirchen

Heinrich Aschoff (1943) Johanna und Bernhard Sickmann,

Heinrich Silkenbömer (von l.n.r.)

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Inhaltsverzeichnis

„Unter Bauern“ – Der Film

Unter Bauern – Dreharbeiten in unserer Nähe machen uns neugierig S. 4

Die Vorlage für das Drehbuch S. 6

Die historische Situation – Nordkirchen im Nationalsozialismus S. 7

Das Schicksal der Juden im Kreis Coesfeld S.17

am Beispiel Ascheberg-Herbern

Fluchtorte und Fluchtwege der Familie Spiegel S.19

Chronologie der Flucht und Verstecke S.22

Motive der Bauern

Menschen, die dahinter stehen – ein Zeitungsartikel (1960) S.23

Siegmund Spiegel: ein „Geretteter“ schreibt einen Leserbrief (1960) S.27

Drei Bauern sprechen über ihre Motive. Ein WDR Interview (1969) S.28

Helfer, Retter oder Helden – Ansichtssachen?

Herr Silkenbömer: Interview mit dem Enkel S.31

Frau Zurmühlen: Zeitzeugeninterview mit einer Nachbarin S.32

Die Holocaustgedenkstätte in Jerusalem S.34

Darstellung in der Kirchenzeitung des Bistums Münster(1965) S.36

Projekte und Aktionen S.38

Meinungen und Haltungen aus der Umgebung - eine Umfrageaktion S.40

Helfer, Retter oder Helden?- Versuch einer Bewertung S.43

Quellen- und Literaturverzeichnis S.44

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„Unter Bauern“ – der Film

Unter Bauern – Dreharbeiten in unserer Nähe machen uns neugierig

Eigentlich waren es nicht die Dreharbeiten zum Film „Unter Bauern“, die uns

neugierig machten, sondern die Namen. Die Lokalpresse berichtete über einen

Spielfilm, der auf wahre Begebenheiten beruhen sollte. Natürlich war es

interessant berühmte Schauspielernamen zu hören und die Orte, wo gedreht

wurde, kannten wir alle. Dülmen und Billerbeck sind zwar nicht unsere

Heimatdörfer, aber nicht weit weg von unserem Zuhause. Es waren also nicht

die Orte und nicht die Schauspielernamen Veronica Ferres oder Armin Rhode,

sondern die Namen der Bauern im Film, die uns stutzig machten. Aschoff,

Pentrop, Silkenbömer, Sickmann, Südfeld, das sind Familiennamen, die uns aus

unmittelbarer Nachbarschaft vertraut sind.

Aus unserer Tageszeitung, die wir nun aufmerksamer lasen, erfuhren wir, dass

diese Personen zur Zeit der Judenverfolgung ganz anders als die große

Mehrheit reagierten. Sie hatten der jüdischen Familie Spiegel das Leben

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gerettet. Als Helden, stille Helden, wahre Helden werden sie heute bezeichnet,

werden geehrt und gefeiert.

Wir sind zwar erst in der siebten Klasse und haben im Geschichtsunterricht

noch nichts vom Nationalsozialismus gehört, doch dachten wir, das muss

einfach unser Thema für den Wettbewerb sein. Im Laufe unserer

Untersuchungen haben wir gemerkt, dass es noch eine Reihe weiterer Schulen

gibt, die sich auch für die Flucht- und Rettungsgeschichte der Familie Spiegel

interessieren: unter anderem das St. Michael Gymnasium in Ahlen und das

Annette von Droste Hülshoff Gymnasium in Münster. Auch Schüler dieser

Gymnasien hatten ein regionales Interesse. Ahlen war die Heimatstadt der

Familie Spiegel, bis man sie von dort mit den anderen jüdischen Mitbürgern

vertrieb. Die Stadt Ahlen wollte damals als erste judenfreie Stadt gelten. Nach

dem zweiten Weltkrieg zogen Siegmund und Marga Spiegel wieder nach

Ahlen. Seit dem Tod ihres Mannes lebt Frau Spiegel in Münster.

Trotz dieser vielfachen Beachtung wollten wir nicht aufgeben und unseren

eigenen Fragen nachgehen. Wir wollten wissen, was die Bauernfamilien

gemacht haben, welche Gründe sie für ihr Tun hatten und wie sie darüber

dachten. Um darüber urteilen zu können, mussten wir unter anderem auch

wissen, wie es zu dieser Zeit in Nordkirchen und den Nachbargemeinden

aussah. War der Nationalsozialismus weniger gut angenommen hier? Waren

nur diese fünf Bauern Ausnahmemenschen? Und was war, nachdem das dritte

Reich zusammenfiel und alle, alles wissen mussten? Was dachte man über die

Bauern damals? Was denken unsere Mitbürger heute darüber? Waren es

damals Helden? Sind diese Menschen heute Helden?

„Unter Bauern“: Die letzte Klappe ist gefallen

Veronica Ferres, Marga Spiegel, Luisa Mix, Margarita Broich und der Regisseur Ludi

Boeken (v.l.).

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Die Dreharbeiten zum Film „Unter Bauern“ mit Veronica Ferres und Armin

Rohde sind nun abgeschlossen. An 38 Drehtagen standen die Schauspieler

unter anderem in Dülmen, Wadersloh und Billerbeck vor der Kamera.

Der Film ist fertig gestellt, wir aber machen weiter.

Die Vorlage für das Drehbuch

In den 1960er Jahren veröffentlichte Marga Spiegel erstmalig ihre Erinnerungen

unter dem Titel „Retter in der Nacht. Wie eine jüdische Familie im Münsterland

überlebte“, in Buchform. In diesem Überlebensbericht beschreibt Frau Spiegel

das gehetzte Leben ihrer Familie. Dazu gehörte sie, ihr Ehemann Siegmund

Spiegel und ihre kleine Tochter Karin. Als Marga Rothschild 1937 den

Pferdehändler Siegmund Spiegel (genannt Menne) heiratete, zog sie mit ihm

nach Ahlen in Westfalen. Ihr Vater kam schon 1937 im KZ Sachsenhausen-

Oranienburg ums Leben, die jüngere Schwester wurde in den Osten deportiert.

Ein Jahr nach der Geburt der Tochter Karin wurde die Familie zusammen mit

den anderen jüdischen Menschen aus der Stadt vertrieben. Sie kam nach

Dortmund und zog dort in ein sogenanntes Judenhaus. Dann wurde 1943

Menne Spiegel befohlen seine Arbeitspapiere überprüfen zu lassen. Er wusste,

dass das nur ein Vorwand war, um ihn abzutransportieren. Als Pferdehändler

kannte er viele Bauern im Münsterland. Einige, die er gut kannte, bat er, ihm

und seiner Familie Unterschlupf zu geben. In den Jahren 1943 bis 1945

versteckten vier Bauernfamilien im Münsterland seine Frau und seine Tochter.

Herr Spiegel musste bei einer fünften Familie versteckt werden.

Als 1944 in Münster viele Bomben fielen, nutzte Marga Spiegel das Chaos und

besorgte sich falsche Papiere. Sie sagte, sie sei Dortmunderin und habe ihre

Papiere verloren.

Als der Krieg 1945 zu Ende war, hatte zwar diese dreiköpfige Familie überlebt,

doch ganz viele Verwandte (37) waren im KZ ermordet worden.

Das Buch ist die Vorlage für das Drehbuch und für den Film, der

voraussichtlich im Sommer 2009 in den Kinos gezeigt wird.

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Das Drehbuch schrieben der aus Westfalen stammende Schriftsteller Otto

Jägersberg und Imo Moszkowicz. Otto Jägersberg ist ein Schriftsteller aus dem

Münsterland, Imo Moszkowicz ein erfolgreicher Regisseur bei Theater, Film

und Fernsehen und ein Überlebender des Holocaust. Wie die Familie Spiegel

stammt er ebenfalls aus Ahlen. Imo Moszkowicz hat vielleicht auch deswegen

die Verfilmung des Erinnerungsbuches angeregt. Gefördert wurde „Unter

Bauern“ von der Filmstiftung NRW, die bereits die Drehbuchentwicklung

unterstützt hat.

Die historische Situation – Nordkirchen im Nationalsozialismus

Die Drehorte für den Film „Unter Bauern“ sind hauptsächlich im

münsterländischen Dülmen und in Billerbeck angesiedelt. Das sind aber nicht

die Originalschauplätze. Hintergrund ist Nordkirchen und die dazugehörigen

Gemeinden Südkirchen und Capelle sowie die Orte Herbern und Werne. Dort

lebten die Bauern, die die Familie Spiegel beschützten. Auch dort gab es Nazis

und auch dort gab es Mitläufer, Ängstliche und Mutige.

Geographisch ist Nordkirchen im südlichen Münsterland angesiedelt.

Nordkirchen ist kein großer Ort mit einer großen Vergangenheit und

außerordentlichen Ereignissen. Die Geschichte von Nordkirchen reicht aber

weit zurück.

Die Gemeinde Nordkirchen, bestehend aus den drei Dörfern Nordkirchen,

Südkirchen und Capelle, gehört mit zu den ältesten Gemeinden des

Münsterlandes. Ihr Ursprung geht zurück auf den hl. Liudger, den ersten

Bischof von Münster, der die Waldlandschaft "lthari" seinem Kloster Werden an

der Ruhr geschenkt hatte. Das Kloster besaß in Nordkirchen einen Oberhof mit

33 Unterhöfen. Die Gemeinden Nordkirchen, Südkirchen und Capelle blieben

während des Mittelalters klein und unbedeutend, während die Höfe in den

Bauernschaften oft recht wohlhabend und mächtig wurden.

Ab 1703 begann der Fürstbischof Friedrich Christian von Plettenberg mit dem

Bau eines barocken Prunkschlosses in unmittelbarer Nähe des Dorfes. Als der

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Fürstbischof nach drei Jahren 1706 verstarb, setzte sein Neffe Reichsgraf

Ferdinand von Plettenberg sein Werk fort. Gottfried Laurenz Pictorius und sein

Nachfolger Johann Conrad Schlaun schufen als Architekten Bauten von

zeitloser Schönheit, auch im Dorf selbst, so dass man Nordkirchen mit Recht ein

„Barockdorf“ nennen kann. Ab 1715 erbaute Gottfried Laurenz Pictorius die

Pfarrkirche St. Mauritius als barocke Hallenkirche. Die ebenfalls von ihm

erbaute achteckige St.-Nepomuk-Kapelle dient jetzt als Ehrenmal und wurde

1984/85 grundlegend restauriert.

Abb 1

Luftbildaufnahme: Nordkirchen um 1930

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Abb 2

Nordkirchen: Schlossstraße um 1935.

Abb.3

Ansichten Nordkirchen 1938

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Ab 1924 war ein Teil des Schlosses als Posterholungsheim vermietet worden,

dann zog in der NS-Zeit eine Gauführerschule in die Räume des Schlosses.

Abb 4

Postkartenansicht: Das Schloss in der NS-Zeit

Abb 5

Aufmarsch Gauführerschule der NSDAP um 1938

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Die Gauleiterschule befand sich von 1933 bis 1945 im Schloss. Hier wurden

Lehrgänge für zukünftige Nazi-Größen abgehalten. In der Gemeinde hat man

davon aber nicht viel gemerkt, da sich die Gauleiter nicht unter das Volk

gemischt haben.

Abb 6

Ausflug des Gaubüros Münster nach Nordkirchen im August 1936

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Abb 7

Am 16. Juni 1939 spielte sich in Nordkirchen und Capelle ein Großereignis ab.

Die Fahrt der „alten Garde“ (Hitlers älteste Getreue) machte hier Station. So sah

die Schlossstraße, die vom Schloss bis zur Mauritiuskirche im Zentrum des

Dorfes führt, an diesem Tag aus.

In Nordkirchen wurden insgesamt 10.428 und in Capelle 2.167 Reichsmark an

diesem Tag ausgegeben - für damalige Verhältnisse sehr viel Geld. Häuser

wurden abgerissen und neu gestrichen. Die Bevölkerung hatte sich an den

Straßenrändern einzufinden und zu jubeln. Die Südkirchener mussten nach

Nordkirchen oder Capelle kommen. Die Schulkinder hatten an diesem Tag

extra frei.

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Wie standen die Menschen in Nordkirchen zum Nationalsozialismus?

Die folgenden Zahlen und Informationen sind Ausschnitte und

Zusammenfassungen von der Homepage des Heimatvereins Nordkirchen.

Die Wahlergebnisse aus den Jahren 1930 und 1933 zeigen, dass die Basis für den

Nationalsozialismus in Nordkirchen, Südkirchen und Capelle nicht allzu breit

war. 1930 stimmten in Nordkirchen 46 Bürger für die NSDAP, 637 für das

Zentrum (eine katholisch-konservative Partei). In Südkirchen wählten 12

Bürger für die NSDAP und 556 für das Zentrum. In Capelle gaben 17 Bürger

ihre Stimme der NSDAP und 301 dem Zentrum. Auch 1933, als die

Nationalsozialisten bereits die Macht an sich gerissen hatten, sah es in der

Schlossgemeinde nicht viel anders aus. Die religiöse und vor allem katholische

Bevölkerung Nordkirchens und des Münsterlandes unterstützte das Zentrum.

Wahlen 1933

Bürgerstimmen

Nordkirchen NSDAP 215 Zentrum 528

Südkirchen NSDAP 160 Zentrum 514

Capelle NSDAP 97 Zentrum 231

Natürlich gab es auch in Nordkirchen Begeisterung für die national-

sozialistische Bewegung. Beflaggung und Fackelzüge faszinierten viele

Menschen. Bespitzelung und Denunziation waren ebenfalls nicht unbekannt.

Kirche im Nationalsozialismus

Bei den Kirchenmännern scheint es nicht den größten Widerstand gegeben zu

haben. Der Südkirchener Pfarrer war allerdings gegenüber den Nazis

widerspenstig. Es gab damals sozusagen zwei Schulen in Südkirchen - eine

Grundschule und eine Schule, ein Raum für Jüngere, in der Küsterei. 1937/38

wollte der Pfarrer der politischen Gemeinde das Nutzungsrecht versagen und

in diesen Räumen Religionsunterricht geben. Der Raum sollte für Treffen der

Hitlerjugend genutzt werden und der Pfarrer wollte dies verhindern. Der

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Landrat schritt daraufhin ein und untersagte dem Pfarrer das Betreten des

Raumes.

Behörden und Schulen

Der damalige Bürgermeister von Nordkirchen war allem Anschein nach ein

überzeugter Nationalsozialist und SA-Truppführer. Im Zuge der

Entnazifizierung wurde er seines Amtes enthoben, verhaftet und sein

Vermögen entwendet. Auch die Bürgermeister von Südkirchen und Capelle

wurden zunächst ihrer Ämter enthoben, später aber nach dem Krieg wieder

eingesetzt. Sie waren wohl nur pro Forma in der Partei. Sie erhielten

Fürsprachen aus der Bevölkerung und den neu gewählten

Gemeindevertretungen. Die meisten Lehrer haben die Entnazifizierung

ebenfalls überstanden. Lehrer wurden auch als Werkzeuge der Partei benutzt.

Eine Lehrerin wurde von den Nationalsozialisten in den Ruhestand geschickt,

weil sie angeblich schwerhörig war. Tatsächlich aber war sie den

Nationalsozialisten zu katholisch. Zwei Lehrerinnen hatten nach dem Krieg

Probleme, wieder eingestellt zu werden. Auch sie erhielten Fürsprache von

dem jeweiligen Hauptlehrer, dem Kirchenvorstand, 40 Zeugnisse aus der

Elternschaft, von ehemaligen Kollegen.

Zwangsarbeiterlager

Auch in Nordkirchen gab es Lager für Zwangsarbeiter. Da die meisten Männer

eingezogen und im Krieg waren, mussten Leute für die Arbeit auf den Höfen

her. In Nordkirchen wurden 24 benötigt, in Südkirchen 20 und in Capelle 17

Arbeiter. Es gab strikte Regeln, wie die Bevölkerung - genau wie mit Juden -

umzugehen hatte. Es durften ihnen keine Lebensmittel verkauft werden, man

hatte den Kontakt zu meiden, etc. Im August 1943 zeigte eine Bauerntochter

den serbischen Zwangsarbeiter ihres Hofes, der seit eineinhalb Jahren dort tätig

war, wegen Vergewaltigung an. Sie war schon hochschwanger. Ihr eigener

Mann konnte nicht in Frage kommen, da er seit Oktober 42 nicht mehr in

Nordkirchen gewesen war. Der Serbe allerdings beteuerte, es sei

einvernehmlich gewesen. Wenn dem so gewesen wäre, hätte sich die Tochter

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der Rassenschande strafbar gemacht und Gefängnis zu befürchten gehabt.

Einen Tag nachdem sie Anzeige erstattet hatte, erhängte sich die Tochter.

In Waltrop befand sich ein zentrales Entbindungslager für Ostarbeiterinnen. Bei

1140 Geburten waren 490 Todesfälle zu verzeichnen. Die Säuglinge wurden

aber nicht etwa vergiftet, sondern vielmehr vernachlässigt. Die Leitung dieses

Lager hatte Ärztin Hartmann, die damalige Leiterin der Lungenheilstätte

Nordkirchen, heute Kinderheilstätte, inne.

Denunziation

Es war auch in Nordkirchen gefährlich, öffentlich seine Meinung zu sagen,

gegen die Politik der Nationalsozialisten. Auch hier gab es Bespitzelung und

Denunziation. Im Jahr 1943 befand sich ein Nordkirchener Soldat auf

Heimaturlaub zu Hause. Bei einem Bier an seinem Stammtisch sagte er: 'Der

Krieg ist verloren'. Am Tag darauf wurde er verhaftet, kam erst ins Gefängnis

und wurde später in einem Konzentrationslager erschossen.

Eheschließungen, Jugendorganisationen und Mutterkreuze

Seit dem 3. Juni 1936 erhielt jedes Ehepaar bei seiner Hochzeit das Buch „Mein

Kampf“, was aber von den Bürgern fast nie gelesen wurde.

Die Erfassung der Kinder in die Organisationen Jungvolk, Hitlerjugend und

Bund deutscher Mädel ging in Nordkirchen eher zögerlich voran - außer in

Capelle, hier waren die Kinder fast vollständig erfasst. Innerhalb der Partei

wurden Klagen laut, dass die Organisationen hier zu wenige Mitglieder hätten.

Eltern, deren Kinder nicht erfasst waren, wurden daraufhin gemeldet und

verwarnt. Viele Mütter und Väter wollten ihre Kinder gar nicht in die Verbände

der Nationalsozialisten schicken.

Die Mutterkreuze - eine „Zuchtprämie“ für „deutschblütige, erbtüchtige und

der Auszeichnung würdige" Frauen mit vielen Kindern - wurden in

Nordkirchen wenig in Anspruch genommen. Obwohl Kinderreichtum

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durchaus vorhanden war, meldeten sich in Nordkirchen nur 16, in Südkirchen

14, in Capelle allerdings 32 Mütter für die Auszeichnung.

Kriegsschäden in der Gemeinde, Kriegsende 1945

Nordkirchen blieb fast unversehrt, hier gab es keine 'kriegswichtigen" Ziele. In

Nordkirchen gab es in diesem Zusammenhang einen Toten zu verzeichnen, ein

Haus wurde zerstört und zwei beschädigt. Aus Südkirchen ist gar nichts

bekannt. Capelle allerdings bekam ein bisschen mehr ab. Der Bahnhof war

nämlich ein 'kriegswichtiges' Ziel. Fünf Tote aus der Zivilbevölkerung und vier

tote Soldaten waren zu beklagen.

Am Karfreitag 1945 war hier der Krieg zu Ende. In Nordkirchen marschierten

die Amerikaner von Lüdinghausen, in Südkirchen von Selm und in Capelle von

Herbern ein. Darauf folgten Besatzung, Einquartierung, Beschlagnahmungen.

Die Besatzungsmächte befreiten die Zwangsarbeiter. Diese konnten

Nordkirchen aber nicht sofort verlassen. Sie überfielen Höfe - oftmals jene, auf

denen sie vorher schlecht behandelt worden waren und plünderten. Dabei gab

es ebenfalls Tote.

Abb 8 Zerstörung eines Türmchens des Schlosses durch Bomben 1944

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Das Schicksal der Juden im Kreis Coesfeld am Beispiel Ascheberg-Herbern Herbern liegt im südlichen Münsterland und gehört zur Gemeinde Ascheberg. Der Ort liegt ungefähr 18km westlich von Ahlen, Heimatstadt der Familie Spiegel und der Stadt, die sich rühmte als erste Stadt Westfalens judenfrei zu sein. Einen Beitrag über die jüdische Gemeinde in Herbern-Ascheberg gibt Josef Farwick in dem Buch über die Geschichte der Juden im Kreis Coesfeld. In der folgenden Zusammenfassung des Artikels wird die Behandlung der Juden in Herbern während des Nationalsozialismus in den Blick genommen. Herbern und Nordkirchen liegen dicht beieinander. In beiden Gemeinden lebten und arbeiteten Bauern und Handwerker, kleinere Gewerbetreibende. Vergleichbare Vorkommnisse könnten auch für Nordkirchen gelten. Die ältesten Nachweise auf jüdische Familien in Herbern stammen aus dem

Jahr 1749. Zum Ende des 18. Jahrhunderts lebten in Herbern nur 2 jüdische

Familien, um 1840 waren es schon 5 Familien mit etwa 40 Personen. In Herbern

trafen sich die Juden in einem privaten Betzimmer, später gab es auch eine

Synagoge, die privat bewohnt wurde.

Die Juden in Herbern übten vor allem kaufmännische Berufe aus und fühlten

sich gut integriert, so dass sie ihren Glauben öffentlich ausübten. Selbst die

jüdischen Familien schickten Familienmitglieder in den 1. Weltkrieg. Dies alles

scheint einer der Gründe zu sein, weshalb der Antisemitismus Ende des 19.

Jahrhunderts in Herbern nicht zu beobachten war.

Doch bei der Machtübernahme Hitlers 1933 machte auch der Antisemitismus

vor Herbern keinen Halt. Ein SA Mann beschimpfte am 1. April 1933 die

Kunden jüdischer Geschäfte und versuchte Kunden am Betreten des

Textilhauses Cohen zu hindern. Schaufenster wurden mit Judensternen und

feindlichen Parolen beschmiert. Die Herberner Bürger und deren

Ordnungshüter reagierten daraufhin zurückhaltend oder gar nicht.

So wanderten die ersten Herberner Juden aus, z. B. nach Holland und

Südamerika. Ein neues Gesetz des Deutschen Reichs war: Kein Deutscher darf

für Juden arbeiten. Dies traf auch auf zwei Herberner Frauen zu. Ihnen verbot

die Ortspolizei in dem Kaufhaus Cohen zu arbeiten.

Neben dem amtlichen Druck auf jüdische Mitbürger verstärkte die SA ihre

Aktionen. Die SA hatte viele Mitglieder in Herbern, die den jüdischen Friedhof

mehrmals schändeten. So wanderte eine weitere Familie nach Südamerika aus.

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Im November 1938 sind in der Pogromnacht, der sogenannten

„Reichskristallnacht“, bei der letzten in Herbern lebenden Geschäftsfamilie

Scheiben eingeschlagen und Möbel zerstört worden. Der Familienvater Ernst

Samson ist in Schutzhaft genommen und später wieder frei gelassen worden.

Die Synagoge ist nur durch die Behauptung sie sei von Christen gekauft und

bewohnt verschont geblieben.

Die „Reichskristallnacht“ war der finanzielle Ruin der Familie Samson. Herr

Samson arbeitete nun als Schlosser in Werne, bis Juden keine öffentlichen

Verkehrsmittel mehr benutzen durften. Der Bürgermeister wurde aufgefordert

der Familie ihr Grundstück abzunehmen. Er kam dieser Forderung nicht nach,

indem er behauptete, er hätte kein Geld.

Durch diese Vorfälle und weitere judenfeindliche Gesetze des 3. Reichs wollte

auch Familie Samson auswandern, doch 1939, nach Ausbruch des 2.

Weltkrieges war die Vernichtung der Juden ein großes Ziel der

Nationalsozialisten. Die Familie Samson wurde erst in das Konzentrationslager

nach Riga und weiter nach Sutthof, in die Danziger Bucht deportiert. Aus dem

Konzentrationslager kehrten nur die Töchter und die Mutter zurück, die aber

auf der Rückfahrt in Berlin starb. Der Vater gilt als verschollen, von ihm ist kein

Todesdatum bekannt. Die Töchter wanderten nach kurzem Aufenthalt in

Herbern und der Einleitung eines Wiedergutmachungsverfahren nach Amerika

aus.

in: Juden im Kreis Coesfeld, Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises

Coesfeld, Bd. 24, Coesfeld 1990, S. 139-167.

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Fluchtorte und Fluchtwege für die Familie Spiegel

Wege zu den Verstecken

Marga Spiegel schreibt in ihrem Buch „Retter in der Nacht“ vom Winter 1943. „Behutsam wurde alles überlegt, soweit es nicht schon vorbereitet war. Mein Mann

erhielt das Zimmer des Sohnes, der Soldat war. Das Zimmer konnte nur von der Küche

aus betreten werden, und kein Fremder hatte Zutritt. Eine halbe Treppe höher befanden

sich noch ein weiteres Zimmer und ein Vorratsraum. So konnte mein Mann, wenn

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keiner im Hause war, ein paar Schritte gehen, um nicht ganz das Laufen zu verlernen.

Eine Art Verschlag schien eigens für ihn gemacht zu sein, wo er seine Notdurft

verrichten konnte. Am Fenster wurde ein langer Strick befestigt, der im Falle der Gefahr

heruntergelassen werden konnte.“

Heinrich Silkenbömer berichtete 1960 in einem Interview wie und wo er Siegmund

Spiegel auf dem Bauernhof versteckte.

„Wir hatten das so gemacht, dass der Mann, wenn Gefahr im Verzuge war, sein Zimmer

durch eine Luke verlassen konnte. Durch die Luke gelangte er in einen Abstellraum, wo

eine Leiter stand. Die Leiter führte auf den Heuboden. Das war also eine ziemlich

sichere Sache. Die Haustür hielten wir von jetzt ab auch über Tag verschlossen. Wenn

jemand kam, rief meine Frau oder ich recht kräftig durchs Haus: Do is ener an de

Husdör, mak se iäbben los!“

Das Versteck auf dem Dachboden der Familie Silkenbömer wie es heute aussieht.

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Der Hof Silkenbömer war nicht der einzige Zufluchtort für die Familie Spiegel.

Eine Übersicht aus dem zeigt Orte und Lage der „Verstecke“ im südlichen

Münsterland.

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Chronologie der Flucht und Verstecke Hubert Pentrop aus Nordkirchen: „Wenn sie dich nach Polen schicken wollen, geh nicht mit. Von dort hört man nichts Gutes. Komm zu mir, ich verstecke dich.“ 1943

28. Februar: Die Familie Spiegel wohnt in dem „Judenhaus“ in Dortmund. Sie

bekommt die Aufforderung sich zu melden (das hätte den Transport nach

Auschwitz bedeutet) und flieht.

17. März: Siegmund Spiegel geht von Dolberg nach Nordkirchen (Bauer

Pentrop)

2. November: Siegmund Spiegel wechselt von Nordkirchen (Bauer Pentrop)

nach Ascheberg (Bauer Sickmann)

23. Dezember: Siegmund Spiegel geht von Ascheberg ( Bauer Sickmann) nach

Nordkirchen ( Bauer Silkenbömer)

1943

Februar: Marga Spiegel und ihre Tochter Karin fliehen nach Werne zu den

Bauern Aschoff. Dort heißen sie Frau Krone und Karin Krone. Zwischendurch

musste Frau Spiegel wegen der vielen Menschen, die sich auf dem Hof

aufhielten, für einige Monate „verreisen“. Dann ging sie zum Hof Sickmann

oder kam bei Familie Südfeld in Südkirchen unter.

1944

24. Mai: Marga Spiegel fährt mit dem Rad samt Tochter zu Sickmanns nach

Werne.

27. Oktober: Marga Spiegel erhält in Münster falsche Papiere und damit eine

offizielle Identität

1945

Ostersonntag: Befreiung der Familie Spiegel durch amerikanische Truppen ,

Rückkehr nach Ahlen.

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Die Motive der Bauern

„Menschen, die dahinter stehen“ – Heinrich Silkenbömer in einem Interview für das Bistumsblatt Münster im Januar 1960

Das folgende Interview zwischen Herrn Silkenbömer und Hochwürden,

abgedruckt im Bistumsblatt von Münster ist eine vollständige Abschrift des

Artikels. Mit Bauer Willermann aus Ascheberg, den Herr Silkenbömer erwähnt,

ist vermutlich die Familie Sickmann gemeint. Häufig haben die Bauern mehrere

Namen, wenn beispielsweise eine Bauerntochter den Hof übernimmt, wird ihr

Mädchenname weiter verwendet, obwohl sich der Familienname durch Heirat

geändert hat.

Bistumsblatt Münster 15. Jahrgang/Nr 27 Seite 15

Sonntag 3.Juli 1960

Menschen, die dahinter stehen [Abschrift]

Er heißt Heinrich Silkenbömer und hat vor einigen Jahren die Siebzig überschritten. Sein Hof

liegt in Nordkirchen. Wer den Kreis Lüdinghausen im Münsterland kennt, kennt auch

Nordkirchen. Wir saßen am sonntäglichen Kaffeetisch; und Bauer Silkenbömer erzählte.

„Gewiß, Hochwürden, da haben Sie recht, durch den Fall Eichmann und durch die böse Sache

an der Kölner Synagoge ist meine Sache wieder ein bißchen aktuell geworden.

„Wann kam denn nun der Jude Spiegel aus Ahlen zu Ihnen ins Haus?“

„Im Herbst 1943. Der arme Mann hatte mit seiner Frau seinem fünfjährigen

Töchterchen schon allerlei hinter sich. Als die Judenverfolgung im Kriege immer

schlimmer wurde, war er in Dortmund untergetaucht. In einer Fabrik hatte er als

Arbeiter Beschäftigung gefunden. Aber, wissen Sie, Dortmund liegt nicht weit von

Ahlen, und das Risiko, erkannt zu werden, war ihm hier zu groß. Und so verschwand

er mit seiner Familie eines Tages nach Werne und kurz darauf nach Herbern. Aber

auch hier wurde ihm unter den vielen Fremdarbeitern der Boden zu heiß. Er wandte

sich also weiter nördlich ins stillere Münsterland. Bauer Pentrup in Nordkirchen nahm

die Familie auf. Acht Monate ging alles gut. Dann hatte ein Knecht auf dem Hof was

gemerkt. Also verschwanden die drei bei Nacht und Nebel und landeten im

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benachbarten Ascheberg beim Bauer Willermann. Aber auch hier waren die Umstände

zu ungünstig, und so kam es, daß ich dann der letzte Nothelfer wurde.“

„Das war im Oktober 1943. Hatten Sie denn keine Angst? Das war doch eine

gefährliche Angelegenheit.“

„Gefährlich schon, aber ich will Ihnen ganz offen sagen, meine Frau und ich brachten

es einfach nicht übers Herz, diese armen gehetzten Leute abzuweisen. Wir waren

natürlich sehr vorsichtig. Wir hatten das so gemacht, daß der Mann, wenn Gefahr im

Verzuge war, sein Zimmer durch eine Luke verlassen konnte. Durch die Luke gelangte

er in einen Abstellraum, wo eine Leiter stand. Die Leiter führte auf den Heuboden. Das

war also eine ziemlich sichere Sache. Die Haustür hielten wir von jetzt ab auch über

Tag verschlossen. Wenn jemand kam, rief meine Frau oder ich recht kräftig durchs

Haus: „Do is ener an de Husdör, mak se iäbben los!“

Das war dann immer für den Juden Alarmstufe „Heuboden“. Abends saß er häufig bei

uns im Wohnzimmer. Auch vom Wohnzimmer aus konnte er über eine Hinterstiege

schnell verschwinden.“

„Eine harte Sache für die drei, vor allem für das Kind, Tag und Nacht im Versteck

zu sitzen, und das 18 Monate lang.“

„Nein, nicht alle drei. Die Frau und das Kind liefen frei auf dem Hof umher. Aus der

Frau Spiegel hatten wir nämlich eine elsässische Flüchtlingsfrau mit Kind gemacht, die

ihre Papiere auf dem Transport bei einem Bombenangriff verloren hatte. Bei der

Regierung in Münster hat sie dann auch die entsprechenden neuen Papiere gekriegt.

Ganz ohne Schwindel ging es nun mal nicht. Der liebe Gott wird uns das inzwischen

wohl verziehen haben. Die elsässische Flüchtlingsfrau sah aus wie eine richtige

Bauernmagd und hat tüchtig bei uns gearbeitet. Keiner hat was gemerkt, auch nicht

unser polnischer Knecht.“

„1943, 1944 war es ja wohl für vernünftige Leute klar, daß die Nazis aus den letzten

Löchern pfiffen und daß der Krieg bald zu Ende gehen würde. Aber, was hätten Sie,

Herr Silkenbömer, gemacht, wenn es eine Serie Bomben auf ihr Haus gefallen wäre,

vor allem Brandbomben? Dann wäre es aus gewesen mit Luke und Heuboden.“

„Nicht auszudenken, was dann die Nazis mit den dreien, mit mir, meiner Frau und

meinen drei Söhnen an der Front gemacht hätten! Die Bomben waren wirklich meine

größte Sorge. Aber der Herrgott hat geholfen; Haus und Heuboden blieben von

Bomben verschont. Ganz brenzlig wurde es in den letzten Kriegstagen im Frühjahr

1945. Einige Tage war der Stab eines SS-Regiments auf unserem Hof stationiert. Jetzt

musste der arme Jude öfters in einem Kleiderschrank verschwinden. Aber auch das

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ging gut. Und dann kam die Befreiung, buchstäblich mit dem Oster-Alleluja am 1.

April 1945.“

„Das war schon eine Heldentat, Herr Silkenbömer, die Sie da mit Ihrer Frau in den

anderthalb Jahren vollbracht haben.“

„Gewiß, wir denken in unseren alten Tagen gern und dankbar daran zurück. Es ist ja

auch ein tröstliches Gefühl, wenn man sich sagen kann, daß man dabei helfen durfte,

drei Menschen vor dem Tode zu bewahren. Die Spiegels in Ahlen sind die einzigen

aus ihrer Familie, die mit dem Leben davongekommen sind. Alle anderen sind im

Konzentrationslager Theresienstadt umgebracht worden. Vor etlichen Jahren bekam

ich aus Düsseldorf ein Schreiben, über das wir uns sehr gefreut haben…“

„Da ist es ja schon. Ich darf mal lesen:

Sehr geehrter Herr Silkenbömer! Frau Marga Spiegel aus Ahlen hat dem

Ministerpräsidenten berichtet, daß sie und ihr Mann es Ihrer Mithilfe zu verdanken

haben, daß sie als Menschen jüdischen Glaubens die Zeit bis 1945 überleben

konnten. Es ist mir eine große Ehre, Ihnen als Anerkennung inliegende Bücher ( Die

Vollmacht des Gewissens; Das Gewissen entscheidet) zu überreichen. Mit dieser

Anerkennungsgabe verbindet der Herr Ministerpräsident seine besten Wünsche für

Sie und Ihre Familie...

Ein schönes Dokument für das Familienarchiv. Vor 60 Jahren, Herr Silkenbömer,

haben Sie in der Schule das Gedicht gelernt ‚Hoch klingt das Lied vom braven

Mann’. Sie lächeln. Nicht wahr, die Verse liegen einem noch im Ohr:

„Sieh schlecht, und recht ein Bauersmann…

Und dreimal zwang er seinen Kahn

Trotz Wirbel, Sturm und Wogendrang;

Bis ihm die Rettung ganz gelang…

Der Bauer wagt ein Leben dran.“

“meine Sache ist aktuell geworden“ Der Fall Eichmann und die böse Sache an der Kölner Synagoge, die Herr

Silkenbömer im Interview anspricht, bezieht sich auf die Verhaftung Adolf

Eichmanns, SS Obersturmbannführer und zuständiger Beamter für die

Deportation von über vier Millionen Juden in Ghettos und Konzentrationslager.

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Der israelische Geheimdienst hatte lange nach ihm gefahndet. Erst 1960 konnte

man ihn verhaften.

Mit der „bösen Sache“ in Köln sind antisemitische Hetzkampagnen, die unter

anderem die Kölner Synagoge betraf, gemeint. Weihnachten 1959 wurden die

Mauern der Kölner Synagoge mit Hakenkreuzen und dem Slogan‚“Deutsche

fordern Juden raus“ beschmiert. Die Tat löste eine große Empörung im In- und

Ausland hervor.

Bis zum 28. Januar 1960 wurden insgesamt 470 antisemitische Aktionen

registriert. Man spricht von einer antimsemitischen Welle im Winter 59/60.

Diese Aktionen knapp fünfzehn Jahre nach Schließung der Konzentrationslager

rief allerdings eine demokratische Gegenwehr hervor, die sich in

Demonstrationen und Protestkundgebungen äußerte.

Das Interview und der Abdruck in der Kirchenzeitung könnte einige Menschen

in der Umgebung verärgert haben, weil nur die Bauern aus Nordkirchen

erwähnt wurden. Vielleicht wollte man auch ein Gegenstück zu der genannten

antisemitischen Hetzwelle setzen, konnte jedoch nicht alle helfenden Beteiligten

zu einem Interview bewegen.

Die Formulierung „das war schon eine Heldentat“ taucht in dem Artikel auf.

Herr Silkenbömer bezeichnet sich als „letzter Nothelfer“. Diese Menschen

bezeichnen sich selber als Helfer, für die Familie Spiegel waren es Retter.

Da es noch mehr Retter für die Familie Spiegel gab, muss dieser Artikel einigen

Ärger hervorgerufen haben. Auf den bezieht sich Herr Spiegel in seinem Brief

an die Kirchenzeitung eine Woche später. Als Leserbrief erscheint er drei

Ausgaben danach. Darin versucht er die anderen Retter ebenfalls ins rechte

Licht zu rücken. Auch er benutzt jetzt die Bezeichnung „Heldentaten“. Er

benennt die Bauern aber auch als „wirkliche Helfer der Menschheit“.

Helfer, Retter und Helden – identische Begriffe, identische Menschen - so sah

und vermittelte es Siedmund Spiegel fünfzehn Jahre später.

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Abschrift des handgeschriebenen Briefes (Kopie des Briefes siehe Anhang)

Als Leserbrief für Nr.30 vorgesehen (handschriftliche Anmerkung der Redaktion)

An Ahlen/ Westfalen 9.7.60

„Kirche und Leben“ Beethovenstr.12

Bistumblatt, Münster

Ihrem Artikel Nr.27 v. Sonntag, 3. Juli (28) habe ich folgendes hinzuzufügen. Es handelt sich

bei uns als die Schreiber dieses Briefes um die von Ihnen erwähnte jüdische Familie Spiegel aus

Ahlen. Ihr Artikel hat bei unseren Rettern etwas Ärger hervorgerufen, da sie sich nicht erwähnt

und somit vergessen fühlen.

Wir wollen keineswegs den Lohn der ehrenwerten Familien Heinrich Silkenbömer und Hubert

Pentrop aus Nordkirchen schmälern. Sie haben wirklich Unmenschliches zu unserer Errettung

geleistet. In ganz uneigennütziger Weise wurde ich vor Jahren 27 Monate lang (20 Monate

allein von Familie Silkenbömer) versteckt gehalten. Aber zu unserer und ihrer Freude können

wir sagen, daß es noch mehr Menschen gibt, die dahinterstehen, und dadurch ebenfalls

verdienen, erwähnt zu werden. Die Familien Heinrich Aschoff in Herbern, Familie Bernhard

Sickmann in Werne und auch Familie Herman Südfeld in Südkirchen haben meine Frau und

unsere Tochter bei sich aufgenommen. Sie haben dadurch ihren nicht wieder gutzumachenden

Anteil zu unserer Rettung geleistet. Bei Familie Aschoff waren meine Frau und Kind etwa 20

Monate lang, die andere Zeit fanden sie bei Familien Sickmann und Südfeld Unterschlupf. Wir

haben diese Heldentaten nie publik gemacht, weil wir glauben, daß solch verdienter Gotteslohn

nicht durch eine Veröffentlichung oder einen Dank in der Zeitung belohnt werden kann.

Unserem Glauben nach, sind die guten Taten die, die im Geheimen getan werden. Nachdem es

aber nun zur Sprache gekommen ist, fühle ich mich zur Klärung verpflichtet. Wir sind uns voll

und ganz bewußt, daß wir Gottes Hilfe und all diesen wackeren deutschen Menschen unser

Leben verdanken, wie es auch wohl die einzige Rettung einer volljüdischen Familie in

Deutschland sein mag. Hinzufügen möchten wir noch, daß uns gerade die Überzeugung, daß

nicht alle Deutschen Mörder waren, die Kraft gab, nach all dem Unmenschlichen und

Unfassbaren weiter hier – wo wir geboren sind - zu leben.

Ich bestehe keineswegs auf Veröffentlichung meines Briefes, nur möchte ich Sie bitten Ihrerseits

den genannten Familien durch eine Hinzufügung zu Ihrem Artikel als wirkliche Helfer der

Menschheit einen Dank auszusprechen.

Unser Dank für Ihre lobenswerte Erzählung

Familie Siegmund Spiegel

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Drei Bauern sprechen über ihre Motive

Beweggründe und Hintergründe sind Gegenstände im Interview des WDR im Jahre 1969. In dem Gespräch werden Herr Sickmann, Herr Pentrop und der Sohn des Herrn Silkenbömer zu ihrer Beteiligung an der Rettung der jüdischen Familie Spiegel befragt. Der Anlass ist die Verleihung von Ehrenurkunden des Staates Israel an die fünf Bauernfamilien. Es handelt sich hier um die Abschrift einer Kopie einer Kassette, deren Original wahrscheinlich im Besitz der Familie Sickmann ist.

[Transkription]

Reporter:……..5 Bürgern des Kreises Lüdinghausen als Dank und äußeres Zeichen der Anerkennung für eine gemeinsame Hilfeleistung Ehrenurkunden des Staates Israel. Für eine Hilfeleistung in der Zeit der Judenverfolgung, wo einer der den Terror gegen die sogenannten „Nichtarier“ nicht mitmachte schon gefährdet war und erst recht der, der dann auch noch aktiv wurde, in dem er wirklich tätlich half. Die Ehrung ist mit einer Reise nach Israel verbunden, aber das nur am Rande. Hören Sie einen Bericht von Henner Heikens: Die Geschichte dieser fünf Urkunden liegt jetzt rund 26 Jahre zurück und ist die Geschichte einer jüdischen Familie, des damals etwa 40-jährigen Viehhändlers Siegmund Spiegel aus Ahlen, seiner Frau und seiner kleinen Tochter. Es ist aber auch gleichzeitig die Geschichte einiger, wie man damals zu sagen pflegte „arischer Familien“ und für Sie, Herr Sickmann, begann sie schon im März 1943. Sickmann: „Ja, Herr Spiegel war damals in Dortmund beschäftigt und kam dann ab und zu mal zu uns hin. Dann haben wir uns darüber unterhalten, wenn es so weit wäre, dass er auch abberufen würde, dann sollte er mal kommen. Eines Tages war es dann wirklich soweit, dann kam er eines guten Mittags heran, Bernhard du musst dafür sorgen, dass ich unterkomme. Da habe ich ihn erst mal zwei / drei Tage bei uns behalten und habe ihn schließlich weggebracht nach Südkirchen hin.“ Reporter: „Bei Ihnen war es zu gefährlich, Sie hatten einen Geschäftshaushalt und vor allen Dingen ein Haus, das direkt an einer Hauptstraße lag. Sie haben allerdings später dann doch auch noch seine Frau und seine Tochter aufgenommen?“ Sickmann: „Frau Spiegel und die Kleine die waren bei Aschoff und weil sie da nicht immer bleiben konnten, weil sie Flüchtlinge bzw. als Bombardierte ausgegeben waren, kamen sie ein paar Wochen wieder nach uns hin, sozusagen im Pendelverkehr.“ Reporter: „Siegmund Spiegel selbst war als Viehhändler natürlich hier im Münsterland viel zu bekannt, um als Flüchtling oder als Evakuierter durchgehen zu können. Er kam dann, nach dem er bei Herrn Sickmann war zu Ihnen, Herr Pentrop.“ Pentrop: „Ja, im März kam Herr Spiegel auf einem Samstagabend zu uns. Ich habe gesagt, für eine Nacht kannst du hier bleiben. Aus dieser einen Nacht sind dann 8 Monate geworden. Dann wurde es auf einmal doch zu brenzlig, da habe ich gesagt, jetzt müssen wir aber etwas anderes unternehmen und habe ihn dann zu seiner Frau, ich wusste wo die war, nach Aschoff nach Herbern gebracht.“ Reporter: „Er ist während dieser 8 Monate hier auf dem Hof in völliger Abgeschlossenheit gewesen, das heißt, er hatte ein kleines Zimmer, lebte aber zuweilen auch auf dem Dachboden bzw. im Heu.“

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Pentrop: „Manchmal ging er abends hinter den Hecken spazieren, wo ihn niemand sehen konnte im Dunkeln, dass er etwas frische Luft kriegte.“ Reporter: „Selbst ihre Kinder haben damals nicht gewusst, wer auf dem Hof war.“ Pentrop: „Trotzdem hat eines Tages ein junger Mann Verdacht geschöpft und klopfte an seinem Zimmer und in Ungewissheit, wer es war, hat er dann offen gemacht und hat dann aber immer noch nicht gewusst, wer es war. Das habe ich nicht mehr getraut und habe gesagt, jetzt müssen wir aber anspannen.“ Reporter: „Nun hört sich dass heute alles, nach 26 Jahren, im tiefen Sessel bei einem guten Korn, sehr einfach und sehr selbstverständlich an. Was hat sie damals bewogen, einen Juden bei sich unterzubringen, einen Juden, von dem Sie genau wussten, welches Schicksal ihn erwartet, zu verstecken?“ Pentrop: „Ich war mit Herrn Spiegel sehr gut befreundet und für mich war es einfach eine Selbstverständlichkeit.“ Reporter: „Immerhin, Sie haben damals Kopf und Kragen riskiert, hatten Sie nicht doch manchmal Angst entdeckt zu werden?“ Pentrop: „Ja, ein gewisses Angstgefühl hat man bei so einer Sache ja immer und ich hatte ja so einen politischen Hass auf das System, was wir damals hatten, dass ich irgendwie doch Mut gefasst habe.“ Reporter: „Die Geschichte der Familie Spiegel ist damit noch nicht zu Ende. Frau Spiegel war blond, sie entsprach durchaus nicht dem Bild der Jüdin, wie es damals das dritte Reich wie es damals das dritte Reich zu suggerieren versuchte, sie erhielt durch Zufall arische Papiere, Papiere einer ausgebombten Frau. Nicht so Siegmund Spiegel, der kam vom Bauern Pentrop dann zu Ihrem Vater, Herr Silkenbömer. Wie erging es ihm da?“ Silkenbömer: „Im Dezember 1943 erschien Herr Spiegel bei uns und bat uns, Heinrich du musst mir helfen, ich bin aufgefallen. Und da hat mein Vater gesagt, ja dann komm zu uns, wir werden es schon wohl schaffen. Wir haben schon so vieles geschafft. Wir hatten auch Polen und auch Pflichtjahrmädchen auf dem Hof und später hatten wir sogar Einquartierung von der SS.“ Reporter: „Mit anderen Worten Siegmund Spiegel musste sich über 15 Monate fast ununterbrochen versteckt halten, er konnte kaum nach draußen bis zur Befreiung 1945. Sie sind beide heute, Herr Sickmann und Herr Pentrop, weit über 70 Jahre alt. Würden Sie, wenn Sie heute vor der gleichen Konsequenz stünden, noch einmal so handeln, das heißt würden Sie wiederum Menschen, die in Not sind, helfen?“ Sickmann: „Das ist wohl eine schwere Frage, weil die Verantwortung gegenüber der eigenen Familie mir doch zu groß wäre heute.“ Reporter: „Nach dem Krieg wurde ja bekannt was Sie getan haben. Wie haben nun Ihre Nachbarn reagiert?“ Sickmann: „Ja, die Nachbarn, zum Teil sind sie neidisch, zum Teil lachen sie und zum Teil fragen sie, was hast du eigentlich davon gehabt.“ Reporter: „Was haben Sie davon gehabt?“ Sickmann: „Da habe ich nichts für gefordert und nichts von gehabt und das ist auch nicht zu bezahlen.“

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Die Wahrnehmung des Herrn Sickmann ist, dass seine Nachbarn entweder

neidisch oder verwundert waren. Neidisch, dass sie nicht im Rampenlicht

stehen? Verwundert, dass er und seine Familie eine jüdische Familie beschützt

und sich damit in großer Gefahr begeben hatten? Hochachtung, Bewunderung

und Respekt – Reaktionen der Mitmenschen, die man nach einer „Heldentat“

erwartet hätte, erwähnt er nicht.

Auch die Frage, was er davon gehabt habe, weist darauf hin, dass zumindest

einige unterstellten, diese Art von Hilfe müsse (materiellen) Gewinn bringen.

Etwas davon haben bedeutet in ländlichen Kreisen zumeist einen

wirtschaftlichen Vorteil. Diese, ihm vom Reporter gestellte Frage, weist Herr

Sickmann daher energisch zurück.

Herrn Pentrops Motive waren nach seiner Aussage, dass er die Hilfe als

Selbstverständlichkeit ansah und gleichzeitig „einen Hass auf das System“

empfand. Die Bauern waren Katholiken und die Nazis waren nicht

kirchenfreundlich eingestellt. Daher lässt sich der Hass auf das System erklären.

Heinrich Silkenbömer gibt kein besonderes Motiv an. Er war zuversichtlich, das

auch noch zu schaffen.

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Helfer, Retter oder Helden – Ansichtssachen?

Herr Silkenbömer: Interview mit dem Enkel Das Interview wurde im Januar 2009 geführt.

C. Herr Silkenbömer, wie hießen Ihre Vorfahren?

Herr S. Unsere Vorfahren hießen Heinrich und Therese Silkenbömer.

C. Wie alt waren Ihre Vorfahren, als sie die Juden versteckten? Herr S. Sie waren zwischen 50 und 60 Jahre alt.

C. Sind Sie stolz auf sie? Herr S. Gewissermaßen schon, doch leider haben unsere Vorfahren nichts mehr

davon. C: Finden Sie, dass sie wahre Helden waren? Herr S: Ja, auch wegen der Selbstopferung.

c. Wissen Sie, wie die jüdische Familie hieß und warum sie verfolgt wurde?

Herr S. Die Familie hieß und heißt Spiegel und wurde offensichtlich verfolgt, weil

sie Juden waren.

C. Kannten Sie die Familie Spiegel selber auch?

Herr S. Ja, es besteht auch noch Kontakt zu einzelnen Familienmitgliedern.

C. Würden Sie in solchen Situationen genauso handeln?

Herr S. Ja, aber das ist natürlich auch schwer zu sagen in der heutigen Zeit.

C. Wissen Sie wie alt Marga Spiegel ungefähr war?

Herr S. Sie war ca. 27 Jahre alt.

C. Glauben Sie, dass es gefährlich war, jüdische Menschen zu verstecken?

Herr S. Ja klar.

C. Wie haben sich Ihre Vorfahren wohl gefühlt, als sie die Juden aufnahmen

Herr S. Sie hatten bestimmt viel Angst, doch haben sich wahrscheinlich gut gefühlt,

da sie das Leben der Juden retteten.

C. Warum machten Sie das ihrer Meinung nach?

Herr S. Vermutlich wegen dem Glauben und der Menschlichkeit.

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Interview mit einer Nachbarin

Elisabeth Zurmühlen, geb. 1923 in Capelle

Datum des Interviews: 28.12.2008

Stimmt es, dass du bereits damals vom Schicksal der jüdischen Familie Spiegel

wusstest?

Ja, ich kannte die Familie.

Wie hat sich Familie Spiegel vor den Nazis versteckt?

Herr Spiegel hatte durch seinen Beruf als Viehhändler viele Kontakte zu

Landwirtsfamilien in der ganzen Gegend. Als die Judenverfolgung zur großen

Gefahr wurde und nicht nur Schikanierung der Juden blieb, hat Herr Spiegel

seine Frau und seine Tochter bei verschiedenen Familien versteckt. Sie waren

dort als Mutter und Tochter aus Dortmund untergebracht, die bei der

Bombardierung der Stadt sowohl ihre Wohnung als auch ihre gesammelten

Papiere verloren haben. Nur wenige Vertrauenswürdige wussten, dass sie

Juden waren. Sie lebten wie viele Flüchtlingsfamilien aus den Städten mit auf

den Höfen und haben dort gegen Mitarbeit Unterkunft und Essen erhalten.

Die Tochter von Frau Spiegel hatte so sogar die Möglichkeit die Schulen in den

unterschiedlichen Bauernschaften zu besuchen. Als Judenkind wäre das nicht

möglich gewesen.

Wann hast du von dieser Aktion erfahren?

Als älteste Tochter aus einer Familie mit zehn Kindern habe ich innerhalb der

Kriegsjahre bemerkt, dass es da etwas Besonderes gab. Um gefährliche Fragen

zu vermeiden haben mich meine Eltern mit dem nötigsten und wenigsten

Antworten versorgt, um so die Gefahr möglichst gering zu halten.

Wie alt warst du damals?

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Ich bin 1923 geboren, als ich vom Schicksal der Familie Spiegel erfahren habe

war ich ca. 18 Jahre alt.

Warum habt ihr keine Juden aufgenommen?

Meine Eltern hatten damals zehn Kinder viele davon noch klein, die Gefahr war

zu groß, dass diese etwas erzählten hätten oder ausgefragt worden wären und

damit alle in Lebensgefahr gebracht hätten.

Zu uns kam immer eine Judenfamilie aus Werne um zu betteln. Von meinen

Eltern bekamen sie immer etwas zugesteckt. Doch auch dass musste heimlich

geschehen, denn auch die Unterstützung der Judenfamilien war verboten. Ich

kann mich noch erinnern wie sie das letzte Mal kamen um sich zu

verabschieden, denn sie wussten von ihrer bevorstehenden Deportierung.

Waren eure Nachbarn Nazis?

Einige Nachbarn bekannten sich sehr offen als Nazis. Doch viel war einfach

sehr geheim und oft konnte man die Gefahr nur ahnen.

Waren die Familien, die Juden unterstützt haben, damals schon Helden?

Ja, auch damals galten diese Familien als besonders mutig, denn sie

haben nicht nur ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, sondern das

ihrer gesamten Familie. Wären sie verraten worden, wären alle

erschossen worden. Ich weiß nicht, ob ich soviel Mut beweisen könnte, wenn

ich wüsste, ich setzte damit das Leben meiner mir engsten Familie aufs Spiel.

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Die Holocaustgedenkstätte in Jerusalem

Die Holocaustgedenkstätte in Jerusalem ist ein Museum, das unter anderem in

chronologischer Folge die Geschichte der Judenverfolgung dokumentiert.

Die "Gerechten unter den Völkern" wurden bis etwa 1990 durch einen mit

ihrem Namen gekennzeichneten Johannisbrotbaum verewigt. Da die Allee für

Johannisbrotbäume keinen Platz mehr bietet, wurde an anderer Stelle eine

Ehrenmauer errichtet, in die Steinplatten mit den Namen der "Gerechten"

eingemauert werden.

Diejenigen Personen, die als "Gerechte unter den Völkern" geehrt worden sind,

haben Anspruch auf eine Medaille und eine Ehrenurkunde. Meist werden

ihnen Medaille und Urkunde in ihrem Wohnort oder nach ihrem Tode an die

nächsten Verwandten im Rahmen einer kleinen Feier überreicht.

Die Medaille

Diese Medaille, die den "Gerechten" verliehen wird, wurde speziell für Yad

Vashem geprägt. Der Künstler Nathan Karp aus Jerusalem gestaltete in dieser

Medaille in symbolischer Form die Worte des Talmud: "Wer immer ein

Menschenleben rettet, hat damit gleichsam die ganze Welt gerettet." Die

Hände, die eine Lebenslinie aus Stacheldraht umfassen, scheinen aus dem

Nichts herauszuragen, während die Linie, die um den Erdball gewunden ist

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und ihm die treibende Kraft verleiht, aussagt, dass Taten wie die der

"Gerechten" die Existenz der Welt und unseren Glauben an die Menschheit

bestätigen.

In einer chronologischen Liste der Deutschen, die als „Gerechte unter den

Völkern ausgezeichnet worden sind, befinden sich auch die fünf Namen der

Bauern aus dem Münsterland. Sie wurden im Jahre 1965 dort im Baum des

Lebens eingetragen.

018 Pentrop

Hubert ger 0463 1965

019 Silkenboehmer Heinrich ger

0463a

1965

020 Suedfeld Bernhard ger

0463b

1965

021 Aschoff Heinrich ger

0463c

1965

022 Sickmann Bernhard ger

0463d

1965

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Darstellungen in der Kirchenzeitung

Bevor Marga Spiegels Rückblick 1969 erstmals in Buchform erschien, druckte

1965 die Kirchenzeitung für das Bistum Münster die Erinnerungen als

Tatsachenbericht von Marga Spiegel ab. In 17 Teilen erschienen wöchentlich

von Januar bis Ostern die Stationen der Fluchtgeschichte. Der Titel lautete „Es

geschah bei uns im Münsterland - Der Leidensweg einer jüdischen Familie

1939-1945“. Neben der Titelzeile wurde ein abgetrennter Judenstern, wie ihn

die Menschen in der NS-Zeit tragen mußten, abgebildet.

Die Wochenzeitung beschäftigt sich hauptsächlich mit religiösen Themen,

christlichen Aufgaben und kirchlichen Fragen. Zum Leserkreis gehören

Katholiken aus der vornehmlich ländlich geprägten Bevölkerung des

Münsterlandes.

Der erste Teil der Fortsetzungsgeschichte wird mit den folgenden Zeilen

eingeleitet.

„NA SCHÖN: DAS MIT DEN JUDEN WAR EIN UNRECHT. ABER WIR SOLLTEN

ENDLICH EINEN SCHLUßSTRICH ZIEHEN. WIR KÖNNEN DOCH NICHT BIS

IN DIE DRITTE UND VIERTE GENERATION AN UNSERER SOGENANNTEN

SCHULD TRAGEN.“

Gewiß, diese Sätze kommen uns bekannt vor: ein verbreiteter und populärer Standpunkt

in Sachen „Vergangenheitsbewältigung“. Mag sein, daß wir uns auf diese Weise

beruhigen können – das unermessliche Leid, das Menschen von Menschen in unserem

Lande angetan worden ist, steht aber nach wie vor mitten unter uns. Es sollte uns

zumindest Mahnung sein. Mahnung daran, was geschehen kann, wenn Gottes Gesetze

missachtet und mit Füßen getreten werden. Darum beginnen wir heute mit dem

Abdruck eines Tatsachenberichtes, der uns mitten hineinführt in die Zeit des braunen

Terrors. Eine jüdische Frau erzählt die Leidensgeschichte ihrer Familie, eine der

wenigen, die den Sturm überlebte. Ein Bericht, der uns umso näher gehen wird, als er

seinen Schauplatz im Herzen des Münsterlandes hat. Ein Bericht, der, soviel

Grauenvolles er offenbart, auch tröstlich stimmt; spricht doch aus ihm echte

Menschlichkeit. So wird in diesem Beitrag allen jenen, die in den Jahren der Angst ihre

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Christenpflicht nicht vergaßen und die Verfolgten bei sich aufnahmen, ein Denkmal

gesetzt.“

Die darauf folgenden 16 Fortsetzungen kommentiert die Redaktion nicht mehr.

Ab und zu werden von der Redaktion Fotos von Konzentrationslagern mit

kurzen Erläuterungen oder Buchvorstellungen beigesteuert, die Inhalte aus der

Zeit des kirchenfeindlichen Regimes im Nationalsozialismus aufgreifen.

Die Veröffentlichung der Fortsetzungsgeschichte wurde zweifach begründet.

Zum einen sollte sie daran erinnern, dass das Leid der verfolgten und

ermordeten Juden zusammenhängt mit dem Ungehorsam der Christen, die

Gottes Gesetze nicht befolgten. Wahre Christen begehen solche Untaten nicht.

Zum anderen sollte sie auch all denen ein Denkmal setzen, die sich an ihre

„Christenpflicht“ erinnert hatten, insbesondere den fünf Bauern aus dem

Bistum Münster. Ein weiterer, in der Einleitung nicht erwähnter und aktueller

Grund, war vermutlich die Ehrung der Bauern in Jerusalem im Jahre 1965. (s.

Seite 34f). Ihnen wird nicht nur in Yad Vashem ein Denkmal gesetzt, Beitrag

und Einsatz zur Rettung der Familie wird in Frau Spiegels von Dankbarkeit

geprägtem Bericht ganz deutlich hervorgehoben.

Die Motive der Bauern werden in der Einleitung ganz unmissverständlich aus

dem christlichen Glauben abgeleitet. Das deckt sich mit den Aussagen der

Zeitzeugen und der Nachkommen, die ebenfalls davon überzeugt sind, dass die

Motive im Glauben begründet waren.

Die Begrifflichkeiten Retter und Helden werden auch hier zusammen benutzt.

Allerdings möchte man den Begriff Helden mit Anführungszeichen versehen,

denn die Bauern haben „ihre Christenpflicht“ erfüllt, eigentlich nicht mehr

getan als selbstverständlich war. Offensichtlich war es unter diesen Umständen

aber mehr als das. Die Bauern werden in ihrer Rolle als Christen als vorbildlich

dargestellt.

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Projekte und Aktionen Am 1.5.2008 veröffentlicht das Online-Stadtmagazin, www.echo-muenster.de,

einen Artikel, der die öffentliche Ehrung der Bauern in den Mittelpunkt stellt.

Der Artikel versteht sich als eine „Hommage“ an die sogenannten „stillen

Helden“ und „couragierten Retter“. Der Anlass für diesen Beitrag ist eine

Ausstellung, bei der auch die Familien und deren Nachkommen vertreten

waren.

Auszüge aus dem Artikel von Andrea Kutzendörfer:

„Sie heißen Silkenbömer, Sickmann, Aschoff, Pentrup und Südfeld und haben die jüdische Familie Spiegel vor dem Tod bewahrt. „Untergetaucht – Kämpferherz und Rettermut“ heißt der Titel einer Ausstellung, die von ihnen erzählt. Bei der Eröffnungsfeier im Foyer des Stadthauses waren sie, die „stillen Helden", anwesend. Aber sie mochten nicht nach vorne treten - trotz eindringlicher Bitten von Marga Spiegel. „Es ist ein Wunder, dass Sie hier sind.“ Aufmerksam lauschte Spiegel, die in der ersten Zuschauerreihe saß, diesen und anderen Worten der Redner. Freundlich lächelte sie. Von 1943 bis 45 waren sie, ihr Mann Siegmund und ihre Tochter Karin, von fünf Bauernfamilien im südlichen Münsterland vor den Nationalsozialisten versteckt worden. In dem Buch „Retter in der Nacht“ hatte die heute 94-Jährige, die mit ihrer Familie in Ahlen lebte, persönliche Erinnerungen an diese Zeit niedergeschrieben. Grundlage für die Suche nach den „unbesungenen Helden“, auf die sich Schüler des Annette-Gymnasiums im Rahmen ihres Geschichtsunterrichts nun begeben hatten.

Ins Rollen brachte das Projekt ein Wettbewerb der Berliner Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, die auch Geld bereit stellte. Projektträger war das Evangelische Jugendreferat, Unterstützung leisteten neben anderen die Stadtverwaltungen von Münster und Rishon le Zion, Münsters Partnerstadt.In der Ausstellung dokumentieren die Schüler ihre Arbeit in Form von Schrift- und Bildtafeln. Sie hatten an „Originalschauplätzen“, auf den Höfen in Ascheberg, Nord- und Südkirchen sowie in Herbern, Interviews mit den Menschen geführt, die die Spiegels versteckt und versorgt hatten.

„Wir wollten wissen, welche – vor allem weniger bekannten - Männer und Frauen sich trotz Krieg und Diktatur für Menschenrechte einsetzten“, erläuterten die Annette-Schüler, die zwischen 16 und 19 alt sind. „Es war sehr riskant, was die Bauern getan haben. Wir wollten etwas über ihre Beweggründe erfahren“, erzählten Nikolas Neuhaus und Tilo Backhaus. Die Antwort haben die Schüler gefunden: „Sie haben es schlichtweg aus Nächstenliebe getan. Sie haben gesagt: Andere hätten auch so gehandelt. Und sie haben uns erzählt, dass sie Siegmund Spiegel, den Pferdehändler, kannten. Er sei immer ein fairer Geschäftspartner gewesen.“

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Am 9. November 2008, dem Jahrestag der Pogromnacht, der sogenannten

Reichskristallnacht, sechzig Jahre zuvor, wurde diese Urkunde, die nun im

Haus der Familie Silkenbömer einen Platz hat, den fünf Familien verliehen.

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Meinungen und Haltungen aus der Umgebung- eine Umfrageaktion

An einem denkwürdigen Tag, dem 9. November 2008, dem Tag, an dem den

Bauern die Ehrenmedaille der Stadt Ahlen verliehen wurde und an dem sich

die Pogromnacht zum 60. Male jährte, veranstaltete unsere Schule den Tag der

offenen Tür. An diesem Tag besuchen sehr viele Menschen die Schule. Eltern

zukünftiger Schüler, ehemalige Schüler, Eltern der jetzigen Schüler,

Interessierte und Neugierige sehen sich die Räumlichkeiten der Schule an, in

denen Projekte, Aktionen, Ausstellungen, unterrichtliche und

außerunterrichtliche Dinge vorgestellt werden. In jedem Jahr ist das der zweite

Sonntag im November. Dieses Mal war es der 9. November – Zufall?

Wir hatten nicht lange zuvor mit unserem Beitrag zum Geschichtswettbewerb

begonnen und wollten die Gelegenheit nutzen, die vielen Besucher zu ihren

Ansichten über Helden zu befragen. Wir richteten eine Heldenwerkstatt ein.

Um möglichst viele Menschen in unseren etwas abseits gelegenen Klassenraum

zu locken, stellten wir eine lebensgroße Pappfigur auf, deren Gesicht mit einem

Spiegel verklebt war. Darüber konnte man die Frage lesen - wer ist ein Held?

Im ganzen Raum stellten wir Bilder von möglichen und unmöglichen Helden

aus. Maulhelden, Frauenhelden, Volkshelden, Leinwandhelden,

Glaubenshelden, Kriegshelden….. Unsere Dekoration war auffällig in Gold

gehalten. Auf den Tischen befanden sich Materialien und Zeitungsartikel, die

über den Film „Unter Bauern“, Auskunft gaben. Das Buch Marga Spiegels und

Bücher über Nationalsozialismus, Holocaust und Widerstand sowie die Hefte

zum Geschichtswettbewerb lagen zur Lektüre aus.

Kaum ein Besucher sagte nein zur Bitte einen Fragebogen auszufüllen.

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Fragebogen

FRAGEBOGEN: „HELDENWERKSTATT“FRAGEBOGEN: „HELDENWERKSTATT“FRAGEBOGEN: „HELDENWERKSTATT“FRAGEBOGEN: „HELDENWERKSTATT“

Alter: Ort: männlich: ���� weiblich: ����

Was sind Helden? Wer ist ein Held? Was zeichnet einen Helden aus?_____________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Wer ist für Sie ein Held?____________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Was ist für Sie eine „Heldentat“?______________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Haben Sie von den Dreharbeiten zu dem Film „Unter Bauern“ gehört? Ja � Nein � Würden Sie die Familienmitglieder, die im Münsterland Juden Schutz gewährt haben, als Helden bezeichnen? Ja � Nein � Weiß nicht �

Insgesamt nahmen 54 Personen an unserer Befragungsaktion teil. Für fast alle

Erwachsenen waren die Eigenschaften Tapferkeit, Mut und Uneigennützigkeit

und Selbstlosigkeit Eigenschaften, die einen Helden auszeichnen. Den jüngeren

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Befragten war der Mut das Wichtigste. Sie nannten häufig ihre Großeltern,

Supermann, Erfinder oder Feuerwehrmänner als Helden, während die Älteren

Lebensretter angaben. Eine Heldentat war für viele Befragte sein Leben für

andere zu opfern, Menschen zu retten, Kriege zu verhindern oder auch Alte

und Kranke zu pflegen, sich für andere einzusetzen und Zivilcourage zu

zeigen.

Von den 54 Fragebögen waren 36 von Erwachsenen, 18 von Kindern und

Jugendlichen ausgefüllt.

Haben Sie von den Dreharbeiten zu dem Film „Unter Bauern“ gehört?

58 % der Erwachsenen gaben an von den Dreharbeiten zu dem Film „Unter

Bauern“ nichts gehört zu haben.

72% der Kinder und Jugendlichen wussten ebenfalls nichts von den

Dreharbeiten.

Würden Sie die Familienmitglieder, die im Münsterland Juden Schutz gewährt haben, als Helden bezeichnen?

100 % der Erwachsenen kreuzten Ja an

51% der Kinder und Jugendlichen entschieden sich für Ja.

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Helfer, Retter oder Helden – der Versuch einer Bewertung

Auf der Grundlage der in den Materialien durchscheinenden Begründungen,

was die Bauern veranlasst haben könnte, liegt es nahe, die Motive im

christlichen Glauben anzusiedeln. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“,

wurde von ihnen in die Praxis umgesetzt.

Das machte sie zu Helfer, denn für Christen ist es selbstverständlich anderen zu

helfen. Retter wurden sie, weil durch ihre Hilfe Menschenleben gerettet

wurden.

Das allein machte sie aber nicht zu Helden. Der Begriff Heldentum und was

dahinter steckt, ist nicht einfach zu bestimmen. Wir denken, es hat viel damit zu

tun, wie andere Menschen das sehen und beurteilen. Die Mitmenschen oder die

Nachkommen bewerten und beurteilen das später, wenn die Umstände besser

bekannt sind. Die Bauern haben sich nicht selbst als Helden gesehen oder sich

so bezeichnet. Aus den Interviews geht ganz klar hervor, dass sie sich zwar der

Gefahr, in die sie sich und ihre Familien gebracht haben, sehr wohl bewusst

waren, dennoch empfanden sie ihre Unterstützung nicht als heldenhaft. Erst

als niemand mehr vor dem Ausmaß der Judenverfolgung und

Judenvernichtung und den unmenschlichen Zügen des Nationalsozialismus die

Augen verschließen konnte, wurde die Heldenhaftigkeit der Bauern immer

deutlicher von außen heraus gestellt.

„Ein Held ist jemand, der durch hervorragende Einzelleistungen Vorbild für

andere ist“, diese Definition haben wir im Lexikon gefunden. Hätten viele

Menschen damals so reagiert, hätte dieses grausame System nicht lange

bestehen können.

Diese hervorragende Einzelleistung ist etwas, was wir auch heute als

heldenhaft ansehen. Das haben die Ergebnisse unserer Umfrage ganz deutlich

gezeigt.

Wir sind zu der Schlussfolgerung gekommen, dass die Bauern sich damals

durch ihren Mut als Helfer und Retter in ihrer Umgebung beispiellos

hervorgetan haben und deswegen heute als wahre Helden zählen können.

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Quellenangaben und Literaturverzeichnis Bild- und Tonquellen Abb. 1,2,3,4,5,6,8 – Heimatverein Nordkirchen Abb.7 Privatbesitz eines Nordkirchener Bürgers Fotos: Constantin Götsch: Nordkirchen, Hof Silkenbömer und Umgebung, Urkunde der Stadt Ahlen Schriftliche Quellen und Tonquellen Kirche und Leben, Bistumsblatt Münster, 20. Jahrgang, Nr.1-Nr.52 (1965) Heimathausarchiv Südkirchen/Capelle Leserbrief von Herrn Spiegel an die Redaktion von „Kirche und Leben“ – Privatbesitz Tonbandaufnahme – Interview des WDR – Privatbesitz Mündliche Quellen(Zeitzeugen) Zurmühlen, Elisabeth, geb. 1923 ( Capelle) Silkenbömer, Bertold (Nordkirchen) Literatur Heiko Buschke, Deutsche Presse, Rechtsextremismus und nationalsozialistische Vergangenheit in der Ära Adenauer, Frankfurt a. M. 2003. Marga Spiegel, Retter in der Nacht, Wie eine jüdische Familie im Münsterland überlebte. in: Diethard Aschoff (Hrsg.), Geschichte und Leben der Juden in Westfalen, Bd. 3, Münster 1999. Juden im Kreis Coesfeld, Beiträge zur Landes- und Volkskunde des Kreises Coesfeld, Bd. 24, Coesfeld 1990. Lexikon der Gerechten unter den Völkern, Deutsche und Österreicher, mit einem Nachwort von Bundespräsident Horst Köhler. Hrsg.Daniel Fraenkel (Deutsche) und Jakob Borut (Österreicher), Göttingen 2005. Internet www.heimatverein-gemeinde-nordkirchen.de

www.dhm.de/lemo (Widerstand gegen den Nationalsozialismus)

www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/Internet/

www.echo-muenster.de (Das Online Stadtmagazin)

www.muensterland.de KREIS COESFELD, Nordkirchen

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