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Helene Timmermann 4. Niedersächsischer Psychotherapeutentag 14.09.3013 1 „...komischerweise kann ich mich überhaupt nicht erinnern.“ Biographische Strukturen und transgenerationale Weitergaben in Lebensgeschichten von Eltern psychoanalytisch behandelter Kinder Einleitung In psychotherapeutischen Behandlungen mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen stoßen wir auf Phänomene emotionaler Sprachlosigkeit, die sich weder durch die Analyse der inneren Konflikte, noch der Familiendynamik, noch der aktuellen Lebenssituation erklären lassen. Man steht vor einem Rätsel. Beginnt man sich aber für die Familien- und Lebensgeschichte dieser Patienten zu interessieren, kann sich ein neuer Zugang zu den oft schwierig zu handhabenden emotionalen Blockaden der Patienten bei Kindern und Jugendlichen vor allem auch der Eltern der Patienten eröffnen. Im Rahmen einer qualitativen Forschungsstudie habe ich mit den Eltern von psychoanlytisch behandelten Kindern nach Abschluss der Langzeit-Therapien narrative Interviews durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass in allen Familien in den Vorgenerationen reale traumatische Erfahrungen stattgefunden hatten. Diese Ereignisse wurden in den Interviews zwar erwähnt wie z. B. „ich glaube meine Mutter ist als Waise aufgewachsen“, aber i. d. R. war in den Familien weder darüber berichtet, noch davon erzählt und mit den Kindern über die Ereignisse und die Erlebnisse gesprochen worden.

Helene Timmermann 4. Niedersächsischer ... · mehr oder weniger versteckten Hinweise auf transgenerationale Weitergaben aufzuspüren und zu interpretieren. Um die Vorgehensweise

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Helene Timmermann 4. Niedersächsischer Psychotherapeutentag 14.09.3013

1

„...komischerweise kann ich mich überhaupt nicht erinnern.“

Biographische Strukturen und transgenerationale Weitergaben in

Lebensgeschichten von Eltern psychoanalytisch behandelter Kinder

Einleitung

In psychotherapeutischen Behandlungen mit Kindern, Jugendlichen und

Erwachsenen stoßen wir auf Phänomene emotionaler Sprachlosigkeit, die sich

weder durch die Analyse der inneren Konflikte, noch der Familiendynamik,

noch der aktuellen Lebenssituation erklären lassen. Man steht vor einem Rätsel.

Beginnt man sich aber für die Familien- und Lebensgeschichte dieser Patienten

zu interessieren, kann sich ein neuer Zugang zu den oft schwierig zu

handhabenden emotionalen Blockaden der Patienten – bei Kindern und

Jugendlichen vor allem auch der Eltern der Patienten – eröffnen.

Im Rahmen einer qualitativen Forschungsstudie habe ich mit den Eltern von

psychoanlytisch behandelten Kindern nach Abschluss der Langzeit-Therapien

narrative Interviews durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass in allen Familien in

den Vorgenerationen reale traumatische Erfahrungen stattgefunden hatten. Diese

Ereignisse wurden in den Interviews zwar erwähnt wie z. B. „ich glaube meine

Mutter ist als Waise aufgewachsen“, aber i. d. R. war in den Familien weder

darüber berichtet, noch davon erzählt und mit den Kindern über die Ereignisse

und die Erlebnisse gesprochen worden.

Helene Timmermann 4. Niedersächsischer Psychotherapeutentag 14.09.3013

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Ich begann mich zu fragen, welche Bedeutung die traumatischen Erfahrungen

der Großeltern für die Eltern der Patienten oder die Patienten selbst haben

könnten, wie die emotionalen Erfahrungen, wenn nicht direkt, so doch auf

unbewusstem Wege weitergegeben werden und wie sie sich in den

Behandlungen zeigen.

Zunächst begann ich mich für die realen Erfahrungen zu interessieren. Im

Rahmen der Forschungsarbeit befragte ich die Eltern von Patienten, später auch

Großeltern, um eine solidere Basis für die Auswertung und die Interpretation zu

bekommen.

Methodisch wurde für die Erhebung der Daten die Methode des narrativ-

biographischen Interviews gewählt.

Die Auswertung erfolgte auf der Grundlage struktural-hermeneutischer

Fallrekonstruktion, bei der hermeneutische mit textanalytischen Verfahren

verknüpft werden.

Bei der Wahl der Methode war mir wichtig, die Wechselwirkungen zwischen

Individuum und Gesellschaft zu berücksichtigen und mich nicht auf

innerpsychische oder familiendynamische Prozesse zu begrenzen.

Überblick: FOLIE

Einleitung

Fallgeschichte

Theoretischer Hintergrund (Forschungsmethode & Traumakonzepte)

Hinweise auf transgenerationale Weitergaben in den Interview-Texten

Wie lassen sich die Ergebnisse für die therapeutische Arbeit nutzen?

Helene Timmermann 4. Niedersächsischer Psychotherapeutentag 14.09.3013

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Zur Verdeutlichung beginne ich mit einer Fallgeschichte:

Mona1 ist sechs Jahre alt. Am Tag ihrer Einschulung in die erste Klasse

bekommt sie einen Angstanfall. Sie schreit und weint und lässt sich stundenlang

nicht beruhigen. Seit einigen Wochen leidet sie unter traurigen und gereizten

Stimmungen. Sie beginnt schon bei kleinen Anlässen zu weinen, reagiert

ängstlich oder aggressiv, ohne einen für die Eltern ersichtlichen Grund. Es fällt

ihr schwer, sich zu entscheiden, zum Beispiel ob sie ein rotes oder grünes T-

Shirt anziehen oder ob sie rausgehen oder zuhause bleiben möchte. Außerdem

ist sie auffallend anhänglich.

In der Familie hatte sich in den letzten Wochen und Monaten einiges verändert:

Zuerst der Umzug in eine andere Stadt, weil ihr Vater dort eine Stelle

bekommen hat. Dann der Tod des Opas, des Vaters ihrer Mutter. Monas Mutter

war nach dem Umzug an einer Lungenentzündung erkrankt und konnte sich

dadurch weniger um die Tochter kümmern als es sonst der Fall gewesen wäre.

Hinzu kam, dass Mona durch den Umzug nicht mehr mit ihren Freunden aus

dem Kindergarten spielen konnte und dass sie die Großeltern, die sie vorher

häufig betreut hatten, nun nicht mehr regelmäßig besuchen konnte.

Also insgesamt viele Irritationen und Veränderungen, die Mona verkraften

musste - aber warum diese Heftigkeit der Symptomatik?

Die besorgten Eltern konsultieren eine Erziehungsberatungsstelle, lassen sich

dort beraten und melden die Tochter zu einer Kinderpsychotherapie an. Sie

finden zeitnah einen Therapieplatz bei einer bei einer analytischen

1 Die Namen der Personen sind geändert

Helene Timmermann 4. Niedersächsischer Psychotherapeutentag 14.09.3013

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Kinderpsychotherapeutin, die Mona wegen einer beginnenden Angststörung ca.

zwei Jahre lang behandelt.

Was war geschehen?

Warum wird Mona psychisch krank, obwohl sie zusammen mit ihrer jüngeren

Schwester in einer intakten Familie aufwächst, liebevolle Eltern und Großeltern

hat, die ihr bei den anstehenden Problemen helfen und ihr sichere Beziehungen

anbieten? Warum schafft sie den nächsten Entwicklungsschritt nicht, den

Übergang in die Schule? Und warum wirken sich die genannten äußeren

Veränderungen derart gravierend aus?

Ohne eine - zu diesem Zeitpunkt möglicherweise schon vorliegende -

innerpsychische Konfliktproblematik zu ignorieren, möchte ich hier den Blick

auf die familiären Strukturen richten und mich auf mögliche Ursachen der

Problematik in der Eltern- und Großelterngeneration konzentrieren.

Genogramm Familie Heldmann FOLIE 3-4-5-6

In diesem Genogramm sind vier Generationen graphisch dargestellt. In der

unteren Reihe Mona und ihre Schwester, darüber die Eltern Lara und Rainer. In

der Zeile darüber die Großeltern und in der oberen Reihe die Urgroßeltern.

Aus dem Genogramm ist zu ersehen, dass es sich um eine Familie der sozialen

Mittelschicht handelt. Monas Eltern stammen beide aus Familien in denen die

Eltern und Großeltern den Zweiten Weltkrieg erlebt haben und zumindest ein

Elternteil von Flucht und Vertreibung betroffen war. Auffallend ist, dass Lara

und Rainer wenig über das Schicksal ihrer Eltern wissen.

Helene Timmermann 4. Niedersächsischer Psychotherapeutentag 14.09.3013

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Für die Forschungsarbeit wurden Interviews mit Laras Eltern und den beiden

Großmüttern durchgeführt. Die Großväter wurden nicht befragt, da Laras Vater

bereits verstorben war.

Ich werde später an einigen Textsequenzen zeigen, wie ich versucht habe die

mehr oder weniger versteckten Hinweise auf transgenerationale Weitergaben

aufzuspüren und zu interpretieren.

Um die Vorgehensweise nachvollziehbar zu machen, zunächst einige

Anmerkungen zur Methode und zu psychoanalytischen Traumakonzepten, die

ich zusätzlich zur Methode der biographischen Fallrekonstruktion zur

Interpretation der Texte herangezogen habe.

Theoretischer Hintergrund

Die Forschungsmethode

FOLIE 7

Als Forschungsmethode zum Erfassen der sozialisatorischen Prozesse und deren

Verortung im Lebenslauf erweisen sich Methoden der qualitativen

Sozialforschung als geeignet. Die Rekonstruktion der Lebensgeschichten von

Eltern und Großeltern der erkrankten Patienten ermöglicht einen Zugang, der die

Erfahrungen der Biographen im Lebenslauf zugrunde legt und die

wechselseitige Bedingtheit der Zirkularität von Individuum und Gesellschaft

berücksichtigt.

FOLIE 8

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Zur Datenerhebung wurde die Methode des narrativ-biographischen Interviews

gewählt. Dabei wird der/die Befragte aufgefordert, seine Familien- und

Lebensgeschichte zu erzählen. Das Interview besteht aus einer freien Eingangs-

oder Haupterzählung und einem Nachfrageteil.

FOLIE 9

Die Datenauswertung erfolgte auf der Grundlage struktural-hermeneutischer

Fallrekonstruktion, bei der hermeneutische und textanalytische Verfahren

miteinander verknüpft werden.

Die Analyse der Daten erfolgt in sechs Schritten:

1. Biographische Datenanalyse

2. Text- und thematische Feldanalyse

3. Rekonstruktion der Fallgeschichte

4. Feinanalysen

5. Kontrastierung

6. Typenbildung

FOLIE 10

Bei dieser Vorgehensweise ist die Unterscheidung in

FOLIE 11

gelebte (Biographische Daten),

erzählte (Selbstpräsentation in der Eingangserzählung im Interview)

erlebte Lebensgeschichte (Rekonstruktion des Lebenslaufes) zentral.

Die Unterschiede werden in verschiedenen Auswertungsschritten

herausgearbeitet und später miteinander verglichen (Kontrastierung). Dadurch

Helene Timmermann 4. Niedersächsischer Psychotherapeutentag 14.09.3013

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wird der Fall aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und damit versucht,

ihm in seiner Komplexität Rechnung zu tragen.

Zusätzlich zu dieser qualitativen Forschungsmethode nehme ich Bezug auf

psychoanalytische Traumakonzepte. Sie erklären am Genauesten die

intrapsychischen und interpersonellen Prozesse bei der Weitergabe

traumatischer Erfahrungen und greifen dort, wo m. E. systemische Ansätze nicht

ausreichen.

Hervorheben möchte ich dabei, dass es nicht um lineare Weitergaben von einer

älteren Generation an die nächst jüngere geht, der die Jüngeren ausgeliefert sind,

sondern dass es sich auch hier um zirkuläre Prozesse handelt. Manche Kinder

grenzen sich mehr ab als andere, was sich gut erkennen lässt, wenn mehrere

Geschwister in einer Familie leben. Die Unterschiede ergeben sich aus der

jeweiligen Beziehungsqualität zwischen Eltern und Kind bzw. zwischen einem

Elternteil und einem bestimmten Kind.

Einige Anmerkungen zu psychoanalytischen Traumakonzepten

Die Auseinandersetzung mit dem psychischen Trauma durch äußere

Einwirkungen, wie politische und soziale Gewalt, hatte in der Psychoanalyse

lange einen nachrangigen Stellenwert. Erst durch die Folgen der Katastrophen

des vergangenen Jahrhunderts, die beiden Weltkriege, die Verbrechen des

nationalsozialistischen Regimes, den Holocaust, Bombardierung, Vertreibung,

Flucht und Verfolgung sowie ein wachsendes Bewusstsein für soziale Gewalt in

Familien, wie Misshandlung und sexueller Missbrauch, hat seit den 80er Jahren

auch im deutschsprachigen Raum ein Umdenken begonnen. Inzwischen finden

Helene Timmermann 4. Niedersächsischer Psychotherapeutentag 14.09.3013

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sich auch in der psychotherapeutischen und psychoanalytischen Fachliteratur

zahlreiche Veröffentlichungen zu diesem Thema.

FOLIE 12

Fischer und Riedesser definieren ein psychisches Trauma als ein

„vitales Diskrepanzerleben zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den

individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit

und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von

Selbst- und Weltverständnis bewirkt.“ (Fischer, G. & Riedesser, P. 2003:82).

FOLIE ?

Für die Behandlungstechnik in psychodynamischen Therapien setzt sich

zunehmend die Auffassung durch, dass die Aufdeckung der Realität des

Traumas, seine Historisierung, die Voraussetzung ist, „um seine sekundäre

Bearbeitung und Überformung mit un- bewussten Phantasien und Bedeutungen,

die Schuldgefühle und Bestrafungstendenzen beinhalten, aufzuklären und

verstehbar zu machen“ (Bohleber 2003: 29).

Dies gilt für Erwachsene als auch für Kinder und Jugendliche. Kinder und

Jugendliche können noch weniger als Erwachsene das traumatisierende

Geschehen als von außen kommend abgrenzen. Je jünger Kinder während der

traumatisierenden Ereignisse sind, desto weniger sind sie in der Lage,

Schutzfaktoren als Ressourcen zu nutzen. Dazu kommt, dass sich Kinder in die

Situation der Eltern einfühlen und sich mit ihnen identifizieren. Da es sich dabei

um unbewusste Prozesse handelt, besteht keine Möglichkeit der Reflexion und

Auseinandersetzung. Allenfalls spüren die Kinder eine Fremdheit gegenüber

Helene Timmermann 4. Niedersächsischer Psychotherapeutentag 14.09.3013

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sich selbst oder entwickeln psychische und psychosomatische Symptome oder

Verhaltensauffälligkeiten. Diese können günstigenfalls in einer Kinder- oder

Jugendlichenpsychotherapie, in die auch die Eltern einbezogen sind, behandelt

werden. Voraussetzung ist, dass bei den Therapeuten Interesse an den

Lebensgeschichten der Eltern- und Großelterngenerationen, sowie deren

Delegationen und unbewussten transgenerationalen Verknüpfungen besteht.

Kinder sind emotional eng mit ihren Eltern verbunden und tragen einen Teil der

Last, wenn Eltern und Großeltern traumatisiert sind. Da extreme

Traumatisierungen die seelische Verarbeitungsfähigkeit der Traumatisierten

übersteigt, dringen sie auch in das Leben der nachfolgenden Generation ein.

Selbst bei Eltern, die massive Traumata durch psychische Abwehrmechanismen

wie zum Beispiel Verleugnung und Derealisierung abwehren,

„erfassen die Kinder unbewusst das Erlittene, bearbeiten Anzeichen mit

ihrer Fantasie und agieren diese Fantasien in der äußeren Welt aus. Diese

Kinder leben in zwei Wirklichkeiten, der eigenen und der, die der

traumatischen Geschichte der Eltern angehört“ (Bohleber 2008: 111).

Der Transfer von Eltern zu Kindern findet über unbewusste

Identifizierungsprozesse statt. Identifizierung ist einer der zentralen

Mechanismen, der die Generationen miteinander verknüpft (Bohleber 2008:

111; Reich et al. 1996: 230).

Dabei gehe ich davon aus, dass Kinder sich nicht mit dem gesamten Erleben der

Eltern und ihren Rollen und Funktionen identifizieren, sondern beide, Kinder

und Eltern an einem zirkulären Prozess beteiligt sind, in dem sie wechselseitig

dazu beitragen, dass sich bestimmte Identifizierungen entwickeln. Kinder

entwickeln eine sehr unterschiedliche Sensibilität in Bezug auf die Probleme

ihrer Eltern und sind in unterschiedlicher Weise an diese gebunden. Dies erklärt

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auch, warum Geschwister in unterschiedlicher Weise in die Traumata der Eltern

involviert sind.

Hinweise auf transgenerationale Weitergaben in den Interview-Texten

Zur Verdeutlichung möchte ich nun exemplarisch einige Sequenzen aus dem

Interview mit Rainer und Lara – den Eltern von Mona - vorstellen.

Das erste Interview führte ich mit Rainer (da ich auch die Väter zu Wort

kommen lassen wollte). Rainer ist ein sympathischer, schlanker und sportlich

wirkender Mittdreißiger der mich in Jeans und Lederjacke auf dem Campus der

Universität erwartet, um mir dann seine Familien- und Lebensgeschichte zu

erzählen.

Sobald ich die Technik aufgebaut habe, beginnt er ohne Zögern zu sprechen. Er

spricht konzentriert, sachlich und konturiert vorwiegend in der Textform des

Berichts und der Argumentation. Dreimal sind kurze Erzählsequenzen

eingeflochten, wie sich später zeigt in Passagen, die ihn emotional berühren.

Während des gesamten Interviews ist kaum eine emotionale Bewegung zu

erkennen. Thematisch spricht er – nach Nennung seines Alters, des Geburtsortes

und seines jüngeren Bruders, ausführlich über seine Schul- und Berufslaufbahn.

Dann über die Partnerschaft und seine Rolle als Vater von zwei Töchtern.

Mir fällt auf, dass er seine Eltern während der gesamten Eingangserzählung

nicht erwähnt, allenfalls einmal in der dritten Person indem er sie als

„Verwandtschaft“ bezeichnet.

Dieses ‚verschweigen’ der Eltern macht mich stutzig und neugierig: Einerseits

weiß ich, dass Rainers Eltern die junge Familie durch die Betreuung der Enkel

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tatkräftig unterstützt haben und andererseits scheinen sie nicht wichtig zu sein

oder gar nicht zu geben. Wie passt das zusammen?

Auf gezieltes Nachfragen im Nachfrageteil und die Bitte doch noch etwas über

seine Eltern zu erzählen, kommt er der Aufforderung insofern nach, als er deren

gesellschaftliche Schichtzugehörigkeit benennt:

FOLIE 13

# gut # (1) gu:t, ja, also meine Eltern sind ich weiß nicht wie man=s bezeichnen

würde- (2) Mittelschicht (1) was auch immer’ also=mein Vater ist Ingenieur

meine Mutter ist- (1) war, Sachbearbeiterin (6/1-3)

Ich reagiere irritiert und ungeduldig, frage erneut nach und erfahre dann, dass

beide Eltern während des 2. Weltkriegs geboren wurden und seine Mutter als

Waise aufgewachsen ist. Mehr sagt er nicht.

Nach nochmaligem Nachfragen schildert er die Beziehung zu seiner Mutter

folgendermaßen:

FOLIE 14

Meine Mutter war, wie, in vielen typischen Familien immer so der Puffer (1)

wenn=s irgendwelche Probleme gab dann wurde meine Mutter,

angesprochen die musste das dann weitergeben’ /m/, aber so der direkte

Kontakt der war irgendwie nie-, also die Kommunikation hat nicht geklappt

und ist heute noch, nicht einfach aber es belastet mich nicht, mehr so... (7/31-

35)

Seine Äußerung über die Kommunikation, die nicht geklappt hat, was ihn aber

heute „nicht mehr so belastet“ lässt darauf schließen, dass es ihn früher belastet

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hat. Möglicherweise hat er als Kind und Jugendlicher darunter gelitten, hat

etwas vermisst, das er aber damals nicht aussprechen konnte. Was er damit

meint und was in der Kommunikation nicht geklappt hat, ist zunächst nicht zu

erfahren. An späterer Stelle im Interview wird er konkreter indem er erwähnt,

dass er sich heute noch fragt ob seine Eltern überhaupt Interesse an ihm gehabt

hätten. Irgendwie hätten sie wohl schon Interesse gehabt, aber das sei nie

ausgesprochen worden.

Einmal neugierig geworden fragt die Interviewerin nun weiter

FOLIE 15

I: können Sie noch was dazu erzählen wie das früher war als

Sie, Kind waren?

B: ja also, erinnern tu ich

halt nur dass=also wenig- dass=ich wenig mit meinem Vater irgendwie- (1)

´oder wir mit meinem Vater irgendwie:: wenig-´ (1) ´weiß=ich nicht´ (1) ( )

äh (3) weiß=nicht über Schule über Dinge die wir so=gemacht haben, geredet

haben /m/ \((sehr leise:)) (komischerweise kann=ich mich überhaupt nicht

erinnern)\ (10/5-9)

Hier scheint er selbst nachdenklich und irritiert über sein mangelndes

Erinnerungsvermögen, was sich im Absenken der Stimmlage und das

eingefügte „komischerweise“ ausdrückt. Offensichtlich ist die Beziehung

zwischen ihm und seinem Vater einerseits durch Zuverlässigkeit und

Verlässlichkeit gekennzeichnet und andererseits durch emotionale Kargheit,

Distanz und Sprachlosigkeit.

Der Biograph bleibt beim Thema und sucht in seinem Gedächtnis nach

Erinnerungen. Er stockt, wiederholt sich, versucht sich irgendwie diesem

Thema anzunähern aber es fällt ihm sichtlich schwer. Der Vater fällt ihm ein

Helene Timmermann 4. Niedersächsischer Psychotherapeutentag 14.09.3013

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und vermutlich der Bruder, vielleicht auch die Mutter, denn er erweitert die

Frage auf ein „Wir“. Aber auch dieser Einfall hilft nicht wirklich weiter. Es

scheint so, als habe er jegliche Erinnerungen an seine Kinderzeit verdrängt.

Weder fallen ihm Szenen mit den Eltern ein, noch mit dem Bruder, die ihn

zum Erzählen veranlassen könnten. Alles bleibt karg und auf wenige Fakten,

wie die Schule beschränkt. Aber auch dieser Aufhänger löst keine weiteren

Assoziationen aus. Diese Sprachlosigkeit scheint ihm schließlich selbst

aufzufallen, denn er wird immer zaghafter, was in der Passage wenig-´ (1)

´weiß=ich nicht´ (1) ( ) äh (3) zum Ausdruck kommt.

Immerhin versucht er eine Verbindung zum Thema Schule herzustellen und

zu etwas, was er mit dem Vater gemacht haben oder besprochen haben

könnte. Aber auch das hilft nicht weiter, denn noch nicht mal’ über das was

die Söhne so=gemacht hatten, konnten sie mit dem Vater sprechen und sich

austauschen. Auch zur Mutter fällt ihm nichts ein, das ihn aus dieser

ausweglosen Situation retten könnte.

Schließlich wechselt er im letzten Abschnitt des Satzes die Ebene, indem er

ausspricht und zu reflektieren versucht, was gerade geschieht:

/m/ \((sehr leise:)) komischerweise kann=ich mich überhaupt nicht

erinnern.

In dem nachdenklichen ‚komischerweise’ signalisiert er, dass er selbst

erstaunt ist über seine Erinnerungslücken. Dieses Nachdenken über sich

könnte der Beginn eines Prozesses sein und dafür sprechen, dass er

grundsätzlich Interesse hat, über sich, seine Beziehungen und die inneren

Beweggründe seines Handelns mehr zu erfahren.

Helene Timmermann 4. Niedersächsischer Psychotherapeutentag 14.09.3013

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Erst Monate später erfahre ich im Interview mit Rainers Mutter, dass ihr Vater

im Krieg gefallen ist und ihre Mutter kurz nach Erhalt dieser Nachricht

lebensgefährlich erkrankte und starb. Sie (Rainers Mutter) wuchs dann bei ihren

Großeltern und in der Familie eines Onkels auf.

Über die genaueren lebensgeschichtlichen Ereignisse und deren emotionale

Bedeutung war in der Familie nie gesprochen worden.

Die Lebensgeschichte von Lara - Monas Mutter - stellt sich zunächst

anders dar als die von Rainer. Erst bei genauerem Hinsehen ergeben sich

Parallelen.

Lara ist eine zierliche, aparte und reflektierte junge Frau. Das Interview mit

ihr findet in der Wohnung der Familie statt. Am Telefon hatte sie mir

mitgeteilt, dass sie an einer Angststörung leidet.

Sie präsentiert sich als „schwarzes Schaf“ der Familie, weil sie immer

diejenige gewesen sei, die die brisanten Themen in der Familie

angesprochen hätte.

Sie habe als einzige gegen die strengen Erziehungsprinzipien des Vaters

rebelliert und dafür Schläge und Verbote eingesteckt. Andererseits sei sie

seine „Vorzeigetochter“ gewesen, aber nur solange sie in der Schule und im

Sport herausragende Leistungen erbracht habe. Insofern war die Beziehung

zum Vater ausgesprochen ambivalent.

Sie sei schon als Jugendliche diejenige gewesen, die ihre Mutter gegen den

Vater verteidigte, wenn er sich als Patriarch aufspielte. Vor allem aber

später als herauskam, dass er mehrere Jahre ein Doppelleben führte und

mit zwei Frauen in verschiedenen Städten zusammen lebte. Lara war

diejenige, die ihn einerseits zur Rede stellte und die Mutter verteidigte aber

Helene Timmermann 4. Niedersächsischer Psychotherapeutentag 14.09.3013

15

andererseits nun auch zur Vertrauten des Vaters wurde und in heftige

Loyalitätskonflikte geriet.

Während die Beziehung zu ihrem Vater immer eine besondere war, ist die

Beziehung zur Mutter eher von Enttäuschung geprägt. Die Mutter sei zwar

immer irgendwie da gewesen, aber emotional habe sie sich mit ihren

kindlichen Fragen, Sorgen und Nöten allein gelassen gefühlt. Dennoch

scheint sie mit ihrer Mutter identifiziert, denn sie verteidigt sie gegen den

Vater und nimmt eine Beschützerrolle ein.

Die Bestätigung für dieses Gefühl ‚allein gelassen’ zu sein zeigt sich

nochmals deutlich, als sie im Alter von 17 Jahren einen Selbstmordversuch

macht und die Eltern versuchen diesen zu vertuschen, aus Rücksicht auf die

berufliche Position des Vaters oder auch im ‚vergessen’ des

Selbstmordversuches von Lara im Interview mit ihrer Mutter. Diese hatte

im Interview, das ich nach Lara mit ihr führte, nichts von einem

Selbstmordversuch der Tochter erwähnt.

Es könnte ein Hinweis darauf sein, dass Lara im Inneren der Mutter nicht

ausreichend repräsentiert ist.

Auch in dieser Familie zeigt sich – ähnlich wie in Rainers Herkunftsfamilie -

eine extreme Scheu im Umgang mit brisanten emotionalen Themen. Sie

werden nach außen vertuscht und geheim gehalten und nach innen

vergessen und verdrängt.

Wer aber ist diese Mutter und was hat sie erlebt, dass sie so wenig in

der Lage ist, sich ihrer Tochter emotional zuzuwenden?

FOLIE 16

Helene Timmermann 4. Niedersächsischer Psychotherapeutentag 14.09.3013

16

Dazu die biographischen Daten der ersten acht Jahre ihrer

Lebensgeschichte: FOLIEN 18-28

1940 Geboren in Königsberg

1940-43 Der Vater ist Soldat und kommt nur gelegentlich auf „Stippvisite“

1944 im Januar Der Vater bringt Frau und Tochter nach Thüringen

1944 im Frühjahr Die Mutter arbeitet in einer Munitionsfabrik

1944 im Sommer Die Oma (mütterlicherseits) kommt zu Besuch

1944 im August Bombenangriff auf Königsberg, es gibt kein zurück mehr

1944 im Oktober Die Eltern des Vaters werden evakuiert und kommen zu ihnen

1944 im Mai Ende des 2. Weltkriegs, der Vater gerät in franz. Gefangenschaft

1944-45 Immer wenn ein Bus kommt hoffen sie auf die Rückkehr des Vaters,

aber er kommt nicht

1945/46 Winter Die Mutter wird schwer krank, Maria wird „zum aufpäppeln“ für

sechs Monate zu einer Tante nach Westdeutschland geschickt

1947 im Herbst Rückkehr nach Thüringen wegen der Einschulung

1948 im Winter Mutter und Tochter fliehen nachts über die Grenze nach

Westdeutschland. Dort erwartet sie der Vater. Er ist ein fremder

Mann für Maria, sie nennt ihn „Oma“

1848 im Sommer Das Leben normalisiert sich,

Sie finden eine Wohnung und der Vater eine Anstellung als Lehrer

in einer norddeutschen Kleinstadt, später kommen die Großeltern

nach und sie nehmen die Oma bei sich auf

Die Biographin erlebt von ihrer Geburt bis zum Alter von 8 Jahren nicht nur

mehrere Ortswechsel, sondern auch Beziehungsabbrüche und existentielle

Angst. Zwar bleibt sie – bis auf die sechs Monate in Thüringen - immer bei

ihrer Familie, aber der Vater kommt nur selten zu besuch und ist später

jahrelang ganz verschwunden. Vor allem wird sie die Angst der

Erwachsenen gespürt und sich möglicherweise damit identifiziert haben.

Zum Zeitpunkt des Interviews ist Maria etwa 60 Jahre alt. Sie stellt sich als

eine Frau vor, die zwar schwere Schicksalsschläge erlebt hat, der aber auch

Helene Timmermann 4. Niedersächsischer Psychotherapeutentag 14.09.3013

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genügend Ressourcen zu Verfügung stehen, um damit fertig zu werden und

der es gelingt, jeweils das Beste aus der Situation zu machen. Bereits im

ersten Satz präsentiert sie sich als „Kriegskind“, das in einer preußischen

Beamtenfamilie mit den entsprechenden Werten und Erziehungsprinzipien

aufgewachsen ist. Gleichzeitig betont sie, dass trotz aller Entbehrungen und

der langen Abwesenheit des Vaters durch Krieg und Gefangenschaft, der

Familienverbund stets erhalten blieb. Vor allem gilt ihre Anerkennung den

Großeltern, die nach der Evakuierung ihre Mutter unterstützten und für

Maria als zentrale Bezugspersonen fungierten. Zum Beispiel gelang es ihnen

immer irgendwie etwas zu essen zu besorgen wie Pilze und Beeren aus dem

Wald, um so den Hunger zu bekämpfen. Ihre Mutter ist weniger

kämpferisch und bleibt in der Schilderung eher blass. Vermutlich war sie

emotional weniger präsent als die Großeltern, vielleicht auch latent

depressiv. Sie sei dick geworden und habe sich wenig für ihre Umwelt

interessiert. Zum Vater entwickelte die biographin nach dessen Rückkehr

eine vertrauensvolle und herzliche Beziehung.

Maria stellt den Krieg und die dadurch bedingten Besonderheiten im

Rückblick - bis auf den Hunger - eher wie ein aufregendes Abenteuer dar.

Von außen betrachtet entsteht allerdings der Eindruck, dass sie die

Situation verharmlost, wenn sie mit einem „phh“ betont, dass der Krieg in

dieser Gegend „nicht so“ gefährlich und aufregend war und dass man dann

eben mal in den Luftschutzkeller rennen und am Abend die Fenster

verdunkeln musste. Die erlebte Angst scheint, zumindest bewusst, keine

Rolle zu spielen.

Möglicherweise kommt sie in der Angststörung der Tochter und in der

3. Generation der Enkeltochter zum Ausdruck.

Helene Timmermann 4. Niedersächsischer Psychotherapeutentag 14.09.3013

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Wie lassen sich die Ergebnisse für die therapeutische Arbeit nutzen?

Die Ergebnisse zeigen, dass sich die transgenerationalen Weitergaben vor allem

auf die Übermittlung emotionaler Blockaden und die mangelnde Wahrnehmung

und Differenzierung von Gefühlen, wie zum Beispiel Ängste, Besorgnis,

Trennungsprobleme und depressive Stimmungen beziehen aber auch auf die

Fähigkeit zur Selbstfürsorge. Dies zeigt sich besonders deutlich in den

Lebensgeschichten von Maria und Anna, den Großmüttern von Lara und Rainer.

Beide sind noch während des Zweiten Weltkriegs geboren und aufgewachsen.

Aber auch bei Biographinnen, die in der Nachkriegszeit geboren wurden und

aufwuchsen, zeigen sich ähnliche Phänomene. Es fällt auf, dass in den Familien

ein besonderer Schwerpunkt auf wirtschaftliche Absicherung und

Unabhängigkeit gelegt wurde, was sich besonders auch in den Biographien der

Frauen zeigt. Sie kämpfen für ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben

und das Erlangen einer Position in der sozialen Mittelschicht die vorher nicht

möglich war oder durch den Verlust von Hab und Gut verloren ging. Vor allem

die Entwicklungsphase der Adoleszenz ist dadurch beeinträchtigt. Die

Beziehung zu den Kindern ist nicht nur durch die belastenden

Kriegserfahrungen und die Entbehrungen erschwert, sondern auch durch den

Überlebenskampf in der Zeit danach. Für die ‚kleinen’ Belange und Sorgen der

Kinder, wie Lara dies über die Beziehung zu ihren Eltern schildert, bleibt wenig

Raum bzw. sie werden von den Erwachsenen gar nicht als Sorgen und Nöte

wahrgenommen. Insofern fühlen sich die Kinder allein gelassen oder stellen sich

- wie im Beispiel von Rainer - die Frage, ob die Eltern sich überhaupt für sie

interessieren. Diese Eltern sind zwar anwesend und sorgen zuverlässig für ihre

Kinder aber die Leerstellen finden sich auf der emotionalen Ebene.

Am deutlichsten zeigt sich dieses Allein-Gelassen-Sein in der Fallrekonstruktion

von Maria und Lara, als die Mutter „vergisst“, dass die Tochter einen

Selbstmordversuch gemacht hat.

Helene Timmermann 4. Niedersächsischer Psychotherapeutentag 14.09.3013

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Aber selbst reflektierte junge Eltern wie Lara und Rainer, die aus der nächsten

Generation stammen und sich vornehmen, ihre Kinder anders zu erziehen als sie

selbst es erlebt haben, scheitern in Bezug auf die Aufgabe, emotionale Nähe zu

ihren Kindern herzustellen, an der eigenen emotionalen Sprachlosigkeit, wenn

sie in Familien aufgewachsen sind, in denen die Eltern aufgrund existentieller

Bedrohung und im Kampf ums Überleben, ihre emotionalen Bedürfnisse

zurückstellen und verdrängen mussten.

Fazit FOLIEN 30-33

In Psychotherapien mit Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern ist es möglich,

solche emotionalen Blockaden aufzuspüren und innerhalb der therapeutischen

Beziehung oder auch in den familiären Beziehungen zu reflektieren.

Voraussetzung dafür ist eine vertrauensvolle und respektvolle Haltung und ein

beherzter Umgang in Bezug auf die Konfrontation mit den relevanten und

teilweise schmerzhaften Themen. Ebenso entscheidend wie das Aufspüren und

transparent machen der familiären oder innerpsychischen Blockaden bei den

Patienten - bei Kindern auch deren Eltern - ist die Reflexion der Therapeutinnen

und Therapeuten in Bezug auf die eigene, persönliche Lebens- und

Familiengeschichte.

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