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Herrscher im Mikrokosmos

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Atlan - Der Held vonArkon

Nr. 200

Herrscher im Mikrokosmos

Sie sind Wanderer zwischen denUniversen - Atlan ist in ihrer Gewalt

von William Voltz

In einer Zeit, die auf Terra dem 9. Jahrtausend v.Chr. entspricht, steht es mit dem Großen Imperium der Arkoniden nicht zum Besten, denn es muß sich sowohl äuße­rer als auch innerer Feinde erwehren.

Die äußeren Feinde sind die Maahks, deren Raumflotten den Streitkräften des Im­periums durch überraschende Schläge schwere Verluste zufügen. Die inneren Fein­de Arkons sind Habgier und Korruption der Herrschenden, die – allen voran Impera­tor Orbanaschol III. – nur auf ihr eigenes Wohl bedacht sind und das Gemeinwohl völlig außer acht lassen.

Gegen diese inneren Feinde des Imperiums ist der junge Atlan, der rechtmäßige Thronerbe und Kristallprinz von Arkon, der eine stetig wachsende Schar von ver­schworenen Helfern um sich sammeln konnte, bereits mehrmals erfolgreich vorge­gangen.

Gegenwärtig aber ist Atlan nicht in der Lage, den Untergrundkampf gegen den Usurpator und Brudermörder Orbanaschol persönlich weiterzuführen. Der Kristall­prinz ist durch die Einwirkung einer neuen Geheimwaffe der Maahks in ein anderes Raum-Zeitkontinuum gelangt – in den Mikrokosmos.

Und der Weg zurück aus dem Bereich des unendlich Kleinen führt nur über die HERRSCHER IM MIKROKOSMOS …

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3 Herrscher im Mikrokosmos

Die Hautpersonen des Romans:Atlan und Crysalgira - Der Kristallprinz und die Prinzessin in der Gewalt der Herren desMikrokosmos.Vargo - Entdecker der Absoluten Bewegung.Mamrohn - Ein Rebell unter den Varganen.Kreton und Kandros - Beherrscher der Eisigen Sphäre.Magantilliken - Henker der Varganen.

1. Atlan

Crysalgira wand sich aus meinen Armen und trat einen Schritt zurück, um mich nach­denklich anzusehen.

»Ich liebe dich nicht«, stellte sie fest. »Es ist die Situation, die mich zu dir getrieben hat. Wenn wir jemals zurückfinden sollten, werde ich zu Sonnenträger Chergost zurück­kehren.«

Es war eine sehr schwache Form des Pro­tests, und vielleicht hätte ich mich entschlos­sen, ihn zu ignorieren, aber in diesem Au­genblick öffnete sich die Kabinentür, und ein bewaffneter Tejonther blickte zu uns herein. Seine gelben Augen richteten sich auf das Mädchen, so daß ich mich unwill­kürlich fragte, ob ein Tejonther fähig war, die hinreißende Schönheit der Prinzessin zu erkennen.

»Wir sind gelandet«, verkündete der Raumfahrer. Seine Worte wurden von einem kleinen Gerät übersetzt. »Sie werden das Schiff in wenigen Augenblicken verlassen.«

Er trat zur Seite, um uns Platz zu machen. Jede seiner Bewegungen wurde von erhöhter Wachsamkeit diktiert; zu glauben, diesen Mann überrumpeln zu können, wäre ein ge­fährlicher Trugschluß gewesen.

Der Tejonther führte uns in die Zentrale des Schiffes. Auf den Bildschirmen konnte ich erkennen, daß wir uns auf einem kleinen Asteroiden befanden.

»Das ist die Gefühlsbasis!« erklärte der tejonthische Kommandant teilnahmslos.

Ich fragte mich, warum ich weder Furcht noch Unbehagen empfand, vielleicht war dieser im Weltraum treibende Schlackehau­

fen nicht aktiviert. Ein Tejonther betrat die Zentrale und übergab Crysalgira und mir zwei Atemmasken und Isolationsanzüge. Ich überlegte, wie die Tejonther dieses Problem gelöst hätten, wenn ihre Körpergröße nicht der unseren entsprochen hätte. Mein Zeitge­fühl sagte mir, daß der Flug von Belkathyr hierher zwei Tage arkonidischer Zeitrech­nung gedauert hatte.

Die Tejonther in der Zentrale machten einen sehr ungeduldigen Eindruck, sie schie­nen kaum erwarten zu können, uns endlich loszuwerden. Als wir die uns zur Verfügung gestellte Ausrüstung angelegt hatten, gelei­teten uns zwei bewaffnete, ebenfalls mit Schutzanzügen bekleidete Raumfahrer zur Schleuse des Schiffes. Die Gangway war be­reits herabgelassen.

Meine Blicke suchten die zerklüftete Oberfläche des Asteroiden nach Anzeichen von Eingriffen einer raumfahrenden Macht ab, aber in der nur schwach erhellten Umge­bung war nichts zu erkennen. Wahrschein­lich lag die eigentliche Gefühlsbasis im Kern dieses Körpers.

Einer unserer Wächter ging voraus und wies uns den Weg, der andere bewegte sich mit schußbereiter Waffe hinter uns. Dieser Aufwand erschien mir übertrieben, nur ein Selbstmörder hätte hier einen Fluchtversuch unternommen. Da zu unserer Ausrüstung kein Sprechgerät gehörte, konnten wir uns mit den Tejonthern nur durch Handzeichen verständigen. Ich bedauerte auch, daß ich mich nicht mit Crysalgira in Verbindung set­zen konnte, denn ich hätte gern mit ihr über die Ereignisse gesprochen, die uns erwarte­ten.

Zielsicher bewegte sich der Tejonther an der Spitze in eine enge Schlucht. Die beiden

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Wächter schalteten tragbare Scheinwerfer ein und leuchteten den Boden ab, damit wir Unebenheiten und Spalten besser erkennen konnten.

Sie werden euch an jene Macht überge­ben, die eure Hinrichtung auf Belkathyr ver­hindert hat! meldete sich mein Extrahirn.

Ich überlegte, was uns für die Unbekann­ten so interessant machte. Niemand wußte, daß wir aus dem Makrokosmos kamen. Es war sinnlos, mit den Tejonthern darüber zu sprechen. Wie sollte ich ihnen begreiflich machen, daß jeder einzelne von ihnen nach meiner Vorstellung tausendmal kleiner als ein Staubkorn war?

Die Wesen, die hier lebten, besaßen ihren eigenen Mikrokosmos, eine Feststellung, die ungeheuerliche Perspektiven eröffnete und über die ich besser nicht nachdachte.

Meine Gedanken wurden unterbrochen, als unser Führer stehenblieb und den Licht­kegel des Scheinwerfers auf eine glatte Me­tallfläche zwischen den Felsen richtete.

»Eine Art Schleuse«, sagte ich unwillkür­lich, dann fiel mir wieder ein, daß Crysalgira mich nicht verstehen konnte.

Die Tejonther traten zur Seite. Einer von ihnen richtete ein kleines Instrument gegen die Metallfläche. Das Tor glitt zur Seite, so daß ich in eine beleuchtete Druckkammer blicken konnte. Die Einrichtung des Raumes war nicht besonders aufschlußreich. Gemes­sen an dem, was ich erwartet hatte, wirkte sie geradezu spartanisch einfach.

Der rechts von mir stehende Wächter machte eine unmißverständliche Geste mit seiner Waffe: Crysalgira und ich sollten die Druckkammer betreten.

Crysalgira sah mich an, sie überließ mir die Entscheidung. Wir hatten keine andere Wahl, als den Befehl zu befolgen.

Ich trat in die Druckkammer, Crysalgira folgte mir. Die äußere Tür glitt zu. Bevor sie sich endgültig schloß, sah ich, daß die Te­jonther sich bereits zum Gehen gewandt hat­ten. Für sie war die Angelegenheit offenbar abgeschlossen.

Crysalgira wollte die Atemmaske abneh-

William Voltz

men, doch ich zog ihre Hände zurück. Noch wußten wir nicht, welche Umweltbedingun­gen uns hier erwarteten.

Eine Zeitlang blieb alles still, dann glitt die innere Tür der Druckkammer auf. Ein breiter Korridor lag vor uns. Die Höhe der leuchtenden Decke war nicht leicht zu schät­zen, aber als ich die Hand ausstreckte, konn­te ich das warme und weiche Material be­rühren.

Der Boden war mit einem netzartigen Ge­wirr von Linien bedeckt, die ich zunächst für Kratzspuren hielt. Als wir jedoch ein paar Schritte in den Korridor gemacht hatten, stellte ich fest, daß diese Linien feine Zeich­nungen von unbekannten Geräten darstell­ten. Die Wände waren glatt und von hellgel­ber Farbe.

Das von der Decke ausgehende Licht war so hell, daß ich das Ende des Korridors nicht sehen konnte, nur wenige Schritte von mir entfernt verschwanden alle Einzelheiten in einer Lichtflut, die den Augen weh tat.

Ich riskierte es, die Atemmaske abzuneh­men. Angenehm frische Luft schlug mir ins Gesicht. Ich nickte Crysalgira zu.

»Es gibt atembare Luft, Prinzessin. Ich bin sicher, daß wir erst jetzt die eigentliche Gefühlsbasis betreten haben.«

Sie schob ihre Maske in den Nacken. »Warum sind wir hier, Atlan?« »Das wüßte ich gern, aber wir können den

Grund nicht einmal vermuten. Jemand ist an uns interessiert. Ich bin sicher, daß wir bald eine Nachricht von den Unbekannten erhal­ten werden.«

Sie begann ihre Haare zu ordnen, unbe­wußte Bewegungen einer auf Schönheit be­dachten Frau. Trotz der Strapazen der ver­gangenen Tage hatte Crysalgiras Äußeres sich kaum verändert. Ich ertappte mich da­bei, daß ich sie unbewußt mit Farnathia und Ischtar verglich. Auf ihre Art wirkte sie nicht weniger anziehend als die beiden ande­ren Frauen, obwohl sie natürlich nicht die Ausstrahlungskraft der Goldenen Göttin be­saß.

Plötzlich entstand vor uns eine Bewe­

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gung. Wir blieben stehen. Eine Gestalt kam aus der Helligkeit. Sie wirkte zerbrechlich und durchsichtig.

Je näher sie herankam, desto stärker wurde der Eindruck, daß es sich um ein weibliches Wesen handelte. Ich wurde bei ihrem An­blick von innerer Unruhe ergriffen, denn ich fühlte mich an irgend etwas erinnert, was mir noch nicht völlig bewußt wurde.

Die Gestalt schien zu schweben, ein kalter Hauch wehte zu Crysalgira und mir herüber.

Ein Gazeschleier umgab das seltsame Wesen, leuchtende Kristalle wirbelten um seinen Kopf.

Die Erkenntnis, wer diese Gestalt war, traf mich wie ein körperlicher Schlag. Un­willkürlich machte ich einen Schritt zurück. Mein Gesicht mußte ungläubiges Entsetzen ausdrücken, denn Crysalgira kam besorgt auf mich zu.

Das Wesen war eine der zwölf Erinnyen, denen ich in der alten varganischen Station auf Sogantrort begegnet war. Ich erinnerte mich genau, wie die zwölf Rachegöttinnen den Behälter mit dem Embryo meines Soh­nes Chapat an sich genommen hatten, um ihn in die Eisige Sphäre zu entführen.

Ich schüttelte benommen den Kopf, doch das Bild löste sich nicht auf.

Die Erinnye hätte nicht hier sein dürfen, denn Sogantrort war eine vergessene Welt der Varganen im Makrokosmos!

*

Crysalgira berührte mich am Arm. »Atlan!« rief sie drängend. »Kennst du

dieses Wesen?« Ich nickte. Noch immer war ich so ver­

blüfft, daß ich kein Wort über meine Lippen brachte. Unglaubliche Gedanken gingen mir durch den Kopf, ich stellte die wildesten Spekulationen an, obwohl ich mir darüber im klaren war, daß die Wahrheit noch viel phantastischer sein mußte als meine Überle­gungen.

»Folgt mir!« forderte uns die Erinnye in varganischer Sprache auf und löschte damit

die letzten Zweifel an ihrer Herkunft. Wie kam einer der geheimnisvollen Ro­

boter der Varganen aus dem Makrokosmos hierher in eine Gefühlsbasis der Tropoythers im Mikrokosmos?

»Warum sprichst du nicht?« fragte Crys­algira. »Warum sagst du mir nicht, was du weißt? Kannst du dieses Wesen verstehen?«

»Ich verstehe es«, brachte ich hervor. Noch immer war ich überwältigt von der un­erwarteten Erscheinung. »Es sagt, daß wir ihm folgen sollen.«

Die Erinnye schwebte voraus, geräusch­los, einen Kranz wirbelnder Eiskristalle um den nebelförmigen Kopf.

Ich merkte, daß ich zitterte – ein äußeres Anzeichen meiner Erregung. Vergeblich lauschte ich in mich hinein. Mein Extrahirn meldete sich nicht. In dieser Situation war es ebenfalls ratlos.

Plötzlich standen wir am Ende des Korri­dors. Vor uns lag ein Raum mit rundem Querschnitt und einem kuppelförmigen Dach. Vier mächtige Streben liefen von vier Eckpunkten des Bodens zum Zentrum der Decke hinauf, wo ein kugelförmiges Gebilde aus glasähnlichem Material hing. In der Ku­gel, die langsam rotierte, schienen Bewe­gungen stattzufinden.

Überall im Boden befanden sich mulden­förmige Vertiefungen, die von spiralförmi­gen Auswüchsen unterschiedlicher Größe und Dicke umrahmt wurden.

Die Erinnye bewegte sich in die Mitte des Raumes.

»Legt euch in diese Mulden!« befahl sie. Ich übersetzte Crysalgira, was die Erinnye

gesagt hatte. »Warum sollen wir das tun?« fragte das

Mädchen. »Atlan, was soll mit uns gesche­hen?«

»Wir haben keine andere Wahl, als alle Anordnungen zu befolgen«, gab ich zurück. »Ich bin überzeugt davon, daß man uns kei­nen Schaden zufügen wird. Man hat uns eine bestimmte Rolle zugedacht, über die wir si­cher bald mehr erfahren werden. Im Augen­blick ist alles so rätselhaft, daß ich nicht ein­

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mal erahnen kann, was geschehen wird.« Sie drängte sich gegen mich. In dieser

fremdartigen Umgebung verlor sie ihre ge­wohnte Selbstbeherrschung immer mehr.

Ich wählte zwei Mulden aus, die unmittel­bar nebeneinander lagen. Die Erinnye erhob keine Einwände.

Kaum, daß Crysalgira und ich uns in den Vertiefungen niedergelassen hatten, kippten die spiralförmigen Auswüchse am Rande der Mulde über unsere Körper und stellten Kontakt her. Ich war augenblicklich gelähmt und lag starr da. Meine Haut prickelte. Die Kugel über mir schien schneller zu rotieren.

Ich glaubte Gestalten in dieser Kugel zu sehen und fühlte mich plötzlich zu ihnen hingezogen.

Wie aus weiter Ferne hörte ich die Stim­me der Erinnye.

»Du sollst die Wahrheit erfahren, weil wir dich brauchen. Dein Bewußtsein wird in die Vergangenheit reisen und erleben, was sich tatsächlich ereignet hat.«

Ich wollte aufschreien, denn ich fühlte in­stinktiv, daß ungeheuerliche Dinge auf mich warteten. Ich sollte eine Wahrheit erfahren, von der ich nicht wußte, ob ich sie ertragen konnte.

Die Kugel sank auf uns herab, sie dehnte sich aus wie ein Ballon. Ich hatte den Ein­druck, daß sie mich unter sich begrb8. Um mich herum entstand eine unwirkliche Um­gebung. Die bisher nur verschwommen sichtbar werdenden Gestalten bekamen feste Konturen.

Ich stand mitten unter den Fremden. Aber ich war nicht länger Atlan. Ich war …

2. Vargo

Der Überfall erfolgte im Mondschatten­feld der Pyramide, zu einem Zeitpunkt, da Vargo längst nicht mehr mit Aktionen der Projektgegner gerechnet hatte. Vielleicht war dieser verzweifelte Anschlag Ausdruck ohnmächtigen Zorns, denn schließlich war

William Voltz

Brenzko Karahn bereits vor drei Tagen durch den Umsetzer gegangen und heute morgen zurückgekehrt. In dem Augenblick, da Vargo das Mondschattenfeld der Pyrami­de betrat, hatte er keine Chance, von den Wachhabenden Priestern auf dem Gipfelpla­teau der Pyramide gesehen zu werden.

Die Angreifer hatten damit gerechnet, daß Vargo zum Gottesdienst kommen würde, um für den Erfolg seines Projekts ein Dankgebet zu sprechen, aber sie hatten nicht wissen können, daß er allein kommen würde. Die­ses Risiko waren sie eingegangen – und hat­ten gewonnen.

Sie waren zu sechst, hochgewachsene schlanke Männer, deren Gesichter durch Ga­zebrei unkenntlich gemacht waren. Wie aus dem Boden gewachsen, standen sie plötzlich vor Vargo und warfen ein Lähmfeld über seinen Kopf. Der Wissenschaftler konnte nicht schreien, seine Schultern wurden schlaff. Er taumelte nach vorn und versuchte noch im Fallen, die Angreifer durch Tritte zu verletzen. Sie hielten ihn fest, einer von ihnen streifte ihm mit geschickten Bewegun­gen einen schwarzen Mantel über, wie ihn die Tempeldiener trugen.

Vargo begriff, auf welche einfache und freche Weise die Entführung vor sich gehen sollte. Er wurde in die Mitte genommen und gestützt. So trieben sie ihn seitwärts, wo die Buschkette die Grenze zwischen Innen- und Außenhof der Pyramide bildete. Als sie aus dem Mondschattenfeld traten, mußte für die Priester oben auf dem Gebäude der Eindruck entstehen, daß ein Tempeldiener eine Grup­pe von Gläubigen zum Außenhof begleitete.

Vargo war von den Hüften aufwärts an gelähmt, seine Arme hingen lahm herunter, so daß er sich kaum wehren konnte. Alles geschah mit unglaublicher Schnelligkeit und ließ ihn vermuten, daß seine Gegner nicht zum erstenmal solche Methoden anwandten. Vargos Freunde hatten oft davor gewarnt, daß die Projektgegner mit kriminellen Ver­einigungen zusammenarbeiteten, aber der Wissenschaftler hatte diese Warnungen nie so richtig ernst genommen. Das stellte sich

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jetzt als schwerwiegender Fehler heraus. Vargo überlegte, was sie mit ihm vorha­

ben konnten. Der Umsetzer war fertiggestellt und arbeitete einwandfrei, die Regierung hatte einer großen Expedition in den Makro­kosmos bereits zugestimmt.

Diese Expedition würde stattfinden, gleichgültig, ob Vargo sie leiten konnte oder nicht. Die anderen Wissenschaftler, die an diesem Projekt beteiligt waren, besaßen die nötigen Unterlagen und ausreichende Kennt­nisse, um alle nötigen Schritte in die Wege zulei ten.

Im Außenhof wartete ein Fahrzeug, in das Vargo geschoben wurde. Im Innern des Wa­gens wartete ein Mann, der ein zufriedenes Brummen hören ließ und Vargos Beine fes­selte. Vargo lag auf dem Boden, er hörte ein paar Männer leise miteinander sprechen.

Er schätzte, daß die Großfahndung in ei­ner Stunde beginnen würde, aber auf Tro­poyth gab es zahlreiche Verstecke, wohin man ihn bringen und tagelang festhalten konnte. Die Regierungstruppen würden sich durch keine Drohung von der Suche abhal­ten lassen, dessen war er sicher. Er rechnete aber nicht damit, daß man ihn töten würde – so weit würden seine Feinde nicht gehen.

Je länger er nachdachte, desto sicherer wurde er, daß man ihn nicht nur aus einem spontanen Entschluß heraus entführt hatte. Zweifellos gab es einen Plan.

Vargo hatte keine Furcht. Er war ein alter Tropoyther, der alle Lebensziele erreicht hatte, die er sich gesteckt hatte. Dabei hatte er niemals Hirngespinsten nachgehangen. Selbst die Erforschung des Makrokosmos war von ihm mit kommerziellem Interesse betrieben worden. So reizvoll die wissen­schaftlichen Erkenntnisse dieser Arbeit auch erschienen, Vargo hatte nie die materiellen Vorteile außer acht gelassen, die ein Erfolg des Projekts seinem Volk versprach.

Vargo hatte das Geheimnis der Absoluten Bewegung entdeckt, die Möglichkeit eines Materieaustauschs zwischen zwei völlig un­terschiedlichen Existenzebenen. Der Umset­zer, das von Vargo konstruierte Gerät, konn­

te jede beliebige Materiemenge in den Ma­krokosmos bringen und zurückholen.

Damit waren alle Probleme der Tropoy­thers bis in alle Ewigkeit gelöst, ein uner­meßliches Feld zur Beschaffung aller denk­baren Dinge stand ihnen offen.

Viele wissenschaftliche Mitarbeiter hatten Vargo vor den Gefahren dieser Arbeit ge­warnt, sie befürchteten, daß die Grenzen zwischen beiden Existenzebenen zusam­menbrechen und dieser Sektor des Mikro­kosmos dabei zerstört werden könnte. Vargo hatte diese Mahner verlacht. Es gab keine Anzeichen dafür, daß ihre Experimente das physikalische Gleichgewicht des Univer­sums stören könnten.

Vargo spürte, daß das Fahrzeug anruckte. Er wußte nicht, wieviel Entführer mit einge­stiegen waren. Jemand warf ihm ein stinken-des Tuch über den Kopf, wahrscheinlich wollte man verhindern, daß er auf dem Flug Hinweise über den Kurs entdecken konnte.

Das Lähmfeld ließ an Wirkung nach, aber Vargo hielt es für richtiger, ruhig am Boden liegen zu bleiben. Solange die Maschine in der Luft war, hatte er sowieso keine Flucht­chance.

Der Flug dauerte nicht so lange, wie er ur­sprünglich angenommen hatte, er war über­zeugt davon, daß sie sich noch immer auf Yakonth, dem Hauptkontinent von Tropoyth befanden. Vielleicht lag das Versteck ir­gendwo in den Vralkh-Bergen. Vargo be­schloß, auf die atmosphärischen Bedingun­gen zu achten, die ihn nun erwarteten, denn daraus konnte er auf die ungefähre Höhe des Verstecks schließen und den Behörden spä­ter Hinweise geben.

Jemand beugte sich über ihn und löste die Beinfesseln.

»Aufstehen!« befahl eine rauhe Stimme. »Hände auf dem Rücken verschränken.«

Vargo gehorchte. Das Tuch blieb auf sei­nem Kopf. Er atmete tief ein, zu seiner Überraschung stieg warme, würzig riechen-de Luft in seine Nase.

Wald! dachte er. Wir befinden uns in ei­nem Wald in der Nähe der Südküste. Er

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wußte, daß es in diesem Landstrich große Sumpflandschaften und Regenwälder gab. Seine Gegner hatten sich dort offenbar nie­dergelassen.

Er wurde aus dem Fahrzeug geschoben und dann über weichen Boden weggeführt. Wenig später hörte er Geräusche von Ma­schinen, dann schlugen Türen. Er merkte, daß er nicht mehr im Freien war. Er erhielt einen Stoß, dann fiel eine Tür ins Schloß.

Es war still. Vargo wartete einen Augenblick, dann

nahm er das Tuch vom Kopf. Wie er erwar­tet hatte, befand er sich allein in einem klei­nen, einfach eingerichteten Raum. Es gab kein Fenster, über der Tür war eine Klima­anlage installiert.

Vargo massierte seine prickelnden Hände und ließ sich auf dem schmalen Bett nieder. Es war nicht ausgeschlossen, daß seine Ent­führer sich nicht darüber im klaren waren, wie sie vorgehen sollten. Vielleicht wandten sie auch lediglich den psychologischen Ef­fekt des Wartenlassens an, um ihren Gefan­genen gefügiger zu machen.

Vargo lächelte müde. Die Maschinerie war längst in Gang ge­

setzt, sein Fehlen im Projektbereich konnte nichts mehr ändern.

Er erinnerte sich an den Augenblick, da Brenzko Karahn an diesem Morgen aus dem Umsetzer getreten war, blaß und ver­schreckt, aber mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen.

»Es hat geklappt, Vargo!« Erst die Rückkehr Karahns hatte Vargos

Theorien bestätigt; einen Mann verschwin­den zu lassen, bewies nicht die Möglichkeit der Absoluten Bewegung.

Schritte wurden hörbar und unterbrachen den alten Wissenschaftler in seinen Gedan­ken.

Die Tür öffnete sich, ein großer Mann stand im Eingang.

Vargo blinzelte. »Mamrohn!« stieß er ungläubig hervor.

»Wollen Sie behaupten, daß der Wissen­schaftliche Erste Rat, der für die Finanzie-

William Voltz

rung meines Projekts sorgte, heimlich mit meinen Gegnern zusammenarbeitet?«

Der Ankömmling grinste breit. »Ich bin für Ihre Entführung verantwort­

lich, Vargo.« Vargo sah ihn abwartend an, noch ver­

stand er nicht, was Mamrohn zu seiner Handlung bewogen haben mochte.

Mamrohn durchquerte den Raum mit lan­gen Schritten und ließ sich neben Vargo auf dem Bett nieder. Die Tür stand offen, drau­ßen schien kein Wächter zu stehen.

»Tatsächlich bin ich der größte Anhänger des Projekts«, behauptete der Wissenschaft­liche Erste Rat von Tropoyth. »In letzter Zeit jedoch waren Sie so in Ihre Arbeit ver­tieft, daß Sie die Veränderung der politi­schen Szene nicht mehr wahrnahmen.«

»Was heißt das?« fragte Vargo verblüfft. »Ihre Gegner gewannen mehr und mehr

an Einfluß«, berichtete Mamrohn. »Es fiel mir immer schwerer, das Projekt im Rat zu verteidigen. Besonders schwerwiegend war, daß einige Ihrer Mitarbeiter sich weigerten, das Projekt weiter zu unterstützen.«

»Was hat das mit meiner Entführung zu tun? Haben Sie etwa vor, die Opposition auf diese Weise zu diskreditieren?« Vargo war entrüstet. »Sie können doch nicht glauben, daß ich Sie dabei unterstützen werde?«

Mamrohn blieb unbeeindruckt. »Diese Aktion sichert uns den Vorsprung,

den wir benötigen. Man wird sich wegen Ih­res Verschwindens die Köpfe heiß reden und sich gegenseitig die Verantwortung zuschie­ben. Darüber werden die meisten Verant­wortlichen das eigentliche Problem für eini­ge Zeit vergessen. Das gibt uns die Zeit, die wir benötigen.«

Vargo stand auf. »Zeit wozu?« Mamrohn streckte die Beine aus, in sei­

nem fleischigen Gesicht zuckte ein Muskel. Vargo hatte plötzlich den Eindruck, diesen Mann zum erstenmal richtig zu sehen und einzuschätzen. Es gab wenig Männer im Rat von Tropoyth, die so zielstrebig und selbst­bewußt auf ein Ziel hinarbeiten konnten wie

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Mamrohn. Ohne Mamrohn hätte es niemals einen

Umsetzer gegeben. Vargo dachte ein bißchen traurig, daß er

selbst eigentlich nur die Idee geliefert hatte, Mamrohn dagegen aber als Vollstrecker auf­getreten war. Die ganze Zeit aber hatte der Wissenschaftliche Erste Rat Pläne ge­schmiedet, von denen Vargo noch nichts wußte.

»Ich habe das alles nicht getan, um eine Art Reiseunternehmen aufzubauen«, drang Mamrohns Stimme in seine Gedanken. »Sie haben viel zu kleinkariert gedacht, alter Freund. Ich wollte Sie jedoch nicht irritie­ren, deshalb habe ich Sie in aller Ruhe arbei­ten lassen.«

»Was haben Sie vor?« »Wir werden Stützpunkte im Makrokos­

mos errichten«, verkündete Mamrohn. »Jetzt haben wir die Chance dazu, neue Räume zu erschließen, sie zu erobern. Denken Sie doch nach, Vargo! Wenn wir den Makrokos­mos besitzen, kontrollieren wir den Mikro­kosmos. Von oben aus können wir ganze Galaxien im Mikrokosmos mit einem Fin­gerdruck erledigen.«

Vargo erschauerte. Wußte der Erste Rat überhaupt, was er da von sich gab?

Mamrohn schien die Anwesenheit des Wissenschaftlers vergessen zu haben.

»Eine Invasionsflotte steht bereit«, sagte er begeistert. »Wir werden mit zweitausend Doppelpyramidenschiffen in den Makrokos­mos vordringen – und das wird erst der An­fang sein.«

»Dazu habe ich den Umsetzer nicht kon­struiert, Mamrohn. Sie dürfen die Absolute Bewegung nicht in dieser Form mißbrau­chen, es würde zu einer Katastrophe füh­ren.«

»Schweigen Sie!« herrschte Mamrohn ihn an. »Sie sind trotz Ihres genialen Könnens kurzsichtig. Sehen Sie nicht die Bedrohung für uns, die sich allein aus der Tatsache er­gibt, daß wir der Mikrokosmos sind? Im Makrokosmos weiß man nichts von unserer Existenz, vielleicht ist man gerade dabei,

völlig gedankenlos jenen Teil unseres Uni­versums zu zerstören, den wir bewohnen. Was gehört schon dazu? Doch nicht mehr, als daß jemand auf einen Erdklumpen tritt!«

Vargo stöhnte auf. »Sie sehen das falsch!« rief er beschwö­

rend. »Sie erkennen die Zusammenhänge nicht. Makro- und Mikrokosmos sind eins, ein ineinander geschlossenes System. Jede Veränderung würde apokalyptische Folgen haben.«

»Ich weiß genau, was ich will«, erklärte das Regierungsmitglied mit düsterer Ent­schlossenheit. »Während Sie Ihre Experi­mente erfolgreich abschlossen, habe ich auch meine Vorbereitungen beendet. Die er­ste Flotte steht bereit. Es gibt nur einen Mann, der sie führen kann.«

»Sie!« sagte Vargo benommen. Mamrohn sah ihn zum erstenmal wieder

an. Er hob die Augenbrauen und schüttelte den Kopf.

»Ich? Wie kommen Sie auf die Idee, daß ich es sein könnte? Das ist doch absurd, mein Platz ist hier auf Tropoyth im Rat.«

Da begriff Vargo, daß er gehen sollte. Mamrohn hatte ihn dazu ausersehen, die Ex­pedition in den Makrokosmos zu führen. Das war der Grund, warum er entführt wor­den war. Mamrohn würde ihn zwingen.

Mamrohn las im Gesicht des Gefangenen, daß dieser die Wahrheit erkannt hatte.

»Wie gefällt Ihnen das?« lächelte er. »Es ist Wahnsinn!« »Sie werden fasziniert sein, wenn Sie erst

einmal am Ziel angekommen sind«, prophe­zeite Mamrohn. »Ich werde veranlassen, daß man Sie für Ihre große Tat belohnt. Die mu­tigen Tropoythers, die Sie begleiten, werden vom Augenblick des Aufbruchs an Ihren Namen tragen. Wir werden sie Varganen nennen.«

*

Die nächsten Tage verstrichen für Vargo ohne besondere Ereignisse. Er durfte sein Gefängnis nicht verlassen. Ab und zu kam

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ein Unbekannter und brachte ihm Nahrung. Vargo verlangte nach den neuesten Nach­richten, aber diese Bitte wurde ihm versagt.

Vargo rechnete damit, daß Mamrohn ein­treten und sagen würde, daß alles ein Irrtum war, ein Spaß, der nun endlich vorbei sei. Er klammerte sich so an diesen Gedanken, daß er immer, wenn draußen Schritte laut wur­den, aufsprang und erwartungsvoll zur Tür ging.

Aber es war immer nur der schweigsame Fremde, der ihm zu essen brachte. Nur all­mählich machte der Wissenschaftler sich mit der Tatsache vertraut, daß er keinen Alp­traum erlebte.

Fünf Tage nach Vargos Entführung er­schien Mamrohn wieder im Gefängnis. Er war schlampig gekleidet und machte einen überreizten und müden Eindruck. Vargo hoffte, daß irgend etwas schiefgegangen war, aber diese Hoffnung wurde durch Mamrohns Begrüßung bereits gegenstands­los.

»Es ist soweit!« verkündete der Wissen­schaftliche Erste Rat. »Wir haben den Um­setzer in den Weltraum bringen lassen, da­mit die bereitstehende Flotte ohne Schwie­rigkeiten in den Prozeß der Absoluten Be­wegung gebracht werden kann. Das Ver­schwinden des Umsetzers hat einigen Wir­bel verursacht, erstaunlicherweise mehr als das seines Erschaffers.« Sarkastisch fügte er hinzu: »Das ist sicher nicht erstaunlich.«

Vargo überlegte, daß zahlreiche seiner Vertrauten für Mamrohn arbeiten mußten, anders war dieses Vorgehen nicht zu erklä­ren. Der alte Mann fühlte sich überrumpelt und verraten, er wünschte, er hätte das alles nicht mehr zu erleben brauchen.

»Nun sind Sie an der Reihe«, fuhr Mam­rohn fort. »Vargo und seine Varganen, wie gefällt Ihnen das?«

»Es ist makaber«, erwiderte Vargo nieder­geschlagen. Er versuchte, Mamrohn zu has­sen, aber das gelang ihm nicht. Im Grunde genommen hatte er sich bereits damit abge­funden, daß er die Invasionsflotte – denn das war sie – in den Makrokosmos führen wür-

William Voltz

de. Er gestand sich ein, daß diese Aufgabe reizvolle Aspekte besaß.

Mamrohn ergriff ihn am Arm und führte ihn hinaus. Zum erstenmal sah Vargo etwas von der Umgebung, in der er sich in den ver­gangenen Tagen aufgehalten hatte. Ringsum im Regenwald standen ein paar flache Ge­bäude. Männer und Frauen, die Vargo nie­mals zuvor gesehen hatte, arbeiteten in der Nähe.

Über einen Trampelpfad führte Mamrohn den Wissenschaftler zu einer Lichtung. Dort standen ein paar bewaffnete Männer zwi­schen den Bäumen. Mamrohns Maschine wartete auf der Lichtung. Es war ein kombi­nierter Raum-Atmosphäregleiter.

Mamrohn fing Vargos Blick auf. »Wir fliegen direkt in den Weltraum und

gehen an Bord des Doppelpyramidenschiffs GENDROT«, gab er bekannt. »Alles, was Sie brauchen, befindet sich bereits an Bord.«

Vargo hatte nicht gehofft, sich noch von seinen Freunden verabschieden zu können, aber dieser überstürzte Aufbruch bewies ihm, daß Mamrohn in Schwierigkeiten war.

»Sie werden einige Ihrer Freunde an Bord der GENDROT wiedersehen«, fuhr Mam­rohn fort. Er kletterte in den Gleiter und ließ sich ächzend in einen Sitz fallen. Der Pilot wartete, daß auch Vargo einstieg, dann star­tete er.

Vargo blickte zur Seite und sah, daß Mamrohn der Kopf auf die Brust fiel. Der Wissenschaftliche Erste Rat von Tropoyth war unmittelbar nach dem Start vor Er­schöpfung eingeschlafen.

Vargo wandte sich an den Piloten. »Sind alle Schiffe einsatzbereit?« »Ich kümmere mich um nichts«, erwiderte

der Mann gelassen. »Ich fliege diesen Glei­ter, das ist alles.«

Vargo wappnete sich mit Geduld. Bei zu­nehmender Beschleunigung, mußte er sich in den Andrucksessel zurücklehnen und warten, bis die Maschine den offenen Welt­raum erreicht hatte. Sie wurden weder auf­gehalten noch angefunkt. Mamrohn mußte den gesamten Sicherheitsapparat der Regie­

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rung kontrollieren. Vielleicht handelte er so­gar im Auftrag der Regierung.

Tropoyth blieb hinter ihnen zurück, eine blaugrün leuchtende Scheibe mit weißen Wolkenfetzen davor. Es war nun achtzehn Jahre her, daß Vargo sich zum letztenmal im Weltraum aufgehalten hatte, aber er hatte den Eindruck, daß es erst vor ein paar Tagen gewesen war.

Der Pilot schien den Kurs genau zu ken­nen.

Mamrohn, der eine innere Uhr zu besitzen schien, erwachte, als der Gleiter die Flotte erreicht hatte.

Das Einschleusungsmanöver in die GEN­DROT vollzog sich schnell und reibungslos.

»Ich dachte, Sie würden nicht mitgehen«, wandte Vargo sich an den Wissenschaftli­chen Ersten Rat.

»Das war ein Irrtum«, erklärte Mamrohn verbissen. »Auf Tropoyth hat sich vieles verändert. Ich begleite Sie, Vargo. Eines Ta­ges jedoch werden wir zurückkehren, das versichere ich Ihnen.«

Vargo hatte das sichere Gefühl, daß alles anders verlaufen würde als Mamrohn sich das vorstellte. Er wurde von schlimmen Ah­nungen geplagt. Sein Volk hatte eine gefähr­liche Grenze überschritten.

*

Die Ereignisse der nächsten Tage schie­nen Vargos Bedenken zu widerlegen. Der Umsetzer brachte alle Schiffe in den Prozeß der Absoluten Bewegung und führte die Flotte in den Makrokosmos. Wie Vargo vor­hergesagt hatte, änderten sich während des Durchgangs alle Größen- und Massenver­hältnisse, Schiffe und Besatzungen paßten sich den Verhältnissen im Makrokosmos an. Dieser Effekt wurde durch den Massenaus­tausch herbeigeführt, der bei der Rückkehr in umgekehrter Form auftreten würde.

Doch an eine Rückkehr dachte Vargo vor­läufig nicht.

An Bord der GENDROT hielten sich sie­ben seiner ehemaligen engen Mitarbeiter

auf. »Wir müssen damit rechnen, daß es hier

im Makrokosmos große raumfahrende Völ­ker gibt, die uns unter Umständen gefährlich werden können«, erklärte Mamrohn wäh­rend der ersten Besprechung nach ihrer An­kunft. »Deshalb werden wir die Flotte teilen und unsere Stationen in verschiedenen Sek­toren dieser Galaxis errichten.«

Mamrohn ließ durchblicken, daß ihm nicht an einer schnellen Rückkehr gelegen war. In Vargo wuchs der Verdacht, daß der ehemalige Wissenschaftliche Erste Rat an eine Kolonisation dachte. Er wollte ein zweites tropoythisches Imperium im Makro­kosmos errichten.

Ein varganisches Imperium! korrigierte Vargo sich in Gedanken.

Die GENDROT gehörte zu einem Ver­band von siebenundzwanzig Schiffen, die ein paar Tage später in ein kleines Sonnen­system eindrangen und auf dem zweiten von insgesamt sechs Planeten landeten.

Mamrohn hatte eine Sauerstoffwelt ausge­wählt, die alle Voraussetzungen für den Ausbau einer Station bot. Vargo und die an­deren Wissenschaftler erhoben Bedenken, denn auf der von Mamrohn erwählten Welt gab es bereits eine primitive Zivilisation.

Mamrohn ließ diese Einwände nicht gel­ten.

»Wir kümmern uns nicht um sie«, befahl er. »Wenn sie uns in die Quere kommen sollten, verjagen wir sie.«

Vargo erkannte, daß Mamrohn ein rück­sichtsloser Eroberer war. Der ehemalige Wissenschaftliche Erste Rat wollte sich in dieser Galaxis des Makrokosmos ein Imperi­um aufbauen.

Ein knappes Jahr nach ihrer Ankunft im Makrokosmos machten die Teilnehmer an dieser verhängnisvollen Expedition zwei un­geheuerliche Entdeckungen.

Die Varganen, wie sie sich Mamrohns Anordnung entsprechend jetzt nannten, al­terten nicht mehr. Durch den Einfluß der Absoluten Bewegung hatten sie Unsterblich­keit erlangt.

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12

Der zweite Effekt war schrecklich. Die Varganen verloren die Fähigkeit, sich

miteinander fortzupflanzen.

3. Vargo

Der Ausbau der Station auf Dopmorg ging jetzt langsamer voran, vielleicht weil die Unsterblichen sich unbewußt darüber im klaren waren, daß sie unendlich viel Zeit zur Verfügung hatten. Die überall in dieser Ga­laxis verteilten Stationen glichen Inseln. Zwar flogen die Doppelpyramidenschiffe ständig hin und her, aber auch diese Kontak­te ließen mehr und mehr nach.

Von seinem Platz auf dem Dach des Hauptgebäudes aus konnte Vargo das Lan­deplateau sehen. Dort standen einundzwan­zig Doppelpyramidenschiffe. Das bedeutete, daß nur sechs Schiffe zu anderen Stationen unterwegs waren.

Vargo kam jeden Morgen hier herauf, um den Sonnenaufgang zu erleben. Trotz seiner Unsterblichkeit fühlte er sich müde. Er spielte mit dem Gedanken, seinem Leben ein gewaltsames Ende zu setzen.

Vargo war ein einsamer Mann, denn die anderen Varganen mieden ihn.

Sie verdankten ihm indirekt die Unsterb­lichkeit, aber sie brachten nur ihre Zeu­gungsunfähigkeit mit ihm in Verbindung. Vargo hatte keinen dieser Effekte vorherse­hen können, er bedauerte, daß es dazu ge­kommen war.

Seit ihrer Ankunft auf Dopmorg hatte Vargo den Planeten nicht mehr verlassen, er ahnte, daß ihn auf allen anderen besetzten Planeten die gleiche Feindseligkeit entge­genschlagen würde.

Vargo dachte an Mamrohn, der bereits seit ein paar Jahren unterwegs war. In Ge­danken sah er Mamrohn von Station zu Sta­tion eilen, verzweifelt darum bemüht, Ver­bindungen zwischen den einzelnen Welten zu schaffen.

Als die Sonne über den Bergen stand, ver­ließ Vargo seinen Beobachtungsplatz auf

William Voltz

dem Dach und kehrte in seine Räume im In­nern der Station zurück. Zu seiner Überra­schung wurde er erwartet.

Kreton, einer der führenden varganischen Wissenschaftler, kam ihm entgegen.

Die Erinnerung an frühere gemeinsame Arbeiten wurde in Vargo wach, selten zuvor hatte er das Ende seiner Kontakte zu ande­ren Männern und Frauen so bedrückend empfunden wie in diesem Augenblick. Er verhielt sich jedoch zurückhaltend, denn Kreton war bestimmt nicht gekommen, um alte Beziehungen aufzufrischen.

Kreton ging im Zimmer auf und ab, blieb vor dem Teller mit den Blüten stehen und starrte nachdenklich auf ihn hinab. Die Blü­ten wurden jeden Tag erneuert, es war eine Marotte Vargos, von der er nun befürchtete, sie könnte seinen inneren Zustand verraten. Er war zu stolz, um das Mitgefühl anderer zu ersehnen.

Kreton beugte sich zum Teller hinab und nahm eine Blüte heraus.

»Wundern Sie sich über meine Anwesen­heit?«

»Eigentlich ja«, gab Vargo zurück. »Ich werde nicht sehr häufig besucht.«

»Sie haben sich zurückgezogen«, stellte Kreton fest. »Ich verstehe das, es ist Aus­druck eines unterschwelligen Schuldbewußt­seins.«

Vargo runzelte die Stirn, er hatte nicht da­mit gerechnet, daß die anderen die Situation so sahen. Immerhin war es interessant, die­sen Standpunkt zu erfahren.

»Ich bin aus eigenem Antrieb hier«, fuhr Kreton fort. »Wir hatten eine Besprechung, und ist bin der Meinung, daß wir Ihre An­sichten hören sollten. Immerhin haben Sie dieses Projekt ermöglicht und ihm Ihren Na­men gegeben.«

»Das war Mamrohns Idee!« Kreton winkte ab. Während Vargo ihn be­

obachtete, überlegte er, was geschehen sein konnte. Kreton machte den Eindruck eines Überbringers wichtiger Entschlüsse.

»Was halten Sie von unserer Lage?« frag­te er Vargo.

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13 Herrscher im Mikrokosmos

»Wir leben hier!« Kreton unterdrückte ein Lachen. »Früher

waren Sie in der Beurteilung einer Situation nicht so vorsichtig, mein Lieber. Aber viel­leicht wissen Sie nicht, worauf ich hinaus will. Wir kamen in den Makrokosmos, um hier ein Reich aufzubauen. Wir wollten Son­nensystem um Sonnensystem erobern.«

»Hm!« machte Vargo. »Um Sonnensysteme zu bevölkern,

braucht man Tropoythers.« Kreton zupfte die Blütenblätter ab und warf die Knospe in den Teller zurück. »Aber unsere Anzahl hat sich nicht vergrößert, wir verlieren im Ge­genteil immer mehr Männer und Frauen durch gewaltsamen Tod. Da wir uns nicht mehr fortpflanzen können, ist der ursprüng­liche Sinn dieses Unternehmens in Frage ge­stellt.«

Was Kreton aussprach, hatte Vargo hun­dertmal überdacht, ohne zu einer Lösung zu gelangen.

»Uns fehlt eine Motivation«, fuhr Kreton ernst fort. »Wir haben bereits alles erreicht, was zu erreichen war – gemessen an den Umständen. Da wir keine Kinder haben, brauchen wir keine neuen Welten. Es ist schon schwer genug, die in Besitz genom­menen Systeme zu halten.«

Vargo gab sich einen Ruck. »Was wollen Sie eigentlich?« »Wissen Sie das nicht?« Kreton blickte

ihm direkt in die Augen. »Viele von uns sind der Meinung, daß wir aufgeben und zu­rückkehren sollten.«

Vargo fühlte einen Schauer über den Rücken laufen, er begann zu zittern und be­griff, wonach er sich die ganze Zeit über in Wirklichkeit gesehnt hatte.

Zurück! dachte er inbrünstig. Zurück in den Mikrokosmos, zurück nach

Tropoyth!

*

Zwei Jahre später kehrte Mamrohn zu­rück. Seine Ankunft auf Dopmorg fiel zu­sammen mit dem Ausbruch heftiger Kontro­

versen zwischen den Befürwortern einer Rückkehr und ihren Gegnern.

Mamrohns Gesicht war verbrannt, sein rechter Unterarm amputiert und seine Stim­me klang entstellt. Er hatte den Tod gesucht und nicht gefunden. In seinen Augen leuch­tete ein verzehrendes Feuer. Seine Fähigkeit, Einfluß auf andere Varganen auszuüben, hatte sich noch verstärkt.

Mamrohns Anwesenheit schien die Strei­tigkeiten zu beenden, aber die unterschiedli­chen Ansichten schwelten unter der Oberflä­che weiter. Die Varganen, die nach Tro­poyth zurückkehren wollten, befanden sich in der Überzahl. Eine offizielle Befragung hätte wahrscheinlich ergeben, daß nur eine sehr kleine Gruppe im Makrokosmos blei­ben wollte. Allein die Tatsache, daß Mam­rohn zu dieser Gruppe gehörte, verlieh ihr Gewicht.

Mamrohn war in Begleitung einer jungen Varganin nach Dopmorg gekommen, eines der schönsten Mädchen, das Vargo jemals gesehen hatte. Mamrohn hatte sie von einer anderen Station mitgebracht. Ihr Name war Ischtar.

Trotz seines äußeren Zustands hatte Mamrohn nichts von seiner inneren Energie verloren. Er sprach davon, einen Großteil der eroberten Planeten aufzugeben und die Varganen auf ein paar auserwählten Statio­nen zusammenzuziehen. Von dort aus wollte Mamrohn die Galaxis beherrschen.

Ein paar Tage nach seiner Rückkehr lud Mamrohn die Wissenschaftler zu einer Be­sprechung ein. Vargo war gespannt, wie der Mann, der sich nach wie vor für den Anfüh­rer aller Varganen hielt, sich verhalten wür­de.

In den letzten Tagen hatte Kreton sich als Sprecher der Mehrheit profiliert. Kreton be­saß nicht die Willensstärke Mamrohns, aber er wußte, wie er zu taktieren hatte.

Als Vargo im Besprechungsraum eintraf, ahnte er nicht, daß es im Verlauf der Debatte zu einem schweren Zusammenstoß kommen würde. Sein fehlender Kontakt zu anderen Varganen verleitete ihn auch diesmal zu ei­

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ner Fehleinschätzung der Lage. Mamrohn erschien. Er nahm am oberen

Ende des Tisches Platz. Sein Gesicht war verbissen, er sah wie ein Fremder aus und machte den Eindruck eines unwillkomme­nen Besuchers. Die Begrüßung durch die Diskussionsteilnehmer fiel so distanziert aus, daß Vargo Mitleid mit Mamrohn emp­fand, obwohl er bezweifelte, daß der ehema­lige Erste Rat die allgemeine Zurückhaltung überhaupt registrierte.

Ischtar saß neben Mamrohn, ihr goldenes Haar berührte die Schultern.

Ein seltsames Paar! dachte Vargo unwill­kürlich und seltsam berührt.

Kreton trat in Begleitung aller wichtigen Wissenschaftler ein. Auch diese Demonstra­tion schien an Mamrohn abzuprallen, er sah nicht einmal auf.

Als alle Diskussionsteilnehmer Platz ge­nommen hatte, warf Mamrohn ein paar Pa­piere auf den Tisch und sortierte sie mit der linken Hand. Bei jedem anderen Mann hätte sich die Frage gestellt, warum er den verlo­renen rechten Unterarm nicht durch eine Prothese ersetzte – nicht aber bei Mamrohn. Es war unvorstellbar, daß er seinen Körper durch irgend etwas Künstliches ergänzen würde.

»Ich war lange unterwegs«, eröffnete Mamrohn die Debatte ohne lange Vorrede. »Dabei habe ich alle Stationen in den ver­schiedensten Teilen dieser Galaxis besucht, einige sogar mehrmals. Es ist erschreckend, was auf verschiedenen von uns eroberten Planeten geschieht.«

Er blickte zum erstenmal auf, in seinem Gesicht spiegelten sich Zorn und Trotz und eine gewisse Rastlosigkeit.

»Es gibt Welten, auf denen Varganen den Freitod gewählt haben«, berichtete er. »Sie haben ihre Körper in den Stationen präparie­ren lassen, weil sie an eine spätere Wieder­erweckung glauben. Diese Wiederer­weckung soll erst stattfinden, wenn wir eine Möglichkeit gefunden haben, die Zeugungs­unfähigkeit zu besiegen.

Die Wahrheit ist, daß sie sich aufgeben!«

William Voltz

rief er aus. »Ihnen fehlt jeder Antrieb für ein weiteres Leben.«

»Nein«, sagte jemand entschieden. »Das ist nicht die Wahrheit.«

Vargo drehte sich auf seinem Sitz herum. Er sah zu Kreton hinüber, der gesprochen hatte. Der Wissenschaftler war blaß, seine Lippen bebten, aber er saß nach vorn ge­beugt da, entschlossen und unnachgiebig.

»Sie haben uns in den Makrokosmos ge­führt, um hier ein zweites Reich der Tropoy­thers aufzubauen«, erinnerte Kreton. »Von Anfang an wollten Sie alle Brücken zu unse­rer Heimat abbrechen, deshalb mußten wir uns Varganen nennen. Sie wollten keine Verbindung mehr in den Mikrokosmos, Sie wollten vergessen, daß wir in Wirklichkeit unendlich winzig sind. Dafür mußten wir einen hohen Preis bezahlen.«

»Niemand konnte das vorhersehen«, ver­teidigte sich Mamrohn.

»Das ist richtig«, gab Kreton zu. »Aber wir hätten uns auf die veränderte Situation einstellen und zurückkehren sollen. Mit dem Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit verlor das Unternehmen seinen Sinn. Man braucht keine Sonnensysteme zu erobern, wenn man keine Kinder zeugen kann, mit denen man die Planeten bevölkern kann. Aber Sie ha­ben das nicht einsehen wollen, Mamrohn. Sie hörten nicht auf, Ihren Traum von einem neuen Imperium zu träumen, Sie träumen ihn immer noch.«

So, wie Mamrohn dasaß, konnte man Angst vor ihm bekommen. Vargo hatte den Eindruck, daß dieser Mann allein Kraft sei­ner Gefühle irgend etwas zerstören konnte. Er bewunderte Kreton, der den Mut hatte, dagegen anzugehen.

»Ich weiß, was auf Dopmorg vorgeht!« Mamrohn schien Mühe zu haben, die einzel­nen Worte auszusprechen. »Hier wird nur noch von einer Rückkehr geredet. Sie und Ihre Anhänger wollen alles, was wir aufge­baut haben, wieder aufgeben und in den Mi­krokosmos zurückkehren. Als würde sich dadurch etwas ändern.« Seine Blicke richte­ten sich auf Vargo, der unwillkürlich zusam­

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15 Herrscher im Mikrokosmos

menzuckte. »Sagen Sie ihnen, ob sich durch die Rückkehr irgend etwas ändert, Vargo. Werden Sie sterblich werden oder ihre Zeu­gungsfähigkeit zurückerlangen?«

Vargo schüttelte den Kopf. »Nichts würde sich ändern!« Mamrohn

schrie es heraus. »Wir wären Ausgestoßene vom Augenblick unserer Rückkehr an.«

Einen Moment sah es so aus, als würde Kreton unter dem Druck von Mamrohns Persönlichkeit aufgeben. Vargo sah, wie sich in Kreton ein innerer Kampf abspielte.

»Sie verstehen nicht, Mamrohn«, sagte der Wissenschaftler mühsam. »Wir werden zurückgehen, um jeden Preis.«

Er stand auf. »Alle, die meiner Meinung sind, sollen

sich erheben.« Vargo sah die Männer und Frauen nach­

einander aufstehen, der beinahe lautlose Vorgang erinnerte ihn an eine Hinrichtung. Zum Schluß saßen nur noch Mamrohn, Isch­tar und Vargo auf ihren Plätzen.

Mamrohn sah Vargo an. »Sie?« fragte er erstaunt. »Ausgerechnet

Sie?« Vargo schluckte und schob sich aus sei­

nem Sitz hoch, als müßte er dabei eine Last anheben.

»Es tut mir leid«, sagte er tonlos. »Es ist nun einmal so. Ich kann nicht anders.«

*

Kreton, der nach dieser denkwürdigen Sit­zung das Kommando übernahm, schickte Kurierschiffe nach allen von Varganen be­setzten Welten und befahl den Raumfahrern, mit den verschiedenen Gruppen einen Treff­punkt zur Rückkehr auszuhandeln.

Mamrohn und seine wenigen Anhänger wurden als Rebellen bezeichnet. Ein paar von ihnen wurden gefangengenommen und sollten den Rückflug unter Zwang mitma­chen.

Vergeblich versuchte Vargo in Erfahrung zu bringen, ob auch Mamrohn zu den Gefan­genen gehörte. Unmittelbar nach der Bespre­

chung hatte Mamrohn zusammen mit Ischtar Dopmorg an Bord eines Doppelpyramiden­schiffs verlassen. Über ihr weiteres Schick­sal war nichts bekannt. Kreton verweigerte auf alle Fragen eine Antwort.

Zu Vargos Erstaunen lehnte Kreton einen Vorschlag der Wissenschaftler ab, alle Sta­tionen der Varganen auf den Planeten im Makrokosmos zu vernichten.

»Wir wollen unsere Spuren hier hinterlas­sen«, meinte Kreton. »Vielleicht werden ei­nes Tages andere raumfahrende Völker auf unsere Bauwerke stoßen und überlegen, wer sie errichtet haben mag. Auf die Idee, daß es Besucher aus dem Mikrokosmos waren, kommen sie sicher niemals.«

Später erfuhr Vargo, daß einige der soge­nannten Rebellen verschwunden waren. Sie würden die Rückkehr in den Mikrokosmos nicht mitmachen. Vargo nahm an, daß Kre­ton nicht so unbarmherzig war, wie er sich nach außen hin gab, und die Stationen für diese Rebellen zurückließ.

Der Termin für eine Rückkehr rückte im­mer näher, auch auf Dopmorg deuteten alle Anzeichen auf einen baldigen Aufbruch hin. Ein Treffpunkt war vereinbart worden. Knapp achtzehnhundert der ursprünglich zwei tausend Einheiten starken Flotte sollte die Stelle anfliegen, wo die Absolute Bewe­gung des Umsetzers wirksam wurde.

Vargo, der den Zeitpunkt der Rückkehr immer herbeigesehnt hatte, wurde mit zu­nehmender Dauer immer unruhiger. Bestand nicht die Gefahr, daß während des zweiten Durchgangs noch viel schlimmere Effekte auftraten als beim erstenmal?

Drei Tage vor dem Aufbruch der dopmor­gischen Gruppe landete ein Doppelpyrami­denschiff auf dem Planeten. Gerüchte, die auch Vargo erreichten, kamen in Umlauf. Es hieß, Mamrohn befände sich als Gefangener an Bord des Schiffes.

Vargo fühlte sich durch diese Nachrichten weiter verunsichert.

Als die Gerüchte sich verdichteten, begab Vargo sich zu Kreton. Er fand den neuen Anführer der Varganen in einer Bespre­

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chung mit den führenden Wissenschaftlern im Hauptgebäude der dopmorgischen Stati­on. Vargo fühlte Enttäuschung; früher hatte man ihn ebenfalls zu solchen Anlässen ein­geladen.

So mußte er froh sein, daß Kreton ihn nach Abschluß der Besprechung empfing.

»Es geht um einen Passagier des gestern gelandeten Schiffes«, kam Vargo sofort auf sein Anliegen zu sprechen.

Kreton hob die Augenbrauen. »Sie meinen Mamrohn?« »Er ist also tatsächlich an Bord?« »Als Gefangener«, erklärte Kreton mür­

risch. »Er hat uns in letzter Zeit viele Schwierigkeiten bereitet.«

Vargo vermochte sich Mamrohn nicht als Gefangenen vorzustellen, es erschien ihm unmöglich, ja geradezu verwerflich, diesem Mann einen fremden Willen aufzuzwingen.

»Lassen Sie ihn frei!« forderte er. »Ich wundere mich, daß gerade Sie diesen

Vorschlag machen«, meinte der Anführer. »Schließlich hat Mamrohn Sie von Anfang an betrogen und ausgenutzt. Ich werde ihn auf keinen Fall freilassen. Er wird mit nach Tropoyth zurückkehren und dort vor ein Ge­richt gestellt.«

Vargo hatte den vagen Verdacht, daß Kre­ton beabsichtigte, ihn ebenfalls verurteilen zu lassen, aber er war zu müde und gleich­gültig, um dieser Vermutung nachzugehen.

Er verabschiedete sich von Kreton und kehrte in seine Behausung zurück. Als es dunkel war, steckte Vargo einen Lähmfeld­strahler in die Tasche und verließ seine Wohnung. Er besaß keinen festen Plan, aber er wollte zumindest den Versuch machen, Mamrohn zu befreien.

Außerhalb der Gebäude war es still, zwi­schen der Station und dem Landeplateau brannten einige Scheinwerfer. Vargo wußte, daß fast alle Varganen in ihren Wohnungen waren, um ihre Habseligkeiten einzupacken. Morgen sollte der Aufbruch von Dopmorg erfolgen.

Auf dem Weg zum Landeplateau stieß Vargo zweimal auf eine Gruppe von Techni-

William Voltz

kern, die Startvorbereitungen trafen. Er ging ihnen aus dem Weg und erreichte unange­fochten das Landefeld.

Die Schiffe wurden nicht bewacht, die primitiven Eingeborenen von Dopmorg hat­ten nach anfänglichen Angriffen gegen die Station längst das Weite gesucht und sich in anderen Gebieten niedergelassen.

Vargo kannte das Schiff, in dem Mam­rohn gefangengehalten wurde. Die Schleuse stand offen und war unbewacht. Aus dem Innern des Schiffes drangen Stimmen. Var­go betrat die Schleusenkammer und blickte in die Seitenkorridore. Rechts von der Schleuse arbeiteten zwei Männer, die linke Seite war frei, konnte aber von den Arbei­tern eingesehen werden. Vargo entschloß sich, den Hauptkorridor zu wählen, obwohl dort die Gefahr einer Entdeckung am größ­ten war.

Mit zwei Schritten durchquerte er den Vorraum, ohne dabei gesehen zu werden. Er atmete schwer, sein Körper war nicht mehr an solche schnellen Bewegungen gewöhnt.

Am Ende des Hauptkorridors lag die Zen­trale, dort hielten sich mit Sicherheit zahlrei­che Raumfahrer auf. Vargo erreichte einen Seitengang und verließ den Hauptkorridor. An Bord eines Doppelpyramidenschiffs gab es viele Möglichkeiten, einen Mann gefan­genzuhalten.

Vargo war sich darüber im klaren, daß er Glück benötigte, wenn er Mamrohn im Ver­lauf der Nacht finden und ungesehen aus dem Schiff bringen wollte.

Jedesmal, wenn er eine Tür öffnete, muß­te er damit rechnen, von Raumfahrern ange­sprochen zu werden.

Als er die Lagerräume erreichte, legte er eine Pause ein. Erst jetzt wurde er sich der Verrücktheit seines Vorgehens bewußt. Mamrohn zu befreien, war ein großes Risi­ko, denn Kreton würde alle Verdächtigen verhören lassen. Vielleicht versperrte Vargo sich auf diese Weise die Möglichkeit zu ei­ner Rückkehr nach Tropoyth.

Vor dem Eingang eines Materiallagers entdeckte Vargo einen bewaffneten Varga­

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17 Herrscher im Mikrokosmos

nen. Vargo hatte nicht damit gerechnet, daß

Kreton Mamrohn von einem Raumfahrer be­wachen lassen würde, denn es gab schließ­lich technische Möglichkeiten, die die Fä­higkeiten eines Varganen in dieser Bezie­hung übertrafen. Wahrscheinlich hatte Kre­ton sich von psychologischen Überlegungen leiten lassen. Mamrohn war immer noch der Inbegriff persönlicher Macht, durch die An­wesenheit eines Wächters wurde diese Vor­stellung getrübt.

Was immer der wahre Grund sein mochte – der Mann stand da und war Vargo im We­ge.

Zum zweitenmal fragte sich der alte Wis­senschaftler, ob er nicht besser umkehren sollte.

Zögernd wartete er einige Zeit in einer Nische. Der Wächter, den er von seinem Versteck aus beobachten konnte, machte einen gelangweilten Eindruck. Wahrschein­lich überlegte der Mann, warum er hier ste­hen mußte.

Vargo verließ die Nische. Eng an die Wand gepreßt, schlich er an den Raumfahrer heran. Das Lähmfeldgerät hielt er abschuß­bereit.

Plötzlich drehte der Wächter den Kopf und sah Vargo an.

Sie waren beide so überrascht, daß sie wie erstarrt dastanden und nichts taten als sich anzusehen.

Vargo erholte sich zuerst von seinem Schock und warf dem Mann ein Lähmfeld über den Kopf. Der Raumfahrer ächzte und ließ seine Waffe fallen. Das polternde Ge­räusch erschien Vargo unglaublich laut, er erwartete unwillkürlich, daß alle im Schiff anwesenden Raumfahrer nun angestürmt ka­men.

Es blieb jedoch still. Der Wächter rutschte langsam an der Wand herab, wobei er Vargo unverwandt ansah.

Vargo mußte sich zwingen, an ihm vorbei zu gehen.

Er öffnete die Tür zum Materiallager. Mamrohn hockte am Boden neben einem

Speicher. Er war ein Wrack. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen, sein

Körper war fast bis zum Skelett abgemagert. Vargo gab ein Geräusch des Entsetzens von sich, er konnte nicht glauben, was er da sah.

»Was hat man Ihnen angetan?« fragte er. Die leeren Augen richteten sich auf ihn,

aber kein Anzeichen des Erkennens regte sich in ihnen.

Vargo trat in den Raum und näherte sich Mamrohn.

»Ich bin Vargo!« rief er sanft. »Sie müs­sen sich erinnern.«

»Ja«, erwiderte Mamrohn mit kraftloser Stimme. »Was wollen Sie von mir?«

Vargo fragte sich entsetzt, was mit diesem Mann geschehen sein mochte. Der ehemali­ge Wissenschaftliche Erste Rat von Tro­poyth mußte schreckliche Erlebnisse durch­gemacht haben. War Kreton für den Zustand des Gefangenen verantwortlich?

»Ich will versuchen, Ihnen zu helfen«, brachte Vargo nach einer Weile des Schwei­gens hervor. »Sie gehören zu den Rebellen, die im Makrokosmos bleiben wollen. Dieser Wunsch sollte unter allen Umständen re­spektiert werden.«

Er unterbrach sich und biß sich auf die Unterlippe. Seine Worte kamen ihm sinnlos vor. Er beugte sich zu Mamrohn hinab und ergriff ihn am Arm. Als er ihn hochziehen wollte, machte Mamrohn sich frei und rich­tete sich ohne Hilfe auf. Der Gefangene war kräftiger als Vargo vermutet hatte.

»Sie ermöglichen mir die Flucht«, stellte Mamrohn fest.

Vargo nickte und deutete zum Eingang. »Wir müssen uns beeilen!« Sie verließen das Lager. Als Mamrohn

den bewegungslosen Wächter neben der Tür liegen sah, bückte er sich und ergriff die Waffe des Mannes. Vargo, der geglaubt hat­te, Mamrohn wollte den Strahler lediglich an sich nehmen, mußte entsetzt zusehen, wie der Befreite die Waffe auf den Wächter rich­tete und abdrückte.

»Sie sind wahnsinnig!« stieß Vargo her­

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vor. Mamrohn drehte die Waffe herum und

schmetterte ihm den Kolben gegen das Ge­sicht. Vargo fühlte Blut aus seiner Nase schießen und taumelte rückwärts. Er sank zu Boden. Bevor er das Bewußtsein verlor, sah er Mamrohn davonstürmen.

*

Vargo kam langsam zu sich. Um ihn her­um bewegten sich verschwommene Gestal­ten. Sein Gesicht schmerzte, die Kinnpartie schien zerschmettert zu sein. Als seine Blicke sich klärten, konnte er feststellen, daß er sich nicht mehr im Raumschiff, sondern in der Krankenabteilung der dopmorgischen Station befand. Zwei Ärzte bemühten sich um ihn, während Kreton neben dem Bett stand und voller Abscheu auf ihn her­abblickte.

Als Kreton sah, daß Vargo sein Bewußt­sein zurückerlangt hatte, sagte er: »Sie wer­den statt seiner vor Gericht stehen, Vargo.«

Vargo wollte sprechen, aber es gelang ihm nicht, den Mund zu öffnen. Die Schmerzen waren zu stark.

»Er hat drei Männer getötet und ist ver­schwunden«, berichtete Kreton in ohnmäch­tiger Wut. »Ich kann seinetwegen den Auf­bruch nicht verschieben, sonst würden wir ihn jagen. Eines Tages jedoch wird er be­straft werden.«

Vargo schloß die Augen. Er hatte seit der Erfindung des Umsetzers eine Reihe schwe­rer Fehler begangen, die sich nicht korrigie­ren ließen.

Das Verhängnis war jedoch mit der Ent­deckung der Absoluten Bewegung ausgelöst worden. Vargo bedauerte jetzt seinen Ent­schluß, dieses Geheimnis den Tropoythers zugänglich gemacht zu haben. Bisher hatte es nur Unglück über einen Teil seines Vol­kes gebracht, und ein Ende der Katastrophen war noch nicht abzusehen.

Der Wissenschaftler fürchtete die Bestra­fung durch ein tropoythisches Gericht nicht. Er war zu alt und abgeklärt, um sich über

William Voltz

sein eigenes Schicksal noch große Gedanken zu machen.

Die Frage, die ihn am meisten beschäftig­te, war, was die Rückkehrer aus dem Makro­kosmos in ihrer Heimat erwartete.

Vargo spürte, daß ihn die Erschöpfung übermannte. Er entspannte seinen Körper und ließ sich beinahe dankbar in eine neue Ohnmacht fallen.

4. Atlan

Die transparente Kugel war unter die Decke zurückgeschwebt und hatte meinen Körper freigegeben. Ich lag starr in der Mul­de und versuchte, mir über das soeben Er­lebte klar zu werden. Was ich durch den Be­richt der Erinnye erfahren hatte, war phanta­stisch und ungeheuerlich. Über einen unend­lichen Zeitraum hinweg bestanden Zusam­menhänge zwischen Makro- und Mikrokos­mos.

Meine Gedanken wirbelten durcheinan­der, nur mühsam gelang es mir, sie wieder zu ordnen.

Zweifellos entsprach der Bericht der Ra­chegöttin der Wahrheit. Ich wußte längst nicht alles, aber ich hatte vom Beginn eines gewaltigen kosmischen Dramas erfahren, in das Crysalgira und ich immer tiefer ver­strickt wurden.

Bei meinen traumähnlichen Erlebnissen hatte ich Ischtar wiedergesehen, die Erinne­rung an ihren Anblick brach alte Wunden in mir auf. Aber was bedeutete schon mein Schmerz über die Trennung von der Golde­nen Göttin im Vergleich zu dem Schicksal jener Tropoythers, die als Varganen in den Makrokosmos vorgestoßen waren?

»Atlan!« Crysalgiras Ruf brachte mich in die Wirklichkeit zurück. »Was bedeutet das alles?«

»Wir werden sicher noch mehr erfahren«, versuchte ich sie zu beruhigen. Sie besaß längst nicht soviel Informationen wie ich, deshalb mußte das Gesehene für sie rätsel­haft sein. »Später werde ich dir alles erklä­

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19 Herrscher im Mikrokosmos

ren.« Die Erinnye schwebte heran. »Der Bericht wird später fortgesetzt«,

kündigte sie an. »Nun stehe ich für Fragen bereit.«

Ich erinnerte mich, daß Ischtar mir die Unsterblichkeit versprochen hatte. War sie bereit gewesen, mich mit in den Mikrokos­mos zu nehmen, um dort zusammen mit mir zu leben?

Ich dachte an die Jagd nach dem Stein der Weisen, bei der Orbanaschol III. und ich uns erbitterte Kämpfe geliefert hatten.

Der Stein der Weisen, daran zweifelte ich jetzt keinen Augenblick mehr, war das Ge­heimnis der Absoluten Bewegung.

Was mochte noch alles geschehen sein, um Ischtar zu solchen Versprechungen zu verleiten?

Ich wandte mich an die Erinnye. »Wo liegt die Eisige Sphäre?« erkundigte

ich mich. »Hier im Mikrokosmos«, erwiderte der

varganische Roboter bereitwillig. »Die Eisi­ge Sphäre wird Yarden genannt.«

Ich dachte an den Tejonther Groya-Dol. Im Augenblick seines Todes hatte er be­hauptet, schon in Yarden gewesen zu sein. Als Beweis hatte er seine Eisnarbe gezeigt.

Was war das für ein schrecklicher Platz, wo die letzten Varganen lebten?

Und was war mit den Tropoythers gesche­hen, die die Invasion in den Makrokosmos nicht mitgemacht hatten? Gab es diese mächtige Zivilisation nicht mehr?

Magantilliken und sein unheimlicher Auf­trag fielen mir wieder ein.

»Es ist sinnlos, wenn ich Fragen stelle«, sagte ich der Erinnye. »Deshalb schlage ich vor, daß du den Bericht fortsetzt.«

»Ich bin einverstanden«, erklärte das durchsichtige Wesen.

Ich blickte zur Decke und sah die Kugel wieder herabkommen. Gestalten wirbelten über ihre Oberfläche. Ich schloß die Augen und fühlte, daß meine Gedanken sich ver­wirrten.

Ich hörte auf, Atlan zu sein.

Ich war …

5. Vargo

Unmittelbar nach dem Übergang in den Mikrokosmos begannen die Temperaturen an Bord der achtzehnhundert Doppelpyrami­denschiffe unter den Gefrierpunkt abzusin­ken. Techniker und Raumfahrer hatten Mü­he, die Funktionsfähigkeit der Schiffe in vollem Umfang aufrechtzuerhalten.

Seltsamerweise machte die plötzlich her­einbrechende Kälte den Besatzungsmitglie­dern der Schiffe nichts aus, sie schienen im Verlauf des zweiten Übergangs zwischen zwei Existenzebenen eine Immunität gegen Kälte erlangt zu haben.

Das traf auch für Vargo zu, der in einer Kabine gefangengehalten wurde.

Das aufgetretene Phänomen veranlaßte Kreton, den alten Wissenschaftler in die Zentrale zu rufen.

»Ich möchte, daß Sie sich die Kontrollin­strumente ansehen«, erklärte Kreton die überraschende Maßnahme. »Es sieht so aus, als hätte unsere Rückkehr verschiedene Er­scheinungen ausgelöst, für die wir noch kei­ne Erklärungen gefunden haben.«

»Die Kälte deutet auf einen Energiever­lust in einem bestimmten Bereich des Mi­krokosmos hin«, gab Vargo zurück. Er hatte vorausgeahnt, daß es zu neuen Schwierig­keiten kommen würde. »Die Durchbruch­stelle, die wir mit Hilfe der Absoluten Be­wegung geschaffen haben, ist instabil ge­worden, es gibt keine feste Grenze mehr zwischen den Existenzebenen.«

»Was schlagen Sie vor?« Vargo fühlte angesichts der Hilflosigkeit

seines Gegners keinen Triumph, schließlich waren sie alle von diesen Veränderungen be­troffen. Es war noch nicht absehbar, welche Konsequenzen sich aus der Entwicklung er­gaben.

Vargo spürte, daß die in der Zentrale an­wesenden Besatzungsmitglieder ihn erwar­tungsvoll ansahen. Trotz seiner Ächtung war

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er noch immer der anerkannte Fachmann im Umgang mit der Absoluten Bewegung.

Der alte Wissenschaftler beobachtete die Kontrollanlagen. In jenem Bereich, wo die Flotte auf ihre ursprüngliche Größe und Masse reduziert worden war, hatte sich ein nebelartiges Gebilde ausgebreitet. Die Schif­fe standen zwar im Mikrokosmos, aber sie befanden sich innerhalb einer aus einer über­geordneten Existenzebene hervorbrechenden Blase. Der Masseaustausch hatte nicht ein­wandfrei funktioniert.

Vargo befürchtete, daß sich diese »Kälteblase« allmählich vergrößern würde, wenn man nichts dagegen unternahm.

Die Rückkehr verlief also wesentlich schwieriger, als die Varganen zunächst an­genommen hatten.

»Wir haben einen Teil unserer ursprüngli­chen Masse mit in den Mikrokosmos ge­bracht«, stellte Vargo fest. »Das hat zu einer Aufweichung der physikalischen Grenze ge­führt.«

Kretons Augen weiteten sich. »Dieser Bereich des Mikrokosmos ist in

Gefahr!« »Ja«, bestätigte Vargo. »Die Gefahr ist

nicht akut, aber sie wird sich ausweiten, wenn nichts dagegen unternommen wird.«

»Was können wir tun?« fragte einer der anderen Wissenschaftler.

»Das Leck muß geschlossen werden«, antwortete Vargo. »Zumindest müssen wir alles tun, damit es sich nicht vergrößert. Das bedeutet, daß wir in einer noch zu findenden Form Masse an den Makrokosmos abtreten müssen.«

»Glauben Sie, daß wir mit unseren Schif­fen diese Kälteblase verlassen können?« fragte eine Frau.

Vargo hatte sich darüber bereits Gedan­ken gemacht, er wußte keine Antwort dar­auf. Sie mußten es versuchen, nur so konn­ten sie es herausfinden. Angesichts der an­stehenden Probleme rechnete Vargo nicht damit, daß er in sein Gefängnis zurückkeh­ren mußte. Man brauchte ihn. Die Umstände seiner Freilassung waren alles andere als er-

William Voltz

freulich, aber Vargo war entschlossen, sei­nem Gegner eine Zusammenarbeit anzubie­ten.

»Wir machen zunächst einen Versuch, ein Schiff aus dieser seltsamen Energiewolke herauszubringen«, schlug Kreton vor. »Es kommt darauf an, Tropoyth zu erreichen und unser Volk von unserer Rückkehr zu unter­richten.«

»Auf Tropoyth lebt eine neue Generati­on!« wandte einer der Wissenschaftler ein. »Wie werden sie auf unsere Ankunft reagie­ren? Wir sind nicht gealtert, aber unsere Brüder und Schwestern sind längst nicht mehr am Leben. Es wird zu Konflikten kom­men.«

»Vielleicht weigern sie sich, uns aufzu­nehmen!« befürchtete jemand.

Vargo trat von den Kontrollen zurück. »Wir sind unsterblich, steril und eiskalt«,

sagte er leidenschaftslos. »Ich befürchte, daß das noch nicht alles ist.«

*

Das kleine, robotisch gesteuerte Beiboot hatte die Kälteblase durchquert und näherte sich nun der Grenze. An Bord der TER­ROTH, wo sich auch Kreton, Vargo und alle anderen führenden varganischen Wissen­schaftler aufhielten, konnte der Flug des un­bemannten Schiffes ortungstechnisch ein­wandfrei beobachtet werden.

In wenigen Augenblicken würde sich ent­scheiden, ob ein Verlassen der Kälteblase möglich war.

In der Zentrale der TERROTH herrschte gespannte Erwartung. Vargo wußte, daß es an Bord der übrigen Schiffe nicht anders aussah.

Was sollten sie tun, wenn dieses Experi­ment scheiterte?

Vargo wagte nicht, an eine solche Mög­lichkeit zu denken.

»Es ist soweit!« rief Kreton. Seine Stim­me klang krächzend. Seit ihrer Rückkehr in den Mikrokosmos hatte Vargo gelernt, die­sen Mann richtig einzuschätzen. Kreton war

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21 Herrscher im Mikrokosmos

keineswegs der Ignorant, für den er ihn im­mer gehalten hatte. Der Nachfolger Mam­rohns war selbstloser als er den Eindruck er­weckte.

Auf dem Bildschirm der Raumortung blitzte es auf. Einen Augenblick lang war ei­ne kleine leuchtende Wolke zu erkennen, die sich jedoch rasch wieder auflöste.

Vargos Blicke blieben auf den Bildschirm gerichtet, er wagte nicht, irgend jemand in der Zentrale anzusehen, denn er befürchtete, daß er den Ausdruck maßlosen Entsetzens in den Gesichtern der anderen nicht ertragen konnte.

Jemand machte seiner Enttäuschung mit einem Aufstöhnen Luft.

Kreton sagte ungläubig: »Es ist explo­diert!«

»Wir sind gefangen!« schrie eine der Frauen. »Gefangen in dieser eisigen Sphä­re.«

»Das war nur der erste Versuch«, raffte Vargo sich zu einer Stellungnahme auf. »Wir dürfen nicht aufgeben. Es wird einen Weg hinaus geben.«

Er sollte recht behalten. Der Weg jedoch, den sie in absehbarer Zeit finden sollten, war so phantastisch, daß niemand an Bord der TERROTH auch nur ahnte, daß es ihn gab.

6. Vargo

Nachdem zwei weitere Beiboote explo­diert waren, gab Kreton den Befehl, die Ver­suche vorläufig einzustellen. Es galt, die Ei­sige Sphäre, wie sie ihren neuen Aufent­haltsort nannten, zunächst einmal gründlich zu erforschen. Eine unmittelbare Lebensge­fahr für die zurückgekehrten Varganen be­stand nicht, denn die Schiffe konnten für lange Zeit als Lebensraum dienen.

Die Hoffnung, daß die Eisige Sphäre von tropoythischen Raumfahrern angepeilt und aufgesucht werden könnte, erfüllte sich zu Vargos Erstaunen nicht. Das Ausbleiben ei­ner Hilfe von außen beunruhigte Vargo mehr als er den anderen gegenüber einge­

stand. Er entschloß sich, mit Kreton darüber zu sprechen.

»Wir sind noch nicht lange genug hier«, meinte Kreton. »Unser Volk hatte wahr­scheinlich noch keine Gelegenheit, diesen Raumsektor anzufliegen.«

Vargo rieb sich das Gesicht. »Ich weiß nicht«, zweifelte er. »Die Sphä­

re hat eine große Ausdehnung und ist außer­dem ein starker Strahler. Man hätte sie fin­den müssen.«.

»Was könnte der Grund sein, warum wir noch keinen Kontakt haben?« wurde Kreton konkreter.

»Es gibt mehrere Erklärungen«, antworte­te der alte Mann. »Ich habe schon überlegt, ob so große Verschiebungen zwischen den Existenzebenen stattgefunden haben, daß wir an einer völlig anderen Stelle des Mikro­kosmos herausgekommen sind. Dieser Ver­dacht wurde inzwischen durch astronomi­sche Untersuchungen widerlegt. Wir befin­den uns in unserem Universum, in unserer mikrokosmischen Galaxis.«

»Und weiter?« »Wir waren ziemlich lange unterwegs«,

fuhr Vargo zögernd fort. »Inzwischen kann viel geschehen sein.«

Kreton war intelligent genug, um die Hin­tergründigkeit der Antwort zu verstehen.

»Unsinn!« widersprach er energisch. »Was soll geschehen sein?«

»Nachdem wir den Makrokosmos erlebt haben, wissen wir, von welchen Zufälligkei­ten unsere Existenz hier ›unten‹ abhängig sein kann. Vielleicht gibt es keine tropoythi­sche Raumfahrt mehr, vielleicht gibt es nicht einmal mehr eine Zivilisation dieses Na­mens.«

Vargo wunderte sich, daß ihm diese Wor­te so leicht über die Lippen kamen. Immer­hin deutete er die Möglichkeit an, daß das Volk, dem sie alle entstammten, nicht mehr existierte.

Unbewußt war die Trennung zwischen Tropoythers und Varganen längst vollzogen, erkannte Vargo erstaunt. Er hatte von sei­nem Volk wie von Fremden gesprochen.

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22

»Sprechen Sie mit keinem anderen Besat­zungsmitglied über diesen Verdacht«, warn­te ihn Kreton. »Wir haben schon Schwierig­keiten genug. Wenn jetzt bekannt wird, was Sie befürchten, kann es zu einer Katastrophe kommen.«

Vargo glaubte nicht an diese Katastrophe. Die Unsterblichen hatten im Makrokosmos gelernt, sich auf ungewohnte Situationen einzustellen und würden auch mit dieser Entwicklung fertig werden.

Die Zuversicht des Wissenschaftlers er­wies sich rasch als trügerisch, denn die füh­rende Gruppe unter Kreton hatte es immer schwerer, die Kontrolle über die Ereignisse in der Eisigen Sphäre zu behalten. An Bord einiger Dutzend Schiffe kam es zu Revolten, wobei die Wissenschaftler in der Führung abgelöst wurden.

Die Varganen wählten Techniker als ihre Anführer, weil sie sich von diesen Frauen und Männern die Erhaltung der Funktionsfä­higkeit der Schiffe versprachen, was ihnen im Augenblick vorrangig erschien.

Auch an Bord der TERROTH gab es un­zufriedene Gesichter, aber niemand wagte, offen gegen Kretons Anordnungen zu prote­stieren. Kretons Autorität reichte aus, um ein Überspringen der Revolten auf alle Schiffe zu verhindern, so daß die Wissenschaftler weiterhin in der Lage waren, gemeinsame Aktionen fast aller Besatzungen zu planen.

Bedauerlich war nur, daß die Wissen­schaftler viel Zeit zur Stabilisierung der po­litischen Lage aufwenden mußten, Zeit, die sie besser zur Erforschung der Eisigen Sphä­re genutzt hätten.

Als die Varganen sich mit den Gegeben­heiten abzufinden begannen und sich wieder von ihren revoltierenden Artgenossen ab­wandten, kam es zum Eklat.

Kreton, der von der TERROTH aus zu ei­nem anderen Schiff unterwegs war, erreichte sein Ziel nicht. Sein Beiboot wurde von Schiffen der Aufständischen gestoppt und gewaltsam weggeschleppt.

Die Entführung löste eine schwere Krise aus.

William Voltz

Die besonnenen Varganen sahen sich ih­res Anführers beraubt, und der Frieden in­nerhalb der Eisigen Sphäre drohte durch die Aktionen einiger unüberlegt handelnder Frauen und Männer zu zerbrechen.

*

Das Schiff, auf das man Kreton entführt hatte, trug den Namen ERMOTH und wurde von einem sogenannten Erneuerungsrat be­fehligt. Dem Rat gehörten zwei Männer und eine Frau an: Verlos, Kandro und Veschnar. Es waren bisher unbekannte Techniker, die von sich behaupteten, die Besatzung ihres Schiffes stünde hinter ihnen.

An eine gewaltsame Befreiung Kretons aus der ERMOTH war nicht zu denken; für den Fall, daß dieser Versuch gemacht wer­den sollte, hatte der Erneuerungsrat mit Kre­tons Tod gedroht. Es gab unter den Wissen­schaftler keinen, der diese Drohung nicht ernst genommen hätte.

An Bord der TERROTH kamen die Wis­senschaftler zu einer Besprechung zusam­men. Ein Mann namens Verkohr wurde zum vorläufigen Leiter der Gruppe bestimmt.

Verkohr war energisch, aber nicht über­mäßig intelligent. Für Vargo stand fest, daß man diesen Mann nicht wegen seiner Fähig­keiten als Wissenschaftler gewählt hatte, sondern weil man von ihm erwartete, daß er ein Mittel gegen die revoltierenden Raum­fahrer finden würde.

Verkohr zögerte auch nicht, die Dinge beim Namen zu nennen.

»Wenn wir Kretons Leben schonen wol­len, müssen wir abwarten, welche Bedin­gungen uns dieser sogenannte Erneuerungs­rat stellen wird. Die Aktion war nicht gegen Kreton persönlich gerichtet, sondern die Tä­ter wollen auf diese Weise etwas erreichen, was sie aufgrund ihres geringen Einflusses sonst niemals verwirklichen könnten.«

Es dauerte nicht lange, dann meldete sich Kandro von Bord der ERMOTH über Funk. Er war ein großer, düster aussehender Var­gane, der eine gewisse Scheu davor zu ha­

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ben schien, sich auf dem Bildschirm der Funkanlage zu zeigen. Vielleicht war er nicht gewohnt, Mittelpunkt der Aufmerk­samkeit zu sein. Das Gespräch, das sich nun zwischen Verkohr und Kandro entwickelte, konnte an Bord aller Schiffe empfangen werden.

»Wir halten Kreton gefangen«, sagte Kan­dro nervös. »In diesem Zusammenhang wer­den wir einige Bedingungen stellen, ohne deren Verwirklichung der Wissenschaftler dieses Schiff nicht mehr lebend verlassen wird.«

Vargo war sicher, daß dies keine leere Drohung war. Bei aller Nervosität war Kan­dro ein Fanatiker, der seine Ansichten um jeden Preis durchzusetzen versuchte.

Verkohr verhielt sich klug. Er antwortete nicht, sondern wartete, daß der andere fort­fahren würde. Dadurch wurde Kandro weiter verunsichert, er blinzelte gegen das Licht.

»Wir Techniker haben nachgedacht, wie wir den uns zur Verfügung stehenden Le­bensraum, nämlich die achtzehnhundert Schiffe, möglichst lange nutzen können«, sagte er schließlich.

»Und was ist das Ergebnis dieser Bemü­hungen?« erkundigte sich Verkohr spöttisch, als sei ausgeschlossen, daß von der anderen Seite auch nur eine brauchbare Idee kom­men könnte.

»Im Augenblick wird die Energie aller Schiffe verschwendet«, stellte Kandro fest. »Kein Wunder, sie stehen dezentralisiert in­nerhalb dieser Energieblase.«

Vargo war überrascht, daß dieses Ge­spräch sich um technische Aspekte drehte, er hatte eigentlich erwartet, daß die Forde­rungen des Erneuerungsrats politischer Na­tur sein würden.

»Was haben Sie dagegen einzuwenden?« fragte Verkohr.

»Wir fordern eine den Umständen ent­sprechende Rationierung der Energien«, ver­kündete Kandro. Jetzt, da es um sein Fach­gebiet ging, wirkte er sicherer. »Das ist nur zu verwirklichen, wenn alle Schiffe zu ei­nem großen Pulk zusammengebracht und

miteinander verbunden werden. Wir haben errechnet, daß drei Schiffe jeweils genügen, um den gesamten Pulk mit der nötigen Stan­denergie zu versorgen. Sobald der Vorrat von drei Schiffen aufgebraucht ist, werden die nächsten Einheiten eingeschaltet. Auf diese Weise können wir fast für unbegrenzte Zeit hier leben.«

Der Vorschlag überraschte Vargo. Er war zumindest wert, daß man darüber diskutier­te. Die Energieversorgung aller Schiffe wür­de im Verlauf der nächsten Jahre zu einem Problem werden – auf dieser Basis aller­dings konnte sie gelöst werden.

Zwei oder drei Schiffe konnten außerhalb des Pulks bleiben, um bei eventuell notwen­dig werdenden Einsätzen benutzt werden zu können.

»Sie wissen, daß diese Idee undurchführ­bar ist«, hörte Vargo den Sprecher der Wis­senschaftler sagen. »Ich denke nicht an die technischen Probleme, sondern daran, daß wir sobald wie möglich aus der Eisigen Sphäre entkommen wollen. Eine Verbin­dung aller Schiffe würde auch politische und psychologische Schwierigkeiten mit sich bringen.«

»Ja«, stimmte Kandro zu. »Darüber müß­te gesprochen werden. Wir geben Ihnen einen Tag Zeit, um über unsere Bedingun­gen zu beraten.«

Das Gerät wurde ausgeschaltet. »Nun?« fragte Verkohr und sah sich im

Kreis der Wissenschaftler um. Niemand wollte etwas sagen, so daß Var­

go sich entschloß, den Tatbestand seiner Un­popularität zu mißachten.

»Es ist eine gute Idee«, sagte er. »Im Au­genblick gibt es keine Chance, die Eisige Sphäre zu verlassen, deshalb müssen wir mit allem, was uns hier zur Verfügung steht, sorgsam umgehen.«.

Die anderen sahen ihn unwillig an, sie waren einfach nicht bereit, diesen Vorschlag zu akzeptieren.

Der Erneuerungsrat war der politische Gegner – er hatte unrecht.

Vargo verließ achselzuckend die Zentrale,

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er sah keinen Sinn darin, mit den Wissen­schaftlern zu streiten. Die Zeit würde dem Erneuerungsrat in die Hände spielen.

Vor seinen geistigen Augen sah Vargo be­reits das Bild eines aus achtzehnhundert Raumschiffen bestehenden Pulks im Innern der Eisigen Sphäre. Wenn sie nicht aufgeben und sterben wollten, war das der nächste Schritt zu ihrer Rettung.

Der Prozeß des Umdenkens währte ein halbes Jahr, dann wurde Kreton freigelassen. Techniker und Wissenschaftler setzten sich an einen Tisch, um über die notwendigen Vorbereitungen zu beraten.

Erstaunlicher als diese Entwicklung war die Tatsache, daß außerhalb der Eisigen Sphäre noch immer kein tropoythisches Raumschiff aufgetaucht war.

So war es kein Wunder, daß die Varganen offen über die ketzerische Frage sprachen, ob sie vielleicht die letzten Tropoythers wä­ren.

*

Das Leben an Bord der Doppelpyrami­denraumschiffe begann sich zu normalisie­ren. Der Pulk war praktisch fertiggestellt, die Unsterblichen in der Eisigen Sphäre be­gannen darüber nachzudenken, was sie tun konnten, um nicht von Gleichförmigkeit und Langeweile umgebracht zu werden.

Kandro und Kreton, die gemeinsam die Regierung anführten, verzeichneten einen Anstieg aggressiver Handlungen. Es kam zu drei Morden, die Anzahl der Selbstmörder wuchs auf achtzehn.

Für Vargo war diese Entwicklung besorg­niserregend, denn sie signalisierte den Zer­fall einer kleinen Gesellschaft, die mit ihrer Zerstörung begann, kaum daß sie sich gefe­stigt hatte.

Im Verlauf einer Besprechung mit der Re­gierung, an der neben Vargo noch sechs an­dere Wissenschaftler teilnahmen, schlug der Entdecker der Absoluten Bewegung vor, verschiedene Aktivitäten zu entwickeln. Forschungs- und Arbeitspläne sollten ausge-

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arbeitet werden – auch wenn sie noch so sinnlos erschienen.

»Die Varganen müssen glauben, daß ihr Leben noch einen Sinn hat, sonst werden sie sich selbst aufgeben«, warnte ein Wissen­schaftler namens Metorg. »Wir müssen sie beschäftigen und in Bewegung halten.«

»Solange wir mit dem Aufbau des Pulks beschäftigt waren, gab es keine Probleme«, fügte Vargo hinzu. »Jetzt haben wir kein Ziel mehr, auf das wir hinarbeiten. Das ist unser Problem.«

Kreton war von der Richtigkeit dieser Mahnungen überzeugt, aber der nüchterne Techniker Kandro hielt sie für übertrieben. Innerhalb der Regierung zeichneten sich neue Schwierigkeiten und Machtkämpfe ab.

Ein paar Tage nach dieser Besprechung nahm die Entwicklung jedoch eine unver­hoffte Wendung.

Vargo wurde von Kreton in die CES­SORT gerufen, ein Schiff fast im Zentrum des Pulks.

»Ich muß Ihnen etwas zeigen«, sagte Kre­ton nervös. »Wenn nicht alles täuscht, haben wir ein neues Problem.«

Vargo stellte keine Fragen, sondern folgte dem Regierungsmitglied in die Aufenthalts­räume des Schiffes. Erstaunt stellte er fest, daß einer der Räume bewacht wurde.

Kreton und Vargo durften passieren. Der Raum lag in Dunkelheit, aber im Licht, das durch die offene Tür hereinfiel, sah Vargo zwei Varganen am Boden liegen.

Nachdem er die Tür hinter sich geschlos­sen hatte, schaltete Kreton die Beleuchtung ein. Vargo, der zunächst geglaubt hatte, die beiden Männer am Boden seien ermordet worden, sah sich getäuscht. Die Männer leb­ten, aber ihre Körper befanden sich im Zu­stand der Starre.

»Sie gehören nicht zur Stammbesatzung der CESSORT«, berichtete Kreton. »Wir ha­ben sie von zwei anderen Schiffen hierher bringen lassen, wo sie beinahe gleichzeitig in diesem Zustand gefunden wurden. Ihre Namen sind Perlock und Barraton, beides Techniker.«

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25 Herrscher im Mikrokosmos

Vargo beugte sich zu den Bewußtlosen hinab und untersuchte sie kurz.

»Ihre Bewußtlosigkeit ist so tief, daß ihr Gehirn so gut wie keine Reaktionen mehr zeigt«, erklärte Kreton. »Wir haben sie gründlich untersucht, ihre Organe arbeiten einwandfrei, aber man kann sie nicht mehr als Lebewesen in unserem Sinne bezeich­nen. Es sind … Maschinen, wenn Sie so wollen.«

Vargo richtete sich wieder auf. »Es sind Hüllen«, fuhr Kreton bitter fort. »Sie befürchten, daß sich weitere Fälle er­

eignen könnten?« erriet Vargo bestürzt. »Ja.« Kreton sah ihn an, als wollte er fra­

gen: Warum beschäftige ich mich noch mit all diesen Dingen, welchen Sinn hat das überhaupt?

»Wenn es der Anfang einer Epidemie sein sollte«, sinnierte Vargo, »dann ist es eine sehr merkwürdige Epidemie.«

»Wir haben nichts gefunden, nicht den geringsten Hinweis«, sagte Kreton verzwei­felt. »Sie liegen da und haben aufgehört zu denken. Als sei das Bewußtsein aus ihren Körpern gewichen.«

»Gibt es irgendwelche Zusammenhänge in ihrem Leben?«

»Nein«, sagte Kreton entschieden. »Sie hatten vorher nichts miteinander zu tun. Wir haben ihre gesamte Umgebung nach Berüh­rungspunkten abgetastet. Sie wurden völlig unabhängig voneinander davon betroffen.«

Vargo grübelte über dieses Problem nach. Natürlich gab es Zusammenhänge, Kreton und er waren nur nicht in der Lage, sie zu erkennen.

»Bisher konnten wir die Sache verheimli­chen«, verkündete Kreton. »Wenn sich diese Fälle jedoch wiederholen sollten …« Er überließ es Vargo, sich die Konsequenzen auszudenken.

»Wir denken beide das gleiche«, vermute­te Vargo. »Das ist kein medizinisches, son­dern ein metaphysisches oder psychologi­sches Problem. Von dieser Seite sollten wir es auch angehen.«

»Das wird eine richtige Generalstabsar­

beit«, befürchtete das Regierungsmitglied. Vargo nagte an der Unterlippe. Nach ei­

ner Weile schlug er vor: »Sagen Sie allen Varganen, was geschehen ist. Vielleicht sind einige ganz glücklich, wenn sie hören, daß etwas passiert.«

Kreton verstand und nickte. Innerhalb der nächsten Tage fielen drei­

undvierzig weitere Frauen und Männer in die unheimliche Starre.

Bevor jedoch Panikstimmung aufkommen konnte, erwachte Barraton aus seiner Be­wußtlosigkeit und behauptete, er hätte sich außerhalb der Eisigen Sphäre aufgehalten.

7. Vargo

Barraton genoß es sichtlich, im Mittel­punkt des Interesses zu stehen. Vargo wünschte, ein weniger eitler Vargane wäre zuerst aus der Starre erwacht, um über seine Erlebnisse zu berichten, denn bei Barraton bestand die Gefahr, daß er Ereignisse erfand, um sich wichtig zu machen.

Die Mitglieder der Regierung waren ge­schlossen erschienen, um Barratons Bericht zu hören, daneben befanden sich die wich­tigsten Wissenschaftler im Aufenthaltsraum.

Vargo brauchte sich nur umzusehen, um eine große Bereitschaft bei allen Beteiligten zu erkennen – die Bereitschaft, um jeden Preis etwas Sensationelles zu erfahren, was zur Veränderung der augenblicklichen Situa­tion innerhalb der Eisigen Sphäre beitragen konnte.

»Berichten Sie uns, was sich ereignet hat«, forderte Kreton den Techniker auf.

Barraton sah weder krank noch angegrif­fen aus, er hatte die sieben Tage der Starre ohne sichtbaren Schaden bestanden.

»Ich befand mich in meiner Kabine, als es geschah«, erzählte Barraton. »Ich lag auf dem Bett und dachte darüber nach, daß wir in der Eisigen Sphäre gefangen sind. Dabei überlegte ich, wie wir von hier entkommen könnten.«

»Einen Augenblick!« unterbrach ihn Kan­

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dro. »Es ist wichtig, daß wir über Ihren Zu­stand informiert werden. Befanden Sie sich im Halbschlaf – war es eine Art Traum, was Sie erlebten?«

Barraton schüttelte den Kopf. »Ich hatte den intensiven Wunsch, aus der

Eisigen Sphäre zu entkommen, das ist alles. Plötzlich löste sich die Umgebung vor mei­nen Augen auf, ich spürte, daß ich meinen Körper verließ.«

Seine Worte lösten Unruhe unter den Zu­hörern aus.

»Sie wollen sagen, daß Ihr Bewußtsein den Körper verließ«, warf Metorg ein.

»Ich weiß nicht«, sagte Barraton achsel­zuckend. »Auf jeden Fall fand ich mich in einem anderen Körper wieder, im Körper ei­nes Tropoythers, der tot in einem Sterilisati­onsbehälter lag.«

»Woher wußten Sie das so genau?« wollte Vargo wissen.

Barraton sah ihn an und sagte ungeduldig: »Ich wußte es nicht sofort, ich fand es erst später heraus. Zunächst merkte ich, daß ich in einem anderen Körper war, der unter mei­nem Einfluß zum Leben erwachte. Ich konn­te mich aufrichten und diesen Behälter ver­lassen. Ich befand mich in einer unterplane­tarischen tropoythischen Station, wo etwa zweihundert Behälter mit toten Männern und Frauen darin standen. Lebende Tropoy­thers konnte ich nicht entdecken.«

»Was haben Sie dann getan?« wollte Kan­dro wissen.

»Offen gestanden hatte ich große Angst. Ich wagte nicht, diesen Raum zu verlassen, aber es kam auch niemand zu mir herein.«

Kandro runzelte die Stirn. »Haben Sie die ganze Zeit dort unten zu­

gebracht?« »Ja.« »Sie können also nicht genau sagen, ob

Sie sich auf Tropoyth befanden?« »Nein, es kann auch ein Kolonialplanet

gewesen sein.« Vargo entschuldigte sich im stillen bei

dem wiedererwachten Techniker. Barraton hatte der Versuchung widerstanden, eine

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Geschichte zu erfinden. Er hatte sogar zuge­geben, daß ihn die Furcht an einen Raum ge­bunden hatte. Die Zuhörer schienen ent­täuscht zu sein, viele von ihnen waren nicht bereit, Barraton zu glauben.

»Zweifellos haben Sie geträumt«, meinte Kandro.

Kreton stand auf. »Das ist völlig ausge­schlossen. Wir haben diesen Mann im Zu­stand der Starre untersucht, sein Gehirn zeigte während dieser Zeit nicht die gering­sten Anzeichen einer Reaktion.«

»Sie haben ihn einmal untersucht, nicht ununterbrochen!« erinnerte Kandro.

Kreton setzte zu einer heftigen Erwide­rung an, dann besann er sich, daß es besser war, in Anwesenheit Dritter keine Auseinan­dersetzungen mit seinem Partner zu begin­nen.

Vargo kam dem Wissenschaftler zu Hilfe. »Es handelt sich einwandfrei um Fälle

von Bewußtseinswanderung«, behauptete er. »Barratons Geist, sein Ego, seine Seele oder wie immer wir es nennen wollen, verließ den Körper, um sich in einem anderen Kör­per anzusiedeln.«

»Das ist ja lächerlich!« rief ein anderes Regierungsmitglied.

»Keineswegs«, widersprach Vargo ruhig. »Erinnern Sie sich an die Effekte, die bisher durch die Benutzung der Absoluten Bewe­gung aufgetreten sind: Wir wurden unsterb­lich, steril und können inmitten dieser eis­kalten Umgebung leben. Nun kommt noch die Fähigkeit der Bewußtseinsteleportation hinzu. Wir sollten dankbar sein, daß es dazu gekommen ist, denn jetzt haben wir endlich eine Möglichkeit, die Eisige Sphäre zu ver­lassen und uns draußen umzusehen. Ich bin sogar überzeugt, daß wir mit Hilfe unserer Wirtskörper, in die wir eindringen, Einfluß auf die Ereignisse außerhalb der Eisigen Sphäre nehmen können.«

Seine Worte lösten Unglauben aus. Die Entwicklung, die er seinen Artgenossen ver­hieß, erschien ihnen zu phantastisch. Vargo war jedoch sicher, daß sich jede seiner Ver­mutungen realisieren würde.

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27 Herrscher im Mikrokosmos

Als die Besprechung beendet war, zog der alte Wissenschaftler sich in seine Kabine zu­rück.

Er hatte einen tollkühnen Entschluß ge­faßt.

Warum sollte ihm nicht gelingen, was Barraton und die anderen erreicht hatten?

Er ließ sich auf seinem Bett nieder und schloß die Augen. Nach einer Weile gelang es ihm, seine Gedanken völlig zu konzen­trieren. Er wünschte, die Eisige Sphäre zu verlassen.

Es gelang ihm!

*

Die Zeitspanne, die er für den Wechsel benötigt hatte, war nicht meßbar, aber Vargo war sicher, daß der Vorgang sich in Nullzeit vollzogen hatte.

Er spürte, daß er einen anderen Körper besaß. Bereits jetzt überlegte er, wie sie ler­nen konnten, den willkürlichen Wechsel zu steuern, so daß es möglich war, Ort und Körper zu bestimmen. Er befand sich in ei­nem völlig erhaltenen tropoythischen Kör­per, der vor langer Zeit gestorben, aber in seinem Sterilisationsbehälter völlig erhalten geblieben war.

Da Barraton von einem ähnlichen Vor­gang berichtet hatte, nahm Vargo an, daß al­le Varganen, die diesen Prozeß bisher miter­lebt hatten, in toten Körpern zu sich gekom­men waren.

Vargo bewegte sich, er fühlte die Enge des Behälters. Offensichtlich war es ihm nicht möglich, die Erinnerungen und das Wissen des toten Gehirns zu nutzen, denn ihm standen nur die eigenen Erfahrungen und Informationen zur Verfügung. Er wußte nicht, wie der Tote hieß und auf welcher Welt er sich befand.

Als er sich aufrichtete, stieß er gegen den Deckel des Behälters. Er löste seine Arme aus den Bändern des Behälterbodens und preßte die Hände gegen den Deckel. Seine Bemühungen blieben ohne Erfolg, so daß er befürchtete, daß er nicht in diesem Körper

bleiben konnte. Er hätte zurückkehren und einen neuen Versuch unternehmen müssen. Da er die damit verbundenen Risiken nicht kannte, entschloß er sich, verstärkte An­strengungen zu seiner Befreiung zu machen. Es gelang ihm, die Beine anzuziehen und die Füße gegen den Deckel zu stemmen. Nun konnte er die volle Kraft seines neuen Kör­pers einsetzen.

Der Deckel gab nach und kippte schließ­lich zur Seite. Licht fiel in den Behälter. Vargo blickte zu einer stählernen Decke hin­auf, an der einige Scheinwerfer angebracht waren.

Genau wie Barraton befand er sich in ei­ner unterplanetarischen Station.

Die Bauweise der Decke ließ keinen Zweifel aufkommen, daß es sich um eine von Tropoythers gebaute Anlage handelte.

Vargo richtete sich auf. Sein Behälter war der achte in einer lan­

gen Reihe. Sie standen auf einer Art Rost, der an einer Wand des großen Raumes auf­gebaut war. Es war unheimlich still. Vargo kletterte aus dem Behälter und sprang vom Rost. Er blickte an sich herab. Sein Körper war weiblich, groß, muskulös und jugend­lich. Vargo lächelte bei dem spontanen Ge­danken, daß die Gefahr bestand, daß er sich in sich selbst verliebte.

Er ging an den Behältern entlang und überzeugte sich, daß in jedem davon ein to­ter Tropoyther lag.

Plötzlich verstand er, warum Barraton Angst empfunden hatte. Das Bewußtsein, mit diesen vielen Toten allein zu sein, äng­stigte auch Vargo. Er ahnte, daß er bei sei­nen Nachforschungen schreckliche Ent­deckungen machen würde.

Irgend etwas Entsetzliches hatte sich er­eignet, nur das konnte die Anwesenheit der vielen sterilisierten Toten erklären. Da lagen sie und warteten auf ihre Wiedererweckung. Für Vargo war nicht feststellbar, wann sie gestorben waren, sie schienen jedoch schon ziemlich lange hier zu liegen.

War es nach dem Aufbruch der tropoythi­schen Invasionsflotte in den Makrokosmos

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zu einer Katastrophe ungeahnten Ausmaßes gekommen?

Vargo konnte diese Möglichkeit nicht mehr ausschließen. Er hatte nicht vergessen, daß bisher kein tropoythisches Raumschiff in der Nähe der Eisigen Sphäre aufgetaucht war.

Obwohl es keine Spuren des Verfalls in­nerhalb der Station gab, hatte Vargo den Eindruck, daß alles in seiner Umgebung sehr alt war.

Auf der dem Rost gegenüberliegenden Wand befand sich ein großes Tor. Vargo be­wegte sich nur vorsichtig und voller Scheu darauf zu. Er mußte seine Gefühle unter­drücken. Wenn Barraton in dieser oder in ei­ner ähnlichen Station herausgekommen war, konnte Vargo verstehen, daß der Techniker den Raum nicht zu verlassen gewagt hatte.

Vargo jedoch war Wissenschaftler. Er kam hierher, um zu ergründen, was sich er­eignet hatte.

Ab und zu blieb er stehen, um zu lau­schen.

Es blieb still, nicht einmal von Maschinen ausgelöste Geräusche waren hörbar.

Vor dem Tor blieb Vargo stehen. Konnte er riskieren, diesen Raum zu verlassen? Was erwartete ihn draußen – was war draußen?

Hinter dem Tor konnte absolutes Vakuum herrschen, tödliche Hitze, strahlenverseuchte Luft oder andere Schrecken.

Je länger Vargo nachdachte, desto unent­schlossener wurde er.

Im Grunde genommen fürchtete er jedoch weniger die Gefahren als die Wahrheit.

Hinter dem Tor wartete die Wahrheit.

*

Stunde um Stunde brachte Vargo neben dem Tor zu, ohne den entscheidenden Schritt zu wagen. Inzwischen hatte er den Verschlußmechanismus ein paarmal unter­sucht und festgestellt, daß es nicht schwierig sein würde, diesen Raum zu verlassen.

Er kehrte zu dem Rost zurück und las die Beschriftungen an den Behältern. Die Na-

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men der Toten waren nicht eingetragen, le­diglich eine genaue Beschreibung der Steri­lisationsmaßnahmen, offenbar für jene ge­dacht, die einst den Versuch machen sollten, eine Wiedererweckung durchzuführen.

Hatte das Mädchen, dessen Körper er nun belebte, damit rechnen können, auf so phan­tastische Weise ins Leben zurückzukehren?

Vargo wußte, daß er nur den Körper zum Leben erweckt hatte, das Bewußtsein der jungen Frau war nicht aktiviert worden. Die­se Feststellung war beruhigend und makaber zugleich.

Ein paar Stunden danach stand der Wis­senschaftler wieder neben dem Tor. Er muß­te sich zwingen, seine Hände nach dem Ver­schlußmechanismus auszustrecken.

Des Metall war kühl, eine kaum sichtbare Staubschicht hatte sich darauf abgesetzt. Vargo drückte den Hebel nach unten. Er wunderte sich nicht über die einfache Kon­struktion des Verschlusses, seine Hersteller hatten sicher mit der Möglichkeit gerechnet, daß er von Fremden bedient werden könnte.

Der Hebel rastete ein, das Tor glitt zur Seite.

Vargo trat einen Schritt zurück und warte­te mit angehaltenem Atem. Er schloß un­willkürlich die Augen. Was immer er be­fürchtet hatte, trat nicht ein.

Als er die Augen aufschlug, blickte er auf eine breite Treppe, die steil nach oben führ­te. Am Ende der Treppe befand sich ein be­leuchteter Raum, von dem Vargo von sei­nem Platz aus jedoch nur einen Ausschnitt sehen konnte.

Das Geräusch seiner eigenen Schritte er­schreckte den Varganen, als er die Treppe hinaufging. Er blieb jedoch nicht stehen. Jetzt, da er seine Furcht endlich unterdrückt hatte, wollte er das einmal begonnene Unter­nehmen auch zu Ende führen.

Die Treppe mündete in das Innere einer transparenten Kuppel, die auf der Oberflä­che eines Planeten stand. Der Planet besaß keine Atmosphäre, das Land sah aus, als wä­re es von einer gewaltigen Fräse eingeebnet worden. Die Sonne brannte gnadenlos auf

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das plattgewalzte Land, und nur eine beson­dere Beschichtung im Material der Kuppel verhinderte, daß Vargo geblendet wurde.

Im Innern der Kuppel war lebenserhalten-der Sauerstoff, auf einer Seite konnte Vargo eine Schleuse erkennen.

Über der Schleuse stand in großen Buch­staben:

AUSGANG NACH TROPOYTH Vargo taumelte auf die Schleuse zu. Er

war sich nicht bewußt, daß er schrie. Seit ihrer Rückkehr in den Mikrokosmos

hatte er geahnt, daß die tropoythische Zivili­sation nicht mehr existierte – nun sah er den Beweis.

Aus dem einst blühenden Planeten Tro­poyth war eine Ödwelt geworden, hier lebte nichts und niemand mehr.

Vargo brach vor der Schleuse zusammen. Er wünschte den Tod herbei, der ihn erlösen würde.

8. Atlan

Ich kam nur langsam wieder zur Besin­nung. Alles, was ich in traumähnlicher Form erlebte, hatte sich tatsächlich ereignet. Mit Hilfe der seltsamen Kugel unter dem Dach übermittelte die Erinnye ein exaktes Bild der varganischen Geschichte.

Ich hatte erfahren, daß die Rückkehr der Varganen in ihren ursprünglichen Lebens­raum schreckliche Konsequenzen nach sich gezogen hatte. Die Varganen mußten in der Eisigen Sphäre leben, aus der sie sich nur langsam durch Bewußtseinsteleportation zu befreien begannen.

Yarden und die Eisige Sphäre waren iden­tisch. Meine Erlebnisse im Mikrokosmos ließen nur den Schluß zu, daß die letzten Tropoythers noch immer innerhalb der Eisi­gen Sphäre lebten. Daß sie die Fähigkeit der Bewußtseinsübertragung inzwischen perfekt beherrschten, hatte ich am Beispiel Magan­tillikens erfahren. Der varganische Henker war mit seinem Bewußtsein sogar in Varga­nenkörper im Makrokosmos vorgedrungen.

Die Frage, die mich jetzt beschäftigte, hieß: Warum hatte man Magantilliken die­sen Auftrag gegeben?

Ich war sicher, daß die Varganen längst eine Möglichkeit gefunden hatten, die Eisige Sphäre auch körperlich zu verlassen, aller­dings mußte es für sie einen zwingenden Grund geben, immer wieder dorthin zurück­zukehren. Vielleicht, überlegte ich, hing das mit der in diesem Gebiet herrschenden Kälte zusammen. Wenig später sollte ich erfahren, daß diese Vermutung zum Teil richtig war.

Warum aber veranstalteten die Varganen die Kreuzzüge nach Yarden?

Wozu hatten sie diese Gefühlsbasen er­richtet?

Sicher war nur, daß die wenigen Varga­nen oder Tropoythers diese mikrokosmische Galaxis beherrschten. Die Tejonther stellten sicher eine bedeutende Macht dar, aber sie wurden von den Tropoythers manipuliert. Völker wie die Lopsegger besaßen über­haupt keinen Einfluß.

»Ich glaube«, wandte ich mich an die Er­innye, »daß die Unsterblichen in der Eisigen Sphäre pervertiert sind. Alles, was sie erlebt haben, hat sie wahnsinnig werden lassen.«

Die Rachegöttin antwortete nicht. Sie war nur darauf eingerichtet, meine Fragen zu be­antworten.

Unwillkürlich fragte ich mich, ob Vargo, Kreton, Kandro und wie sie alle hießen, noch immer am Leben waren. Vielleicht be­stand sogar die Möglichkeit, all diese Wesen kennenzulernen. Wie würde ich bei einem Zusammentreffen mit diesen Unheimlichen reagieren?

Welche Katastrophe war über das tropoy­thische Volk hereingebrochen?

Hatten die Tropoyther die Entdeckung der Absoluten Bewegung mit ihrem Untergang bezahlt?

»Ich bin müde«, sagte Crysalgira. Ich wandte mich schuldbewußt zu ihr um. Im Verlauf des letzten Berichts hatte ich sie völlig vergessen. Meine Gedanken kreisten um das kosmische Schauspiel, das ich erlebt hatte.

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»Es ist besser, wenn wir jetzt eine Pause einlegen«, schlug die Erinnye vor. »Sobald Sie ausgeruht sind, werden Sie alle anderen Informationen erhalten.«

Diese Bemerkung ermunterte mich zu ei­nigen Fragen.

»Ich hätte gern Auskunft über das Schick­sal meines Sohnes Chapat, der von euch ent­führt wurde. Befindet er sich noch in der Ei­sigen Sphäre, und was ist mit ihm gesche­hen?«

»Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu geben«, antwortete der Roboter.

»Was soll mit Crysalgira und mir gesche­hen, wenn diese Vorstellung beendet ist?« fragte ich weiter.

»Sie werden in die Eisige Sphäre ge­bracht!«

Meine Befürchtungen bestätigten sich. Die Varganen waren auf Crysalgira und mich aufmerksam geworden. Zweifellos wußten sie, daß wir aus dem Makrokosmos kamen. Mein Verhältnis zu Ischtar, die in ih­ren Augen eine Rebellin war, mußte sie zu dem Schluß kommen lassen, daß ich ein Gegner der Unsterblichen in der Eisigen Sphäre war.

Welche Konsequenzen ergaben sich für Crysalgira und mich daraus?

Ich machte mir Hoffnung, indem ich mir ins Gedächtnis rief, daß die Eisige Sphäre gleichzeitig der Platz war, von dem aus wir am ehesten in den Makrokosmos zurückkeh­ren konnten. Natürlich hätte ich es vorgezo­gen, als freier Mann und nicht als Gefange­ner zu den Varganen zu gehen.

Die Metallspiralen lösten sich von mei­nem Körper, ich konnte die Mulde verlas­sen. Ich half Crysalgira auf die Beine.

»Ich führe Sie in den Ruheraum«, kündig­te die Erinnye an.

Sie schwebte uns voraus. Als wir uns dem Ausgang näherten, tauchte dort plötzlich ein Mann auf.

Ein Vargane! Er war hochgewachsen und besaß alle

körperlichen Merkmale seines Volkes. Ob­wohl ich ihn niemals zuvor gesehen hatte,

William Voltz

kam er mir bekannt vor. Sein Erscheinen ir­ritierte mich, ich blieb stehen und ergriff Crysalgira am Arm.

Der Mann machte eine kurze Geste, wor­auf die Erinnye sich in aller Eile zurückzog.

War dieser Mann ein echter Unsterblicher oder nur Träger eines varganischen Bewußt­seins?

»Wer sind Sie?« fragte ich unbehaglich. Er lächelte. Die Art, wie er sich bewegte,

verstärkte den Eindruck, daß ich ihm schon einmal begegnet war.

»Sie wissen, wer ich bin!« sagte er ruhig. Da erkannte ich ihn. »Magantilliken!« stieß ich hervor. »Der

wirkliche Magantilliken!« »Ja«, bestätigte er. »Sie haben mich schon

in verschiedenen varganischen Körpern in­nerhalb des Makrokosmos gesehen, aber diesmal stehe ich selbst vor Ihnen.«

»Warum sind Sie nicht in der Eisigen Sphäre?« brachte ich hervor.

»Ich habe einen neuen Auftrag erhalten«, erwiderte er ausweichend. »Man hat mich mit der Organisation der Kreuzzüge be­traut.«

Der Unterton in seiner Stimme war un­überhörbar. Magantilliken wirkte niederge­schlagen. Wahrscheinlich durfte er noch im­mer nicht in die Eisige Sphäre zurückkeh­ren, weil er bei der Hinrichtung Ischtars ver­sagt hatte.

In diesem Augenblick wußte ich noch nicht, welche schrecklichen Konsequenzen die Aussperrung aus der Eisigen Sphäre über einen längeren Zeitraum hinweg für einen Varganen haben konnte.

»Warum sollen wir nach Yarden gebracht werden?« stellte ich ihm die Frage, die mir die Erinnye nicht beantwortet hatte.

»Ahnen Sie das nicht?« Ich schüttelte den Kopf. »Kommen Sie!« forderte er mich auf.

»Ich führe Sie und Ihre Begleiterin in den Ruheraum.«

Bisher war er mir immer als Gegner ge­genübergetreten, während er mir hier, in sei­nem ureigensten Lebensbereich eher einen

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31 Herrscher im Mikrokosmos

hilflosen als einen gefährlichen Eindruck machte.

Was Magantilliken als Ruheraum be­zeichnet hatte, erwies sich als ein behaglich ausgestattetes Zimmer, in dem Crysalgira und ich alles vorfanden, was wir in den ver­gangenen Tagen entbehrt hatten.

»Ich verlasse Sie jetzt«, kündigte Magan­tilliken an.

»Sagen Sie mir, was Sie bedrückt!« for­derte ich ihn spontan auf.

»Es ist nichts«, erwiderte er müde. »Vielleicht haben wir alle schon zu lange gelebt.«

Damit schloß sich die Tür hinter ihm. »Er ist einsam«, stellte Crysalgira mit

weiblicher Intuition fest. »Ich habe Mitleid mit ihm.«

Ich lachte rauh. »Du hättest ihn als entschlossenen Henker

im Makrokosmos erleben sollen, dann wür­dest du anders von ihm denken. Solange sein Bewußtsein mit den Körpern toter Varganen arbeiten konnte, machte er einen sehr selbst­bewußten Eindruck.«

»Es zählt nur, was hier ist!« Gegen Crys­algiras weibliche Logik kam ich nicht an. »Seine Erlebnisse im Makrokosmos sind be­deutungslos, sie gleichen den Erfahrungen, die wir unter dem Einfluß der transparenten Kugel gemacht haben.«

Ich warf mich aufs Bett und streckte die Beine aus, dabei blinzelte ich dem Mädchen zu.

»Komm her und küß mich, Prinzessin!« Sie deutete auf die Tür zum Nebenraum. »Bevor du kein Bad genommen hast, du

stinkender Arkonide, werde ich dich nicht anrühren.«

Unsere plötzliche Ausgelassenheit war verständlich. Es bestand keine unmittelbare Lebensgefahr für uns, außerdem konnten wir hoffen, bald an jener Stelle zu sein, von wo aus wir in den Makrokosmos zurückkehren konnten.

Während ich badete, begann ich Pläne zu schmieden. Es mußte eine Möglichkeit ge­ben, Chapat zu entführen und eine Waffe ge­

gen Orbanaschol III. aus dem Mikrokosmos zu rauben. Sollte mir das gelingen, wollte ich trotz aller Widrigkeiten, die ich hier er­lebt hatte, zufrieden sein.

Als ich aus dem Baderaum zurückkehrte, wich Crysalgira meinen Armen aus.

»Du liebst mich nicht!« warf ich ihr vor. »Das stimmt!« »Du bist in Chergost verliebt, in einen

Geist aus dem Makrokosmos.« Ich war rich­tig wütend.

»Im Grunde genommen hast du unglaub­liches Glück«, meinte sie lächelnd. »Du bist der einzige arkonidische Mann, den es im Mikrokosmos gibt. Da bleibt mir keine Wahl.«

*

Meine Hoffnung, daß Magantilliken uns zur nächsten Vorstellung abholen würde, er­füllte sich nicht. An seiner Stelle erschien ei­ne Erinnye und sagte uns, daß wir nun den Schluß des Berichtes erleben sollten.

»Wo ist Magantilliken?« erkundigte ich mich. »Ich möchte mit ihm sprechen, das mußt du ihm mitteilen.«

»Magantilliken wird zurückkommen, wenn die Zeit dafür gekommen ist«, erklärte das durchsichtige Robotwesen. Vergeblich versuchte ich, sein Gesicht hinter den durch­einanderwirbelnden Eiskristallen zu erken­nen. »Ich führe euch.«

Es hatte keinen Sinn, Einwände zu erhe­ben. Solange wir in der Gefühlsbasis gefan­gen waren, mußten wir die Anordnungen unserer Wächter befolgen. Außerdem war ich sehr daran interessiert, zu erfahren, was sich nach Vargos Ausflug auf dem zerstör­ten Planeten Tropoyth ereignet hatte.

Crysalgira und ich wurden in den Raum mit der Kugel gebracht. Wir wußten jetzt schon, worauf es ankam, und ließen uns in den Mulden nieder. Nachdem sich die Spir­alarme herabgesenkt hatten, kam Bewegung in die Kugel über uns.

Die Erinnye stand reglos ein paar Schritte von mir entfernt und wartete.

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Während ich noch darüber nachdachte, ob Magantilliken in der Nähe war und uns heimlich beobachtete, schwebte die Kugel herab. Sie schien mich aufzusaugen. Meine Umgebung versank in einem undurchsichti­gen Nebel und ich war …

9. Vargo

Nachdem er eine Zeitlang apathisch vor der Schleuse gelegen hatte, begann Vargo sich wieder für seine Umgebung zu interes­sieren. Seine Blicke suchten den Boden ab. Dabei entdeckte er einige feine Rillen und faustgroße Vertiefungen. Er fand heraus, daß sich einige Bodenplatten hochheben lie­ßen. Darunter befanden sich mehrere Ausrü­stungsdepots.

Vargo fand Nahrungskonzentrate, Waf­fen, Ortungsgeräte und mehrere Schutzanzü­ge. Alles befand sich in einwandfreiem Zu­stand. Vargo legte einen Schutzanzug an, griff nach einer Strahlenwaffe und begab sich wieder zur Schleuse.

Er überlegte, ob es überhaupt einen Sinn hatte, diese Station zu verlassen. Draußen war nur totes Land zu sehen. Es reichte bis zum Horizont.

Vargo konnte nicht fassen, daß dies der Planet war, den er vor vielen Jahren verlas­sen hatte, um eine Invasionsflotte in den Makrokosmos zu führen.

Er verließ die Kuppel mit der Überzeu­gung, daß seinem Ego keinerlei Gefahr drohte. Selbst wenn der weibliche Körper, in dem er sich aufhielt, zerstört werden sollte, konnte Vargos Bewußtsein sich blitzschnell in den eigenen Körper innerhalb der Eisigen Sphäre zurückziehen.

Vargo wußte nicht, in welche Richtung er sich wenden sollte. Das Land sah überall gleich aus. Vargo ging in Richtung der un­tergehenden Sonne. Als sie hinter dem Hori­zont verschwand, schaltete er den zu seiner Ausrüstung gehörenden Scheinwerfer ein. Das Licht fiel auf grauen, rissigen Boden. Der Schutzanzug schützte Vargos Körper

William Voltz

vor der extremen Kälte. Nachdem er einige Stunden durch die

Einöde gewandert war, stieß Vargo auf einen kleinen stählernen Bunker. Er ragte nur zu einem Teil aus dem Boden. Über eine Art Rutsche gelangte Vargo zum Eingang. Das Tor stand halb offen. Vargo leuchtete in den Raum. Es gab Hunderte von Kontrollge­räten und mehrere Datenspeicher. Der Bun­ker war eine kleine Meßstation. Vargo war sicher, daß er erst nach der Katastrophe er­baut worden war. Die Technik glich der tro­poythischen, aber als Vargo eintrat, um die Instrumente näher zu betrachten, stellte er fest, daß es eine zufällige Ähnlichkeit war: Dieses Gebäude und seine Einrichtung wa­ren nicht von Tropoythers geschaffen wor­den. Fremde waren auf diese Welt gekom­men und hatten eine Meßstation errichtet.

Vargo verzog das Gesicht. Viel hatten die Unbekannten sicher nicht herausgefunden.

Er blieb innerhalb des Bunkers, bis die Sonne wieder aufging, dann setzte er seine Wanderung fort.

Das Land änderte sein Aussehen nicht, wahrscheinlich sah es überall auf Tropoyth so aus wie hier.

Vargo entschloß sich zur Umkehr. Die Spuren im feinen Staub wiesen ihm den Weg.

Der Körper, den er benutzte, wies die er­sten Ermüdungserscheinungen auf, aber das war Vargo gleichgültig. Er hätte sein Be­wußtsein sofort in die Eisige Sphäre transfe­rieren können, aber es widerstrebte ihm, die­sen schönen Frauenkörper in dieser Wüste zurückzulassen. Er war entschlossen, das Mädchen in die Station zurückzubringen und den Körper im Sterilisationsbehälter zu­rückzulassen.

Plötzlich erschien am Horizont eine Ge­stalt.

Vargo blieb erschrocken stehen. An eine Begegnung mit einem lebendigen Wesen hatte er nicht geglaubt.

Der oder die Fremde schien ihn ebenfalls gesehen zu haben.

Vargo fragte sich, ob dieses Wesen zu je­

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nem Volk gehörte, das den Bunker erbaut hatte.

Er machte seine Waffe schußbereit. Sie näherten sich einander mit großer

Vorsicht; je näher das Wesen kam, desto si­cherer wurde Vargo, daß es sich um einen Tropoyther handelte. Er hatte bereits aufge­hört, daran zu glauben, daß es außer den un­sterblichen Varganen in der Eisigen Sphäre noch Angehörige seines Volkes in dieser Galaxis geben könnte.

Als sie noch hundert Schritte voneinander entfernt waren, machte Vargo den Versuch, den Unbekannten über Helmfunk anzuspre­chen.

»Woher kommen Sie?« erkundigte er sich. »Wer sind Sie?«

»Ich schlage vor, daß Sie damit beginnen, diese Fragen zu beantworten«, gab der ande­re in tropoythischer Sprache zurück.

Diese Redewendung kam Vargo seltsa­merweise bekannt vor.

Er beschloß, den Verdacht, der in ihm aufstieg, auszusprechen.

»Sie sind Techniker Kandro«, sagte er ru­hig. »Ihr Bewußtsein hat Ihren Körper ver­lassen und ist hier herausgekommen.«

Der andere sah ihn mit grenzenloser Ver­blüffung an.

»Woher … woher wissen Sie das?« »Sie sollten es eigentlich wissen, Kandro!

Ich bin sicher, daß es hier bald von Unsterb­lichen wimmeln wird. Jeder von ihnen wird auf dem Wege der Bewußtseinsteleportation einmal aus der Eisigen Sphäre ausbrechen wollen.«

»Sie kommen auch von dort?« »Ja, ich bin Vargo!«

*

Es begann eine Zeit der unkontrollierten Bewußtseinsteleportationen. Nachdem die Varganen gelernt hatten, die Eisige Sphäre auf diesem Wege zu verlassen, machten sie häufig Gebrauch davon. Der Hochstim­mung, die durch diesen Erfolg ausgelöst wurde, folgte jedoch bald Ernüchterung.

Wohin man auch kam – überall gab es nur tote Tropoythers in Sterilisationsbehältern.

Während die Unsterblichen in den Dop­pelpyramidenschiffen noch unkontrollierte Teleportationen durchführten, begannen die Wissenschaftler bereits zu überlegen, auf welche Weise man die neue Fähigkeit opti­mal nutzen konnte.

»Wir haben eine große Chance, uns mit Hilfe toter Körper außerhalb der Eisigen Sphäre niederzulassen«, sagte Kreton wäh­rend einer der Besprechungen. »Außerdem wird es jetzt Zeit, den Versuch zu wagen, von außen einen Zugang in die Eisige Sphä­re zu schaffen.«

Die Wissenschaftler arbeiteten zahlreiche Experimentalprogramme aus, die nach und nach realisiert werden sollten.

Kreton und Vargo, die die Projekte leite­ten, waren sich darüber im klaren, daß bei allen Versuchen mit äußerster Behutsamkeit vorgegangen werden sollte. Die Unsterbli­chen hatten keine Eile, und nun, da sie si­cher sein konnten, daß sie neben den im Ma­krokosmos zurückgebliebenen Rebellen die letzten Tropoythers waren, gab es eine be­sondere Verpflichtung, alles für den Erhalt der kleinen Gruppe zu tun.

Durch Hunderte von Bewußtseinstelepor­tationen lernten die Wissenschaftler, wie man diesen Vorgang steuern konnte. Sie ga­ben ihr Wissen an alle Varganen weiter, so daß es ihnen möglich wurde, jede Welt auf­zusuchen, auf der sich tote Tropoythers be­fanden. Diese Toten bildeten die einzigen Empfangsstationen, es gelang den Varganen trotz aller Bemühungen nicht, ihr Bewußt­sein in die Körper lebender fremder Wesen zu versetzen.

Es stellte sich bald heraus, daß ein Be­wußtsein nicht unbegrenzt außerhalb der Ei­sigen Sphäre operieren konnte. Nach einer bestimmten Zeit mußte es zurückkehren oder den Körper wechseln.

»Wir kommen mehr und mehr in eine Sackgasse«, befürchtete Kreton nach Ab­schluß des ersten Projekts. »Was nutzt es uns, wenn wir in die Körper von Toten

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transferieren können und doch auf den je­weiligen Planeten gefangen sind?«

Vargo teilte die Bedenken des Mannes, der inzwischen sein Freund geworden war.

Schon zeigte sich, daß die Unsterblichen an den Bewußtseinsteleportationen das In­teresse zu verlieren begannen. Wohin sie auch kamen – die Umwelt war zerstört, und es gab nichts, was sich zu untersuchen lohn­te.

Die Eisige Sphäre war um einige trostlose Außenposten erweitert worden, das Bewußt­sein jedoch, in einem Gefängnis leben zu müssen, war geblieben. Noch war die syste­matische Untersuchung aller tropoythischen Planeten nicht abgeschlossen, aber Vargo hatte wenig Hoffnung, daß sie auf einer der Welten ein Raumschiff finden würden, das ihnen die Möglichkeit gab, außerhalb der Ei­sigen Sphäre im Weltraum zu operieren.

Wie so oft in solchen Situationen, führte der Zufall eine Wende herbei.

Vargo, der mit einer achtzehnköpfigen Mannschaft zum Kolonialplaneten Darkhos teleportierte, stieß dort zum erstenmal auf eine tejonthische Expedition, die mit einem Raumschiff gelandet war, um die tropoythi­sche Station zu untersuchen.

*

Vargo wartete, bis achtzehn Männer und Frauen aus den Sterilisationsbehältern ge­klettert waren, dann stellten sie sich gegen­seitig in ihren neuen Körpern vor.

Vargo führte die Gruppe in die eigentliche Station. Die Überlebensanlagen, die offen­bar überall in großer Eile errichtet worden waren, glichen sich bis auf wenige Einzel­heiten auf allen bisher besuchten Welten. Noch besaßen die Varganen keine Hinweise, welcher Art die Katastrophe gewesen war. Vargo bezweifelte, ob sie es jemals erfahren würden.

Als der alte Wissenschaftler die oberen Räume betrat, sah er außerhalb der Kuppel ein hellrotes, stromlinienförmiges Raum­schiff stehen. Er erkannte sofort, daß es sich

William Voltz

um kein tropoythisches Schiff handelte. Eine Expedition fremder Wesen war auf Darkhos gelandet.

»Zurück!« rief Vargo sofort. »Draußen sind fremde Raumfahrer. Sie dürfen uns nicht entdecken.«

Sie zogen sich in die unteren Räume zu­rück und berieten, wie sie sich verhalten sollten.

»Wahrscheinlich sind sie noch nicht lange hier«, vermutete Techniker Zerrog, der sich jetzt im Körper eines Halbwüchsigen auf­hielt. »Sie hätten sonst diese Station längst verlassen.«

»Es kann sich auch um ein unbemanntes Raumschiff handeln«, sagte Leschtar, eine Wissenschaftlerin, die der Zufall wieder in einen weiblichen Körper geführt hatte.

»Wir warten ab«, entschied Vargo. »Nötigenfalls bringen wir ein paar Tage hier unten zu. Ich kehre jetzt in die Eisige Sphäre zurück und erstatte Kreton und Kandro Be­richt. Wir brauchen Verstärkung.«

Da es in dieser Station insgesamt nur drei­undfünfzig sterilisierte Körper gab, war die Stärke der Gruppe bereits festgelegt.

Vargo transferierte und meldete seine Entdeckung der Regierung.

»Wir müssen dieses Schiff unter allen Umständen in unseren Besitz bringen«, er­klärte Kandro sofort. »Es ist ausgeschlossen, daß wir noch einmal ein derartiges Glück haben werden, aus diesem Grund darf nichts schiefgehen!«

Vargo spürte deutlich, daß auch dieser nüchtern denkende Mann von großer Erre­gung ergriffen wurde.

»Man kann vom Aussehen des Schiffes nicht auf die Kampfstärke der Besatzung schließen«, meinte Vargo. »Man wird uns das Schiff jedoch auf keinen Fall kampflos überlassen.«

»Wir besetzen alle sterilisierten Körper auf Darkhos«, ordnete Kreton an. »Dann greifen wir an.«

»Das wäre unklug«, wandte Vargo ein. »Wenn dieses Schiff bemannt ist, handelt die Besatzung mit äußerster Vorsicht. Das

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35 Herrscher im Mikrokosmos

zeigt sich schon daran, daß sie sich bisher noch nicht entschlossen haben, ihr Schiff zu verlassen. Wenn wir also unvermutet auftau­chen, kann es passieren, daß sie die Flucht ergreifen.«

»Vielleicht haben sie ihre Untersuchun­gen schon abgeschlossen«, befürchtete Kre­ton. »Dann kann es sein, daß ein Start un­mittelbar bevorsteht.«

An diese Möglichkeit wollte Vargo nicht glauben. Das Schicksal, das die Unsterbli­chen aus der Eisigen Sphäre schon oft hart getroffen hatte, konnte nicht schon wieder so unbarmherzig sein! dachte der Wissen­schaftler geradezu beschwörend.

»Wir müssen sie täuschen«, schlug er vor. »Wenn sie trotz unserer Zurückhaltung kei­nen Versuch machen, die Überlebensstation zu betreten, müssen wir sie zum Aussteigen verlocken.«

»Wie wollen Sie das erreichen?« fragte ein Techniker.

Vargo sah die anwesenden Mitglieder des Erneuerungsrates an.

»Wir schicken einen Lockvogel hinaus. Für den Betreffenden ist das kein Risiko, denn er kann sein Bewußtsein in Sicherheit bringen, wenn er angegriffen werden sollte.«

»Wollen Sie das übernehmen?« fragte Kreton.

Vargo nickte entschlossen. Innerhalb kur­zer Zeit wurde die Einsatzgruppe auf Dark­hos vervollständigt. Auch Kreton und Kan­dro übernahmen zwei der zur Verfügung ste­henden Körper.

Das fremde Schiff stand nach wie vor in der Nähe der Kuppel. Kein lebendes Wesen war bisher aufgetaucht.

»Wir ergreifen die Initiative«, befahl Kre­ton. »Vargo, wir gehen jetzt in der bespro­chenen Weise vor.«

Obwohl keine Gefahr für sein Leben be­stand, war der alte Wissenschaftler unruhig. Wieder einmal hing es von seinem Verhal­ten ab, wie sich das weitere Schicksal der Unsterblichen gestalten würde. Mit einem kleinen Fehler konnte er ihre Chance zu­nichte machen.

Vargo besaß jetzt den Körper eines jun­gen Mannes. Er ging in die Kuppel und öff­nete eines der Ausrüstungsdepots. Während er den Schutzanzug anlegte, war er sich dar­über im klaren, daß er vielleicht beobachtet wurde. Er blickte hinaus. Das Schiff war et­wa dreißig Meter hoch und stand auf vier mächtigen Heckflossen. Zwischen zwei die­ser Flossen war eine quadratische Schleuse zu sehen.

Vargo nahm keine Waffe mit hinaus, er wollte nichts tun, was die Unbekannten zu einer schnellen Flucht veranlaßt hätte.

Als er sich dem Schiff näherte, wagte er kaum zu atmen. Bei jedem Schritt fürchtete er, daß etwas Unheilvolles geschehen könn­te. Er fragte sich, wie er als Besatzungsmit­glied dieses Schiffes gehandelt hätte. Es gab keine Antwort darauf, denn Vargo wußte nichts über die Mentalität dieser Fremden.

Unmittelbar vor dem Schiff blieb Vargo stehen. Die Situation, in der er sich befand, mutete ihm fast ein wenig lächerlich an, denn alles, was er, der erfahrene und un­sterbliche Wissenschaftler in diesem Augen­blick empfand, war völlige Ratlosigkeit. Im Schiff schien sich nichts zu rühren. Wenn man den einsamen Mann aus der Kuppel wahrgenommen hatte, gab man das durch nichts zu erkennen.

Vargo winkte und breitete beide Arme aus, aber es geschah nichts.

Ungeduldig begann der Tropoyther das Schiff zu umkreisen.

Vielleicht war es tatsächlich verlassen. Nach der dritten Umrundung blieb Vargo

vor der Schleuse stehen. Er mußte jetzt ir­gend etwas unternehmen oder zurückkehren. Die Frauen und Männer, die in der Kuppel warteten, konnten ihm keinen Rat geben. Der alte Mann gab sich innerlich einen Ruck und schritt auf die Schleuse zu. Er zögerte keinen Augenblick, sondern hieb mit der ge­ballten Faust dagegen. Dann trat er zurück und wartete.

Als er schon nicht mehr damit gerechnet hatte, daß etwas geschehen würde, glitt die Schleusentür zur Seite, und vier Fremde in

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Schutzanzügen sprangen heraus. Ihr Körper­bau glich dem der Tropoythers, aber an ih­ren Köpfen unter den transparenten Helmen konnte Vargo erkennen, daß es sich um Mit­glieder eines unbekannten Volkes handelte. Diese Köpfe waren von schwarzem Pelz be­deckt. In den flachen, aber durchaus aus­drucksvollen Gesichtern fielen Vargo beson­ders die gelben Augenpaare auf.

Die Raumfahrer trugen Waffen, die sie auf Vargo gerichtet hielten. Eines der Wesen machte eine unmißverständliche Geste: Var­go sollte ihnen ins Schiff folgen. Er zögerte und warf unwillkürlich einen Blick zurück zur Kuppel. Im Augenblick hatte er keine andere Wahl, als die Befehle der Fremden zu befolgen.

Er betrat die Schleusenkammer, worauf sich die äußere Tür sofort hinter ihm schloß. Mit dieser Entwicklung hatte er nicht ge­rechnet. Er saß in der Falle.

Was, wenn das Schiff starten würde? Die Raumfahrer führten ihn in den zentra­

len Raum des Schiffes, wo ihm durch Hand­zeichen verständlich gemacht wurde, daß er seinen Helm abnehmen sollte. Vargo hoffte, daß die innerhalb des Schiffes herrschende Luft seinem Wirtskörper keine Schwierig­keiten bereiten würde, und kam dem Befehl nach.

Die Fremden betrachteten ihn interessiert und begannen in einer ihm unbekannten Sprache miteinander zu diskutieren. Sie schienen über ihr weiteres Vorgehen un­schlüssig zu sein. Schließlich schalteten sie einen Bildschirm ein, auf dem die Überle­bensstation zu sehen war. Der Anführer der Schwarzbepelzten deutete auf den Bild­schirm und dann auf Vargo. Der Sinn dieser Bewegungen war unmißverständlich.

Vargo nickte nachdrücklich. Er sah kei­nen Sinn darin, aus seiner Herkunft ein Ge­heimnis zu machen.

Nach einer längeren Diskussion schien endlich eine Entscheidung zu fallen, denn sieben der insgesamt siebzehn bisher sicht­bar gewordenen Besatzungsmitglieder be­gannen ihre Ausrüstung zu vervollständigen.

William Voltz

Es war klar, daß sie Vargo hinausbegleiten wollten.

Alle anderen würden im Schiff zurück­bleiben – ein Umstand, der die Eroberung des Schiffes nahezu unmöglich erscheinen ließ. In der Station würden die Fremden die Sterilisationsbehälter finden.

Vargo erkannte, daß er sich in einer Zwangslage befand, die schnelles Handeln erforderlich machte.

Aber was sollte er tun? Ihr Wunsch, unter allen Umständen in den Besitz dieses Schif­fes zu gelangen, hatte die Varganen voreilig handeln lassen. Sie waren viel zu unüberlegt vorgegangen.

Die Raumfahrer hatten ihre Vorbereitun­gen abgeschlossen. Sie begleiteten Vargo aus dem Schiff. Ihr Anführer deutete unmiß­verständlich auf die Überlebensstation. Sei­ne Hand lag auf der Waffe. Vargo ging vor­aus. Er war sicher, daß Kreton und die ande­ren die sich nähernde Gruppe beobachteten.

Aber was sollten die Unsterblichen tun? Vargo öffnete die Schleuse und führte die

sieben Fremden ins Innere der Kuppel. Von Kreton und den anderen war nichts zu sehen, sie hielten sich nach wie vor in den unteren Räumen auf.

Die Bepelzten schienen es nicht eilig zu haben. In aller Ruhe untersuchten sie den Kuppelraum und entdeckten dabei die De­pots. Vargo beobachtete sorgenvoll, daß sie die Waffen hervorholten. Die tropoythischen Ausrüstungsgegenstände schienen Erstaunen und Bewunderung bei den Fremden hervor­zurufen, denn sie reichten sie untereinander weiter und diskutierten ausführlich über die­sen Fund. Nachdem alle Depots geöffnet und untersucht worden waren, stellten die Raumfahrer Funkkontakt zu ihrem Schiff her. Wenig später tauchte ein robotisch ge­steuerter Wagen in der Schleuse auf. Die Fremden luden alles, was sie gefunden hatte, hinein und schickten ihn zum Schiff zurück. Das war Plünderei, aber Vargo hütete sich, dagegen zu protestieren. Der Wagen ver­schwand im Schiff, die Besucher wandten ihre Aufmerksamkeit den unteren Räumen

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zu. Bevor sie den Raum mit den Sterilisati­

onsbehältern erreichten, gerieten sie in einen Hinterhalt der Varganen. Kreton hatte ihn vorbereitet. Die Raumfahrer wurden mit Lähmfeldern angegriffen und innerhalb we­niger Augenblicke aktionsunfähig gemacht.

»Was haben Sie getan?« schrie Vargo au­ßer sich. »Es sind Fremde im Schiff zurück­geblieben. Sie werden fliehen, wenn sie merken, was hier geschieht.«

Die anderen sahen ihn bestürzt an. Nur Kandro, der in jeder Situation Rat zu wissen schien, verlor nicht die Übersicht.

»Zieht ihnen die Raumanzüge aus!« be­fahl er. »Es muß schnell gehen, damit man an Bord des Schiffes nicht mißtrauisch wird, denn die Fremden an Bord erwarten sicher­lich regelmäßig Funknachrichten.«

Vargo sah ihn verständnislos an. »Sieben von uns, deren Größe denen der

Gelähmten entspricht, legen die Anzüge an und verlassen damit die Kuppel«, fuhr Kan­dro hastig fort. »Es muß nach einer wilden Flucht aussehen – nur dann haben wir die Chance, daß sie, ohne auf Erklärungen zu warten, die Schleuse öffnen, um ihre Artge­nossen an Bord zu lassen.«

Es war ein riskanter Versuch, aber Vargo sah keine andere Möglichkeit, das Schiff zu erobern.

Wenig später stürmten sieben Varganen aus der Kuppel. Die Sonne war gerade un­tergegangen, es herrschte Halbdunkel.

Vargo, der den Vorgang beobachtete, blickte gespannt zum Schiff hinüber. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er sah, daß die Schleuse aufglitt.

Kurze Zeit später gehörte das Schiff den Unsterblichen.

*

Die Gruppe der Unsterblichen, die auf Darkhos das tejonthische Raumschiff er­obert hatte, war in die Eisige Sphäre zurück­gekehrt. Gespannt warteten Regierungsmit­glieder und Wissenschaftler auf das Auftau­

chen des Raumschiffs jenseits der Eisigen Sphäre. Acht Varganen befanden sich in wiederbelebten Körpern an Bord und zwan­gen die tejonthische Besatzung, das Schiff zum vorgesehenen Ziel zu steuern.

Niemand konnte vorhersagen, wie der Versuch, von außen mit einem Raumschiff in die Eisige Sphäre einzudringen, enden würde.

Vargo war voller Optimismus. Wenn sie den Durchbruch einmal geschafft hatten, konnten sie vielleicht eine Energieschleuse oder eine Strukturlücke aufbauen, durch die sie in beiden Richtungen verkehren konnten. Das würde ihnen endlich die Möglichkeit geben, in ihrer richtigen Gestalt und in ihren eigenen Raumschiffen innerhalb ihrer ge­samten Galaxis zu verkehren.

Das Glück, das die Varganen lange Zeit verlassen hatte, schien ihnen endlich wieder hold zu sein. Es gelang ihnen, das tejonthi­sche Schiff ins Innere der Eisigen Sphäre zu bringen, und wenig später schafften sie auch den Ausbau einer Energieschleuse, durch die ihre Doppelpyramidenschiffe in alle Teile der Galaxis fliegen konnten. Zwar stellte sich heraus, daß kein Vargane länger als ein Jahr außerhalb der Eisigen Sphäre leben konnte, ohne nicht wenigstens einmal für ein paar Tage dorthin zurückzukehren, aber an­gesichts ihrer neuen Möglichkeiten nahmen die Unsterblichen diesen Nachteil in Kauf.

Kaum, daß sie ihr Gefängnis verlassen hatten, begannen die Varganen mit der Rückeroberung ihrer Heimatgalaxis.

Da sie zahlenmäßig nicht in der Lage wa­ren, über dieses große Gebiet zu herrschen, begannen sie mit dem Bau von Gefühlsba­sen. Von diesen Stützpunkten aus konnten sie die Völker großer galaktischer Regionen in ihrem Sinne beeinflussen.

Innerhalb nur eines Jahrhunderts wurden die Varganen die unumschränkten Herrscher in ihrem Gebiet des Mikrokosmos.

Sie begannen zu vergessen, daß ihr Volk einer schrecklichen, noch immer ungeklär­ten Katastrophe zum Opfer gefallen war. Ihr Bereich, die Eisige Sphäre, wurde das Zen­

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trum des neuen Imperiums. Die Völker der Mikrogalaxis nannten dieses Gebiet Yarden.

Die Unsterblichen vergaßen nicht nur ihr untergegangenes Volk, sondern auch die Re­bellen, die im Makrokosmos zurückgeblie­ben waren.

Dieser Umstand wurde ihnen fast zum Verhängnis.

10. Vargo

Die Expedition nach Tollork stand von Anfang an unter einem schlechten Stern. Hier, in der Peripherie ihrer Galaxis, war die Errichtung einer Gefühlsbasis keine unbe­dingte Notwendigkeit, deshalb hatte man auch bis zum Schluß mit dem Bau gewartet.

Tollork war ein kleines Sonnensystem, es bestand aus vier Planeten und der kleinen gelben Sonne, die ihm den Namen gab. Die Gefühlsbasis selbst wurde auf Tollork-2 er­richtet, einer Sauerstoff weit, auf der ledig­lich eine vielfältige Pflanzenwelt und niede­re Tierarten existierten.

Trotzdem hatten die Besatzungen der drei Doppelpyramidenschiffe, die unter Vargos Kommando nach Tollork kamen, unmittel­bar nach der Landung die ersten Schwierig­keiten. Die Unsterblichen, die mit dem Bau der letzten Gefühlsbasis beauftragt waren, litten unter rätselhaften Hautallergien, die ihnen sehr zu schaffen machten. Nach drei Tagen stellten die Ärzte fest, daß mikrosko­pisch kleine Pflanzensporen dafür verant­wortlich waren. Vargo befahl, daß die Raumfahrer außerhalb der Schiffe Schutzan­züge tragen mußten. Kaum war die Allergie besiegt, gab es einen tödlichen Unfall bei den Technikern. Der Tod eines Artgenossen löste bei den zeugungsunfähigen Unsterbli­chen stets eine Kette psychologischer Pro­bleme aus. Vargo war sicher, daß die Fertig­stellung der Gefühlsbasis sich durch diesen Vorfall um ein paar Monate verzögern wür­de.

Als die Anfangsschwierigkeiten überwun­den schienen, kam es zu dem erschrecken-

William Voltz

den Ereignis, das die Varganen mit einem Schlag an ihre Vergangenheit erinnerte.

In der Nähe des Tollork-Systems ver­schwanden siebzehn Sterne. Sie hörten von einem Augenblick zum anderen zu existie­ren auf. Auf Tollork-2 wurde dieser Vor­gang überhaupt nicht registriert, wohl aber an Bord von Doppelpyramidenschiffen, die im Raum standen.

Vargo erhielt eine Funkbotschaft von Kandro, in der er aufgefordert wurde, Tol­lork-2 sofort zu verlassen und in die Eisige Sphäre zurückzukehren. An der Art, wie die Botschaft abgefaßt war, erkannte Vargo, daß die Regierung im höchsten Maße beunruhigt war.

Unmittelbar nach seiner Rückkehr in die Eisige Sphäre wurde Vargo von den führen­den Mitgliedern der Regierung empfangen. Er erhielt einen genauen Bericht über die Katastrophe.

Kreton, der seinen Freund informierte, sagte abschließend: »Es sieht nach makro­kosmischen Einflüssen aus.«

Vargo blickte ungläubig auf die vorlie­genden astronomischen Aufnahmen.

»Das ist doch nur eine Vermutung! Es gibt viele andere Erklärungen für das Ver­schwinden der Sonnen.«

»Eines unserer Schiffe stand in unmittel­barer Nähe dieses Sektors«, berichtete Kan­dro. »Die Besatzung behauptet, daß es zu energetischen Einbrüchen kam. Eine Zeit­lang sah es so aus, als sollte sich eine zweite Eisige Sphäre bilden.«

Vargo erschrak. Zerstörungen innerhalb des Mikrokosmos, die auf makrokosmische Auswirkungen zurückgingen, konnten zufäl­lig sein – der Aufbau einer Eisigen Sphäre, auch wenn er nicht abgeschlossen worden war, deutete jedoch auf bewußte Manipula­tionen hin.

»Nun?« wollte Kreton wissen. »Was hal­ten Sie davon?«

»Ich bin kein Freund voreiliger Spekula­tionen«, erwiderte Vargo vorsichtig. »Alles kann sich als Täuschung herausstellen.«

»Wir haben eine andere Vorstellung«,

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39 Herrscher im Mikrokosmos

sagte Kandro voller Ungeduld. Vargo sah ihn fragend an. »Mamrohn!« stieß Kandro hervor. Der Name hörte sich an wie ein Fluch. Trotzdem war Vargo nicht bereit, die

Überlegungen der Regierung zu teilen. Na­türlich war es möglich, daß die Rebellen in all den Jahren gelernt hatten, den Mikrokos­mos zu beeinflussen. Aber warum sollten sie das tun?

»Solange sie annehmen müssen, daß wir am Leben sind, müssen sie mit einer Bestra­fung rechnen«, beantwortete Kandro die un­ausgesprochene Frage des alten Wissen­schaftlers. »Warum sollten sie nicht versu­chen, uns zuvorzukommen und uns zu ver­nichten, bevor wir etwas gegen sie unterneh­men können?«

»Das ist absurd«, meinte Vargo kopf­schüttelnd.

»Wir müssen es in Betracht ziehen«, lei­stete Kreton seinem Partner Hilfestellung. »Die theoretische Möglichkeit allein zwingt uns, etwas zu unternehmen.«

»Sie denken daran, in den Makrokosmos zurückzukehren!« erriet Vargo bestürzt.

Kreton nickte ernst. »Keiner von uns würde freiwillig dorthin

zurückkehren!« rief Vargo aus. »Bestimmt nicht«, pflichtete Kandro ihm

bei. »Deshalb werden wir jemand in den Makrokosmos schicken, der den Auftrag be­kommt, alle Rebellen zu finden und hinzu­richten. Wir haben alle rechtlichen Gründe, die Rebellen zum Tode zu verurteilen. Was uns fehlt, ist ein Henker, der die Urteile auch zu vollstrecken imstande ist.«

»Und wer soll das sein?« »Sie wissen, daß es vor dreißig Jahren in­

nerhalb der Eisigen Sphäre zu einem Mord kam, den ein Techniker namens Magantilli­ken an einem Unsterblichen verübte.«

»Wir haben Magantilliken verstoßen, müssen ihn aber regelmäßig in die Eisige Sphäre zurückkehren lassen, wenn wir ihn nicht umbringen wollen. Er soll jetzt eine Gelegenheit zur Rehabilitierung erhalten.« Kreton ließ keinen Zweifel daran, daß er

entschlossen war, diesen Plan zu verwirkli­chen.

»Sie wissen, was alles passieren kann, wenn jemand durch den Umsetzer geht!« gab Vargo zu bedenken.

»Wer sagt, daß Magantilliken durch den Umsetzer gehen soll?« Kreton lächelte über­legen. »Schließlich gibt es die Möglichkeit der Bewußtseinsteleportation. Auf den von uns verlassenen Welten im Makrokosmos liegen viele sterilisierte tote Körper. Sie können von Magantilliken benutzt werden, um seinen Auftrag auszuführen. Sobald er alle Rebellen getötet hat und wir keine An­schläge mehr zu befürchten brauchen, wer­den wir ihn rehabilitieren und wieder bei uns aufnehmen.«

»Vielleicht ist die Gefahr einer solchen Aktion größer als die Bedrohung aus dem Makrokosmos, von der wir nicht einmal wissen, ob es sie tatsächlich gibt und ob sie gesteuert ist.« Vargo sprach ohne Nach­druck, denn er wußte genau, daß die Ent­scheidung längst gefallen war. Er selbst hat­te viel zu wenig Einfluß auf die Regierung, um eine Meinungsänderung herbeizuführen.

»Und was ist mit Magantilliken?« erkun­digte er sich, als niemand ihm antwortete. »Wird er überhaupt einwilligen?«

Kandro lächelte kalt. »Er hat keine andere Wahl – wir lassen

ihn erst in die Eisige Sphäre zurück, wenn er seinen Auftrag ausgeführt hat.«

Vargo konnte sich des Eindrucks nicht er­wehren, daß die Mitglieder der Regierung immer skrupelloser die Erfüllung ihrer Ziele verfolgten.

Vielleicht, dachte er müde, war auch das ein Preis für die Unsterblichkeit.

*

Vargo, der ein relativ zurückgezogenes und einsames Leben führte, war Magantilli­ken vorher niemals begegnet, so daß er dem Zusammentreffen mit diesem Mann mit ei­ner gewissen Spannung entgegensah.

Seit die Unsterblichen in voller Konse­

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quenz begriffen hatten, daß sie sich nicht fortpflanzen konnten, war die Ermordung ei­nes Unsterblichen in ihren Augen ein unge­heuerliches Verbrechen. Vargo überlegte, was Magantilliken veranlaßt haben mochte, dieses Tabu zu ignorieren.

Vargo war von der Regierung beauftragt worden, Magantilliken für dessen Auftrag zu instruieren. Man hielt ihn dazu besonders geeignet, nicht nur wegen seiner wissen­schaftlichen Fähigkeiten, sondern auch we­gen seiner Beziehung zu Mamrohn, den man für den Hauptverantwortlichen hielt und der ganz oben auf der Liste der Verurteilten stand.

Magantilliken erwies sich keineswegs als der seelische Krüppel, den anzutreffen Var­go erwartet hatte, sondern er war ein ernster und selbstbewußter Mann, der in keiner Weise unbeherrscht wirkte.

Die beiden Männer trafen an Bord der KELLORD zusammen. Von hier aus sollte Magantilliken sein Bewußtsein in einen ste­rilisierten Körper im Makrokosmos transfe­rieren. Vargo hatte darum gebeten, allein mit Magantilliken sprechen zu dürfen, und die­ser Wunsch war respektiert worden. Der Wissenschaftler war allerdings nicht sicher, ob es innerhalb der Kabine, wo das Treffen stattfand, Abhöranlagen gab. Die Regierung wurde immer mißtrauischer, was mit einer Reihe von Bemühungen einherging, allge­genwärtig zu sein. Vargo belächelte diese Versuche, denn er sah in ihnen ein Zeichen von Schwäche.

»Sie sehen nicht wie ein Mörder aus«, sagte Vargo anstelle einer Begrüßung und sah Magantilliken abschätzend an.

»Wir sprechen nicht über meine Tat, son­dern über meinen Auftrag«, wies Magantilli­ken ihn zurecht.

Vargo hatte zuviel erlebt, um sich über diese Verhaltensweise noch zu ärgern, er sagte lediglich: »Ich bestimme, worüber ge­sprochen wird.«

»Ich habe ihn umgebracht, weil ich ihn haßte«, erklärte Magantilliken. »Ich bin ihm nur zuvorgekommen.«

William Voltz

»Sie sind sehr ichbezogen!« stellte Vargo fest. »Das wird Ihnen in dieser Einsamkeit, in die wir Sie verstoßen, sicher helfen.«

»Ich fürchte mich nicht vor der Einsam­keit.«

»Sie haben sie niemals kennengelernt, mein Freund! Aber lassen wir das, es ist schließlich Ihr Problem, damit fertig zu wer­den. Sprechen wir über Mamrohn, den An­führer der Rebellen.«

»Kandro sagte mir, daß Sie nicht daran glauben, daß er noch am Leben sein könn­te.«

Vargo wurde nachdenklich. »Wenn er lebt, dann werden Sie nur auf

seinen Körper treffen, seine Seele ist längst gestorben. Er ist kein Tropoyther mehr, son­dern ein schreckliches Gespenst. Er hat sich seine eigene Gedankenwelt aufgebaut. Si­cher ist er wahnsinnig, aber sein Wahnsinn wird von enormer Willenskraft bestimmt, vielleicht sogar von einer besonderen Art der Vernunft. Mamrohn ist wirklich ein Re­bell. Seine Revolution richtet sich im Grun­de gegen nichts und niemand – er revoltiert gegen seine eigene Bedeutungslosigkeit. Er ist ein Mann, der krank wurde durch die Sucht nach Wissen und Größe.«

Magantilliken warf sich aufs Bett und ver­schränkte die Arme hinter dem Kopf.

»Sie reden von ihm, als sei er ein Gott.« »Vielleicht ist er das!« Magantilliken machte eine wegwerfende

Handbewegung. »Er ist nicht der einzige Rebell. Ich kann

mir meine Gedanken nicht vernebeln lassen, nur weil es ihn gibt. Ich muß sie alle töten.«

Vargo fröstelte, als er Magantilliken so reden hörte. Dieser Mann würde ein un­barmherziger Jäger sein. Unwillkürlich emp­fand Vargo Erleichterung darüber, daß er nicht zu den Rebellen gehörte und auf der Liste des Henkers stand.

»Lassen Sie uns von den technischen Pro­blemen reden«, schlug Magantilliken vor. »Ich halte jede Einzelheit für wichtig – ich darf keine Fehler machen.«

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41 Herrscher im Mikrokosmos

11. Atlan

Als ich erwachte, stand Magantilliken ne­ben mir und half mir aus der Mulde. Ich spürte, daß meine Beine nachzugeben droh­ten. Anscheinend war das Erlebnis eines sol­chen Berichts anstrengender als ich vermutet hatte.

Magantilliken half auch Crysalgira auf die Beine.

»Damit ist der Bericht sicher zu Ende«, vermutete ich.

Der varganische Henker deutete zur Ku­gel hinauf. »Was sie angeht, hat sie alles übermittelt, was Sie wissen müssen.«

»Die Kreuzzüge nach Yarden!« erinnerte ich ihn. »Wozu werden sie alle dreihundert Jahre inszeniert?«

»Später«, antwortete Magantilliken aus­weichend. »Ich führe Sie jetzt in den Auf­enthaltsraum und erzähle Ihnen meinen Teil dieser Geschichte.«

»Ich weiß, daß Sie den Makrokosmos er­reichten und mit Ihrer Arbeit begannen. Schließlich haben wir uns ein paarmal ge­troffen.«

»Hm!« machte der Vargane. »Aber Sie haben mich nur während der Endphase er­lebt. Sie kennen nicht den Anfang.«

»Auf jeden Fall«, sagte ich triumphierend, »haben Sie nicht alles erreicht. Einige Re­bellen sind noch am Leben, Ischtar bei­spielsweise.«

Ein Lächeln veränderte sein Gesicht und ließ es weniger hart und abweisend ausse­hen.

»Daran liegt Ihnen viel?« Ich sah keinen Sinn darin, irgend etwas

abzustreiten. Magantilliken war über meine Beziehungen zu Ischtar genau informiert.

Er ging uns voraus und führte uns wieder in den Aufenthaltsraum.

»Vieles hat sich inzwischen verändert«, erklärte er. »Daran sind zum Teil Sie schuld.«

Ich sah ihn verständnislos an.

»Sie haben einen Sohn mit einer Unsterb­lichen!« erinnerte der Vargane. »Können Sie ermessen, was das für uns bedeutet? Zwar können wir uns untereinander nicht mehr fortpflanzen, aber Ischtar und Sie konnten ein Kind zeugen.«

Er sah Crysalgira an. »Das heißt, daß ich mit ihr ein Kind ha­

ben könnte!« Crysalgira sah ihn erschrocken an und

wich vor ihm zurück. Ich hatte plötzlich einen entsetzlichen

Verdacht. War die Tatsache, daß Ischtar und ich einen gemeinsamen Sohn besaßen, der Grund, daß die Tropoythers uns vor der Hin­richtung durch die Tejonther auf Belkathyr gerettet hatten?

Bevor ich länger über die unglaublichen Konsequenzen nachdenken konnte, sagte Magantilliken: »Ich werde Ihnen sagen, was bei meinem ersten Eintreffen im Makrokos­mos geschah.«

Vielleicht wollte er Crysalgira und mich von den eigentlichen Problemen ablenken, denn er begann sofort zu erzählen.

12. Magantilliken

Es war die siebzehnte Welt, die Magantil­liken nach seiner Ankunft im Makrokosmos betrat. Er befand sich in seinem zweiten Körper und hatte bisher drei Rebellen aufge­spürt und hingerichtet. Trotz seiner An­fangserfolge gab er sich keinen Illusionen hin: Seine Arbeit hatte erst begonnen und würde ihn noch auf viele Planeten führen.

Auf der vergessenen Welt, wo er ange­kommen war, hatte er ein Doppelpyramiden­schiff und alle notwendigen Ausrüstungsge­genstände gefunden. Magantilliken war kein Mann, der soviel Glück als etwas Selbstver­ständliches hingenommen hätte – er rechne­te früher oder später mit einem Rückschlag.

Kaum, daß er sein Raumschiff verlassen hatte, ahnte Magantilliken, daß dies die Welt war, auf der er Mamrohn finden würde.

Die drei Rebellen hatten ihm vor ihrer

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Hinrichtung nicht viel verraten, aber Magan­tilliken hatte die wenigen Informationen zu einem Mosaik geordnet. Er war sicher, daß Mamrohn sich zurückgezogen hatte und ir­gendwo allein lebte. Das traf offenbar für fast alle Rebellen zu. Sie hatten sich einan­der nichts mehr zu sagen und gingen ihre ei­genen Wege.

Vielleicht sehnten sie sich danach, zu ih­rem Volk zurückzukehren, aber sie sahen keine Möglichkeit für einen solchen Schritt.

Das Raumschiff des varganischen Hen­kers stand am Ufer eines mächtigen Stro­mes, der ein paar Meilen weiter entfernt in einen der zwei großen Ozeane dieses Plane­ten mündete. Der Landeplatz war eine große Sandbank, die nach der nächsten Regenzeit wieder in den schlammigen Fluten versinken würde. Diese Sandbank war gleichzeitig die einzige freie Stelle im weiten Umkreis, denn der dichte Dschungel reichte überall bis ans Ufer heran.

Magantilliken hatte einen Schutzanzug angelegt und sich bewaffnet. Die Fernortung hatte ergeben, daß in der Umgebung des Mündungsdeltas eine Station liegen mußte. Der genaue Standort war nicht zu bestim­men gewesen. Wer auch immer diese Stati­on bewohnte, hatte zahlreiche Tarnmaßnah­men getroffen, die auch hochwertige tropoy­thische Ortungsanlagen täuschen konnten.

Magantilliken war sich darüber im klaren, daß er ein großartiges Ziel für jeden Gegner bot. Da sein Bewußtsein jedoch jederzeit in einen anderen toten varganischen Körper überwechseln konnte, brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Auch der Verlust des Schiffes konnte ihn nicht gefährden, denn sein Bewußtsein war weder an diese noch an eine andere Welt gebunden.

Der Vargane wollte den oder die Unbe­kannten in der Station herauslocken, und das konnte er nur, wenn er sie neugierig machte. Die drei Rebellen, die Magantilliken hinge­richtet hatte, waren völlig arglos gewesen, vielleicht hatten sie ihn für einen der ihren gehalten.

Magantilliken empfand keinerlei Skrupel,

William Voltz

er war im Auftrag seiner Regierung hier, die die Hinrichtung der Rebellen für notwendig hielt.

Der Henker schaltete sein Flugaggregat ein und schwebte über die Sandbank hinweg auf die andere Seite des Flusses hinüber. Ein paar Vögel erhoben sich kreischend von ih­ren Nistplätzen in den Bäumen, um ihre Art­genossen vor dem seltsamen Ungeheuer zu warnen, das da herangeflogen kam. Magan­tilliken kümmerte sich nicht um die Tiere, sondern suchte nach Spuren, die ihm Hin­weise auf die Anwesenheit anderer Varga­nen geben konnten.

Am rechten Unterarm trug er ein Instru­mentenband. Dort befanden sich neben Spürgeräten auch analytische Anzeiger und die Schaltungen für die Aggregate des Schutzanzugs.

Magantilliken hatte sein Funkgerät auf Empfang geschaltet, er rechnete nicht damit, daß sich jemand melden würde, aber er wollte für alle Eventualitäten gerüstet sein.

Der Henker machte sich keine Gedanken über das Zusammenwirken kosmischer Kräfte. Er hatte sich damit abgefunden, daß er die Wahrheit niemals ergründen würde. Das Vorhandensein eines Makrokosmos be­wies ihm, daß es weder Grenzen nach unten noch nach oben gab, wahrscheinlich pflanzte sich die Anzahl der Existenzebenen in alle Unendlichkeit fort. Man mußte dort, wo man hineingestellt war, das Beste aus dem Leben machen.

Seine nüchterne Denkweise hatte Magan­tilliken schon viele Erfolge eingebracht, an­dererseits war er wegen mangelnder Phanta­sie schon oft gescheitert.

Er flog jetzt über dem Dschungel, in den Bäumen unter ihm regte sich vielfältiges Le­ben. Vielleicht gab es irgendwo auf diesem Planeten intelligente Eingeborene, aber sie waren bedeutungslos, denn sie hatten keine sichtbare Zivilisation hervorgebracht.

Es war früh am Morgen, vielleicht drei Stunden nach Sonnenaufgang. Entsprechend der Eigenrotation des Planeten verblieben dem Varganen noch vierzehn Stunden, um

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bei Tageslicht zu suchen. Allein die Tatsache, daß die Rebellen be­

stimmte Planeten bevorzugten und immer wieder zu den alten varganischen Stütz­punktwelten zurückkehrten, veranlaßte Ma­gantilliken zu der Hoffnung, daß er sie nach und nach alle finden würde.

Er flog eine Zeitlang über dem Wald hin und her und näherte sich dabei dem offenen Meer.

Vor der Küste entdeckte er einen dunklen Punkt auf der Wasseroberfläche. Er änderte die Flugrichtung. Als er den Strand erreicht hatte, sah er, daß es sich bei dem Gegen­stand um ein kleines Boot handelte, das an einer Boje ankerte. Wer auch immer sich hier im Dschungel niedergelassen hatte, kam ab und zu zum Fischen auf das offene Meer.

Magantilliken ließ sich auf das Boot hin­absinken und untersuchte es kurz. Es war ein aufgeschnittener Wasserbehälter, wie es sie an Bord varganischer Raumschiffe gab. Als Motor diente ein kleiner Pumpenantrieb, an dem eine Schraube befestigt war. Am Boden des Bootes lagen ein Netz und eine Angel.

Nun war Magantilliken sicher, daß er ein neues Opfer gefunden hatte.

Er richtete sich im Boot auf und beobach­tete den Strand.

Natürlich war seine Ankunft beobachtet worden. Die Rebellen, die auf dieser Welt lebten, konnten nichts von Magantillikens Auftrag wissen, deshalb war es erstaunlich, daß sie sich nicht zeigten. Vielleicht wollten sie weiterhin in völliger Abgeschiedenheit leben.

Magantillikens Lippen zuckten. Er würde die Gegenseite herausfordern.

Bedächtig zog er seine Strahlenwaffe und schoß das Boot leck.

Er schwebte ein paar Meter in die Höhe, wartete, bis das Boot voll Wasser lief und versank, dann zerstrahlte er die Boje.

Am Strand rührte sich nichts. Entweder war die Zerstörung des Bootes nicht beob­achtet worden oder der Besitzer nahm den Zwischenfall nicht tragisch.

Magantilliken wartete einige Zeit, dann

setzte er seine Suche über dem Dschungel fort. Er ging systematisch vor, aber als die Sonne hinter den heraufziehenden Nacht­wolken versank, hatte er immer noch keine Spur einer Station gefunden.

Er flog zur Sandbank zurück, um die Nacht in seinem Schiff zu verbringen. Bevor er die Schleuse betrat, knackte sein Helm­lautsprecher, und eine Stimme fragte: »Warum haben Sie das getan?«

Der Henker wußte sofort, daß diese Frage sich auf die Zerstörung des Bootes bezog, obwohl seither ein paar Stunden verstrichen waren.

»Warum kommen Sie nicht her und fin­den es heraus?« fragte er zurück.

Der Unsichtbare lachte dumpf, dann herrschte wieder Schweigen.

Magantilliken betrat die Schleuse, stürmte ins Innere des Schiffes und ließ sich durch den Rettungsschacht nach unten gleiten. Se­kunden später hatte er das Schiff wieder ver­lassen und rannte quer über die Sandbank. Ohne zu zögern, warf er sich in die Fluten und ließ sich davontreiben. Auf der anderen Seite blitzte es zwischen den Bäumen auf, der Energiestrahl ließ die obere Pyramide des Schiffes aufglühen und in sich zusam­menfallen.

Magantilliken drehte sich auf den Rücken, um besser beobachten zu können. Er be­glückwünschte sich zu seiner instinktiven Handlung. Eine zweite Salve wurde abge­feuert. Sie legte das Schiff völlig in Trüm­mer. Glühende Metallbrocken landeten zi­schend im Fluß, die Sandbank war jetzt in weißen Dampf gehüllt.

Magantilliken hatte die Stelle, von der aus geschossen wurde, ausgemacht. Er stieg aus dem Wasser und verschwand zwischen den Bäumen. Wenig später erlebte er eine Ent­täuschung. Die Strahlenkanone, die in den Büschen am Ufer stand, wurde von zwei Ro­botern bedient. Ein Vargane war nicht zu se­hen.

Magantillikens Blicke suchten die Umge­bung ab. Er fand eine Schneise, die die Ro­boter mit ihren Armstrahlenwaffen in den

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Dschungel gebrannt hatten. Entschlossen folgte er dieser Spur. Sie führte eine größere Strecke landeinwärts als Magantilliken an­genommen hatte.

Plötzlich stieß er auf eine große Lichtung. Sie war künstlich geschaffen worden, in ih­rem Mittelpunkt stand ein kleines, aber wuchtig aussehendes Gebäude. Am Rande der Lichtung, bereits völlig von Pflanzen überwuchert, sah Magantilliken ein Doppel­pyramidenschiff.

Der Besitzer des Schiffes und des Gebäu­des lag in einem bequemen Sessel vor der Tür. Es war gerade noch hell genug, um Ma­gantilliken erkennen zu lassen, daß es sich um Mamrohn handelte. Der ehemalige Wis­senschaftliche Erste Rat war bis zum Skelett abgemagert und hatte alle Haare verloren. Er trug nur eine Art Lendenschurz. Eine schwe­re Strahlenwaffe lag quer über seinen Bei­nen.

Magantilliken empfand keinen Triumph, nicht einmal Befriedigung.

Er näherte sich Mamrohn von hinten, lautlos über den Boden schwebend.

Als er ihn fast erreicht hatte, schien der Rebell die Gefahr zu spüren, denn er drehte plötzlich den Kopf und sah den Henker an. Sekundenlang versenkten sich ihre Blicke ineinander, dann ließ Mamrohn sich aus dem Sessel kippen und riß die Waffe hoch. Magantilliken war bereits über ihm und ver­setzte ihm einen Tritt, der die Waffe davon­schleuderte. Angesichts seiner körperlichen Überlegenheit empfand Magantilliken fast so etwas wie Scham. Er spielte mit dem ab­surden Gedanken, Mamrohn eine gleichwer­tige Chance zu geben, doch dann siegte sei­ne Vernunft. Er richtete seine Handfeuer­waffe auf den Rebellen.

»Zurück in den Sessel!« Mamrohn ließ sich zurücksinken, er sah

erschöpft und müde aus. Magantilliken fragte sich ernsthaft, ob

dieser Mann wirklich einen Angriff gegen den Mikrokosmos inszeniert haben konnte.

»Sie gehören nicht zu den Rebellen!« stellte Mamrohn fest. »Woher kommen Sie,

William Voltz

und was wollen Sie von mir?« »Mein Name ist Magantilliken«, erwider­

te der Henker. »Sie wurden von der vargani­schen Regierung zum Tode verurteilt. Ich bin gekommen, um dieses Urteil zu voll­strecken.«

»Sind Sie verrückt?« erkundigte sich Mamrohn. »Es gibt keine varganische Re­gierung mehr.«

»Hier nicht!« bestätigte Magantilliken. »Aber im Mikrokosmos.«

Interesse flackerte in Mamrohns Augen auf.

»Kommen Sie von dort?« »Ja.« Mamrohn warf einen Blick zum Rand der

Lichtung. »Warten Sie nicht auf Ihre Roboter«,

warnte Magantilliken. »Ich vollstrecke das Urteil, bevor sie zurück sind.«

»Warum wollen Sie mich umbringen?« erkundigte sich Mamrohn gelassen. »Was würde sich dadurch ändern? Es ist bedeu­tungslos, ob ich tot bin oder hier lebe. Ich kann nichts mehr tun. Ich warte hier, bis ich von einem wilden Tier zerrissen werde oder bei einem Sturm im Meer ertrinke. Meine Anwesenheit schadet niemand. Im Grunde genommen bin ich schon tot. Die Voll­streckung dieses Urteils wäre unsinnig.«

Er hat recht! dachte Magantilliken. Dieses Wrack konnte nichts mehr erreichen. Aber darauf kam es nicht an! Für Magantilliken war es wichtig, gerade dieses Urteil zu voll­strecken, denn er wollte in die Eisige Sphäre zurück und rehabilitiert werden.

Er brachte es jedoch nicht fertig, die Waf­fe abzufeuern. Allmählich wurde er unsi­cher.

»Lebt Vargo noch?« fragte Mamrohn ei­nige Zeit später.

Dunkelheit senkte sich über die Lichtung. Mamrohn war nur mehr ein dunkler Schat­ten im Sessel. Im Dschungel wurde es leben­dig.

»Warum machen Sie kein Licht?« erkun­digte Magantilliken sich nervös.

Mamrohn erhob sich und ging zu dem

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kleinen Gebäude. Scheinwerfer flammten auf. Sie erhellten die gesamte Lichtung.

»Warum schließen Sie sich nicht den Re­bellen an?« fragte Mamrohn. »Wollen Sie wieder in den Mikrokosmos zurück – in die­se aussichtslose Winzigkeit?«

»Ich kann hier nicht leben«, erklärte Ma­gantilliken. »Seit der Rückkehr in den Mi­krokosmos hat sich unser Metabolismus ge­ändert. Wir müssen in regelmäßigen Abstän­den in die Eisige Sphäre zurückkehren. Das ist der Sektor, in dem wir jetzt leben – eine Energieblase innerhalb des Mikrokosmos.«

»Niemand konnte ahnen, daß alles so en­den würde«, meinte Mamrohn. »Wir mußten einen hohen Preis bezahlen.«

Im Scheinwerferlicht sah er beinahe durchsichtig aus, ein Mann, der sich beweg­te, atmete, sprach und doch nicht mehr in diese Welt gehörte.

»Ich habe viel über alles nachgedacht«, fuhr er fort. »Als wir die Tür zum Makro­kosmos aufstießen, dachte ich, daß wir et­was erreichen könnten. In Wirklichkeit ha­ben wir nur zwei gleichermaßen bedeu­tungslose Positionen gewechselt. Ich bin jetzt lange genug hier, um zu wissen, daß über dieser Existenzebene etwas Größeres existieren muß. Es läßt sich endlos fortset­zen, verstehen Sie?«

»Nein«, sagte Magantilliken. »Ich denke niemals über diese Probleme nach.«

Mamrohn lachte. »Ein philosophierender Henker – das wä­

re auch verrückt!« Magantilliken wollte nicht mehr zuhören.

Je länger er hier stand und diesen Mann re­den hörte, desto unsicherer wurde er in sei­nem Entschluß.

Er hob die Waffe und drückte ab, aber seine Hand zitterte, und er traf Mamrohn nicht richtig. Mamrohn drehte sich um die eigene Achse, er sah Magantilliken mit ei­nem Ausdruck des Erstaunens an, als hätte er nicht ernsthaft damit gerechnet, daß der Ankömmling seine Drohung verwirklichen könnte.

Mamrohn ging in die Knie.

»Seltsam«, sagte er kraftlos. »Ich hätte nicht gedacht, daß ich noch am Leben hän­gen würde. Alles war mir gleichgültig ge­worden, jetzt merke ich, daß ich nicht ster­ben will.«

Magantilliken schloß die Augen. »Sie sind hinter uns allen her, nicht

wahr?« drang die Stimme Mamrohns an sein Gehör.

Er konnte nur nicken. »Das schaffen Sie nicht«, erklärte Mam­

rohn mit plötzlicher Wildheit. Dann wurde es still. Magantilliken öffnete

die Augen. An der Haltung, in der Mamrohn am Boden lag, erkannte er, daß der Rebell tot war.

Ich könnte kein zweites Mal auf ihn schießen können! dachte Magantilliken.

Er verließ den Planeten mit dem Bewußt­sein, daß er auch nach einer Rückkehr in die Eisige Sphäre immer ein Ausgestoßener bleiben würde.

*

Bei seiner Jagd auf die Rebellen, die für Magantilliken so erfolgreich begonnen hatte, mußte er immer stärker erkennen, daß Mam­rohns Prophezeiung berechtigt gewesen war. Die Rebellen hatten von Magantillikens An­wesenheit und seinem Auftrag gehört und verhielten sich entsprechend vorsichtig. Ab und zu kehrte Magantilliken in die Eisige Sphäre zurück, um sich zu erholen und die Jagd dann in einem anderen Körper fortzu­setzen.

Inzwischen hatten Vargo, Kreton und die anderen Wissenschaftler Spezialroboter für den Einsatz im Makrokosmos entwickelt. Außerdem gab es ein Kommunikationssy­stem zwischen Makro- und Mikrokosmos, mit dessen Hilfe Magantilliken von vargani­schen Stationen aus mit den Bewohnern der Eisigen Sphäre in Verbindung treten konnte.

Diese Entwicklungen, die die Arbeit des Henkers erleichtern sollten, stellten in Wirk­lichkeit eine psychologische Belastung für ihn dar. Sie bewiesen ihm, daß man auch in

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der Eisigen Sphäre nicht an eine schnelle Er­ledigung des Auftrags glaubte.

Magantilliken begann sich zu ändern. Das Leben im Makrokosmos prägte ihn. Wenn er für kurze Zeit in der Eisigen Sphäre lebte, fühlte er sich immer mehr als Fremder. Trotzdem brauchte er diesen Aufenthalt in­nerhalb des Mikrokosmos.

Vielleicht würde sich der Zustand dieses ständigen Wechselns von einer Existenzebe­ne in die andere niemals ändern. Magantilli­ken überlegte oft, ob er nicht freiwillig aus dem Leben scheiden sollte.

Er besaß keine Freunde, weder im Makro-noch im Mikrokosmos. Genau wie Vargo vorhergesagt hatte, litt er unter dem Zustand schlimmster Einsamkeit. Ohne sich dessen bewußt zu werden, kapselte Magantilliken sich mehr und mehr von allen schönen Din­gen des Lebens ab, er verhärtete innerlich und vergaß sein früheres Leben.

Schließlich war er nur noch Magantilli­ken, der varganische Henker – ein Mann, der sich nicht vorstellen konnte, jemals et­was anderes tun zu können als Rebellen zu jagen und sie zur Strecke zu bringen.

13. Atlan

»Jetzt wissen Sie alles«, sagte Magantilli­ken ruhig. »Mein Auftrag ist noch immer nicht beendet. Wenn ich auch geächtet wur­de, so kann ich mir doch nicht vorstellen, daß sie jemals einen anderen nach ›oben‹ schicken werden, um die letzten Rebellen zu töten.«

Seine Erzählung hatte mir vieles begreif­lich gemacht, ich sah in ihm nicht länger nur den erbitterten Gegner.

»Sie leben zwischen Makro- und Mikro­kosmos«, stellte ich fest. »Besser als alle an­deren wissen Sie, daß Crysalgira und ich nicht hierher gehören. Warum wollen Sie uns nicht helfen?«

»Das kann ich nicht«, lehnte er entschie­den ab. »Abgesehen davon bin ich der Mei­nung, daß wir das Mädchen und Sie brau-

William Voltz

chen!« »Wozu?« fragte ich. »Verstehen Sie immer noch nicht?« Er

blickte mich abschätzend an. »Sie haben mit der Rebellin Ischtar ein Kind gezeugt. Wir Varganen können uns untereinander nicht fortpflanzen, aber offensichtlich ändert sich dieser Zustand, wenn eine fremde Kompo­nente ins Spiel kommt.«

Ich schluckte und wagte nicht, Crysalgira einen Blick zuzuwerfen.

»Es ist alles ganz einfach«, sagte der Var­gane. »Das Mädchen wird die Mutter vieler varganischer Kinder sein. Sie werden dafür sorgen, daß es viele varganische Mütter ge­ben wird. Wir hoffen, daß diese Kinder un­tereinander sich wieder fortpflanzen kön­nen.«

Crysalgira gab einen erschrockenen Laut von sich und flüchtete in meine Arme. Ich versuchte nicht, sie zu trösten, denn es gab keine Zweifel daran, daß die Varganen ihre Absicht verwirklichen wollten.

»Nur zu diesem Zweck bringen wir Sie beide nach Yarden«, fügte Magantilliken hinzu.

Ich stieß einen Schrei aus und warf mich auf ihn. Er befand sich jedoch innerhalb ei­nes energetischen Prallfelds, von dem ich zurückgeschleudert wurde.

»Fassen Sie sich!« herrschte er mich an. »Es gibt Schlimmeres als die Vereinigung mit Unsterblichen.«

»Ich werde es niemals tun«, schluchzte Crysalgira.

Magantilliken erwiderte nichts, sondern ging hinaus. Die Prinzessin und ich waren allein. Was sollte ich Crysalgira sagen? Die Macht der Tropoythers war zu groß, wir konnten nichts unternehmen.

»Vielleicht gibt es eine Fluchtmöglich­keit, wenn wir innerhalb der Eisigen Sphäre sind«, sagte ich zu dem Mädchen. »Von dort aus können wir am ehesten in den Makro­kosmos entkommen.«

Sie schüttelte wild den Kopf. »Sie werden uns nicht eher weglassen, be­

vor sie nicht sicher sein können, daß ihr

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schreckliches Experiment Erfolg hat.« Ja! dachte ich düster. Das war die Wahr­

heit. Die Aussicht, den moralisch pervertierten

Tropoythers aus ihrer Stagnation zu helfen, war wenig erfreulich. Ich wollte vermeiden, daß man Crysalgira und mich als Brut- und Zeugungsmaschinen mißbrauchte.

»Es wird eine Lösung geben«, sprach ich Crysalgira Mut zu.

Sie sah mich ernst an. »Ich werde mich töten!« Ich preßte eine Hand auf ihren Mund. »Das darfst du niemals wieder sagen,

Kleines! Dazu besteht überhaupt kein Grund. Wir werden kämpfen, auch wenn un­sere Lage jetzt noch aussichtslos ist.«

*

Als Magantilliken wieder bei uns erschi­en, machte er einen nervösen Eindruck und schien in Eile zu sein. Vielleicht hatte er neue Instruktionen erhalten.

»Wir hatten ursprünglich vor, Sie durch das Transmittersystem der Gefühlsbasen nach Yarden zu bringen«, eröffnete er uns. »Da wir nicht sicher sind, welche Auswir­kungen das auf Ihre körperliche Verfassung haben könnte, werden Sie an Bord eines te­jonthischen Raumschiffs gebracht, das den Kreuzzug nach Yarden mitmacht. Dieses Schiff wird Sie an Ihr Ziel bringen. Die Be­satzung ist angewiesen, Sie sorgsam zu be­handeln.«

»Lassen Sie uns noch einmal über alles sprechen«, schlug ich vor. »Sie gehören längst nicht mehr zu den Unsterblichen in­nerhalb der Eisigen Sphäre. Warum schlie­ßen Sie sich nicht uns an und versuchen uns zu helfen? Wir würden nach unserer Rettung alles tun, um Ihnen ein Leben im Makrokos­mos zu erleichtern.«

»Sie vergessen, daß ich in regelmäßigen Abständen in die Eisige Sphäre zurückkeh­ren muß!«

»Auch für dieses Problem gibt es eine Lö­sung.«

Seine Augen sahen durch mich hindurch. »Nein! Unsere Wissenschaftler hätten

längst eine Möglichkeit gefunden, wenn es sie gäbe. Denken Sie, wir wollten für immer an die Eisige Sphäre gebunden sein? Vargo und die anderen haben nichts unversucht ge­lassen.«

Du kannst ihn nicht überreden! meldete sich mein Extrahirn.

»Vielleicht«, sinnierte der Henker, »sehen wir uns niemals wieder. Es ist erstaunlich, wie oft wir uns bisher begegnet sind.«

»Werden Sie wieder in den Makrokosmos gehen?«

»Bestimmt!« »Schonen Sie Ischtar!« bat ich ihn. »Sie

bedeutet keine Gefahr für ihr Volk. Im Grunde genommen sehnt sie sich nach einer Rückkehr in den Mikrokosmos, obwohl sie weiß, daß in der Eisigen Sphäre kein Platz für sie sein wird.«

»Es ist keine persönliche Sache«, erwider­te der Vargane. »Mir sind diese Rebellen gleichgültig. Ich spüre keinen Groll in mir, wenn ich an Ischtar denke. Trotzdem werde ich sie töten, wenn die Unsterblichen mich wieder auf die Jagd schicken.«

Ich erkannte, daß ich mit keinem meiner Worte unter die Oberfläche seines Denkens drang. Er hatte aufgehört, persönliche Be­dürfnisse anderer Intelligenzen zu akzeptie­ren. Er war zu einer mordenden Maschine geworden.

Mit Schrecken dachte ich an ein Zusam­mentreffen mit den anderen Unsterblichen innerhalb der Eisigen Sphäre.

»Die Erinnye wird Sie aus der Gefühlsba­sis zum Raumschiff bringen, sobald die Zeit gekommen ist«, sagte der Henker abschlie­ßend. »Leben Sie wohl.«

»Wie hast du ihn nur um etwas bitten können!« hielt Crysalgira mir vor. »Er ist nicht wert, daß man ihn anspricht.«

Ich sah das anders, aber ich wollte mich seinetwegen nicht mit der Arkonidin über­werfen. In Crysalgiras Augen war Magantil­liken ein Ungeheuer. Sie begriff nicht, wie dieser Mann so hatte handeln können.

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»Er erwähnte ein Transmittersystem«, lenkte ich ihre Gedanken in eine andere Richtung. »Wir haben keinen Anlaß, an die­ser Angabe zu zweifeln. Vielleicht haben wir eine Chance, von dieser Basis zu flie­hen.«

Sie war sofort bei der Sache, ein Um­stand, der mich sehr erleichterte, denn er be­wies, daß die Prinzessin längst noch nicht aufgegeben hatte.

»Ich weiß nicht, wieviel Zeit uns noch bleibt«, sagte ich. »Wir sollten sie jedoch zu nutzen versuchen.«

Willst du von einer Gefühlsbasis in die andere fliehen? fragte mein Extrahirn. Was versprichst du dir davon?

»Eine Art Aufschub!« Unwillkürlich hatte ich laut gesprochen.

Crysalgira sah mich verständnislos an. »Schon gut«, winkte ich ab. »Laß uns die­

se Räume durchsuchen.« Der Haupteingang des Aufenthaltsraums

war verschlossen, das hatte ich bereits fest­gestellt. Es war sicher auch sinnlos, diesen Fluchtweg zu benutzen.

»Klopf die Wände ab!« befahl ich dem Mädchen. »Ich durchsuche den Baderaum.«

Ich war nicht sicher, ob wir beobachtet wurden. Sicher hatten Magantilliken und die Erinnye keine besonderen Vorsichtsmaßnah­men getroffen. Sie wußten, daß wir keine Chance für eine Flucht aus der Gefühlsbasis hatten. Außerhalb der Station gab es nur die lebensfeindliche Umwelt des Asteroiden. Unsere einzige Möglichkeit war die Trans­mitterverbindung zu anderen Gefühlsbasen, von der Magantilliken gesprochen hatte. Wenn es uns gelang, eine andere Basis zu erreichen, konnten wir hoffen, auf einer Sau­erstoffwelt herauszukommen.

Ich untersuchte alle Wände des Bade­raums. Sie machten einen stabilen Eindruck und konnten ohne entsprechende Werkzeuge nicht geöffnet werden. Auch der Boden er­wies sich als widerstandsfähig. Ich gab je­doch nicht auf. Über einen Sessel, den ich ins Badezimmer schob, erreichte ich die Leuchtdecke. Ich klopfte sie ab. Dabei ent-

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standen hohle Geräusche. Crysalgira, die sie hörte, kam zu mir herein.

»Die Decke!« rief ich. »Über uns liegt ein Hohlraum. Die Frage ist nur, wie hoch er ist und wie wir dorthin gelangen.«

Ich montierte den zweiten Sessel ausein­ander und benutzte eine der freigelegten Me­tallstreben als Werkzeug, um den Decken­rand zu bearbeiten. Das Licht erlosch, offen­bar hatte ich die Stromzufuhr unterbunden. Es gelang mir, einen Teil der Decke aufzu­brechen. Mit Hilfe einer größeren Metall­stange, die ich als Hebel benutzte, vergrö­ßerte ich die Öffnung. Dann ließ ich Crysal­gira zu mir auf den Sessel klettern und hob sie hoch, damit sie in das entstandene Loch blicken konnte.

»Der Zwischenraum ist nicht besonders hoch«, stellte sie fest. »Ich nehme an, daß er zur Belüftungsanlage gehört. Wir werden uns kriechend fortbewegen können.«

»Nun gut«, sagte ich. »Wir haben nichts zu verlieren.«

Ich reichte ihr die beiden Metallstangen und half ihr dann, sich in die Öffnung zu zwängen. Ihr zu folgen, war nicht einfach für mich, ich mußte mich hochziehen und den Oberkörper in das Loch schieben. Crys­algira half mir, so gut es ging, und kurze Zeit darauf lagen wir schweratmend neben­einander im Zwischenraum. Kühle Luft blies mir ins Gesicht. Von unten fiel nicht genü­gend Licht durch die Öffnung, um viele Ein­zelheiten unserer Umgebung sichtbar wer­den zu lassen.

»Ich krieche voraus«, entschied ich. Aufs Geradewohl schlug ich eine Richtung ein. Wir kamen trotz der unbequemen Körper­haltung gut voran. Bald darauf befanden wir uns in völliger Dunkelheit. Ab und zu hiel­ten wir an, um zu lauschen. Es war still. Ein Gegenstand, der sich wie ein dichtes Netz aus Metall anfühlte, stoppte mich schließ­lich. Ich tastete das Hindernis mit den Hän­den ab.

Crysalgira lag neben mir. »Wir könnten versuchen, uns gewaltsam

einen Durchschlupf zu schaffen«, überlegte

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ich. »Dabei würde jedoch Lärm entstehen, deshalb schlage ich vor, daß wir eine Zeit­lang an diesem Gitter entlang kriechen und feststellen, wo wir herauskommen.«

Das Mädchen erhob keine Einwände. Der Zwischenraum, in dem wir uns befanden, mußte riesig sein, wahrscheinlich zog er sich quer durch die gesamte Station und unter­teilte sie in zwei Etagen.

Plötzlich griffen meine Hände ins Leere. Ich tastete vorsichtig umher und stellte fest, daß ich mich am Rand einer runden Boden­öffnung befand. Vor mir lag eine Art Schacht.

Ich ließ mich mit den Beinen voran hin­eingleiten. Indem ich mich mit den Beinen und dem Rücken an den Wänden abstemm­te, stieg ich langsam abwärts.

»Kannst du mir folgen?« erkundigte ich mich bei meiner Begleiterin.

Sie hatte ihre Gewandtheit und Kraft schon oft bewiesen, so daß ich keine Beden­ken hatte. Es dauerte nicht lange, dann spür­te ich festen Boden unter mir. Ich richtete mich auf und wartete, bis Crysalgira neben mir stand.

In der Dunkelheit ertastete ich ihr Gesicht und küßte sie. »Zur Aufmunterung«, erklärte ich.

»Du bist verrückt!« zischte sie. »Hast du jetzt keine besseren Ideen?«

»Doch!« versicherte ich ihr. »Trotzdem will ich versuchen, hier einen Ausgang zu finden.«

»Was, glaubst du, ist das hier? Ein Schacht oder ein Behälter?«

»Keine Ahnung!« Meine Hände, die über die glatten Innenwände glitten, trafen auf Widerstand. Ich untersuchte die Ausbuch­tungen gründlich und drückte von allen Sei­ten dagegen. Nichts geschah. Meine Hoff­nung, einen Verschlußmechanismus gefun­den zu haben, schien sich nicht zu bestäti­gen.

Ich ergriff eine der beiden Metallstreben und schob sie in eine Vertiefung. Mit aller Kraft stemmte ich mich dagegen. Es gab ein knirschendes Geräusch, dann brach irgend

etwas auseinander. Gleichzeitig entstand ein schmaler Spalt, durch den Licht hereinfiel. Ich schob Crysalgira zur Seite und brachte mein Gesicht dicht an die Öffnung.

Ich blickte in einen beleuchteten Korridor. Das Gebiet, in das ich einsehen konnte, war verlassen.

Crysalgira war vernünftig genug, jetzt keine Fragen zu stellen. Ich schob beide Me­tallstangen in die kleine Öffnung. Es stellte sich heraus, daß die Vergrößerung des Spal­tes kein Problem war. Schließlich konnte ich den Kopf hinausstrecken. Crysalgira und ich befanden uns in einer hohlen Säule mitten im Korridor.

Ich drehte den Kopf und entdeckte den Öffnungsmechanismus außen an der Säule. Hoffentlich hatte ich ihn nicht schon so sehr verbogen, daß er nicht mehr funktionierte. Ich streckte die Hand hinaus. Die Säule ließ sich ohne Schwierigkeiten öffnen. Ich trat auf den Korridor hinaus und zog Crysalgira ins Freie. Hastig blickte ich mich um. Es blieb keine Zeit, die Spuren meiner Bemü­hungen zu verwischen. Alles, was ich tun konnte, war, die schmale Tür wieder zuzu­drücken.

»Wohin?« flüsterte Crysalgira und blickte sich um.

Ich wünschte, ich hätte eine Antwort dar­auf gewußt.

Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich für eine Seite des Korridors zu ent­scheiden und festzustellen, wohin er uns führen würde.

Wir rannten los und bemühten uns dabei, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Trotzdem kam mir das Getrampel unserer Schritte übermäßig laut vor. Ich fragte mich, ob Magantilliken und die Erinnye die einzi­gen Bewohner dieser Gefühlsbasis waren.

Der Korridor endete vor einem breiten Tor. Ich preßte ein Ohr gegen das Metall, aber es war nichts zu hören. Auf der anderen Seite konnten unsere Gegner sein.

Crysalgira nickte mir zu. Sie war ent­schlossen, jedes Risiko einzugehen.

Das Tor ließ sich ohne Schwierigkeiten

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öffnen. Das Mädchen und ich befanden uns im

Eingang eines halbdunklen Raumes. Im Hin­tergrund standen einige Konsolen mit Bild­schirmen darauf. Rechts von mir lag ein In­strumentensockel, und im Hintergrund er­kannte ich eine Art Korb, der offenbar zu ei­nem Lift gehörte. Gegenstation dieses Lifts konnte nur ein Podest etwa zehn Meter über mir sein. Dort war ein kreisrundes Fenster in die Wand gelassen, das den Durchblick in den benachbarten Raum gewährte. Ich fragte mich, was dort so Besonderes sein konnte, um diesen technischen Aufwand zu rechtfer­tigen, aber ich sollte es nicht mehr erfahren.

Ein eisiger Hauch traf mein Gesicht. Ich fuhr erschrocken herum und sah die

Erinnye unmittelbar neben Crysalgira ste­hen. Sie war wie aus dem Nichts erschienen.

Crysalgira war wie versteinert, Angst und Enttäuschung zeigten sich in ihrem Gesicht.

In meiner Verzweiflung machte ich einen Schritt auf den seltsamen Roboter zu und schlug nach ihm. Ich traf ins Leere und er­hielt dafür einen Schockstrahl, der meinen Körper vibrieren ließ. Sekundenlang stand ich heftig zitternd da und war unfähig, ir­gend etwas zu tun. Die Erinnye beobachtete mich.

»Sie hätten Ihre Unterkunft nicht verlas­sen sollen«, sagte das Wesen aus der Eisigen Sphäre sachlich. Wahrscheinlich konnte es keinen Ärger empfinden.

»Kommen Sie!« forderte die Erinnye uns auf, nachdem ich meine Glieder wieder un­ter Kontrolle hatte. »Ich bringe Sie in Ihre Unterkunft zurück.«

Wir folgten ihr. Ich war niedergeschlagen und fühlte mich für den Fehlschlag verant­wortlich.

»Es war ein Versuch«, sagte Crysalgira. »Immer noch besser als tatenlos abzuwar­ten.«

Als wir in unserer Unterkunft eintrafen, war die Decke des Baderaums bereits repa­riert.

Magantilliken erschien, aber er machte uns keine Vorhaltungen.

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»Es ist sinnlos, den Versuch zu wiederho­len«, meinte er. »Sie werden immer wieder scheitern.«

»Wann werden wir abgeholt?« erkundigte ich mich.

»Es ist bald soweit!« Er schickte die Erin­nye hinaus und zog plötzlich eine kleine Strahlenwaffe. Ich sah ihn bestürzt an, denn ich rechnete damit, daß er uns bestrafen würde.

Er zögerte, dann warf er die Waffe auf den Tisch.

Ich sah ihn fassungslos an. »Sie haben sie während Ihres Ausbruchs­

versuches gefunden und an sich genom­men«, sagte er.

»Warum tun Sie das?« fragte ich ver­blüfft.

Er zuckte mit den Schultern. Ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum. Ich ging zum Tisch und nahm die Waffe an mich.

»Das ist eine Falle!« beschwor mich Cry­salgira. »Du darfst diesen Strahler nicht an­rühren.«

»Ich denke, er meint es ehrlich!« Versuche festzustellen, ob sie geladen ist!

ermahnte mich mein Extrahirn. Dazu hätte ich die Waffe abfeuern müssen. Das Risiko erschien mir zu groß. Ich schob den kleinen Strahler unter den Anzug.

»Was hast du jetzt vor?« wollte die Prin­zessin wissen.

»Abwarten!« riet ich ihr. »Hier in der Ge­fühlsbasis haben wir keine Chance, aber das kann sich ändern, sobald wir an Bord eines tejonthischen Schiffes sind.«

*

Ich dachte darüber nach, daß Magantilli­ken ein höchst ungewöhnlicher Mann war, der immer wieder für Überraschungen sor­gen konnte. Was ging im Kopf des Henkers vor? Wollte er uns durch das Überlassen ei­ner Waffe helfen oder wünschte er unseren schnellen Tod?

War er am Ende sogar gegen den Plan, daß Crysalgira und ich für den Fortbestand

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der Varganen sorgen sollten? Auf jeden Fall verfolgte dieser unheimli­

che Mann seine eigenen Pläne. Er gehörte nur noch dem Namen nach zu den letzten Tropoythers, die in Yarden lebten.

Ich versuchte, mir die Verhältnisse inner­halb der Eisigen Sphäre vorzustellen, aber trotz allem, was ich erfahren hatte, gelang mir das nicht einmal annähernd.

Die Unsterblichen, die durch ihre Experi­mente mit der Absoluten Bewegung sich beinahe selbst ausgerottet hatten, waren si­cher nicht mit Ischtar zu vergleichen. Ich er­innerte mich, wie fremd mir aber sogar Isch­tar trotz meiner Liebe zu ihr geblieben war.

Ähnelten die varganischen Frauen in der Eisigen Sphäre der Goldenen Göttin?

Und war Chapat inzwischen dem Em­bryostadium entwachsen und aus dem Über­lebensbehältnis herausgenommen worden?

Hatten Crysalgira und ich nach Erfüllung unserer Aufgabe Hoffnung, durch den Über­setzer in den Makrokosmos entlassen zu werden, und würde diese Prozedur für uns ähnliche Folgen haben wie für die Varga­nen?

Das alles waren Fragen, die mich so in­tensiv beschäftigten, daß ich keine Ruhe fand.

Das Bewußtsein, nun eine Waffe zu besit­zen, war ebenfalls aufregend.

Ich würde den Strahler einsetzen, sobald sich eine Möglichkeit dazu bieten sollte.

*

Etwa drei Tage später erschienen zwei Er­innyen in unserer Unterkunft. Vergeblich wartete ich auf Magantilliken. Vielleicht weilte der Henker bereits nicht mehr in der Gefühlsbasis.

»Der Kreuzzug nach Yarden ist in der Nä­he dieser Gefühlsbasis eingetroffen«, infor­mierte uns einer der beiden varganischen Roboter.

Das konnte nur bedeuten, daß weitere Verbände zu den fünftausend tejonthischen Einheiten draußen im Weltraum gestoßen

waren. Trotz aller Schwierigkeiten schien der Kreuzzug auch diesmal stattzufinden, die Tejonther hatten offenbar eine Möglich­keit gefunden, zehntausend Schiffe zusam­menzubringen.

Noch immer war mir unklar, warum diese Wesen alle dreihundert Jahre auf Veranlas­sung der Tropoythers diesen Flug unternah­men. Ich befürchtete jedoch, daß es einen schrecklichen Grund dafür gab.

»Was wird mit uns geschehen?« fragte ich die Erinnyen.

»Eines der Schiffe wird auf der Gefühls­basis landen, um Sie abzuholen«, erhielt ich bereitwillig Antwort. »Dieses Schiff wird Sie nach Yarden bringen, wo Sie bereits er­wartet werden.«

Unwillkürlich berührte ich die kleine Waffe unter meinem Anzug.

»Wir bringen Sie jetzt zur Schleuse«, kündigte eine Erinnye an. »Dort erhalten Sie Schutzanzüge und Atemmasken, damit Sie zum Schiff gehen können.«

Crysalgira warf mir einen fragenden Blick zu, aber ich reagierte nicht darauf. Es war sinnlos, die Waffe auf dem Weg zum Schiff zu benutzen. Nur an Bord des tejonthischen Schiffes hatten wir eine Chance.

Die beiden Erinnyen führten uns zur Schleuse. Auf dem Wege dorthin sah ich mich vergeblich nach Magantilliken um. Wie die Roboter versprochen hatten, beka­men wir vor der Schleuse Schutzanzüge. Vermutlich waren es jene, die wir bereits bei unserer Ankunft getragen hatten.

Offenbar verlief nicht alles so reibungs­los, wie die Erinnyen geplant hatten, denn nachdem wir die Anzüge angelegt hatten, mußten wir noch einige Zeit warten, bis wir die Schleuse betreten durften.

Draußen erwarteten uns drei bewaffnete tejonthische Raumfahrer.

Im Hintergrund sah ich ihr dreißig Meter hohes Schiff auf den großen Heckflossen stehen.

Zweifellos handelte es sich dabei um das Schiff, das uns nach Yarden bringen sollte. Ich überlegte, wieviel Besatzungsmitglieder

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sich an Bord aufhalten mochten, denn davon hing in erster Linie der Erfolg jeder Aktion ab.

Die Tejonther schienen es eilig zu haben, denn sie brachten uns sofort zu ihrem Schiff, ohne mit den Erinnyen in der Gefühlsbasis Kontakt aufzunehmen. Wahrscheinlich hat­ten sie ihre Anweisungen auf dem Funkweg erhalten.

An Bord des tejonthischen Schiffes wur­den Crysalgira und ich sofort in eine Kabine gebracht. An den Bewegungen und Erschüt­terungen spürten wir, daß das Schiff unmit­telbar nach unserer Ankunft in den Welt­raum startete. Ich war überzeugt davon, daß es sich jetzt wieder in die große Flotte ein­gliederte.

»Die Waffe hilft uns wenig«, befürchtete Crysalgira. »Sie werden uns hier eingesperrt halten und sich überhaupt nicht um uns kümmern.«

»Das hängt davon ab, wie lange sie nach Yarden unterwegs sind«, antwortete ich. »Wenn sie einen Direktflug machen, werden wir unser Ziel sicher bald erreichen. Ich nei­ge jedoch zu der Annahme, daß sie noch ein paar Gefühlsbasen anfliegen müssen, um in die richtige Stimmung versetzt zu werden – was immer der Grund dafür sein mag. Das bedeutet, daß man uns verpflegen muß.«

Ich wunderte mich, daß man uns die An­züge gelassen hatte. Stand uns vielleicht ein weiterer Ausflug in den offenen Weltraum bevor?

Trotz der Informationen, die wir in der Gefühlsbasis erhalten hatten, konnte ich mir kein Bild von der Eisigen Sphäre machen. Wie sah sie aus, wie groß war sie?

Groya-Dol und seine Eisnarbe fielen mir ein.

Konnten Sterbliche überhaupt in Yarden leben?

»Ich frage mich, ob wir nicht das Risiko auf uns nehmen und uns nach Yarden brin­gen lassen sollen«, wandte ich mich an die Arkonidin.

Sie sah mich ungläubig an. »Du weißt, was uns dort erwartet!«

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»Unser Leben wäre nicht bedroht«, erin­nerte ich sie. »Wenn sie uns wirklich zur Zeugung einer neuen Generation benutzen wollen, werden sie sehr vorsichtig mit uns umgehen.«

»Du willst also aufgeben?« fragte sie ent­setzt.

»Nein«, sagte ich. »Das waren nur theore­tische Überlegungen. Natürlich werden wir versuchen, das Schiff in unsere Gewalt zu bringen und damit zu entkommen.«

Es war unmöglich, einen festen Plan zu entwickeln, wir mußten darauf warten, daß der Zufall uns eine Gelegenheit gab. Ich wußte nicht, wie viele Tejonther sich an Bord aufhielten. An der Größe des Schiffes gemessen, konnten es etwa fünfzig sein. Wie sollten wir sie mit einer Waffe besiegen?

Trotz der großen Ungewißheit, die mit meinem Vorhaben verbunden war, wartete ich voller Ungeduld, daß einer der Tejonther in unsere Kabine kommen würde.

Als es endlich soweit war, erschienen mir die äußeren Umstände für einen Angriff denkbar ungeeignet.

Die Tür sprang auf, draußen auf dem Gang stand ein Tejonther mit einer schweren Strahlwaffe in den Händen. Ein zweiter Mann, der eine Handfeuerwaffe im Gürtel stecken hatte, betrat den Raum, blieb aber unmittelbar vor dem Eingang stehen.

Er hatte ein Übersetzungsgerät bei sich, das er jetzt einschaltete.

»Haben Sie bestimmte Wünsche?« erkun­digte er sich.

Ich sah ihn erstaunt an, offenbar verhalf uns unser neuer Status zu einer Reihe von Vorteilen.

»Ich habe Fragen«, eröffnete ich ihm. »Aber die werden Sie mir bestimmt nicht beantworten.«

Er schüttelte den Kopf. »Dazu bin ich nicht berechtigt, abgesehen

davon, daß ich wahrscheinlich nicht mehr weiß als Sie.«

»Ja«, sagte ich gedehnt. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir regelmäßig Nahrung er­halten könnten.«

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»Das ist selbstverständlich«, versicherte er.

Ich überlegte, was in seinem Kopf vorge­hen mochte. Sicher war er kein besonders bösartiger Mann. Er führte einen Befehl aus und wirkte ein bißchen verunsichert.

»Gut«, sagte ich. »Bringen Sie uns zu es­sen und zu trinken.«

Er drehte sich um und stand dabei genau zwischen mir und dem Mann mit dem Strah­lengewehr in den Händen draußen auf dem Gang.

Jetzt! dachte mein Extrahirn. Mechanisch zog ich die kleine Waffe. Der

Mann auf dem Korridor konnte es nicht se­hen, und der zweite Tejonther wandte mir den Rücken zu. Als er die Kabine verließ, gab er den Blick auf den bewaffneten Raum­fahrer frei. Der Mann mit dem Strahlenge­wehr begriff wahrscheinlich nicht, was ge­schah. Ich gab einen Schuß auf ihn ab. Die Waffe, die Magantilliken mir gegeben hatte, funktionierte einwandfrei. Der getroffene Tejonther taumelte rückwärts bis zur Wand, ohne die Waffe loszulassen. Seine Augen waren weit geöffnet.

Ich zielte auf den zweiten Mann, der sich jetzt langsam umdrehte, mit einem Ausdruck ungläubiger Überraschung im Gesicht.

»Lassen Sie Ihre Waffe stecken!« befahl ich ihm.

Seine Hände zuckten zurück. »Sieh nach, ob jemand draußen im Korri­

dor ist!« rief ich Crysalgira zu. Während das Mädchen nach draußen

ging, näherte ich mich dem Tejonther und zog ihm die Waffe aus dem Gürtel. Ich warf sie der Prinzessin zu, die jetzt draußen stand und gelassen feststellte: »Niemand hier, At­lan.«

Ich deutete auf den Tejonther. »Bewache ihn und laß ihn nicht aus den

Augen!« Crysalgira nahm vor ihm Aufstellung und

bedrohte ihn mit seiner eigenen Waffe. Ich trat auf den Gang hinaus, sah mich

nach beiden Seiten um und packte dann den Toten an den Schultern. Ich zog ihn in die

Kabine und warf die Tür hinter mir zu. Alles war blitzschnell gegangen. Ich hörte mich aufatmen. Noch war nichts gewonnen, aber wir hatten Zeit zum Atemholen.

Ich griff nach dem Übersetzungsgerät. »Wie heißen Sie?« fuhr ich den Tejonther

an. Der Raumfahrer war völlig eingeschüch­

tert und brachte keinen Ton hervor. »Sprechen Sie!« drängte ich ihn. »Ich ha­

be nicht viel Zeit.« »Warquel!« sagte er stockend. »Wieviel Besatzungsmitglieder befinden

sich an Bord, Warquel?« »Mit mir sind es zehn!« Zweifellos sprach er die Wahrheit. Ich

hatte mich also verschätzt, denn ich hatte mit fünfzig Gegnern gerechnet. Daß es nur zehn waren, erleichterte mich. Jetzt hatten die Prinzessin und ich eine echte Chance, das Schiff unter Kontrolle zu bringen. War­quel war unser Gefangener, der Mann, den er mitgebracht hatte, lebte nicht mehr.

»Wieviel Raumfahrer halten sich zur Zeit in der Zentrale auf?« fragte ich weiter.

»Nur einer – das Schiff fliegt mit dem Ro­botpiloten.«

»Wir befinden uns in der Flotte der Kreuzzügler?«

»Ja«, bestätigte Warquel. »Ich will vermeiden, daß weitere Tejon­

ther ihr Leben verlieren«, sagte ich zu ihm. »Deshalb wäre es klug von Ihnen, mir zu helfen.«

Allmählich gewann er seine Fassung zu­rück. Seine gelben Augen bewegten sich heftig, offensichtlich suchte er nach einem Ausweg.

»Handeln Sie nicht unüberlegt!« warnte ich ihn. »Die Besatzung wird überleben, wenn sie sich meinen Befehlen fügt.«

»Was haben Sie eigentlich vor?« wollte er wissen. »Sie haben doch überhaupt keine Chance, irgend etwas zu erreichen.«

Ich ignorierte diese Behauptung, mit der er uns nur einzuschüchtern versuchte.

»Wo sind die übrigen Besatzungsmitglie­der?«

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Er zögerte. Ich richtete den Lauf der Waf­fe auf ihn. Unwillkürlich blickte er zu dem Toten hinüber.

»Kommen Sie nicht auf die Idee, uns zu belügen!«

»Im Aufenthaltsraum«, erwiderte er wi­derstrebend. »Ich weiß nicht, was sie dort tun, aber die Mehrzahl wird schlafen oder sich ausruhen.«

Ich nickte zufrieden. Die Situation war für Crysalgira und mich ausgesprochen günstig. Wenn wir schnell und entschlossen handel­ten, konnten wir unser Ziel erreichen. Ich nahm die schwere Strahlenwaffe an mich.

»Sie führen uns jetzt zu den Aufenthalts­räumen!« befahl ich Warquel. »Lassen Sie sich zu keinen unüberlegten Handlungen hinreißen, eine Waffe wird immer auf Sie gerichtet bleiben.«

In Gedanken war ich schon bei der näch­sten Stufe meines Planes. Wenn wir das Schiff in unserer Gewalt hatten, mußten wir eine Möglichkeit finden, aus der Flotte aus­zuscheren. Wie würden die übrigen Raum­fahrer auf ein solches Manöver reagieren?

Wenn die Zeit gekommen war, wollte ich mit Warquel über dieses Problem reden, jetzt mußten wir erst die Besatzung aus­schalten.

Crysalgira erwies sich einmal mehr als zuverlässige Verbündete. Sie ließ den Tejon­ther nicht aus den Augen, so daß ich ohne Risiko die Umgebung beobachten konnte. Warquel hatte die Wahrheit gesprochen, auf dem Weg in den Aufenthaltsraum trafen wir mit niemand zusammen. Schließlich standen wir vor dem Eingang der Mannschaftsquar­tiere.

»Du bleibst mit Warquel hier im Gang und bewachst ihn«, sagte ich zu meiner Be­gleiterin. »Zögere nicht zu schießen, wenn er sich rührt.«

»Du kannst dich auf mich verlassen, At­lan.«

Ich nickte ihr zu und öffnete dann vor­sichtig das Tor zu den Aufenthaltsräumen. Im Vorraum befand sich niemand. Ich durchquerte ihn und öffnete die nächste Tür.

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Ich blickte in eine Art Bibliothek. Die sie­ben Raumfahrer saßen in bequemen Sesseln rund um eine sich drehende Bildsäule. Sie blickten nicht auf, als ich eintrat, wahr­scheinlich dachten sie, Warquel oder der an­dere Mann seien eingetreten.

Die Raumfahrer hatten ihre Ausrüstung abgelegt. Soweit ich sehen konnte, trug kei­ner von ihnen eine Waffe.

»Hallo!« rief ich in das Übersetzungsge­rät. »Niemand rührt sich von seinem Platz.«

Sie starrten mich an wie eine Erschei­nung. Ein großer Mann erholte sich zuerst von seiner Überraschung. Es wäre ihm fast gelungen, mich zu überrumpeln. Er warf sich vornüber aus dem Sessel und zog dabei eine kleine Strahlenwaffe aus dem Gürtel. Bevor er abdrücken konnte, traf ich ihn mit der erbeuteten Waffe. Er blieb vor dem Ses­sel liegen und rührte sich nicht mehr.

»Das hätte nicht zu passieren brauchen!« rief ich. »Ich will nicht, daß sich ein solcher Zwischenfall wiederholt. Fügen Sie sich meinen Anordnungen, dann kann ich Ihnen versprechen, daß kein Schuß mehr fallen wird.«

Ich rief Crysalgira und Warquel herein. »Sieh dir die anliegenden Räume an«, bat

ich die Arkonidin. »Wir brauchen ein geeig­netes Gefängnis für diese Männer.«

Ich winkte Warquel mit der Waffe. Er trat zu den anderen, während Crysalgira mit der Untersuchung der benachbarten Räume be­gann. Ich entschied mich dafür, die Gefan­genen in einer großen Vorratskammer unter­zubringen, die von außen verriegelt werden konnte und aus der ein Entkommen prak­tisch unmöglich war.

Ich trieb die Raumfahrer, ausgenommen Warquel, hinein und versprach ihnen, daß sie sich keine Sorgen zu machen brauchten. Wahrscheinlich haßten sie mich. Ich hatte zwei ihrer Artgenossen getötet, dafür hatten sie bestimmt kein Verständnis. Es ging je­doch um das Schicksal von Crysalgira und mir, da konnte ich auf die Gefühle dieser Wesen nicht viel Rücksicht nehmen. Ob sie mir geglaubt hätten, daß ich auf Belkathyr

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für die Beendigung der Kreuzzüge gekämpft hatte? Vielleicht wußten sie es sogar. Die überwiegende Mehrheit der Tejonther war für die Beibehaltung der Kreuzzüge nach Yarden, sie schienen nicht zu ahnen, warum diese Aktionen überhaupt durchgeführt wur­den.

Die Tejonther waren Werkzeuge der letz­ten Tropoythers, aber sicher konnte ihnen das niemand begreiflich machen.

Nachdem der Vorratsraum verriegelt war, befahl ich Warquel, uns in die Zentrale zu bringen. Dort hielt sich das letzte freie Be­satzungsmitglied auf. Seine Überwältigung bereitete keine Schwierigkeiten, denn es war im Sessel vor den Kontrollen eingeschlafen. Crysalgira brachte den verstörten Raumfah­rer in den Vorratsraum zu den anderen Ge­fangenen, während ich mir die Bildschirme ansah.

Das Schiff, in das man uns gebracht hatte, flog inmitten einer gewaltigen Flotte. Offen­bar waren doch annähernd zehntausend Ein­heiten zusammengekommen. Es war ein im­posanter Anblick, der mich so faszinierte, daß ich Warquel fast vergessen hätte. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß der Raum­fahrer langsam an mich herankam. Er glaub­te an eine Chance, mich überwältigen zu können.

Ich bedrohte ihn sofort mit der Waffe. »Stehenbleiben!« schrie ich ihn an. In Zukunft, beschloß ich, wollte ich noch

vorsichtiger sein. Auf keinen Fall durfte ich diesen Tejonther unterschätzen.

Er brachte es fertig zu lächeln. »Sie sehen, daß Sie nur eine relative Frei­

heit gewonnen haben«, meinte er. »Dieses Schiff befindet sich mitten unter anderen Schiffen meines Volkes. Sie können nicht entkommen. Geben Sie auf.«

Ich winkte mit der Waffe und ließ ihn im Sessel vor den Kontrollen Platz nehmen.

»Wir werden dieses Schiff aus der Flotte steuern«, ordnete ich an.

Sein Pelz sträubte sich im Nacken. Er schien ernsthaft bestürzt zu sein.

»Kommen Sie nicht auf den Gedanken,

eine Funkbotschaft abzustrahlen oder Ihren Freunden ein Zeichen zu geben«, warnte ich ihn. »Vergessen Sie nicht, daß Sie und alle anderen Besatzungsmitglieder mit uns ster­ben werden, wenn irgend etwas mit dem Schiff passieren sollte.«

»Ja«, sagte er grimmig. Meine Blicke wanderten über die Kon­

trollen. Da ich eine Zeitlang an Bord von Vruumys' Schiff zugebracht hatte, waren mir die Instrumente nicht völlig fremd. Es fiel mir leicht, die Funkanlage zu finden. Ich zerstörte ein paar Schaltungen, so daß War­quel keine Verbindung zu anderen Schiffen aufnehmen konnte, ohne vorher nicht auffäl­lige Vorbereitungen zu treffen.

Er schien enttäuscht zu sein. »Wir wollen uns unterhalten, wie wir nun

vorgehen«, schlug ich vor. Er machte keinen sehr bereitwilligen Ein­

druck, aber ich ließ mich davon nicht irritie­ren.

»Sie wissen, was ich vorhabe«, fuhr ich fort. »Es geht darum, mit diesem Schiff den Kreuzzug zu verlassen.«

»Das ist unmöglich!« Er ließ sich im Sitz zurücksinken, als wäre die Sache damit erle­digt.

»Mag sein, daß Sie so darüber denken«, sagte ich mit Nachdruck. »Trotzdem werden Sie es versuchen müssen, wenn Sie am Le­ben bleiben wollen.«

Er seufzte. Ich war nicht sicher, ob er wirklich mit großen Schwierigkeiten rechne­te oder mir nur etwas vormachte. Auf jeden Fall durfte ich mich nicht von meinen Plä­nen abbringen lassen. Die Eroberung des Schiffes war völlig sinnlos, wenn wir wei­terhin in diesem Pulk mitflogen.

Ich preßte Warquel den Lauf der Waffe in den Nacken.

»Entscheiden Sie sich!« Das wirkte. Er begann, an den Kontrollen

zu hantieren. Ich ließ die Bildschirme nicht aus den Augen. Da ich nicht bereit war, eine Funkverbindung zu anderen tejonthischen Einheiten zuzulassen, mußte ich mich auf die optischen Wahrnehmungen verlassen. Es

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war denkbar, daß unser Schiff angegriffen und vernichtet wurde, wenn es mit dem un­vorhergesehenen Manöver begann, aber die­ses Risiko mußte ich eingehen.

Crysalgira kam in die Zentrale zurück. »Ich habe ihn gut untergebracht«, berich­

tete sie. Ihr Blick fiel auf die Kontrollen, und sie wurde sofort wieder ernst. »Geht es schon los?«

Ich nickte nur, denn ich wollte mich jetzt nicht ablenken lassen.

Bei der Bedienung der verschiedenen Schaltanlagen machte Warquel einen siche­ren Eindruck. Ich konnte nicht völlig aus­schließen, daß er einen Trick versuchte, denn dazu kannte ich die tejonthische Tech­nik nicht gut genug. Einmal mehr mußte ich mich völlig auf meinen Instinkt verlassen.

Auf den Leuchtskalen erschienen jetzt ständig neue Werte, auch die Stellung des Schiffes zum übrigen Verband begann sich zu ändern.

Das Manöver hatte begonnen.

*

Obwohl alles sehr schnell ging, verstrich die Zeit scheinbar mit quälender Langsam­keit. Keines der anderen Schiffe schien zu reagieren, aber das war eine oberflächliche Feststellung, denn ich konnte längst nicht al­le Einheiten auf den Bildschirmen beobach­ten. Vielleicht hatten in diesem Augenblick schon ein paar Verbände Kurs auf unser Schiff genommen, um es zu stoppen.

Ich hatte den Verdacht, daß Warquel das Ausschermanöver absichtlich verzögerte.

»Es geht zu langsam!« herrschte ich ihn an. »Beeilen Sie sich, wenn Sie diese Aktion überleben wollen.«

»Ich tue, was ich kann!« Zum erstenmal wurde er richtig wütend und widerspenstig.

Da wir im Grunde genommen auf ihn an­gewiesen waren, beschloß ich, ihn während der Kurskorrektur nicht zu stark unter Druck zu setzen, denn das konnte zu einer Kurz­schlußreaktion führen.

Als ich wieder auf den Bildschirm blickte,

William Voltz

sah ich auf einer Seite den offenen Welt­raum. Unser Schiff war im Begriff, sich von der Flotte der Kreuzzügler zu trennen. Bis­her war nichts dagegen unternommen wor­den.

Ich wandte mich wieder an Warquel. »Beschleunigen Sie jetzt mit Höchstwer­

ten!« befahl ich. Er wollte Einwände erheben, besann sich

aber anders und führte meine Anordnung aus. Das Schiff schien förmlich aus diesem Sektor der mikrokosmischen Galaxis heraus­zuspringen.

»Geschafft!« rief Crysalgira. »Suche ein paar Stricke!« bat ich sie.

»Wir wollen unseren Freund an den Sitz fes­seln, damit er auch in Zukunft nicht auf dumme Gedanken kommt.«

14. Atlan

Crysalgira und ich beschlossen, abwech­selnd zu schlafen, denn es war sicher nicht angebracht, Warquel unbeaufsichtigt an den Kontrollen des Schiffes zu lassen.

Ich wollte die erste Wache übernehmen, denn die Prinzessin war wesentlich er­schöpfter als ich. Ihr Durchhaltevermögen war sowieso bewundernswert.

Crysalgira lehnte sich an mich und küßte mich flüchtig auf die Wange.

»Ich bin froh, daß wir dem Schicksal ent­ronnen sind, das die Varganen für uns be­stimmt hatten«, sagte sie müde, aber glück­lich. »Ich darf nicht daran denken, was mit uns geschehen wäre, wenn man uns in die Eisige Sphäre gebracht hätte.«

Ich runzelte die Stirn. Meine Gedanken beschäftigten sich bereits mit der nächsten Zukunft. Wahrscheinlich würde Crysalgira von meinen Plänen nicht begeistert sein. »Vergiß nicht, daß in Yarden eine Flucht­möglichkeit in den Makrokosmos besteht, Prinzessin!«

»Das ist mir gleichgültig«, gab sie zurück. »Wir werden nach Yarden gehen – auf

meine Weise!« verkündete ich. »Dort haben

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wir die Chance, den Umsetzer zu benutzen, außerdem kann ich vielleicht meinen Sohn wiedersehen.«

Ihr Gesicht veränderte sich, ich hatte sie niemals zuvor so wütend gesehen.

»Es geht dir ausschließlich um diesen Mischling!« beschuldigte sie mich.

Ich vergaß mich und schlug ihr ins Ge­sicht. Sie wich vor mir zurück und sah mich an wie einen Fremden. Ich begriff, daß ich mit diesem Schlag viel zerstört hatte, aber er ließ sich nicht zurücknehmen.

»Ja«, fuhr sie mit entstellter Stimme fort. »Wenn du ihn zu ihr zurückbringst, wird sie dich in Gnaden aufnehmen.«

Ich verstand sofort, daß sie von Ischtar sprach. Fast hätte ich erneut die Beherr­schung verloren.

»Wir sind beide müde«, sagte ich müh­sam. »Alles wird anders aussehen, wenn wir uns ausgeruht haben. Unsere Nerven wurden in den letzten Tagen überbeansprucht.«

Sie ließ nicht locker. »Gib es doch zu!« rief sie aus. »Du

träumst davon, unsterblich zu werden wie sie und mit ihr zu leben. Du hast vergessen, daß du für die Freiheit der Arkoniden kämp­fen mußt. Was ist mit deinen Plänen, Orba­naschol III. zu vernichten?«

Mit dumpfer Stimme gab ich zurück: »Ich habe nichts davon vergessen.«

Sie lachte spöttisch. Unser Gespräch war damit beendet, wir hatten uns im Augen­blick nichts mehr zu sagen.

Mein Extrahirn meldete sich. Hat sie wirklich unrecht? Wann hast du

zum letztenmal an die Mörder deines Vaters gedacht?

Ich lauschte in mich hinein. In den ver­gangenen Tagen hatte ich kaum Zeit gefun­den, mich mit mir selbst zu beschäftigen.

Nein! dachte ich entschieden. Ich hatte nichts vergessen, weder meine Freunde noch meine Gegner im Makrokosmos.

Ich war entschlossen, dorthin zurückzu­kehren und den Kampf wieder aufzuneh­men.

Aber der Weg in den Makrokosmos führte

nur an den unsterblichen Varganen vorbei – mitten durch die Eisige Sphäre.

*

Meine Befürchtung, daß wir verfolgt wer­den könnten, bestätigte sich glücklicherwei­se nicht. Warquel hatte nicht versucht, uns zu hintergehen. Der Tejonther machte einen sehr niedergeschlagenen Eindruck, wahr­scheinlich hatte er mit seinem Leben abge­schlossen.

Ich beschloß, mich mit der Technik dieses Schiffes vertraut zu machen und die Gefan­genen früher oder später auf einem geeigne­ten Planeten abzusetzen. Die tejonthischen Raumfahrer bedeuteten für Crysalgira und mich nur eine Belastung.

Solange Crysalgira schlief, brachte ich die beiden Toten zur Hauptschleuse und stieß sie in den Weltraum. Dann kehrte ich in die Zentrale zurück und löste Warquel wieder von den Fesseln, damit er sich frei vor den Kontrollen bewegen konnte.

Ich sagte ihm, was ich vorhatte. Er schien überrascht zu sein, daß dieses

Abenteuer für ihn und seine Freunde so glimpflich verlaufen sollte.

»Denken Sie über die Bedeutung der Kreuzzüge nach«, empfahl ich ihm. »Ich bin sicher, daß sie zum Schaden Ihres Volkes veranstaltet werden.«

Er antwortete nicht, wahrscheinlich ge­hörte er zu den überzeugten Anhängern die­ser traditionellen Unternehmungen.

Ich war froh, als Crysalgira erwachte und mich ablöste. Kaum, daß ich mich in einem Sitz niedergelassen hatte, schlief ich auch schon ein.

Meine unruhigen Träume drehten sich um Ischtar, Magantilliken und jenen unheimli­chen Raum, der Schrecken und Verlockung gleichzeitig verhieß: die Eisige Sphäre.

ENDE

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