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Martin Luther als „Junker Jörg“ auf der Wartburg Gemälde von Lucas Cranach d. Ä., 1522 102 SPIEGEL GESCHICHTE 6 | 2014 EINE BIBEL FÜR ALLE A m 4. Mai 1521 fuhr Martin Luther auf dem Rückweg vom Reichstag in Worms durch den Thüringer Wald. Der Pferdewagen des landesweit bekannten Kirchenkriti- kers und seiner Begleiter hatte gerade die mittelalterliche Burganlage Schloss Altenstein passiert, da fand die beschauliche Tour durch landschaftliche Schönheiten ein jähes Ende. Bevor die Reisenden die nächste Sehenswürdigkeit, die heute als Ruine erhaltene Burg Liebenstein erreich- ten, versperrten ihnen bewaffnete Reiter den Weg. Ein mitfahrender Klosterbruder flüchtete in den Wald. Der verängstigte Fuhrmann, die Pfeilspitze einer Armbrust vor Augen, gab auf Befragen sofort zu, dass sein Fahrgast Martin Luther sei. Da zerrten fluchende Landsknechte Luther aus dem Wagen. Lauthals und, wie es schien, mutig protestierte sein Freund Nikolaus von Amsdorf gegen den Überfall. Die Entführer brachten Luther zur nahe gelegenen Wartburg. Dort nahm Schlosshauptmann Hans von Ber- lepsch den unfreiwilligen Gast freundlich in Empfang. Denn Luther war nicht unter die Räuber geraten und auch nicht in die Fänge von Feinden seiner theologi- schen Ansichten. Der Leiter des Kidnapper-Trupps, Burghard II. Hund von Wenkheim, hatte in fürstlichem Auftrag gehandelt – zu Luthers Schutz. Den brauchte der Mann dringend. Denn Karl V., Kai- ser des Heiligen Römischen Reiches und „römisch- deutscher König“, hatte dem Kirchenreformer den Krieg erklärt. Weil der den Glauben erneuern wollte, verhängte der Kaiser am 8. Mai im Wormser Edikt ge- BPK Verfolgt von Papst und Kaiser machte sich der junge Theologe Martin Luther in einer Klause auf der Wartburg an die Übersetzung der Bibel. Die gewaltige Arbeit wälzte die Kirche und die deutsche Sprache um. Herzenslust und Feuertaufe Von UWE KLUSSMANN

Herzenslust Feuertaufe A - SPIEGEL

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Page 1: Herzenslust Feuertaufe A - SPIEGEL

Martin Luther als„Junker Jörg“ auf derWartburgGemälde von LucasCranach d. Ä., 1522

102 SPIEGEL GESCHICHTE 6 | 2014

EINE BIBEL FÜR ALLE

Am 4. Mai 1521 fuhr Martin Luther auf demRückweg vom Reichstag in Worms durchden Thüringer Wald. Der Pferdewagendes landesweit bekannten Kirchenkriti-kers und seiner Begleiter hatte gerade die

mittelalterliche Burganlage Schloss Altenstein passiert,da fand die beschauliche Tour durch landschaftlicheSchönheiten ein jähes Ende.

Bevor die Reisenden die nächste Sehenswürdigkeit,die heute als Ruine erhaltene Burg Liebenstein erreich-ten, versperrten ihnen bewaffnete Reiter den Weg. Einmitfahrender Klosterbruder flüchtete in den Wald. Derverängstigte Fuhrmann, die Pfeilspitze einer Armbrustvor Augen, gab auf Befragen sofort zu, dass sein FahrgastMartin Luther sei.

Da zerrten fluchende Landsknechte Luther aus demWagen. Lauthals und, wie es schien, mutig protestiertesein Freund Nikolaus von Amsdorf gegen den Überfall.Die Entführer brachten Luther zur nahe gelegenenWartburg. Dort nahm Schlosshauptmann Hans von Ber-lepsch den unfreiwilligen Gast freundlich in Empfang.

Denn Luther war nicht unter die Räuber geraten undauch nicht in die Fänge von Feinden seiner theologi-schen Ansichten. Der Leiter des Kidnapper-Trupps,Burghard II. Hund von Wenkheim, hatte in fürstlichemAuftrag gehandelt – zu Luthers Schutz.

Den brauchte der Mann dringend. Denn Karl V., Kai-ser des Heiligen Römischen Reiches und „römisch-deutscher König“, hatte dem Kirchenreformer denKrieg erklärt. Weil der den Glauben erneuern wollte,verhängte der Kaiser am 8. Mai im Wormser Edikt ge- B

PK

Verfolgt von Papst und Kaiser machte sich der jungeTheologe Martin Luther in einer Klause auf der

Wartburg an die Übersetzung der Bibel. Die gewaltige Arbeit

wälzte die Kirche und die deutsche Sprache um.

Herzenslustund

Feuertaufe Von UWE KLUSSMANN

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gen ihn die Reichsacht. Das bedeutete: Lutherwar rechtlos, jeder durfte ihn festnehmen odersogar töten.

Doch Fürst Friedrich III. von Sachsen, ge-nannt Friedrich der Weise, wollte den Rebellenretten, mit dessen kritischer Theologie er sym-pathisierte. Friedrich III. war ein Gegner derkaiserlichen Zentralgewalt und des geldgierigenPapsttums. Schon ab 1518, als der Papst Lutherals Ketzer verdammte, hatte sich Friedrich fürihn eingesetzt.

So beauftragte der Fürst die Scheinentfüh-rung. Nur Luther selbst und einige seiner Freun-de waren in den Plan eingeweiht, darunter derMitreisende von Amsdorf. Der beschimpfte dieEntführer, damit der ahnungslose Fuhrmannglaubhaft berichten konnte, Luther sei ver-schleppt worden.

Auf dem Reichstag in Worms hatte Luther sei-ne theologischen Auffassungen unter Hinweisauf die „Heilige Schrift“ verteidigt. Er sah sichals genaueren und gewissenhafteren Interpretender Bibel. Noch war die Schrift der Masse desVolkes auf Deutsch nicht zugänglich.

Die offizielle Fassung der „Vulgata“ war aufLatein, das nur wenige beherrschten. AndereVersionen auf Hebräisch und Altgriechisch ver-standen nur Spezialisten. Dabei hatte die tech-nische Revolution des Buchdrucks nun idealeVoraussetzungen für die massenhafte Verbrei-tung des Textes geschaffen. Seit der MainzerGoldschmied Johannes Gutenberg in der Mittedes 15. Jahrhunderts ein Drucksystem mit be-weglichen Lettern aus Metall erfunden hatte,waren Bücher in höheren Auflagen herstellbar.

Auch mit Übersetzungen der Bibel etwa insMittelhochdeutsche, einer schon damals ver -alteten Sprache, konnten viele Menschen nichtsanfangen.

War es möglich, die Bibel in eine dem Volkverständliche Sprache zu übersetzen und dannüberall zu verbreiten? Könnte dies einen Schubzur Reform der Kirche auslösen? Diese Fragenbeschäftigen Luther. Wer, wenn nicht er, konntediese Arbeit leisten? Und wann, wenn nicht jetzt,war der Zeitpunkt dafür gekommen?

So kreisten seine Gedanken auf der Wartburgum die Bibel und ihre Auslegung. Selbst als sei -ne Mitbewohner ihn zu einer Jagd einluden,dachte er an den Papst und an den Satan. Nichtnach Treibjagd, nach Textexegese stand ihm derSinn.

Auf einem einfachen Holztisch in seinemZimmer lagen die lateinische Vulgata-Bibelüber-setzung, der von Erasmus von Rotterdam he-rausgegebene altgriechische Urtext, und eineweitere lateinische Übersetzung von Erasmus.

FOTOS: AKG Luthers Entführung, seine Ankunft auf der

Wartburg, Luther schreibend auf der BurgHolzstiche, 19. Jahrhundert

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Hand-schriftlicheÜberset-zung des23. Psalms

durchLuther, um

1534

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EINE BIBEL FÜR ALLE

HEIN

Z-D

IETER FALKENSTEIN

/ AGEFOTOSTOCK / AVENUE IMAGES

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Mit diesen Mitteln setzte er sich imSpätherbst 1521 an die Übersetzung desNeuen Testaments ins Deutsche. Die gelang ihm in einer gewaltigen Kraft -anspannung in nur elf Wochen. SeinemFreund Georg Spalatin berichtete er vonder Vorbereitung: „Ich lerne Hebräischund Griechisch und schreibe ununter-brochen.“

Dabei betrachtete Luther das Johan-nesevangelium, den Römerbrief und denersten Petrusbrief als „Kern und Mark“der Heiligen Schrift. Denn sie stelltenfür ihn dar, so der KirchenhistorikerThomas Kaufmann, wie der Glaube anChristus „Sünde, Tod und Hölle über-winde und das Leben, die Gerechtigkeitund Seligkeit schenke“.

Luthers Verständnis der Bibel spie-gelt sich komprimiert im Anfang des Jo-hannesevangeliums: „Im Anfang war dasWort, und das Wort war bei Gott, undGott war das Wort.“

Seine Briefe an Freunde unterzeich-nete der Wartburg-Eremit schon malmit dem Absender „von der Insel Pat-mos“. Damit sah er sich in der Rolle des apokalyptischen Sehers und Pro-pheten Johannes, der, so die Überlie -ferung, auf der Insel Patmos in der Ost-Ägäis im 1. Jahrhundert n. Chr. Visionen der Offenbarung empfangenhatte.

Was trieb den Befreiungstheologen?Er wolle „das Antlitz und die Sitten deralten Kirche wiederherstellen“, forderteer in einem Brief an Spalatin im Sep-tember 1521. Dazu müssten, so Luther„alle Rechtsanschauungen der Men-schen zerbrochen und ihr Joch abge-worfen“ werden – ein Programm mit revolutionärem Potenzial.

In Luther lebte ein unbändiger Zorngegen eine verweltlichte Kirche und derWunsch und Wille, die „Freiheit einesChristenmenschen“ zu ermöglichen. Erspürte, dass das Land der Deutschen inGärung war, weil die Verhältnisse faulwaren.

Der Erneuerer forderte von den Men-schen, dass sie offen bekannten, was sieals richtig erkannt hatten. Und dass siedanach auch handelten. Seine Zielgrup-pe waren die Christen deutscher Spra-che und Herkunft. Deutschland zählte

damals etwa zehn bis zwölf MillionenEinwohner.

„Meinen Deutschen bin ich geboren,und ihnen will ich dienen“ schrieb Lu-ther im November 1521 in einem Briefan den Humanisten Nikolaus Gerbel inStraßburg. Dieser Satz Luthers wurde,weil die Nationalsozialisten ihn nutzten,von Kirchenhistorikern nach 1945 ent-weder verschwiegen oder „nur ver-schämt“ erwähnt, wie der Luther-Bio-graf Heinz Schilling konstatiert.

Dabei ist der Satz ein Schlüssel zumVerständnis des Bibelübersetzers. DieHeilige Schrift ins Deutsche zu übertra-gen, das war für Luther ein Mittel, umdie Massen des Volkes zu mobilisierenfür eine Art deutscher Kulturrevolutiongegen die römische Bevormundung.

Dass Luther die Deutschen als Opfervon Fremdbestimmung durch die päpst-liche Macht sah, zeigt ein Brief von ihman den Wittenberger Maler Lukas Cra-

nach vom 28. April 1521. Darin schriebder Reformator über den Reichstag inWorms, bei dem der Kaiser sich als Hel-fer des Kirchenoberhauptes in Rom er-wies: „O, wir blinden Deutschen, wiekindisch handeln wir und lassen uns sojämmerlich von den Romanisten äffenund narren!“

Den Deutschen die Augen zu öffnenfür die römische Manipulation, das hieß,ihnen „ein neues nationales Selbstgefühlzu schaffen“, so der Theologe und Lu-ther-Biograf Christian Feldmann. Dieskonnte nur gelingen, wenn bei der Bi-belübersetzung die Sprache des VolkesGrundlage war und nicht nur der Wort-schatz einer isolierten Oberschicht.

So bat Luther den Freund Spalatin,ihm mit einfachen, volkstümlichen Re-densarten zu helfen, nicht mit Hof- undAdelswörtern. Einfachheit müsse derSchmuck der Bibel sein. Luther betonteimmer wieder, dass seine „Worte klarund deutlich“ sein müssten, um von al-len verstanden zu werden.

Mit der deutschen Sprache wollte erauch die deutsche Freiheit verteidigen.Luthers Sprache spiegelte die Selbst-ständigkeit des Denkens wieder und ent-fesselte „auch den trotzigen Eigensinndes deutschen Charakters“, wie der His-toriker Heinrich von Treitschke be-merkte.

Luther wollte aus dem Alltagsdeutscheine Literatursprache formen. „Manmuss“, so schrieb er, „die Mutter imHause, die Kinder auf der Gasse, den ge-meinen Mann auf dem Markt drum fra-gen und denselbigen auf das Maul sehen,wie sie reden und danach dolmetschen.So verstehen sie es denn und merken,dass man deutsch mit ihnen redet“.

Der Bibelübersetzer ließ sich vonHandwerkern ihre Arbeit und ihre In-strumente erklären und sah einem Flei-scher beim Schlachten eines Hammelszu, um die Geschichten der Bibel in ei-ner Sprache griffiger Bilder erzählen zukönnen.

Dabei war ihm bewusst, dass dieSprache Ausdruck der psychischen Wesensart eines Volkes ist. So spotteteer bei der Übersetzungsarbeit, es sei ein „verdrießlich Werk, die hebräischenSchreiber zu zwingen, deutsch zu re-den“.

Luther prägte zahlreiche neue Sub-stantive wie die Kleingläubigen und dieKriegsknechte, die Splitterrichter unddie Lückenbüßer, die Friedfertigen unddie Herzenslust. Er ersann die Feuer-taufe, den Bluthund, den Schandfleck,das Lästermaul und den Lockvogel. Zuden Verben, mit denen er die Sprachebereicherte und verfeinerte, gehören er-regen, zermalmen, plappern und nach-eifern.

Nachhaltig wirkten auch Bilder undMetaphern wie das von den „Wölfen inSchafskleidern“. Luther liebte Allitera-tionen wie „Stecken und Stab", „Zitternund Zagen“ und „Rat und Tat“. Es gelangdem Sprachmeister damit, aus seinerZeit heraus etwas Zeitloses zu schaffen.Er ahnte, dass er mit der Bibelüberset-zung seinen päpstlichen Gegnern über-legen war.

Rückblickend schrieb er 1530 in sei-nem „Sendbrief vom Dolmetschen“ überseine Arbeit am Bibeltext: „Ich kannPsalmen und Propheten auslegen; daskönnen sie nicht. Ich kann übersetzen;das können sie nicht. Ich kann die Hei-lige Schrift lesen; das können sie nicht.“

Gelesen hatte Martin Luther die Bibelzum ersten Mal als Student mit 20 Jah-ren in der Universitätsbibliothek in Er-furt. Seither ließ ihn die Schrift nichtwieder los, er studierte sie zweimal jähr-lich vollständig.

Luther, geboren 1483 in Eisleben, warder Sohn eines Bauern, Bergmannes undkleinen Mineneigners, der es zu einembescheidenen Wohlstand gebracht hatte.

Luthers Programm besaß ein revolutionäres Potenzial.

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Er wuchs in Mansfeld auf, besuchte diedortige Stadtschule und danach die Mag-deburger Domschule. Vom Frühjahr1501 bis Januar 1505 absolvierte er ander Universität Erfurt ein allgemeinbil-dendes Studium. Das schloss Grammatikund Rhetorik ebenso ein wie Musik undAstronomie.

Nach dem Examen zum „Magister ar-tium“ begann er ein Jurastudium, das ernicht abschloss. Statt Jurist zu werden,trat er im Juli 1505 in das Augustiner-Eremitenkloster in Erfurt ein, ein Hortreligiöser Eiferer. Dort wurde er im Fe -bruar 1507 zum Diakon und im Aprilzum Priester geweiht.

Der Orden der Augustiner-Eremitenbestand seit 1256. Sein harter Kern folgteab 1473 der Richtung von der strengenObservanz, zu der auch das ErfurterMönchshaus gehörte. Bibelexegese undein asketischer Lebensstil prägten denAlltag. Der Novize Luther hauste in ei-ner nicht beheizbaren Zelle. Nur einTisch, ein Stuhl, eine Leuchte und einBett standen in dem Raum. Das täglicheRegime bestand in Fasten, Schweigen,Chorgebeten und dem Gelöbnis, sexuellenthaltsam zu leben.

Doch Luther wollte lehren und pre-digen. 1508 zog er an die Universität Wit-tenberg. Dort wurde er nach einer Rom-Reise im Jahre 1512 zum Doktor derTheologie promoviert. In Wittenbergstieg der eloquente Bibelkenner zumProvinzvikar auf. Sein Verhältnis zumGlauben wandelte sich radikal, als er inseinem Arbeitszimmer im Südturm desWittenberger Augustinerklosters überden Bibelvers Römer 1,17 meditierte. Daswar sein „Turmerlebnis“, wie er es nann-te. Gottes Gerechtigkeit, so interpretier-te Luther den Bibelvers, werde offenbartim Glauben: „Der Gerechte wird ausdem Glauben leben.“

Damit verband Luther ein neues Ver-ständnis der Heiligen Schrift. Die Gerech-tigkeit Gottes sei ein Gnadengeschenk,das der Mensch nur durch den Glaubenan Jesus Christus und nicht durch eigeneLeistungen erzwingen könne.

Diese Sicht führte zwangsläufig zumKonflikt mit der herrschenden Lehrmei-nung, die göttliche Gnade sei durch

„gute Werke“ zu erlangen. In der Praxisführte diese vatikanische Theorie zurKorruption. Denn apostolische Würden-träger betrieben einen schwunghaftenHandel mit „Ablassbriefen", in denenSünden erlassen wurden.

Um den Sumpf aus Manipulation,Geldgier und Streben nach weltlicherMacht trockenzulegen, in dem die Kir-che immer tiefer versank, forderte Lu-ther eine Rückkehr zu den Quellen derHeiligen Schrift. Dem dienten seine 95Thesen vom Oktober 1517 gegen den Ab-lasshandel. Sie markieren den Beginnder Reformation.

Doch die Kirchenhierarchie wehrtesich. Der Vatikan verwarf Luthers The-sen als ketzerisch: Er ließ den Autor inAugsburg vom Kardinal Thomas Caje-tan im Oktober 1518 zwei Tage lang verhören. Schließlich verhängte PapstLeo X. im Januar 1521 gegen Luther den Kirchenbann. Zwar konnte der Ausgegrenzte mit kaiserlichem Geleitauf dem Reichstag in Worms im April1521 seine Thesen verteidigen. Dochdann verhängte der Kaiser die Reichs-acht, um zu zeigen, dass er Luther ander Seite des Pontifex maximus be-kämpfte. IH

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Luther-Bibel aus dem 16. Jahrhundert

360°-Foto: Luthers stille Kammer

spiegel.de/sg62014wartburgoder in der App DER SPIEGEL

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So war Luther auf der Wartburg zwarin Sicherheit, aber isoliert wie nie zuvor.In einer kleinen, mit hellem Holz ver-schalten Stube über dem ersten Burghofrichtete er sich spartanisch ein.

Nur Burgkommandant Berlepschwusste, wer der neue Mitbewohner war.Zur Tarnung nannte der sich „JunkerJörg“, ließ sich einen Vollbart und langeHaare wachsen. Das Leben in der Emi-gration setzte Luther schon nach weni-gen Wochen schwer zu.

Zwar hatte er einen schönen Blickaus dem Fenster auf bewaldete Bergeund die Vögel, „die von den Zweigenlieblich singen“, wie er im Mai 1521 anseinen Freund Philipp Melanchthonschrieb. Doch die Landschaft, in derbläuliche Rauchsäulen der Kohlen -meiler aufstiegen, tröstete ihn nicht.„Ich sitze hier den ganzen Tag müßigund mit schwerem Kopfe“, schrieb erim Mai seinem Freund Georg Spalatin.Im Juli klagte er gegenüber Melan-chthon über die Einsamkeit auf derBurg. Er nahm zu und litt unter Verdau-ungsproblemen.

Dem Emigranten fehlten die Gesprä-che und der Streit mit Freunden. UndPredigten vor Gläubigen, an deren Ge-

sichtern und Augen er ablesen konnte,wie sie die Botschaft verstanden.„Starke Gemütsverstimmungen“ hät-

ten den Reformator belastet, ermittelteder Berliner Mediziner Hans-JoachimNeumann in einer akribischen Studieüber Luthers Krankheitsgeschichte.

Luther, der sogar unter Halluzinatio-nen mit Geistererscheinungen litt, deutete sie nicht als Psychosen, son -dern als Versuchungen des Satans. Dennder Genius, bisweilen am Rande desWahnsinns, war durchdrungen von ei-ner Mission. „Meine Bücher habe ichauf klare und deutliche Beweise der Heiligen Schrift gegründet“, hatte er im April 1521 dem Kaiser Karl V. ge-schrieben.

Die Papstkirche hatte kein Interessedaran, die Laien, die Gläubigen außer-halb des Klerus, mit dem Wortlaut derBibel vertraut zu machen. Denn damitgeriet das Deutungsmonopol des Heili-gen Stuhls für den Inhalt der Schrift inGefahr.

Die freie Verbreitung einer verständ-lichen Bibel unter den Deutschen muss-te Roms Macht zwischen Ostsee und Al-pen untergraben. Hinzu kam Luthers fol-genreichste Leistung: Er begründete dieeinheitliche deutsche Schriftspracheund damit die Grundlage dafür, dass sichdie Deutschen besser kennen lernen undals ein Volk verstehen konnten.

Ende Februar 1522 hatte der Refor-mator die Übersetzung des Neuen Tes-taments abgeschlossen. Am 1. März ver-ließ er die Wartburg und ging nach Wit-tenberg, wo sich seine Anhänger heftigeAuseinandersetzungen mit papsttreuenGegnern lieferten. Luther verfasste dannnoch Vorreden zum Neuen Testamentund zu einzelnen Texten des Briefteils.

Nach Vorlagen Albrecht Dürers, an-geregt von Melanchthon, fertigte LucasCranach 21 Illustrationen zur Johannes-offenbarung. Mitte September 1522 hat-te der Wittenberger Buchdrucker Mel-chior Lotter der Jüngere die erste Auf-lage der Lutherschen Arbeit fertigge-stellt, 3000 Exemplare: „Das Newe Tes-tament Deutzsch“.

Luthers Name erschien darin nicht,ein Honorar verlangte er nicht. Dochdass er der Autor war, sprach sich baldherum.

Das Buch war in wenigen Tagen ver-griffen, trotz des hohen Preises von ei-nem halben Gulden für die ungebunde-ne Ausgabe. Dafür konnte ein Bauerzwei Pflüge kaufen. Vielen war es daswert. Bereits im Dezember erschien diezweite Auflage.

Doch die Luther-Gegner unter dendeutschen Fürsten ließen die neue Bibelverbieten. Den Anfang machte im No-vember 1522 der sächsische HerzogGeorg der Bärtige. Er stellte den Vertriebund Besitz der Schrift unter Strafe.

Davon ließ sich Luther nicht ein-schüchtern. Noch während er das NeueTestament für den Druck vorbereitete,begann er mit der Übersetzung des Al-ten Testamentes aus dem hebräischenUrtext. Dabei arbeitete er zwölf Jahrelang eng mit Freunden zusammen, da-runter Melanchthon und der Wittenber-ger Hebräist Matthäus Aurogallus.

Diese Arbeit wurde ab 1523 in Teil-ausgaben ediert, zunächst die fünf Bü-cher Mose, dann 1524 die historischen

Bücher von Josua bis Ester, schließlichdie poetischen Bücher und die Psalmen.Im Herbst 1534 erschien erstmals dievollständige „Luther-Bibel“, versehenmit kurfürstlichem Druckprivileg und117 Holzschnitten aus der Werkstatt Cra-nachs. Die erste Auflage von wieder3000 Exemplaren war rasch vergriffen.

Die Luther-Bibel wurde zu einemunvergleichlichen Erfolg. Bis zum Todedes Reformators im Februar 1546 verlie-ßen etwa 430 Teil- und Gesamtausgabenmit einer Auflage von einer halben Mil-lion Exemplaren die Druckereien. Her-gestellt wurde das Werk an vielen Orten,von Magdeburg bis Bern, von Straßburgbis Grimma. So wurde das von einemMann aus dem Volke geschaffene Werkzum Besitz des Volkes.

Die Größe der lutherschen Leistungzeigte sich mehr als zwei Jahrhundertenach seinem Tod. „Er ist’s, der die deut-sche Sprache, einen schlafenden Riesenaufgeweckt und losgebunden“, pries ihnder Philosoph Johann Gottfried Herder1767. Seine Bewunderung für denSprachmeister brachte Johann Wolf-gang von Goethe 1819 in einem Brief aufdie Formel: „So sind denn die Deutschenerst ein Volk durch Luther geworden.“

Da hatte der Lutheraner Friedrichder Große schon den preußischen Staatin eine Großmacht verwandelt, mithilfeeiner Armee, deren Feldprediger die Lu-ther-Bibel im Tornister trugen.

Diese Schrift hatte der Macht der Feu-dalherren und der römischen Kurie überdie Deutschen das Totenglöcklein geläu-tet. Denn Luther, analysierte FriedrichEngels 1850 in seiner Arbeit über dendeutschen Bauernkrieg, habe „der plebe-jischen Bewegung ein mächtiges Werk-zeug in die Hand gegeben“, weil er „demfeudalisierten Christentum der Zeit dasbescheidene Christentum der erstenJahrhunderte“ entgegengehalten hatte.

Als das Heilige Römische Reich Deut-scher Nation sich 1806 auflöste und da-nach das protestantische Preußen zumEiniger Deutschlands wurde, war diesauch eine Folge lutherschen Wirkens.

Der Volksdolmetscher auf der Wart-burg habe die Grundlage dafür gelegt,bilanzierte der preußisch-protestanti-sche Historiker Heinrich von Treitsch-ke am Ende des 19. Jahrhunderts im Pa-thos seiner Zeit, dass „die letzten ver-faulten Trümmer der römischen Theo-kratie verweltlicht und mit ihnen auchdie römische Kaiserkrone vernichtetwurde“. n

EINE BIBEL FÜR ALLE

„So sind denn die Deutschen erstdurch Luther ein Volk geworden.“