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Hey Jude Ein sanftes Klingen von kleinen Glocken ertönte,als jemand die Tür des Cafds aufstießund einen Schwall kalter Luft mitbrachte. Der Wind blies ein paar rosafarbene Blütenblätter in den gut geheizten Raum, der an diesemNachmittag mit vielen älterenFrauenund Männern, aber auch Müttern mit ihren Kindern gefüllt war. Die vier Bedienungen eilten zwischen den Tischenhin und her und versuchten, jeden Gast zufrieden zu stellen.Dennoch trugen einige faltige Gesichter missmutigeMienen zur Schau,die Kinder lärmten herum und verteilten Schokoladentortenstücke und heißenKakao über mehrereTische, sodass ihre Mütter noch gestresster zu sein schienen. Der Schwall Luft erreichtezuerst die Tische in Türnähe.Die dort sitzenden Renürerwarfen bitter- böseBlicke nt dereingetretenen Person, die Mütter schauten besorgt zu ihren ZögIingen,denenin der kählen Frühlingsluft kalt wurde und sich auf ihre Plätzezurückflüchteten. Er schwappte über zu den luftig gekleideten Kellnerinnen, die sich fröstelnd über ihre Arme rieben, und kam schließlich zu einer jungen Frau um die dreißig, die ihre klammen Finger noch festerum die Tasse Cappuccinoschloss.Sie hatte sich in ihrem Stammcafd einfach nur von der anstrengenden Woche erholenwollen und nicht mit dem ansteigenden Geräuschpegel am Nachmittag gerechnet. Ihr Gesicht,die Haut sonstrein und weiß wie Stutenmilch,war von der Kälte leicht gerötetund auf die Tasse gerichtet. So bekam sie außerden kalten Luftströmen nichts vom Ein- und Ausgehen der Leute mit. Sie war damit zufrieden, in ihrer hinteren Ecke an dem kleinen Tisch, in den sie vor fast arölf Jahren ein Herz mit zwei Buchstabeneingeritzthatte. Nati.irlich heimlich und unter viel Gekicher. Heute war keine Spur von diesemKichern in ihrem Gesicht, das aber auch nicht verhärmt wirkte, sondern nur ausdruckslos auf den Cappuccino gerichtetwar. Doch an diesem Windstoß war etwas anders gewesen, er hatte etwas in der Frau berührt, etwas Altes, Verfrarates,und so schaute Emma auf und drehte sich zur Tür. Vielleicht wenn sie aufmerksamer gewesen wäre, wenn sie aufjeden Luftschwall hin zum Eingang geschaut hätte, wenn.... Es spielte keine Rolle mehr.Emma schaute den jungen Mann, der gerade in das Cafd gekommenwar, genauin dem Moment an, als sich auch sein Blick auf sie richtete.Und wie schon vor vierzehn Jahren verlorensich ihre Augen in den seinen. Sie hatte sie schon damals außergwöhnlich schöngefunden, tiefblau mit goldenen Einsprengseln, wie von einer anderen Welt. Sie kündeten von unendlicher Traurigkeit, die über Außerlichkeiten hinausging,und von Hoffnung, größer als vorstellbar. Ja, sie kanntediese Augen.Und in den elf Jahren, die sie ihn nicht gesehen hatte, hattesie seine Augen vermisst. Aber auchihn selbst, seine Eigenheiten, Liebkosungen und seine Stimme. Sie spürte,dasssie ihn anstarrte, aber sie konnte nicht anders. Vor über elf Jahren hatte sie ihren besten Freund aus Kindertagen, ihre erstegroßeLiebe und Seelenverwandten in ihrer Jugend aus denAugen verloren, und nun stander da und war ebenso von ihr gefesselt wie sie von ihm. Aus den Augen, aus dem Sinn, das galt wohl bei beiden nicht. Emma wusstenicht, ob sie Jude an den Tisch einladenwollte - konnte -, aber eine ältere Dame nahm ihnen die Entscheidung ab, indem sie die Situation analysierte, wie alte Damen das eben tun, und Judeungeduldig einen leichte Schubsin Emmas Richtung gab. Er ging wieder los und steuerte auf den hintersten Tisch in dem gemütlichenCafd zu. Emma standauf und umarmte ihn steif ein Abklatsch ihrer früheren Berührungen. Als sie beide saßen, schauten sie sich stumm an. Sie sprachen kein Wort, nur als Jude einen Kaffee bestellte,öffneten sich seineLippen. Die Kellnerin avinkerte Emma verschwörerisch zu. Du, dachteEmma, hast keine Ahnung. Sie nippte an ihrem Cappuccino. Die Stille bereitetesich aus,die Kindemrfe und meckernden Alten schienen gedämpft worden zu sein. Schließlich ertrug Emma das Schweigen nicht länger und brachte ihre Mundwinkel in die missglückte Form eines Lächelns. ,,Jude. Es ist schön, dich wiederzusehen.'o Sie war verunsichert, als er nicht antwortete.Er hatte sich über seinen Kaffee gebeugt und schien sie völlig vergessen zu haben.Da begannsie einfach zs erzähleq von dem, was sie schon seit Jahren beschäftigte, was sie noch nie verstanden hatte. Sie erzähltevon dem Moment an, als der bestaussehenste, beliebteste Jungeder Schuleauf der oberstenStufe zum erstenStock mit einem kleinen, niedlichen Mädchen, 4

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Hey Jude

Ein sanftes Klingen von kleinen Glocken ertönte, als jemand die Tür des Cafds aufstieß und einenSchwall kalter Luft mitbrachte. Der Wind blies ein paar rosafarbene Blütenblätter in den gutgeheizten Raum, der an diesem Nachmittag mit vielen älteren Frauen und Männern, aber auchMüttern mit ihren Kindern gefüllt war. Die vier Bedienungen eilten zwischen den Tischen hin undher und versuchten, jeden Gast zufrieden zu stellen. Dennoch trugen einige faltige Gesichtermissmutige Mienen zur Schau, die Kinder lärmten herum und verteilten Schokoladentortenstückeund heißen Kakao über mehrere Tische, sodass ihre Mütter noch gestresster zu sein schienen.Der Schwall Luft erreichte zuerst die Tische in Türnähe. Die dort sitzenden Renürer warfen bitter-böse Blicke nt der eingetretenen Person, die Mütter schauten besorgt zu ihren ZögIingen, denen in

der kählen Frühlingsluft kalt wurde und sich auf ihre Plätze zurückflüchteten.Er schwappte über zu den luftig gekleideten Kellnerinnen, die sich fröstelnd über ihre Arme rieben,und kam schließlich zu einer jungen Frau um die dreißig, die ihre klammen Finger noch fester um

die Tasse Cappuccino schloss. Sie hatte sich in ihrem Stammcafd einfach nur von der anstrengendenWoche erholen wollen und nicht mit dem ansteigenden Geräuschpegel am Nachmittag gerechnet.

Ihr Gesicht, die Haut sonst rein und weiß wie Stutenmilch, war von der Kälte leicht gerötet und auf

die Tasse gerichtet. So bekam sie außer den kalten Luftströmen nichts vom Ein- und Ausgehen der

Leute mit. Sie war damit zufrieden, in ihrer hinteren Ecke an dem kleinen Tisch, in den sie vor fastarölf Jahren ein Herz mit zwei Buchstaben eingeritzthatte. Nati.irlich heimlich und unter viel

Gekicher. Heute war keine Spur von diesem Kichern in ihrem Gesicht, das aber auch nicht verhärmtwirkte, sondern nur ausdruckslos auf den Cappuccino gerichtet war.Doch an diesem Windstoß war etwas anders gewesen, er hatte etwas in der Frau berührt, etwasAltes, Verfrarates, und so schaute Emma auf und drehte sich zur Tür.Vielleicht wenn sie aufmerksamer gewesen wäre, wenn sie aufjeden Luftschwall hin zum Einganggeschaut hätte, wenn... . Es spielte keine Rolle mehr. Emma schaute den jungen Mann, der gerade in

das Cafd gekommen war, genau in dem Moment an, als sich auch sein Blick auf sie richtete. Undwie schon vor vierzehn Jahren verloren sich ihre Augen in den seinen. Sie hatte sie schon damalsaußergwöhnlich schön gefunden, tiefblau mit goldenen Einsprengseln, wie von einer anderen Welt.

Sie kündeten von unendlicher Traurigkeit, die über Außerlichkeiten hinausging, und von Hoffnung,größer als vorstellbar. Ja, sie kannte diese Augen.Und in den elf Jahren, die sie ihn nicht gesehen

hatte, hatte sie seine Augen vermisst. Aber auch ihn selbst, seine Eigenheiten, Liebkosungen und

seine Stimme.Sie spürte, dass sie ihn anstarrte, aber sie konnte nicht anders. Vor über elf Jahren hatte sie ihren

besten Freund aus Kindertagen, ihre erste große Liebe und Seelenverwandten in ihrer Jugend aus

den Augen verloren, und nun stand er da und war ebenso von ihr gefesselt wie sie von ihm. Aus den

Augen, aus dem Sinn, das galt wohl bei beiden nicht.Emma wusste nicht, ob sie Jude an den Tisch einladen wollte - konnte -, aber eine ältere Damenahm ihnen die Entscheidung ab, indem sie die Situation analysierte, wie alte Damen das eben tun,

und Jude ungeduldig einen leichte Schubs in Emmas Richtung gab. Er ging wieder los und steuerte

auf den hintersten Tisch in dem gemütlichen Cafd zu. Emma stand auf und umarmte ihn steif ein

Abklatsch ihrer früheren Berührungen. Als sie beide saßen, schauten sie sich stumm an. Sie

sprachen kein Wort, nur als Jude einen Kaffee bestellte, öffneten sich seine Lippen. Die Kellnerin

avinkerte Emma verschwörerisch zu. Du, dachte Emma, hast keine Ahnung. Sie nippte an ihrem

Cappuccino. Die Stille bereitete sich aus, die Kindemrfe und meckernden Alten schienen gedämpft

worden zu sein.Schließlich ertrug Emma das Schweigen nicht länger und brachte ihre Mundwinkel in diemissglückte Form eines Lächelns. ,,Jude. Es ist schön, dich wiederzusehen.'o Sie war verunsichert,

als er nicht antwortete. Er hatte sich über seinen Kaffee gebeugt und schien sie völlig vergessen zu

haben. Da begann sie einfach zs erzähleq von dem, was sie schon seit Jahren beschäftigte, was sienoch nie verstanden hatte. Sie erzählte von dem Moment an, als der bestaussehenste, beliebtesteJunge der Schule auf der obersten Stufe zum ersten Stock mit einem kleinen, niedlichen Mädchen,

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das einmal seine beste Sandkastenfreundin gewesen war, zusammenstößt.

Doch er entschuldigt sich nicht und hilft ihr auch nicht beim Aufsammeln der auf den Bodengefallenen Schulsachen. Er läuft weiter die Treppen hoch, es klingelt zum Unterricht und erverschwindet im Biologieraum, ohne dem Mädchen eine Sekunde Beachtung zu schenken. Undauch das Mädchen schaut ihm nicht sehnsuchtsvoll, verdutzt oder ärgerlich hinterher, sondernsammelt schnell seine Sachen auf und eilt ebenfalls in den Fachraum.Sie sitzt zwei Reihen, ein bisschen weiter rechts, vor ihm und versucht sich jetzt im Unterricht zukonzentrieren. Eigentlich sollte Jude sie nicht ktimmem, aber nicht einmal Freunde sind siegeblieben, als ihre Eltern den Kontakt abgebrochen hatten.Natürlich hatte Emma ihn schon früher bemerkt, aber er sie vielleicht nicht. Oder sie hatte sich zusehr verändert, sodass er sie nicht mehr erkannte.Sie ist so sehr in ihre Gedanken vertieft, dass sie gar nicht bemerkt, wie der Unterricht beendetwird. Ihre Freundin Sue muss Emma erst an ihrem Arm rütteln, damit sie mitkommt. Seine Augengehen ihr den ganzenTag über nicht aus dem Kopf. Solche wunderschönen Iriden könnenunmöglich normal sein. Sicherlich benutzt er farbige Kontaktlinsen.Auch Emmas Mutter bemerkt, dass etwas anders ist, aber sie fragt nicht nach. Das tut sie nie. Sieweist Emma lediglich auf die nasse Wäsche hin, die noch aufgehängt werden muss. Also erledigtsie alle häuslichen Pflichten und schaut dann fern. Aber selbst dabei kommt sie nicht zur Ruhe. Sieholt einige Fotoalben von fri.iher vom Dachboden. Auf manchen Fotos ist auch Jude zu sehen,immer mit einem großen Grinsen im Gesicht, nicht wie jetzt. Aber Emma weiß, wie er aussieht,wenn er lacht. Wenn er beim Fußball ein Tor geschossen hat. Oder wenn er einen guten Witz gehörthat. Aber er lacht nicht mehr so häufig, ist nicht mehr der fröhliche Sonnenschein von damals.Am nächsten Morgen findet Emma einen Zettel in ihrer Schließfachtür eingeklemmt. Es steht nurein Wort darauf, ein Wort, das, wie sie weiß, viel mehr wiegt als es aussieht.Entschuldigung.So ein dummes, zu häufig gebrauchtes und zu oft nicht ernst gemeintes, abgewetztes Wort. Doch,wenn es von ihm kommt, mit so viel Kraft und Ernsthaftigkeit. Und Liebe. Dafür braucht er keineHerzchen oder sonstiges Gekrickel.Da weiß Emma, dass sie gewonnen hat. Dass sie sich gegen die vielen Modepüppchen undB eautyqueens durchgesetzt hat.Nach der Schule wartet sie auf Jude. Ihr Herz klopft unregelmäßig, aber sie ist entschlossen. DochJude kommt nicht. Sie erftihrt von einem seiner Freunde, dass er den anderen Ausgang genommenhat. Traurig geht sie die nrei Kilometer nach Hause. Als sie die Hälfte des Weges zurückgelegt hat,tippen ihr zwei Finger auf die Schulter. Sie dreht sich misstrauisch um, einen dummen Scherz vonMitschülern erwartend, und da umarmt Jude sie. Sanft, als fürchte er, sie nt zerbrechen. Emmaschmiegt ihren Kopf an seine waxme Brust. Sie ist gut einen Kopf kleiner als er.

Emma hörte auf zu reden. Sie offenbarte Jude gerade alles, was sie damals geftihlt hatte, damit erspäter besser verstand. Sie nahm eine Schluck von ihrem mittlerweile nur noch lauwarmenCappuccino. Aber Jude sagte noch immer nichts. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er außerseiner Bestellung überhaupt etwargesagt hatte. Er war nie ein großer Redner gewesen, hatte sichimmer auf das Wesentlichste reduziert. Vielleicht war seine sanfte Stimme Emma deshalb so ansHerz gewachsen. Aber in dieser Situation wünschte sie sich einen offeneren Jude, einen, der sagtewas er dachte. Schon fräher hatten sie dieses Kommunikationsproblem gehabt.Zwei Wochen nach dem Zusammenstoß auf der Treppe waren Emma und Jude zusammen. Abernach über eineinhalb Jahren in einer Beziehung mit einigen Pausen hatte sie eine dringende Fragegehabt. Nicht ob er sie liebte, nein, das wusste sie schon, so oft wie er es ins Ohr geflüstert, in denKies geschrieben oder in Holz eingeritzt hatte. Ihre Frage war eine andere gewesen, nicht wenigerwichtige, und auf einer positiven Antwort basierten alle Beziehungen von Freundschaft überFamilie zu Liebe.

Es ist ein windiger Tag und die Wolken ziehen schnell über den sich verdunkelnden Himmel. Emmaund Jude gehen wie so oft durch die leerer werdenen Straßen Londons. Und wie so oft reden sie

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nicht. Das Schweigen ist nicht unangenehm, aber es ist auch nicht beabsichtigt. Sie verspüren nichtdas Bedtirfiris, über all die Belanglosigkeiten des Alltags zu reden.

Emma unterbrach sich. Sie hatte sehrwohl über etwas reden wollen, egal über was. Sie hatte genugvon der ewigen, langweiligen Stille gehabt. Zwar hatte sie über alles mögliche nachdenken können,über ihre On- Off-Beziehung im Besonderen. Aber j etzl war für sie die Zeit gekommen, zu reden.Sie hatte Antworten gebraucht, hatte sie für ihre zukünftigen Entscheidungen gebraucht.

Emma ist nervös. Die Frage brennt ihr auf der Ztxtge, aber sie weiß nicht, ob sie sie ausprechenkann, aussprechen darf. Sie erreichen den Trafalgar Square, setzen sich auf die Bronzelöwen undkuscheln sich aneinander. Es hat etwas Vertrautes, eine Art Hommage an ihre Kindheit, in der siehäufig auf die Löwen geklettert waren. Aber Emma rutscht ungeduldig hin und her, bis sie sichtraut. ,,Vertraust du mir, Jude?" , fragt sie. Schweigen. Besorgt dreht sie sich um, bis sie Judeanschauen kann. Er sagt nichts, hüllte sich in sein Schweigen, das ihn so geheimnisvoll macht.Heute macht es Emma wütend. Sie möchte nur die Antwort auf diese Frage, sie ist ihr so wichtig.Doch sie bekommt keine Antwort. Jude sieht sie an, schaut weg, senkt die Augen. ,,Ich weiß esnicht", flüstert er so leise gegen das Heulen des Windes, dass Emma ihn kaum versteht, obwohl seinMund fast ihr Ohr berührt. Das, was sie hört, lässt ihren Körper versteifen. Sie entreißt sich ausJudes Umarmung und rutscht von dem Löwen, bis sie Boden unter den Füßen hat, dann läuft sie los.

,,Emma! Emma! Warte doch!", ruft Jude ihr hinterher. Aber Emma ignoriert ihn und versucht, demerdrückendem Geftihl des Verrats zu entkommen. Sie muss nachdenken, über was, wird ihr fraglosnoch einfallen. Sie nimmt die Bakerloo Line und ftihrt weg, weg vom Trafalgar Square, weit wegvon Jude.

Emma verstummte. Jude richtete seine Augen unverwandt auf sie. Er hatte es nie aus ihrerPerspektive gesehen, hatte ihre Entscheidung nie ganznachvollziehen können. Für ihn war es keinVerrat gewesen, er hatte dem Teil mit dem Vertrauen nie seine Wichtigkeit abgewinnen können.Aber wie konnte er Emma das begreiflich machen? Dass auch sie ihn verstand? Seine Augen warengesenkt, als er mit der Geschichte fortfuhr.

Jude sitzt auf dem Löwen, verwirrt über Emmas Flucht. Er weiß nicht viel über sie, ebenso wenigwie sie über ihn, trotz der recht langen Beziehung. Wie soll er darauf reagieren?Als er nach Hause kommt, ist niemand da. Er hat schon früh lernen müssen, niemandem zuvertrauen. Woher hatte er wissen sollen, dass das nicht mehr gilt? Dass man in einer Beziehungvertraut? Seine Mutter war öfter von seinem Vater und mehreren Stiefvätern betrogen worden,als erzählenkann. Sie selbst klaut ihm sein Geld, das er in einem schmutzigen Supermarkt verdient. VonVertrauen ist nie die Rede oder eine Spur. Dass Emma verlangt, ihr zu vertrauen, überfordert ihn.In der Schule gehen sie sich jetzt aus dem Weg, Blickkontakt gibt es nie. Es ist, als wäre er für siegestorben. Er spielt seine Rolle als Sunnyboy, aber alles ist nur eine Farce.Nach dem Schulabschluss verlässt er London, zieht weiter an die Südküste. Er vergisst Emma nie,hat noch immer ein Bild von ihr bei sich. Im Lauf der Jahre lernt er, mehr zu verhauen, holt seineverlorenen Gefühle nach. Wann immer es ihn nach London zieht, wenn er seine Mutter besucht,achtet er darauf, niemandem zu begegnen.

,,Heute habe ich dich gesucht." Jude flüsterte leise, aber Emma verstand ihn trotzdem. Und erhoffte, dass sie auch alles andere begrifi seine Handlungen nachvollziehen konnte. Denn wenn sieheute nein sagte, war es endgültig vorbei. ,,Verzeihst du mir?" Emma sagte nichts. Es war, als wärenihre Rollen vertauscht worden. Er wusste, sie wtirde nicht jetzt antworten, also tat er das, was erfrüher nie getan hätte.Jude bezahlte seinen Kaffee und stand auf. Dabei ließ er unauffüllig ein Sttick beschriebenes Papierauf dem Tisch zurück. Als er das Cafe verließ, sah er noch aus demAugenwinkel, wie Emma dasPapier ergriff. Er spürte ihr Lächeln, es kribbelte ihm wann auf dem Rücken, als sie seine Addresselas und ihm hinterherschaute.Vielleicht verdiente er ja doch eine zweite Chance.

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