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dtv Taschenbücher 30170 Höfische Kultur Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter von Joachim Bumke 1. Auflage dtv München 1999 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 423 30170 1 schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG

Höfische Kultur - ReadingSample...Höfische Kultur das ist die Kultur der großen weltlichen Höfe, die im 12. und 13. Jahrhundert einen neuen Gesell-schaftsstil und eine neue Dichtung

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dtv Taschenbücher 30170

Höfische Kultur

Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter

vonJoachim Bumke

1. Auflage

dtv München 1999

Verlag C.H. Beck im Internet:www.beck.de

ISBN 978 3 423 30170 1

schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG

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Höfische Kultur — das ist die Kultur der großen weltlichenHöfe, die im 12. und 13. Jahrhundert einen neuen Gesell-schaftsstil und eine neue Dichtung hervorgebracht haben, durchdie das kulturelle Erscheinungsbild des Adels auf Jahrhundertegeprägt worden ist. Die historischen Grundlagen dieser Hof-kultur liegen in dem Strukturwandel der adligen Gesellschaft,der sich in der Ausbildung der Landesherrschaft manifestierte.Die wichtigsten Anregungen kamen aus Frankreich, wo dieLaienbildung früher und weiter verbreitet war als in Deutsch-land. Diese höfische Kultur wird hier — seit Jahrzehnten erst-mals wieder — in ihren verschiedenen Aspekten umfassend dar-gestellt. Zahlreiche Textzitate (hochdeutsch und in der Origi-nalsprache) und 40 Abbildungen machen die angesprochenenGegenstände anschaulich und konkret. Für Germanisten wiefür Historiker bestimmt, ist das Buch »von einem Laienhisto-riker verfaßt worden, der ständig seine Kompetenzen über-schreitet, wenn er über Burgenbau und Kleidermoden, Tischsit-ten und Waffentechnik schreibt. Er kann sich allerdings daraufberufen, daß diese Sachgebiete hauptsächlich aus literarischenQuellen erschlossen werden, für die er zuständig ist; und erkann vor allem geltend machen, daß die Literaturgeschichte eingroßes Interesse daran nehmen muß, sich ein genaues Bild vondem Gesellschaftsbetrieb der höfischen Zeit zu machen, weildie historische Einmaligkeit der höfischen Dichtung nur ver-ständlich wird, wenn man sie im Zusammenhang mit ihrengesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen und Bedin-gungen sieht.«

Joachim Bumke war Professor an der Harvard University undan der freien Universität Berlin und lehrte ab 1969 bis zu seinerEmeretierung Literaturgeschichte des Mittelalters an der Uni-versität Köln. Er hat sich vor allem mit den historischen Grund-lagen der mittelalterlichen Literatur beschäftigt. Zahlreiche Ver-öffentlichungen, u. a. >Ritterbegriff im 12. und 13. Jahrhundert<(1964), >Ministerialität und Ritterdichtung< (1976), >Mäzene imMittelalter< (1979).

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Joachim Bumke

Höfische KulturLiteratur und Gesellschaft im hohen Mittelalter

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Die Vorlagen für die Abbildungen wurden von der Photostelleder Universität Köln hergestellt.

Originalausgabe1. Auflage April 198611. Auflage Juli 2005(Vorher zwei Bände)

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, Münchenwww.dtv.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.

Gestaltungskonzept: Balk & BrumshagenUmschlagbild: Markgraf Otto IV. von Brandenburg (aus der Großen

Heidelberger Liederhandschrift, 14. Jahrhundert)Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen

Printed in Germany ISBN 3-423-30170-8

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Inhalt

Einleitung: Fiktion und RealitätAlltag und Fest 9 Die höfische Gesellschaft als For-schungsproblem 14 Dichtung als Geschichtsquelle 17Das »Lob der vergangenen Zeit» (Laudatio temporisacti) 26 Zum Vorgehen 29

Kapitel IDie adlige Gesellschaft im hohen MittelalterHistorische Informationen1. Grundbegriffe der gesellschaftlichen Ordnung 342. Die hierarchische Struktur der Gesellschaft 433. Die Wirtschaft 554. Ritterbegriff und Ritterstand 645. Der Hof 71

Kapitel IIDie Rezeption der französischen Adelskulturin Deutschland1. Gesellschaft 832. Sprache 1123. Literatur 120

Kapitel IIISachkultur und Gesellschaftsstil1. Burgen und Zelte 1372. Kleider und Stoffe 1723. Waffen und Pferde 2104. Essen und Trinken 240

Kapitel IVHöfische Feste. Das Protokoll der Umgangsformen1. Hoffeste 2762. Schwertleiten 318

3. Turniere 342

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Kapitel VDas höfische Gesellschaftsideal 381

1. Der höfische Ritter 382a. Das traditionelle Herrscherideal 382b. Der religiöse Ritterbegriff (militia Christi) 399c. Höfische Tugenden 416d. Ideal und Wirklichkeit 430

2. Die höfische Dame 451a. Das neue Bild der Frau 451b. Lehren für Frauen. Erziehung und Bildung 470c. Handlungsspielräume 484

3. Höfische Liebe 503a. Was ist höfische Liebe) 503b. Liebe — Ehe — Ehebruch 529c. Liebe und Gesellschaft 558

Kapitel VIHofkritik 583

Kapitel VIIDer Literaturbetrieb der höfischen Zeit 5951. Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der höfischen Gesell-

schaft 596a. Laienbildung 596b. Mündliche Traditionen 610c. Die Ausbildung eines geregelten Schriftbetriebs an den

weltlichen Höfen 6172. Die Gönner und Auftraggeber 638

a. Der Kaiserhof als literarisches Zentrum 639b. Das Mäzenatentum der Fürsten 654c. Die kleineren Höfe 673d. Die Anfänge des städtischen Literaturbetriebs 675

3. Autor und Publikum 677a. Die gesellschaftliche Stellung der Dichter 677b. Das höfische Publikum 700c. Die Wirkung der Dichtung 709

4. Aufführung und Verbreitung der Literatur 718a. Höfische Epik 719b. Höfische Lyrik 751

Nachwort 785

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Abkürzungen 789Quellen 793

Lateinische Quellen 793 Deutschsprachige Quellen 802Romanische Quellen 807

Literatur 810Zur Einleitung 810 Zu Kapitel I 811 Zu Kapitel II 816Zu Kapitel III 820 Zu Kapitel IV 825 Zu Kapitel V 828Zu Kapitel VI 838 Zu Kapitel VII 839

Register 846

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Karl Otto Conradyzum 60. Geburtstag gewidmet

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EinleitungFiktion und Realität

Alltag und Fest

Als man im 18. Jahrhundert anfing, das Mittelalter genauer zuerforschen, wurden vor allem die negativen Seiten der früherenLebensverhältnisse scharf ins Licht gerückt und im Gegensatzzu den Errungenschaften der eigenen Zeit gesehen. Diese kriti-sche Mittelalterbetrachtung, die sich zum Beispiel in dem drei-bändigen Werk von Christoph Meiners >Historische Verglei-chung der Sitten, und Verfassungen, der Gesetze, und Gewerbe,des Handels, und der Religion, der Wissenschaften, und Lehr-anstalten des Mittelalters mit denen unseres Jahrhunderts inRücksicht auf die Vortheile, und Nachtheile der Aufklärung<von 1793/94 findet, hat keine Fortsetzung gefunden. WenigeJahre später haben die Romantiker das Mittelalter ganz andersgesehen. Sie orientierten sich nicht an den geschichtlichenQuellen, sondern an den poetischen Werken und sahen in dentugendhaften Helden und den minniglichen Frauen der mittel-alterlichen Dichtung, die sie für Abbilder der Wirklichkeit hiel-ten, Zeugen einer vergangenen schöneren Welt, in der die Men-schen noch in kindlich-frommem Geist mit sich selbst und mitden größeren Ordnungen eins waren. Bereichert um die natio-nalen Töne der Kaiserverherrlichung hat dieses romantischeMittelalterbild eine Wirkung entfaltet, die sich bis in die Gegen-wart hinein verfolgen läßt.

Die Wirklichkeit sah anders aus. Von dem Leben der einfa-chen Menschen, ihrer Armut, ihren Nöten und ihrer drücken-den Abhängigkeit ist aus den Quellen wenig zu erfahren. Selbstfür die Reichen und Vornehmen waren die alltäglichen Lebens-bedingungen alles andere als erfreulich. Die düstere Enge aufden Burgen, die unvorstellbare Primitivität der hygienischenVerhältnisse, der Mangel an Licht und Heizung, das Fehleneiner sachkundigen medizinischen Betreuung, die ungesundeErnährung, die Rohheit der Tischsitten, das entwürdigende Se-xualverhalten gegenüber den Frauen: das war die Realität.Noch greller werden von den historischen Quellen die Erschei-nungsformen des öffentlichen Lebens beleuchtet. Herrschaft

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manifestierte sich häufig bloß als Unterdrückung und Ausbeu-tung der Schwächeren. Ämterkauf und Bestechung waren gän-gige Praxis. Recht erhielt, wer entweder mehr zahlen konnteoder wer im Gerichtskampf durch seine rohe Körperkraft ob-siegte. Die Kriegführung war nur zum kleinsten Teil auf dieBewährung ritterlicher Waffentechnik abgestellt. Brandschat-zung und Plünderung waren die üblichen Methoden. EinenEindruck davon vermittelt der Bericht Rahewins über die Krie-ge Kaiser Friedrichs I. in Italien. 1159 fiel der Kaiser »in Ligu-rien ein und brannte die Felder nieder und verwüstete sie, zer-störte die Weingärten, ließ die Feigenbäume herausreißen undalle fruchttragenden Bäume entweder fällen oder abschälen undverwüstete das ganze Land« 1 . Der geistliche Historiograph ver-meldete ein solches Vorgehen nicht etwa mit Abscheu; er regi-strierte, was geschah. Gefangene wurden in der Regel nur danngemacht, wenn Aussicht auf ein hohes Lösegeld bestand. Unterden ständigen Kriegen und Fehden der Großen hatte vor allemdie Landbevölkerung zu leiden. Wie es um 1180, in der EndzeitHeinrichs des Löwen, in Sachsen aussah, hat Propst Gerhardvon Stederburg (t 1209) in der Chronik seines Stiftes geschil-dert: »Wir haben mitangesehen, wie gerade das Wertvollste ver-wüstet wurde, unsere Höfe verbrannt, wir selbst den Plünde-rungen preisgegeben wurden, unsere Pferde und unser Zugviehweggeschleppt und unsere Häuser von den Bewohnern verlas-sen wurden. » 2 Vor den Söldnerhaufen des Erzbischofs vonKöln mußten damals sogar die Nonnenklöster evakuiert wer-den.

Ebenso grausam wie die Kriegführung war die Strafjustiz.Otto von St. Blasien berichtete von den sizilianischen Adligen,die sich 1193 gegen Kaiser Heinrich VI. verschworen hatten:»Einen, der der Majestätsbeleidigung schuldig befunden war,verprügelte er, nachdem ihm die Haut abgezogen war; einen,der nach der Herrschaft getrachtet hatte, ließ er krönen und ihmdie Krone mit eisernen Nägeln an der Schläfe befestigen; einigewurden an Pfähle gebunden und mit Holzscheiten umgeben,die tötete er grausam, indem er sie anzünden ließ; einige heftete

' ... in Liguriam irruit, agros inflammat, vastat, vineas demolitur, ficus exter-minat omnesque fructiferas arbores aut succidi aut decorticari precepit totamqueregionem depopulatur (Gesta Frederici, S. 594)

2 Vidimus enim optima quaeque diripi, viculos nostros succendi, rapinis nosexponi, equos et iumenta nostra depopulari, et domos nostras absque habitatorerelinqui (Annales, S. 214)

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er, von Balken durchbohrt, mit dem Bauch an den Boden. « 3

Politischer Mord war damals an der Tagesordnung. Diese Er-scheinung paßt so wenig in das Bild, das die Kulturgeschichtevon der staufischen Kaiserzeit entworfen hat, daß noch nie-mand sich die Mühe gemacht hat, die zahlreichen historischenBelege zu sammeln und auszuwerten. Hier sind einige der pro-minentesten Opfer: 1160 wurde Erzbischof Arnold von Mainzermordet, 1192 Bischof Albert von Lüttich, 1202 der Reichs-kanzler Konrad von Querfurt, 1208 König Philipp von Schwa-ben, 1225 Erzbischof Engelbert von Köln, 1231 Herzog Lud-wig I. von Bayern. Die Mordanschläge trafen aber nicht nur diegroßen Herren. Aus dem >Wormser Hofrecht<, das BischofBurchard 1024/25 erlassen hat, erfährt man eher zufällig von»Morden« (homicidia), »die fast täglich in der bischöflichenfamilia geschahen « 4 . In einem einzigen Jahr sollen 35 Unfreieder Wormser Kirche von ihren Standesgenossen umgebrachtworden sein. Nach den Berichten der Geschichtsschreiber sindnicht wenige große Herren an Gift gestorben. Auch wenn diesin manchen Fällen haltlose Gerüchte gewesen sind, wirft dochdie Tatsache, daß man mit solchen Verbrechen rechnete, einbezeichnendes Licht auf die Verhältnisse der Zeit.

Die Jahrzehnte, in denen die höfische Dichtung ihre höchsteBlüte erlebte, waren in Deutschland eine besonders schlimmeZeit innerer Kriege und öffentlicher Wirren. Der Tod KaiserHeinrichs VI. im Jahr 1197 hat das Land in einen Zustand derAnarchie gestürzt. »Mit dem Kaiser starben Recht und Friedeim Reich. « 5 »Die ganze Welt geriet bei seinem Tod in Verwir-rung, denn es entstanden viele Übeltaten und Kriege, die dannlange Zeit andauerten. « 6 »Wie gierige Wölfe « 7 sollen damals dieMenschen übereinander hergefallen sein. Die Lage wurde nochdadurch verschärft, daß es schon seit einigen Jahren Mißerntenund Teuerungen gab, die besonders im Westen des Reiches zu

quendam lese maiestatis convictum pelle exutum decoriavit, quendam veroregno aspirantem coronari coronamque per timpora clavis ferreis transfigi prece-pit, quosdam stipiti alligatos piraque circumdatos exurens crudeliter extinxit,quosdam vecte perforatos ventretenus humo agglutinavit (Chronica, S. 61)

que quasi cottidie fiebant infra familiam sancti Petri (Weinrich, S. 100)Sie mortuo imperatore mortua est simul iusticia et pax imperii (Gerlach v.

Mühlhausen, S. 709)6 totus orbis in morte ipsius conturbatus fuit, quia multa mala et gwerre

surrexerunt, quae postea longo tempore duraverunt (Annales Marbacenses,S. 70)

tamquam lupi rapaces (Chronica regia Coloniensis, S. 160)

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Hungersnöten von katastrophalen Ausmaßen führten. Im Elsaß»wurden auf Feldern und in Dörfern haufenweise Verhungertegefunden« 8 ; in Lüttich »lagen die Armen auf den Straßen umherund starben« 9 . An der Mosel erschien damals der alte Sagenkö-nig Dietrich von Bern als »ein Gespenst von wunderbarer Grö-ße« (fantasma mirae magnitudinis) und »verkündete, daß Un-heil mancherlei Art und dazu noch Not und Unglück über dasganze Römische Reich kommen werde« 10 . Diese Prophezeiungsollte sich bewahrheiten. 1198 wählte die Mehrheit der deut-schen Fürsten Philipp von Schwaben zum König, während einebedeutende Minderheit, unter Führung des Kölner ErzbischofsAdolf von Altena (t 1205), Otto IV. erhob. Anderthalb Jahr-zehnte dauerte der Krieg um die Königsherrschaft zwischenStaufern und Welfen, in dessen Verlauf große Teile Deutsch-lands in Mitleidenschaft gezogen wurden. Besonders hart ge-troffen war Thüringen, wo der Hof Landgraf Hermanns I.(t 1217) in dieser Zeit ein blühender Mittelpunkt der höfischenDichtung war.

Den negativen Erscheinungen der mittelalterlichen Wirklich-keit haben die höfischen Dichter ein Gesellschaftsbild entge-gengesetzt, in dem alles fehlte, was das Leben damals beschwer-lich und drückend machte, in dem alle wirtschaftlichen undsozialen Zwänge, alle politischen Konflikte ausgeklammert wa-ren und nur das Streben nach moralischer und gesellschaftlicher-Vollkommenheit die Menschen bewegte. Dieses extrem unreali-stische Bild der Gesellschaft ist offensichtlich als Gegenentwurfzur Realität konzipiert worden und muß so interpretiert wer-den.

Es gab jedoch einen Bereich der Wirklichkeit, in dem diedüsteren Seiten des Alltags nicht in Erscheinung traten, wo dieadlige Gesellschaft sich vielmehr im vollen Glanz ihres Reich-tums und ihrer zeremoniellen Umgangsformen präsentierte:das Fest. Die historischen Berichte über die großen Hoffesteder staufischen Zeit lassen erkennen, daß diese festlichen Ver-sammlungen für das Selbstverständnis der adligen Gesellschaftvon großer Bedeutung waren. Die höfische Gesellschaft als hi-storisches Phänomen ist nirgends so gut zu belegen wie anläß-

s per campos et vicos gregatim mortui fame inveniebantur (Annales Marba-censes, S. 71)

Pauperes per plateas iacebant et moriebantur (Annales Reineri, S. 652)10 diversas calamitates et miserias superventuras universo Romano imperio

denunciat (Chronica regia Coloniensis, S. 159)

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lich solcher Veranstaltungen, und dies sicherlich nicht nur des-wegen, weil die historischen Quellen nur selten einen Blick indas Alltagsleben gestatten, sondern auch weil die Mitglieder deradligen Gesellschaft offenbar nur in der Ausnahmesituation desFestes ein gesellschaftliches Verhalten an den Tag gelegt haben,das in besonderer Weise als höfisch galt.

Im Hinblick auf die Wirklichkeit der Hoffeste muß die Ge-sellschaftsdarstellung der höfischen Dichtung anders beurteiltwerden als im Hinblick auf die Alltagsrealität. Das poetischeBild der Festgesellschaft, die sich zu Pfingsten am Hof vonKönig Artus versammelte, bezeugt in vielen Details der mate-riellen Kultur und der höfischen Umgangsformen das moderneGepräge des zeitgenössischen Hoflebens. Selbst die Tendenz zuidealisierender Übersteigerung, die für die poetischen Schilde-rungen so kennzeichnend ist, hatte eine Grundlage in der Wirk-lichkeit: Die Veranstalter der großen Hoffeste haben sich nichtselten von dem Bestreben leiten lassen, alles Dagewesene durchungeheuren Prachtaufwand zu überbieten. Die Irrealität despoetischen Gesellschaftsbildes lag weniger in solchen Übertrei-bungen als vielmehr darin, daß die Alltagsrealität in der Dich-tung überhaupt nicht vorkam, so daß der Eindruck entstand, alsob das Fest die Normalform des adligen Lebens gewesen sei.Dieser poetischen Konstruktion erlegen zu sein und sie für einAbbild der Wirklichkeit gehalten zu haben, war der Hauptfeh-ler der älteren Kulturgeschichte. Wo einmal andeutungsweise inder höfischen Dichtung auf die alltäglichen Lebensformen desAdels außerhalb der Festlichkeiten am Hof Bezug genommenwurde, traten fast überall ausgesprochen unhöfische Züge sicht-bar hervor, zum Beispiel in der Beschreibung der kümmerli-chen Behausung des verarmten Grafen Coralus (H. v. Aue,Erec 252 ff.) oder der ländlichen »Einöde« (waste), in die sichdie Königin Herzeloyde nach dem Tod ihres Mannes zurück-zog (W. v. Eschenbach, Parzival 117, 7 ff. ); in der Schilderungder wirtschaftlichen Sorgen eines Landedelmannes, die Gaweinseinem Freund Iwein als abschreckendes Beispiel vorhielt (H. v.Aue, Iwein 2807ff.); und in der schäbigen Figur des Ritters vonRiuwental in Neidharts Liedern. Diese — meist in satirischerAbsicht überzeichneten — Gegenbilder machen erst richtigdeutlich, wie eng der Wirklichkeitsausschnitt ist, den die höfi-sche Dichtung bietet.

Da es in diesem Buch nicht um eine Beschreibung der mittel-alterlichen Alltagswirklichkeit geht, sondern um den Zusam-

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menhang zwischen höfischer Literatur und höfischer Gesell-schaftskultur, können die alltäglichen Lebensbedingungen desAdels weitgehend unberücksichtigt bleiben. Gegenstand derDarstellung ist die höfische Festgesellschaft, ihre materielleKultur, ihre Umgangsformen, ihre Vorstellungen von gesell-schaftlicher Vollkommenheit und ihre Literatur.

Die höfische Gesellschaft als Forschungsproblem

In den neueren sozialgeschichtlichen Handbüchern kommt diehöfische Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts meistensüberhaupt nicht vor. Das hat seinen Grund darin, daß aus denlateinischen Geschichtsquellen, mit denen die Historiker zu ar-beiten gewohnt sind, darüber kaum etwas zu erfahren ist. Diedeutsche Geschichtsschreibung besaß im 12. Jahrhundert nochüberwiegend ein klösterliches Gepräge; das kam in ihrem Blickauf die Wirklichkeit ebenso zum Ausdruck wie in ihren Wer-tungen. An Einzelheiten der weltlichen Gesellschaftskultur wa-ren die Autoren in den meisten Fällen nicht interessiert. MehrInformationen über die Gesellschaftskultur des Adels liefernandere Quellen. Dazu gehört der >Codex Falkensteinensis< vomEnde des 12. Jahrhunderts, in dem der gesamte Besitz der baye-rischen Grafen von Neuburg-Falkenstein verzeichnet ist. AufBurg Neuburg gab es damals »6 silberne Becher mit Deckelnund 5 Silberschalen ohne Deckel, 3 silberne Trinkgefäße mitDeckeln und 4 ohne Deckel, 2 silberne Löffel; ferner 15 Harni-sche, 8 eiserne Beinschienen, 60 Lanzen bzw. Spieße, 4 Helme,6 Trompeten, 20 Federbetten, 3 Spielbretter, 3 Schachbretterund elfenbeinerne Figuren, die sowohl zum Brettspiel wie zumSchachspiel geeignet sind«". Vergleicht man damit das Inventarder Gegenstände, die sich beim Tod Herzog Ottos von Kärnten(t 1310) auf der Burg Tirol befanden (vgl. S. 261 f.), dann wirddeutlich, welche Entwicklung die Sachkultur an den deutschenHöfen im Verlauf des 13. Jahrhunderts genommen hat. Eineandere Quelle von außerordentlichem Wert sind die Reiserech-nungen des Passauer Bischofs Wolfger von Erla (t 1218) aus den

1 VI ciphi cum copertoriis argentei et V cratert argentee sine copertoriis, triapeccaria argentea cum opertoriis et IIII sine opertorio ... et coclearia duo argen-tea; ... XV loricas, etiam octo ocreas ferreas ... Sexaginta hastilia, id est spizze,quatuor galeq, sex tubg, viginti federpete, tria wurfzâbel, tria scâhzâbel, elefanteilapides tam ad wurfzâbel quam scahzabel pertinentes (S. 67)

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Jahren 1203/04, die in der Germanistik berühmt sind, weil Wal-ther von der Vogelweide in ihnen historisch bezeugt ist, die aberauch die zahlreichen gesellschaftlichen Kontakte bezeugen, dieder Bischof auf seinen Reisen hatte, und die die Kosten seinerHofhaltung bis ins einzelne belegen. Rechnungsbücher fürstli-cher Haushalte gibt es sonst in Deutschland erst am Ende des13. Jahrhunderts. Die Raitbücher der Grafen von Tirol, die seitdem Jahr 1288 mit großer Genauigkeit geführt wurden, und dasoberbayerische Rechnungsbuch der Jahre 1291-1294 sind diefrühesten Zeugnisse dieser Art. So wichtig diese historischenDokumente sind, man bleibt doch im wesentlichen auf Zeug-nisse anderer Art angewiesen, wenn man sich ein Bild von derhöfischen Gesellschaftspraxis machen will: auf poetische Textein deutscher Sprache und auf bildliche Darstellungen.

Wer sich über die Sachkultur des hochmittelalterlichen Adelsund über die gesellschaftlichen Umgangsformen im 12. und13. Jahrhundert informieren will, muß die kulturgeschichtli-chen Darstellungen des 19. Jahrhunderts zu Rate ziehen, vorallem das große zweibändige Werk des Prager KunsthistorikersAlwin Schultz (t 1909) >Das höfische Leben zur Zeit der Min-nesinger>, das 1889 in zweiter Auflage erschienen ist. Darintreten die Stärken und Schwächen der älteren Kulturgeschichtedeutlich hervor. Der bleibende Wert liegt in der stupenden Ma-terialfülle, die heute für den Einzelnen nicht mehr erreichbarist. Schultz hat nicht nur die gesamte deutschsprachige Literaturdes 12. und 13. Jahrhunderts exzerpiert und ausgewertet, son-dern außerdem einen großen Teil der gleichzeitigen französi-schen Literatur sowie zahlreiche, zum Teil nicht leicht zugäng-liche lateinische Quellen. Was den Wert der Darstellung beein-trächtigt und was schließlich die Kulturgeschichte alten Stils inMißkredit gebracht hat, ist die unkritische Interpretation desBelegmaterials. Zwei Verfahrensweisen sind besonders typischfür die methodischen Mängel der Quellenauswertung. Einmalwurde das, was von den Dichtern als merkwürdiger Ausnahme-fall erzählt wurde, als etwas damals Übliches hingestellt undzum gesellschaftlichen Normalfall verallgemeinert. Zum ande-ren blieb der poetische Charakter der meisten Belege unberück-sichtigt, so daß in naiver Weise als Wirklichkeit angesehen wur-de, was in der Dichtung Teil eines idealisierten Gesellschaftsbil-des war. Daraus erklärt es sich, daß die Darstellung von Schultzfür den heutigen Leser den Beigeschmack unfreiwilliger Komikhat, wenn es zum Beispiel über die Eßgewohnheiten heißt:

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»Man schmierte zwischen zwei Brotschnitten Kalbshirn oderzerkochte Zwetschken und buk das in Fett« (I, 395); oder überdie Frauenkleidung: »Die Halsöffnung wurde durch eineAgraffe geschlossen, damit nicht ein Mann so leicht der Damein den Busen greifen konnte« (I, 252); oder über die Bauern:»Ihre Feierstunden brachten sie damit hin, lang ausgestreckt aufder Erde zu liegen und das Ungeziefer sich absuchen zu lassen«(I, 439); oder über die Betten: »Die Betten sind entweder zwei-schläfrig und dann legte ein Ritter, der seine Dame nicht berüh-ren will, ein bloßes Schwert zwischen sich und sie, oder sie sindnur für eine Person bestimmt, dann aber jedenfalls zusammen-gerückt« (Über Bau und Einrichtung der Hofburgen, S. 27). Alsgroße historische Darstellungsform hat die Kulturgeschichtedas 19. Jahrhundert nicht überlebt; sie ist an ihren methodi-schen Mängeln zugrunde gegangen. Zwar ist das umfangreich-ste kulturgeschichtliche Werk, das von Heinz Kindermann her-ausgegebene >Handbuch der Kulturgeschichte<, erst in den drei-ßiger Jahren dieses Jahrhunderts erschienen; aber auch diesesWerk, gerade in dem für unser Thema maßgebenden Band>Deutsche Kultur im Zeitalter des Rittertums< von Hans Nau-mann (1938), bezeugt den Verfall einer einstmals großen Diszi-plin, insofern nicht mehr die geschichtlichen Realien im Mittel-punkt standen, sondern »ideale Kulturziele«, die angeblich dasgesellschaftliche Leben der Vergangenheit bestimmt haben. Diequellenferne, vom Mythos des staufischen Ritters getrageneDarstellung von Hans Naumann hat weit über die Germanistikhinaus gewirkt und bestimmt in manchen historischen Nach-schlagewerken noch heute das Bild von den gesellschaftlichenVerhältnissen im hohen Mittelalter. Diesem Bild entgegenzuar-beiten und die Auffassung der höfischen Kultur wieder auf diegeschichtliche Wirklichkeit zurückzuführen, gehört zu den Zie-len der vorliegenden Arbeit.

Seit einigen Jahrzehnten bahnt sich in der Erforschung dermittelalterlichen Sachkultur ein bedeutsamer Wandel an. DieMittelalter-Archäologie, die bis dahin fast ganz den Museenüberlassen worden war, entwickelt sich zu einer selbständigenWissenschaft mit eigenen Fachzeitschriften und Forschungsein-richtungen wie das Institut für mittelalterliche RealienkundeÖsterreichs in Krems. In Deutschland kommen wichtige Im-pulse vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München undvom Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen, wo diePfalzenforschung ihr Zentrum hat. In eine breitere Öffentlich-

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keit wirkt diese neue Sparte der Mediävistik vor allem durch diegroßen Mittelalter-Ausstellungen der letzten Jahre, insbesonde-re durch die zum Teil hervorragend dokumentierten Ausstel-lungskataloge, die für die Kulturgeschichte eine Fülle wichtigerInformationen bereitstellen.

Dichtung als Geschichtsquelle

Das Quellenmaterial, aus dem die höfische Kultur des hohenMittelalters rekonstruiert werden muß, umfaßt verschiedeneBereiche der Überlieferung:

1. Literarische Texte in deutscher Sprache bilden die umfang-reichste und wichtigste Quellengruppe. Dazu gehören hochfik-tionale Texte, wie Minnelieder und höfische Epen, mit einemeigenen Wirklichkeitsanspruch, der in ihrer poetischen Formbegründet ist, außerdem lehrhafte Dichtungen, politischeSpruchdichtung, Reimchroniken und ähnliche Werke, die di-rekt auf außerliterarische Wirklichkeit Bezug nehmen. Je höherder Grad der Fiktionalität ist, um so größer sind die methodi-schen Schwierigkeiten bei der realgeschichtlichen Auswertungder Texte.

2. Bildliche Darstellungen sind die zweitwichtigste Quellen-gattung. Wir besitzen Malereien in Form von Handschriftenmi-niaturen und Wandfresken, plastische Darstellungen in Stein,Holz und Metall und mit Bildern geschmückte Gebrauchsge-genstände aus verschiedenem Material. Für die höfische Kultursind die Siegelbilder besonders wichtig. Für die Bilder stellensich dieselben Probleme der Auswertung, wenn man sie alsZeugnisse der Gesellschaftskultur betrachtet, wie für die litera-rischen Texte. Die Schwierigkeiten sind sogar noch größer, weildie Produktion der bildlichen Darstellungen noch weitgehendin Händen von Angehörigen kirchlicher Institutionen lag. Diegroßartigste Bildquelle des 12. Jahrhunderts stammt aus demelsässischen Kloster Hohenberg. Es sind die Miniaturen zum>Lustgarten< (Hortus deliciarum) der Äbtissin Herrad vonLandsberg (t 1196). Wir besitzen allerdings nur noch die Ko-pien; das Original ist 1870 verbrannt.

3. Die materielle Hinterlassenschaft aus dem hohen Mittelal-ter bildet eine reiche, erst teilweise erschlossene Quellengruppe.Was davon der adligen Laienkultur zugeordnet werden kann,ist wenig im Vergleich zu den kirchlichen Altertümern. Unbe-

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schädigt erhalten geblieben sind nur ein paar Kunst- und Ge-brauchsgegenstände: Schachfiguren, Trink- und Gießgefäße,Spiegel, Beutel, Gürtelschnallen, Kerzenhalter, Holzkästchenusw. Vieles ist nur bruchstückhaft auf uns gekommen. Einenhohen Zeugniswert besitzen die Grabungsfunde und die Rui-nen der profanen Bauwerke, der Burgen und Pfalzen des 12.und 13. Jahrhunderts, von denen keine die Zeiten unbeschädigtüberdauert hat.

4. Historische Quellen in lateinischer Sprache spielen bei derErschließung der höfischen Kultur eine geringere Rolle, weildie Verfasser der Chroniken und Annalen das Gesellschaftsle-ben des weltlichen Adels weitgehend ausgeblendet haben. DieseFeststellung gilt jedoch nur für Deutschland, während inFrankreich und England die moderne dynastische Geschichts-schreibung und das hofkritische Schrifttum von Johannes vonSalisbury, Petrus von Blois und anderen wichtige Aufschlüsseüber die Lebensverhältnisse an den Höfen vermitteln; dieseAufschlüsse können auch für das historische Verständnis derkulturellen Situation in Deutschland genutzt werden.

Die höfischen Dichter haben Tausende von Versen auf dieBeschreibung von Waffen, Kleidern, Zelten, Burgen, Pferden,Zweikämpfen, Turnieren, Empfängen, Mahlzeiten, Hoffestenusw. verwandt. Das geht so weit, daß die höfischen Romanewie poetische Handbücher der adligen Gesellschaftskultur wir-ken. Sie sind wohl auch so verstanden worden. Das Publikums-interesse an Dichtungen im französischen Stil muß enorm großgewesen sein, und dieses Interesse war sicherlich nicht nur aufdie Handlung gerichtet, sondern ebenso auf die Gesellschafts-darstellung, der von den Dichtern so viel Platz eingeräumt wur-de. So unrealistisch die runde Tafel war, an der König Artus dieedelsten Ritter um sich versammelte, und so märchenhaft dieKämpfe gegen Drachen und Riesen ausgestaltet wurden, in ih-rer Darstellung gesellschaftlicher Einzelheiten waren die Dich-ter offenbar auf Genauigkeit und Aktualität bedacht. Idealisie-rungstendenzen und Detailrealismus sind keine Gegensätze.Selbst an Stellen, wo die poetischen Beschreibungen ins Phanta-stische zu entgleiten scheinen, wenn von Zaubergeräten undwunderbaren Automaten die Rede ist, bleibt die konkreteWirklichkeitsgrundlage erkennbar. Im >Straßburger Alexander<wird zum Beispiel von einer solchen Maschine im Schloß derKönigin Candacis erzählt: »Mitten in ihrem Palast war auf ih-ren Befehl ein schönes Tier aufgestellt worden, das bestand

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T xxvm

Abb. 1 Orgelbaum. Künst-licher Baum mit Vögeln, diedurch Blasebälge an denWurzeln zum Singen ge-bracht wurden. Aus einerverschollenen Handschriftdes Klosters St. Blasien. 12.oder 13. Jahrhundert.

ganz aus rotem Gold. Dies herrliche Tier glich einem Hirsch.Vorn am Kopf hatte es tausend Hörner, und auf jedem Hornsaß ein wunderbarer Vogel. Auf dem Tier saß ein wohlgestalte-ter Mann, der zwei Hunde führte. Er hatte ein Horn an seinenMund angesetzt. Unten im Keller lagen vierundzwanzig Blase-bälge. Jeden dieser Blasebälge bedienten zwölf starke Männer.Wenn sie die Bälge in Bewegung setzten, sangen die Vögel vor-ne auf dem Tier, der Mann blies sein Horn und die Hundebellten. Außerdem brüllte dann das wunderbare Tier wie einPanther. «12 Orgelbäume mit singenden Vögeln (vgl. Abb. 1)wurden auch in anderen Dichtungen beschrieben, im >JüngerenTiturel< (»aus Blasebälgen ging die Luft hinein, so daß jederVogel seine Melodie sang« 13), und im >Trojanerkrieg< von Kon-rad von Würzburg (17562ff.). Solche Apparate hat es im 12.

12 mitten in ir palas ein scöne tier geworht was, daz was alliz golt röt, alsesiz selbe geböt. daz tier was vil hêrlich eineme hirze gelich. an sin houbit vor-ne hattiz düsint horne. üf allir horne gelich stunt ein fugil hêrlich. üf demtiere saz ein man scöne unde wol getân, der flirte zwêne hunde unde ein hornze sinen munde. nidene an dem gewelbe lägen viere und zwênzich biâsebelge.zaller belge gelich gingen zwelif man creftich. sö si di belge drungen, di fugelescöne sungen an deme tiere vorn, sö blies ouh der man sin horn, sö galpedenouh di hunde. ouh lütte an der stunden daz hêrliehe tier mit der stimmen alsein pantier (6001 -26)

13 uz balgen gie dar in ein wint, daz ieglich vogel sanc in siner wise (392, 4)

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und 13. Jahrhundert, soweit wir wissen, weder in Deutschlandnoch in Frankreich gegeben. Aber in Byzanz waren ähnlicheGeräte schon im 10. Jahrhundert bekannt. Bischof Liudprandvon Cremona (t 972) hat sie dort im kaiserlichen Palast gesehen,als er im Jahr 949 im Auftrag des Kaisers in Byzanz war: »Vordem Kaiserthron stand ein eherner, aber vergoldeter Baum, des-sen Zweige erfüllt waren von Vögeln verschiedener Art, eben-falls von Erz und vergoldet, die die Stimmen verschiedener Vö-gel gemäß der Art eines jeden ertönen ließen. Der Thron desKaisers aber war so künstlich erbaut, daß er bald niedrig, baldgrößer und dann hoch erhaben schien. Löwen von ungeheuererGröße, ich weiß nicht ob aus Metall oder aus Holz, aber mitGold überzogen, standen gleichsam als Wächter des Thrones,indem sie mit dem Schweife auf den Boden schlugen und mitoffenem Rachen und beweglicher Zunge ein Gebrüll erho-ben. « 14 Liudprand deutete an, daß ihm die Mechanik dieserGeräte vertraut war. Die Erzählungen der höfischen Dichterrücken in ein anderes Licht, wenn man annehmen darf, daß esden Zuhörern nicht unbekannt war, daß es Apparate gab, diesich künstlich bewegen ließen und die Geräusche hervorbringenkonnten.

Die Frage nach dem historischen Zeugniswert der literari-schen Texte läßt sich nicht theoretisch beantworten. Wenn mansich auf den Standpunkt stellt, daß prinzipielle methodischeBedenken einen direkten Rückschluß von fiktionalen Aussagenauf außerliterarische Wirklichkeit verbieten, so ist dagegennicht viel einzuwenden. Diese methodischen Bedenken habendazu geführt, daß die höfische Kultur des 12. und 13. Jahrhun-derts weitgehend aus dem Blickfeld der Forschung verschwun-den ist. Wenn man sich jedoch davon überzeugt, daß wichtigeAspekte sowohl der Gesellschaftsgeschichte als auch der Litera-turgeschichte im hohen Mittelalter verborgen bleiben, sofernman die Auswertung von ästhetisch strukturierten Texten ab-lehnt, wird man das Bedenkliche, das dem Umgang mit poeti-schen Zeugnissen anhaftet, in Kauf nehmen und dadurch auszu-

14 Aerea, sed deaurata quaedam arbor ante imperatoris sedile stabat, cuiusramos itidem aereae diversi generis deaurataeque aves replebant, quae secundumspecies suas diversarum avium voces emittebant. Imperatoris vero solium huius-modi erat arte compositum, ut in momento humile, exelsius modo, quam moxvideretur sublime, quod inmensae magnitudinis, incertum utrum aerei an lignei,verum auro tecti leones quasi custodiebant, qui cauda terram percutientes apertoore linguisque mobilibus rugitum emittebant (Antapodosis, S. 488)

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