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1 Himmelweg Von Juan Mayorga Aus dem Spanischen von Herbert Fritz und Studierenden der Justus-Liebig- Universität Giessen

Himmelweg. Juan Mayorga

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Himmelweg. Juan Mayorga

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    Himmelweg

    Von Juan Mayorga

    Aus dem Spanischen von Herbert Fritz und Studierenden der Justus-Liebig-

    Universitt Giessen

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    I Der Uhrmacher von Nrnberg

    Man spricht es so aus "chim-mel-beck". Es sind zwei Wrter. "Himmel" bedeutet "cielo".

    "Weg" heit "camino". "Himmelweg" bedeutet also "Camino del cielo". Zum ersten Mal

    habe ich diesen Ausdruck genau hier, 30 Kilometer nrdlich von Berlin, im Jahre 1942 ge-

    hrt.

    Ich war als Abgesandter des Roten Kreuzes nach Deutschland gekommen. Menschen

    waren mir immer wichtig, deshalb beschloss ich fr das Rote Kreuz zu arbeiten. Die grte

    Enttuschung meines Lebens erfuhr ich, als ich dem Roten Kreuz beitreten wollte und abge-

    lehnt wurde. Kurze Zeit spter versuchte ich es erneut und wurde ohne Probleme aufgenom-

    men. Die Zeiten hatten sich gendert, und meine Deutschkenntnisse waren pltzlich wertvoll

    geworden. Damals wollte niemand nach Deutschland, aber ich akzeptierte sofort.

    Menschen waren mir schon immer wichtig. Als sie mich baten als Abgesandter fr das

    Rote Kreuz nach Berlin zu gehen, dachte ich, ich knne etwas fr die Menschen tun. Meine

    Aufgabe bestand darin, Kriegsgefangenenlager zu besuchen und zu prfen, ob sie im Ein-

    klang mit den internationalen Abkommen waren. Beim Inspizieren der hygienischen Zustn-

    de und der Ernhrung der Gefangenen fhlte ich mich ntzlich. Wenn ich das Leben eines

    Menschen retten konnte, so tat ich es. Ich konnte auf einen zum Tode verurteilten englischen

    Piloten zeigen und den Deutschen sagen: Ich wei von einem deutschen Piloten, der in engli-

    scher Kriegsgefangenschaft ist. Wenn sie diesen Mann hinrichten, wird der andere auch hin-

    gerichtet. Im Krieg verhandelt man so.

    Wir lebten in Berlin in einem Haus nahe am Wannsee, das uns von der Regierung zu-

    gewiesen worden war. Ich habe vorher noch nie in einem so groen und schnen Haus ge-

    wohnt. Trotz allem habe ich auch einige schne Erinnerungen an diese Zeit. Zum Glck ver-

    gessen wir die schlimmen Momente eher als die Guten. Wir lebten alle zusammen, alle Abge-

    sandten des Roten Kreuzes in Berlin. Wenn man von einer Mission zurckkam, war er wie ein

    Paradies, dieser Ort am Ufer des Sees. Grundlegende Dinge verwandeln das Leben in ein Pa-

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    radies. Ein Gesprch mit einem Freund, ein Spaziergang am Ufer des Sees, ein bisschen Hu-

    mor in diesen harten Zeiten. Die Beziehung zu den Deutschen beschrnkte sich auf das N-

    tigste.

    Eines Morgens, bei einem dieser Gesprche bei denen man Arbeit und Privates nicht

    trennen kann, kamen wir auf den Vorbesitzer unseres Hauses zu sprechen, einen Juden. Nie-

    mand hatte es fr ntig gehalten, das Portrait von ihm, seiner Frau und seiner Tochter abzu-

    hngen. Es begann damit, dass wir von der Qualitt des Bildes sprachen und schlielich fass-

    ten wir den Entschluss, dass einer von uns ein Konzentrationslager inspizieren msse. Muss

    ich den Unterschied erklren? Man kann nicht auf einen wegen seiner Rassenzugehrigkeit

    inhaftierten Juden zeigen und den Deutschen sagen: Ich weis von einem unschuldigen Mann,

    der hingerichtet wird, wenn ihr diesen Juden hinrichtet. Wir hatten nichts, was wir den Deut-

    schen htten anbieten knnen. Sie lieen uns ja noch nicht mal in die Nhe der Konzentrati-

    onslager.

    Als ich an jenem Morgen vor dem Portrait der jdischen Familie stand, beschloss ich,

    eines dieser Lager zu inspizieren. Aber mein Ausweis als Rot-Kreuz-Abgesandter ntzte mir

    nichts, und die Rot-Kreuz-Flagge an meinem Wagen erwies sich als wertloser Fetzen. Ich

    hatte noch nicht einmal die Erlaubnis mich zu nhern, aber mit Zigaretten, Nylonstrmpfen

    oder amerikanischen Kofferradios war es leichter einen Passierschein zu erhalten. Ein Pas-

    sierschein und schon ffnete sich die Schranke vor meinem Auto. An jeder Kontrolle sagte

    ich das gleiche: Ich komme, um mit dem Lagerkommandanten zu sprechen. Mehr als 20

    Kontrollen auf den 30 Kilometern von Berlin bis zum Lager.

    Ein Mann mit blauen Augen, ungefhr mein Alter. Ich hatte ihn mir lter vorgestellt.

    Nehmen sie Platz! Darf ich ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee vielleicht? Wir trinken Kaf-

    fee. Sie sind autorisiert uns zu besuchen? Er wei, dass eine Genehmigung dieser Art nicht

    erteilt wird. Ich erzhle ihm, was mich hierher gefhrt hat. Wir knnen ihnen Medikamente

    fr ihre Krankenstation schicken. Sie verstehen schon, es ist nur ein Vorwand. Die Ge-

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    schichte mit den Medikamenten ist die beste Ausrede, die mir im Moment einfllt. Er erkennt

    meinen Akzent. Ihr Land gefllt mir gut. Vor dem Krieg habe ich dort Urlaub gemacht. Ich

    weis nicht, ob er mir damit deutlich machen wollte, dass er zu jener sozialen Schicht gehrte,

    die sich einen Urlaub im Ausland leisten kann. Als Sohn aus bescheidenen Verhltnisse hatte

    ich nie die Mittel fr so etwas. Der Krieg bot sie mir, die Mglichkeit ins Ausland zu gehen.

    Er erzhlt mir von Spanien. Gelegentlich betritt jemand den Raum und legt ihm Formulare

    zur Unterschrift vor. Alles wie in einem ganz normalen Bro, sie scheinen etwas Ntzliches

    zu tun. Wir sprechen ber mein Land bis ich es schaffe endlich mein Anliegen vor zu bringen.

    Ich muss sein Vertrauen gewinnen, ihm Theater vorspielen. Wir wrden gerne helfen. Wir

    haben die Mglichkeiten zu helfen. Er denkt einen Moment nach und sagt: Ja, sie knnen

    die Medikamente schicken. Wir kmmern uns um die Verteilung. Ich habe das Gefhl, dass

    ich noch ein Stck weiter gehen kann. Wir bruchten noch einige Informationen um ihnen

    die Medikamente schicken zu knnen. Ah, das ist also der Grund fr ihren Besuch. Sie be-

    ntigen Informationen. Er hllt sich in Schweigen. Ich denke: Alles klar, der Ausflug ist

    wohl beendet. Aber er sagt: Wieso eigentlich nicht. Sie bentigen Informationen.

    Er greift zum Telefon: Unser Gast wird das Lager besichtigen. Benachrichtigen sie

    Gottfried. Unser Gast erhlt berall Zugang. Danach wendet er sich an mich. Die Juden

    sind sehr eigen. Es gefllt ihnen nicht, wenn Fremde in ihren Angelegenheiten herumschnf-

    feln. Noch einen Kaffe? Gerne. Er erklrt mir, dass er sich in erster Linie als Europer

    fhle und nicht als Deutscher. Er wnscht sich, dass der Krieg so schnell wie mglich ende,

    weil er ihn als einen Brgerkrieg empfinde. Er deutet auf seine Bibliothek: "Calderon, Cor-

    neille, Shakespeare... Das ist fr mich Europa. Ich fhle mich unbehaglich. Will er mir damit

    zeigen, wie gebildet er ist? Es ist offensichtlich, dass er gebildeter ist als ich. Ein Mann dessen

    soziale Herkunft es ihm ermglichte auf die Besten Schulen zu gehen, zu reisen und interes-

    sante Leute kennen zu lernen. Whrend wir uns ins Innere des Lagers begeben, erklrt er mir,

    dass der Krieg ein Fehler ist, ein Missverstndnis unter Brdern. Wir entfernen uns von den

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    Holzbaracken und gehen in Richtung der Baracken aus rotem Ziegelstein. Auf der Treppe

    einer dieser Baracken erwartet uns ein lchelnder Mann. Der erste Mann im Lager ohne Uni-

    form. Der Kommandant stellt ihn mir vor: Brgermeister Gershom Gottfried.

    Im ersten Moment bin ich etwas verwundert. Der lchelnde Mann, Gottfried erinnert

    mich an den Mann von dem Portrait des Berliner Hauses. Ich muss mich konzentrieren, um

    seinen Begrungsworten zu folgen, weil er noch dazu seltsam spricht. Wenn sie erlauben,

    diene ich ihnen als Fhrer. Sie knnen fotografieren was immer sie mchten.

    Ja, ich habe eine kleine Kamera dabei. Vielleicht haben sie die Fotos gesehen. Ich

    habe viele gemacht. Gottfried erinnert mich stndig daran, dass ich Fotos machen darf. Ich

    fotografiere die Strassen, asphaltiert und sauber, den Orchesterpavillon in der Mitte des Plat-

    zes, den Park mit vielen Schaukeln in Form von Tieren, die bunten Luftballons.

    Die Leute betrachten mich mit Befremden. Ich vermute, dass es daran liegt, dass ich

    keine Uniform trage. Sie betrachten mich wie jemanden der weder zu ihnen noch zu den

    Deutschen gehrt. Ich habe das ungute Gefhl, dass sie mir aus dem Weg gehen. Die Sonne

    scheint, und die Leute nutzen das schne Wetter fr einen Spaziergang.

    Was haben sie denn erwartet? fragt der Kommandant: abgemagerte Menschen in

    gestreiften Schlafanzgen? Ich habe auch von diesen Gerchten gehrt. Sie haben sie auch

    gehrt, nicht wahr Gottfried?

    Gottfried bejaht, er habe die Geschichten auch gehrt. Erlauben Sie mir, dass ich Sie

    zum Mittagessen in mein Haus einlade," sagte er. "Ein einfaches Mittagessen, diese Zeiten

    sind hart fr alle. Wir betreten eine der Ziegelsteinbaracken und essen mit Familie Gottfried.

    Es beruhigt mich, dass sie nicht der Familie auf dem Portrait aus Berlin hnelt. Auf dem Tisch

    stehen Gemse und Weibrot. Gottfried spricht ein jdisches Gebet und sagt: Sie knnen

    Fotos machen, wann sie wollen. Sie haben sie vielleicht gesehen, diese Fotos. Fotos eines

    bescheidenen Hauses, mit Sicht auf den Platz. Wir drei nhern uns dem Fenster und trinken

    Kaffee. Der Deutsche, der Jude und ich. Der Kommandant, der Brgermeister und der Mann

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    vom Roten Kreuz. Der Platz ist um die Mittagszeit leer, als ob sich die kleine Stadt ausruhen

    wrde. Es scheint mir ein guter Moment zu sein, um mich nach einigen praktischen Dingen zu

    erkundigen, wie der Kanalisation oder der Post. Aber der Kommandant hat keine Lust ber

    solche Dinge zu sprechen. Genug der Politik. Es ist ein wunderschner Nachmittag, vergeu-

    den wir ihn nicht mit Politik. Gottfried, unser Gast kann doch nicht gehen, ohne die Bahn-

    hofsuhr gesehen zu haben.

    Der Kommandant schlgt uns vor, durch den Wald am Ufer des Flusses zum Bahnhof

    zu gehen. Gottfried geht schweigend an meiner Seite, whrend der Kommandant Prognosen

    fr die Zukunft gibt. Dieser Krieg ist das Werk der gesamten Menschheit. Der Frieden, der

    auf diesen Krieg folgt, wird auch das Werk der gesamten Menschheit sein. Wir gehen durch

    ein Stck dichten Waldes. Das Sonnenlicht dringt kaum durch das Bltterdach. Der Kom-

    mandant fragt mich, ob ich an Gott glaube. Ich bejahe, weil ich damals noch an Gott glaubte.

    Der Kommandant bezieht sich auf den Gott Spinozas und zitiert einen Satz von Spinoza: Der

    Hass, der durch Liebe gnzlich besiegt wird, geht in Liebe ber, und die Liebe ist dann str-

    ker, als wenn ihr der Hass nicht vorausgegangen wre. Am Fluss spielt ein Mdchen mit

    einer Puppe. Ich bleibe stehen um das Mdchen zu fotografieren.

    Die Bahnhofsuhr zeigt Punkt Sechs. Gottfried erzhlt mir ihre Geschichte: Sie wurde

    im Jahre 1502 von dem Meister Peter Henlein aus Nrnberg, dem berhmten Fabrikanten fr

    mechanisches Spielzeug, gebaut. Im Gegensatz zum ersten Augenschein hat sie kein Uhrwerk

    sondern eine Unruh. Die Uhr bewegt sich nicht, und mir wird langsam klar, was mir an Gott-

    frieds Art sich auszudrcken komisch erscheint. Die Unruh ist eine Eisenstange mit zwei

    Gewichten an ihren Enden. Mittels dieser Gewichte versetzt sie das Uhrwerk in eine Drehbe-

    wegung. Es ist als ob... Nicht nur jetzt, als er mir die Funktionsweise der Uhr erklrt, son-

    dern auch beim Gesprch ber das Wetter oder als er mir Brot anbietet. Gottfried spricht wie

    eine Maschine.

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    Auf einer Bank im Bahnhof macht ein junger Mann einem Mdchen den Hof. Ein alter

    Mann liest eine Zeitung. Zwei Jungen spielen mit einem Kreisel. Vielleicht haben Sie diese

    Fotos gesehen?

    Das Paar, der Alte, die Kinder, sind sie nicht irgendwie knstlich? War nicht alles ir-

    gendwie ein schnes Spiel seit dem heiteren Gru des Brgermeisters Gottfried? Der Bahnhof

    riecht wie frisch gestrichen. Das Orchester, die Schaukeln, alles scheint mir pltzlich genauso

    sonderbar wie die Stimme des Brgermeisters. Wie war es hier wohl bevor ich kam? Wie

    wird es danach sein? Ich bin gekommen, um zu sehen, denn ich verkrpere die Augen der

    Welt. Ich werde von hier mit vielen Fotos und einem Bericht ber das, was ich gesehen habe,

    weggehen.

    Verstehen Sie mich nicht falsch, ich zweifle nicht daran, dass sie Juden sind. Es sind

    Juden, aber aus irgendeinem Grund verhalten sie sich so. Aber das machen sie schlecht. Sie

    bewegen sich tollpatschig und unnatrlich. Von meinen Eltern wurde mir beigebracht, Mitleid

    zu empfinden. Den Schmerz Anderer konnte ich nie mit Gleichgltigkeit betrachten. Deswe-

    gen trat ich dem Roten Kreuz bei, weil ich helfen wollte. Deshalb akzeptierte ich die Arbeit in

    Deutschland und deshalb bin ich hier, 30 km nrdlich von Berlin, weil ich helfen will. Doch

    brauche ich einen von ihnen, den Alten, das Paar, die Kinder, auf das einer mir ein Zeichen

    gbe. Denn ein Zeichen brauche ich. Nie machte jemand auf sich aufmerksam. Niemand hat

    gesagt: "Ich brauche Hilfe".

    Stattdessen warf man mir nur starre Blicke zu. Selbst die Kinder, die mit dem Kreisel

    spielen. Wenn sie meinen Bericht gelesen haben, dort spreche ich von ihnen, ich habe sie fo-

    tografiert. Ihr Kreisel dreht sich bis er vor die Fe des Kommandanten fllt. Die Kinder

    schauen sich an, ohne zu wissen, was sie tun sollen. Als ob dieser Moment nicht geplant war.

    Gottfried hrt auf zu reden, als ob auch er nicht wsste, was als nchstes zu tun sei. Doch der

    Kommandant bckt sich um den Kreisel aufzuheben. Ich frage mich, ob nicht auch er, der

    Kommandant, ein Werk des Uhrmachers sei. Zu liebenswrdig, zu gebildet. Der Komman-

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    dant oder besser gesagt der Mann, der mir als Kommandant vorgestellt wurde, sagt zu den

    Kindern: In Deutschland schlagen wir den Kreisel anders. Und er nhert sich ihnen um

    ihnen zu zeigen, wie man den Kreisel in Deutschland schlgt.

    Die Uhr zeigt weiterhin Punkt Sechs an. Der Kommandant spielt mit den Kindern in

    einigen Metern Entfernung und dreht uns dabei den Rcken zu. Dies ist der Moment, die Ge-

    legenheit, dass Gottfried zu mir sagen knnte: Hilf mir. Er muss mir nichts sagen, ein Zei-

    chen wrde gengen. Gottfried sagt: 1914 konnte man feststellen, dass diese Maschine mehr

    als 400 Jahre nach ihrer Herstellung immer noch die genaue Uhrzeit mit nur einer halben Mi-

    nute Unterschied anzeigt. Die Unruh stammt von einer anderen Uhr, welche 1492 in Toledo

    konstruiert wurde. Das heit, sie sehen eine Maschine, die seit fast 500 Jahren die Uhrzeit

    anzeigt.

    Mich berfllt ein seltenes Gefhl von Einsamkeit zwischen diesen Deutschen und

    diesen Juden. Ich beginne mich ebenfalls wie ein Spielzeug zu fhlen. Aber was ist meine

    Aufgabe? Wo bin ich in Wirklichkeit? 30 Kilometer nrdlich von Berlin, ja, aber wo?

    Der Kommandant kommt zu uns zurck. An dieser Haltestelle kommen viele Men-

    schen aus ganz Europa an. Aber erwarten Sie nicht einen Zug zu sehen, auer sie wollen hier

    bernachten. Die Transporte kommen immer um sechs Uhr morgens. Mir scheint, als wrde

    ich die Zge hren, wie sie die Stille des Waldes durchdringen. Jene Stille, die man nur im

    Inneren des Waldes vernimmt.

    Auf der anderen Seite der Schienen fllt mein Blick auf eine kurze Betonrampe, die

    wohl dem Ausladen des Viehs aus den Wagons dient; dann eine abfallende Rampe, viel weni-

    ger steil und lnger, welche in einem speziellen Hangar endet. Der Kommandant bemerkt, das

    mein Blick nicht von jenem Hangar weicht. Er erklrt mir: Das Lazarett. Diesen Weg vom

    Zug bis zur Krankenstation nennen wir den Himmelweg. Und er schaut Gottfried an, als

    wrde er ihn um Zustimmung bitten. Gottfried nickt und sagt: "Himmelweg.

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    "Von dort kann man die ganze Stadt sehen, sagt der Kommandant und ldt mich ein,

    mich davon zu berzeugen. Es stimmt, von der Rampe aus kann man die ganze Stadt sehen.

    Auf dem Platz fngt sich alles zu bewegen an wie ein mechanisches Spielzeug welches gerade

    aufgezogen wurde: die Kinder auf der Schaukel, die Alten, die in der Sonne spazieren gehen,

    der Luftballonverkufer. Der Kommandant deutet auf Orte an denen wir vorbeigekommen

    sind: der Fuballplatz, das Theater, die Schule, die Synagoge. Religionsfreiheit, sagt er.

    Die Stadt ist das, was wir eine Zone der jdischen Wiederbevlkerung nennen. Ein Expe-

    riment der Selbstverwaltung. Heute htte ich ihn gefragt: Wenn sie sich selbst verwalten,

    was ist dann Ihre Aufgabe, Herr Kommandant? Aber ich stellte diese Frage nicht, denn so

    konnte man mit den Deutschen nicht reden. Der Kommandant betont, das ist ein Experiment

    zur Lsung eines Problems, welches keine europische Nation whrend der letzten Jahrhun-

    derte lsen konnte. Es scheint, als ob er nur darauf wartet, dass ich einen Kommentar abge-

    be, aber das Einzige, was mir in den Sinn kommt, ist: Das, was mich jetzt berrascht, sind

    die Schwierigkeiten, die wir hatten, diesen Ort zu besichtigen. Der Kommandant fordert Gott-

    fried mit einer Geste auf, sich einzumischen. Gottfried sagt: Wir haben hier Leute aus ganz

    Europa, das ist das, was uns einige organisatorische Probleme bereitet. Die Situation ist unbe-

    haglich, vor allem fr die alten Menschen, aber die jungen glauben an die Zukunft. Die jun-

    gen Menschen wissen, dass wir wie ein Schiff sind, welches darauf wartet in den Hafen ein-

    zulaufen, doch der Hafen ist vermint. Der Kapitn, dem die enge Fahrrinne die in den Hafen

    fhrt, unbekannt ist, darf die widersprchlichen Kommandos, die ihm von der Kste gegeben

    werden, nicht befolgen. Der Kapitn wartet auf ein eindeutiges Kommando. Solange ist es

    seine Pflicht, Ruhe zu bewahren.

    Zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, dass den Kommandanten etwas strt. Die lyri-

    sche Abschweifung Gottfrieds und die ganze Geschichte mit den Schiffen hat ihn verrgert.

    Pltzlich sagt er : Es wird dunkel, und er geht zurck zum Bahnhof. Gottfried beeilt sich,

    ihm mit seinen kurzen, humpelnden Schritten zu folgen. Ich wei nicht, ob ich bereits Gott-

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    frieds Humpeln erwhnt habe. Es passierte also genau in dem Moment, als sie die Rampe

    nach unten gingen, dass sich meine Hand an der Hangartr absttzte. Ich erinnere mich noch

    immer an die Klte in meinen Fingern, als ich sie berhre und an die Augen Gottfrieds, der

    sich umdreht und mich ansieht.

    Glaubt er, dass ich diese Tr ffnen werde? Auch ich glaube das ich sie ffnen werde.

    Aber wenn ich mich nach all dem geirrt htte? Lasse nicht auch ich mich von meinen Vorur-

    teilen leiten? Oder von der Arroganz? Oder von der Eitelkeit eines Jemanden, der glaubt wei-

    ter als der Horizont sehen zu knnen? Ich lasse die Tr los und gehe nach unten um mich den

    Beiden anzuschlieen.

    Wir begleiteten Gottfried zu seiner Baracke. Kommen Sie wieder wann Sie wn-

    schen!, sagte er zu mir. Der Kommandant und ich entfernen uns von den Ziegelbaracken.

    Ohne stehen zu bleiben schaue ich zurck. Der Blick Gottfrieds ist sehr intensiv. Heute wei

    ich, wieso er mich so angesehen hat. Er schaute mich an als ob er dachte: "Da geht ein

    Mensch, der den Tod nicht zu frchten hat!" Der Kommandant hrt nicht auf zu reden, als er

    mich zum Auto begleitet. Deutschland leistet hier eine ausgezeichnete Arbeit. Eines Tages

    wird uns Europa dafr dankbar sein. Seine letzten Worte sind: Sie haben Gottfried ja bereits

    gehrt: Kommen Sie wieder, wann immer Sie wollen.

    Wieder in Berlin schrieb, ich meinen Bericht. Mein Gedchtnis schreibt ihn jede Nacht

    neu. Die Leute fragen: "Hast du die fen nicht gesehen?" "Die Zge?" Nein, ich habe so et-

    was nicht gesehen. "Den Rauch?" "Die Asche?" Nein. All dies, von dem man sagt, dass es es

    dort gegeben habe, konnte ich nicht sehen.

    Manchmal denke ich, dass ich Gottfried htte fragen knnen, indem ich ihm einfach in

    die Augen geschaut htte. Oder dass ich das Mdchen, das mit der Puppe im Fluss spielte,

    htte fragen knnen. Sie htte es wissen mssen. Die Asche wurde in den Fluss gekippt. Nie-

    mand von ihnen wurde begraben.

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    Aber wer wusste damals schon von all dem? Jetzt ist es leicht, mich als eine lcherli-

    che Gestalt zu sehen, aber ich bin nun mal wie jeder andere. Das einzige was mich unter-

    scheidet ist, dass ich hier war, am "Himmelweg".

    Diese Bume wurden nach dem Krieg gepflanzt. Heute bedeckt der Wald alles, aber

    ich kann diesen Platz ohne den geringsten Zweifel wiedererkennen. Es war hier. Hier waren

    die Gleise. Hier kamen die Zge pnktlich um sechs Uhr morgens an, die Zge kamen immer

    um sechs Uhr morgens.

    Ja es war hier, ich kann es unter meinen Fen fhlen: hier verlief der Himmelweg.

    Die Wagontren ffneten sich bei grellem Licht und Hundegebell, und sie wurden aus den

    Wagons getrieben; auf den einzigen Weg, den es gab: eine Rampe aus Beton, die bei einem

    hangarhnlichen Gebude endete.

    Ich gehe diesen Weg jede Nacht. Jede Nacht trume ich, dass ich diese Rampe hinauf

    gehe und vor der Tr dieses Hangars stehe. Ich ffne sie, und da sind sie. Lchelnd warten sie

    auf mich. Gottfried und all die Anderen.

    Mein Gedchtnis schreibt es jede Nacht neu. Die hygienischen Bedingungen sind be-

    friedigend. Die Menschen sind korrekt gekleidet, mit den natrlichen Unterschieden nach

    Gesellschaftsschichten und Herkunft. Die Unterknfte sind einfach aber angemessen. Die

    Ernhrung scheint ausreichend zu sein.

    berschtzen Sie nicht meine Macht. Alles was ich machen konnte war, einen Bericht

    zu schreiben und ihn mit meinem Namen zu unterzeichnen. Selbst wenn ich etwas anderes

    geschrieben htte, htte das nichts gendert. Htte ich etwas anderes schreiben knnen? Mein

    Auftrag war es, die Augen aufzumachen und zu beobachten.

    Jetzt, wo ich wieder hier bin, mitten im Wald, erinnere ich mich kaum an den Mann,

    der ich damals war. Aber ich knnte Wort fr Wort wiederholen, was ich jene Nacht vor dem

    Portrt der jdischen Familie geschrieben habe: Ich habe eine normale Stadt gesehen. Ich

    habe nichts ungewhnliches gesehen, ich konnte nicht erfinden, was ich nicht gesehen habe.

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    Ich htte die Wahrheit geschrieben, wenn sie mir geholfen htte. Ein Wort, eine Geste. Ich

    schrieb: Jeder hat das Recht, die von Deutschland getroffenen Manahmen zu beurteilen, die

    das jdische Problem lsen sollen. Wenn dieser Bericht dazu beitrgt, das Geheimnis, das

    damit verbunden ist, zu beseitigen, ist es ausreichend. Heute fhle ich mich schrecklich hier

    zu sein, aber ich werde nicht um Verzeihung fr das bitten, was ich geschrieben habe. Ich

    wrde es wieder so schreiben, wie ich es geschrieben habe, Wort fr Wort. Ich wrde es wie-

    der unterzeichnen. Ich habe das, was ich sah, beschrieben. Ich habe nicht geschrieben, dass es

    ein Paradies sei. Am nchsten Tag lies ich drei Kisten Medikamente dorthin schicken. Eine

    Woche spter bekam ich einen Brief aus dem Lager. Er war von dem Kommandanten und

    dem Brgermeister Gottfried unterschrieben. Sie dankten mir fr die Medikamente.

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    II Rauch

    Dieser Akt kann von weiteren stummen Szenen aus der vorangegangenen begleitet werden:

    Kinder auf Schaukeln in der Gestalt von Tieren, ein alter Mann, der eine Zeitung liest, ein

    Luftballonverkufer, die Segnung einer jdischen Mahlzeit, ein Orchester. Die Darsteller

    schauen gelegentlich zu einem Zuschauer, als wrden sie sich bewusst machen wollen, dass

    sie von ihm beobachtet werden. Hin und wieder hrt man den Lrm eines Zuges.

    Junge 1 versucht den Kreisel zu schlagen; es gelingt ihm nicht. Er scheitert zwei, drei Mal.

    Hinter ihm taucht Junge 2 auf.

    JUNGE 2: Du musst die Schnur fester rumwickeln.

    Junge 1 hebt den Kreisel auf und steckt ihn ein.

    JUNGE 2: Je fester desto besser. Danach musst du mit einem Ruck an der Schnur ziehen.

    Keine Antwort.

    JUNGE 2: Das Schwierigste ist, ihn richtig anzureien. Ich zeigs dir. Lass mich mal.

    JUNGE 1: Kmmer dich um deinen eigenen Kram.

    JUNGE 2: Er ist sehr schn. Schwarz mit ner roten Spitze, oder? Lsst du mich mal sehen?

    JUNGE 1: Finger weg!

    JUNGE 2: Kommst du hier zum Spielen her, weil der Boden so glatt ist?

    JUNGE 1: Verschwinde!

    JUNGE 2: Ich laufe dir schon seit der Baracke nach. Ich wusste, dass du dich verstecken wolltest.

    Du bist wie einer gelaufen, der etwas zu verstecken hat. Schwarz mit roter Spitze. Genau wie

    der, den Leslez verloren hat. Er sucht ihn berall.

    Schweigen.

    JUNGE 1: Schon gut. Wir teilen ihn uns. Einen Tag ich, einen Tag du.

    JUNGE 2: Steck dir deinen Kreisel sonst wo hin. Ich will ihn nicht.

    JUNGE 1: Was willst du dann?

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    JUNGE 2: Sag mal, wie sieht deine Schwester Sara aus? Du musst sie doch beim Baden gesehen

    haben wenn sie sich auszieht. Wie ist sie so?

    Ein junges Prchen auf einer Bank. Sie ist rothaarig. Er gibt ihr ein als Geschenk verpacktes

    Pckchen.

    Pause.

    ER: Willst du es nicht aufmachen?

    Schweigen

    ER: Du siehst heute sehr gut aus.

    SIE: Ach ja? Heute?

    ER: Was willst du damit sagen?

    SIE: Gestern hab ich auf dich gewartet.

    ER: Gestern bin ich erst spt aus dem Laden gekommen.

    Sie: Du hast gesagt, dass du mich abholst.

    Er: Der Chef hat mich gebeten, ihm bei der Inventur zu helfen.

    Sie: Ich hab ber eine Stunde auf dich gewartet.

    Er: Es ist ja nicht so, dass ich Einen trinken gewesen wre. Ich hab gearbeitet.

    Sie: Es gibt noch anderes auer Arbeit.

    ER: Ich strenge mich doch fr uns an. Fr dich, fr mich, fr alles, wovon wir trumen.

    Fr unsere Zukunft.

    Schweigen.

    ER: Ich strenge mich doch fr uns an. Fr dich, fr mich, fr alles

    SIE: Die Zukunft. Ich hab die Nase voll von der Zukunft.

    ER: Mach es auf, bitte.

    SIE: Erzhl mir von der Gegenwart. Unserer Gegenwart.

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    ER: Es war schwer, diese Stelle im Laden zu bekommen. Wre es dir lieber, wenn ich

    wieder Scke schleppen wrde bis ich einen kaputten Rcken habe? Viele warten nur darauf,

    dass ich einen Fehler mache, um an meinen Platz zu kommen. Wenn der Chef mir die Ver-

    antwortung fr die Waage bergeben hat, dann deshalb, weil er mir vertraut. Alles, was in den

    Laden rein- und rausgeht luft ber meine Waage. Der Chef vertraut mir. Er hat mir erzhlt,

    wie er angefangen hat, ganz unten. Und schau wo er heute ist, weil er sich angestrengt hat.

    Wenn ich mich weiter anstrenge, werde ich bald auch jemand sein.

    Schweigen.

    ER: Wenn ich mich weiter anstrenge, werde ich bald auch jemand sein.

    Sie gibt ihm das Pckchen zurck. Er nimmt es nicht an.

    ER: Mach es auf. Es ist eine berraschung.

    Ein Mdchen im Fluss stehend, mit einer Puppe, der sie ber den Kopf streichelt.

    MDCHEN: Hab keine Angst. Hab keine Angst, ich brings dir bei. Trau dich, du wirst

    nicht untergehen, ich halte dich. Jetzt beweg die Beine. So: Eins-zwei, eins-zwei. Jetzt, die

    Arme. Streck die Arme mehr. Ohne mit den Beinen aufzuhren. Und jetzt der Kopf. Du musst

    den Kopf eintauchen und durch die Nase atmen. Du machst zwei Armzge, so, eins-zwei,

    hebst den Kopf aus dem Wasser, atmest, und noch einmal eins-zwei, sehr gut! Das machst

    du sehr gut. Jetzt werde ich dich loslassen und du musst alleine schwimmen. Jetzt du allein.

    Hab keine Angst.

    Sie schaut einen Zuschauer an, als ob sie ihn entdecken wrde.

    Sie grt den Zuschauer.

    Sei hflich, Walter. Sag diesem Herrn Guten Tag.

    Sie lsst die Puppe den Zuschauer gren.

  • 16

    Junge 3 versucht den Kreisel zu schlagen, es gelingt ihm aber nicht. Er scheitert zwei, drei

    Mal. Hinter ihm taucht Junge 4 auf.

    JUNGE 4: Du musst den Kreisel mit der Schnur schneller schlagen.

    Junge 3 hebt den Kreisel auf und steckt ihn ein.

    JUNGE 4: Je fester, desto besser. Danach gibst du ihm mit einem Schlag noch mehr Schwung.

    Keine Antwort.

    JUNGE 4: Das Schwierigste ist, Schwung zu geben. Ich kann es dir beibringen. Lass mich Mal.

    JUNGE 3: Kmmer dich um deinen eigenen Kram!

    JUNGE 4: Er ist sehr schn. Schwarz mit ner roten Spitze., oder? Lsst du mich mal sehen?

    JUNGE 3: Finger weg!

    JUNGE 4: Noch mal!

    JUNGE 3: Noch mal? Warum?

    JUNGE 4: Ich hab dich ja noch gar nicht angefasst. Du hast gesagt Finger weg bevor ich dich

    angefasst habe.

    JUNGE 3: Ganz von vorne?

    JUNGE 4: Ab Kmmer dich um deinen eigenen Kram!.

    Sie kehren in ihre entsprechenden Positionen zurck.

    JUNGE 3: Kmmer dich um deinen eigenen Kram!

    JUNGE 4: Er ist sehr schn. Schwarz mit ner roten Spitze oder?. Lsst du ihn mich mal sehen?

    JUNGE 3: Finger weg!

    JUNGE 4: Kommst du hier zum Spielen her, weil der Boden so glatt ist?

    JUNGE 3: Verschwinde!

    JUNGE 4: Ich bin dir gefolgt. Seit der Baracke. Ich hab gedacht: Der da versteckt was. Du bist

    wie einer gelaufen, der was zu verstecken hat. Schwarz mit ner roten Spitze. Wie der, den

    Krystow verloren hat. Er sucht ihn.

    JUNGE 3: Schon gut. Wir teilen ihn uns. Einen Tag ich, einen Tag du.

  • 17

    JUNGE 4: Steck dir deinen Kreisel sonst wo hin. Ich will ihn nicht.

    JUNGE 3: Was willst du dann?

    JUNGE 4: Sag mal, wie sieht denn Sara aus? Sie ist deine Schwester; du musst sie doch beim

    Baden gesehen haben. Wenn sie sich auszieht. Wie ist sie so?

    Schweigen. Junge 4 deutet Junge 3 an, was er zu sagen hat: Sie hat sehr weie Haut

    JUNGE 3: Sie hat sehr weie Haut. Sie hat kleine Fe. Sie hat Kratzer an den Fen, weil sie

    gerne barfuss luft wenn sie allein ist.

    Der junge Mann und die Frau auf der Bank. Wir sehen sie aus einem anderen Winkel. Sie

    sagen den Dialog schneller auf als vorher. So schnell, dass die Antworten hin und wieder

    stolpernd und nicht zusammenhngend sind. Er gibt ihr, verpackt als Geschenk, ein Pck-

    chen; kleiner als das vorherige.

    ER: Magst du es nicht ffnen? Du siehst heute sehr gut aus.

    SIE: Ach ja? Heute?

    ER: Was willst du damit sagen?

    SIE: Gestern hab ich auf dich gewartet.

    ER: Gestern bin ich erst spt aus dem Laden gekommen.

    SIE: Du hast gesagt, dass du vorbeikommst und mich abholst.

    ER: Der Chef hat mich gebeten, ihm bei der Inventur zu helfen.

    SIE: Ich habe auf dich gewartet. Ich bin es Leid auf dich zu warten. Ich mchte mein Leben

    nicht ewig mit Warten verschwenden.

    ER: Es ist ja nicht so, dass ich mit einer anderen Frau unterwegs gewesen wre.

    Mein einziger Fehler ist, dass ich an Morgen denke.

    SIE: Es gibt noch anderes auer Arbeit.

    ER: Ich strenge mich doch fr uns an. Fr dich, fr mich, fr alles, wovon wir trumen.

    Fr unsere Zukunft.

  • 18

    SIE: Die Zukunft. Ich hab die Nase voll von der Zukunft.

    ER: Es war schwer, diese Stelle im Laden zu bekommen. Wre es dir lieber, wenn ich

    wieder Scke schleppen wrde bis ich einen kaputten Rcken habe? Viele warten nur darauf,

    dass ich einen Fehler mache, um

    SIE: Hrst du sie nicht? Die Zge?

    ER: Viele warten nur darauf, dass ich einen Fehler mache, um an meinen Platz zu kom-

    men. Wenn der Chef mir die Verantwortung fr die Waage bergeben hat

    SIE: Was machst du, damit du sie nicht hrst?

    ER: Wenn der Chef mir die Verantwortung fr die Waage bergeben hat, dann deshalb,

    weil er mir vertraut. Alles, was in den Laden rein- und rausgeht

    SIE: Der Rauch! Siehst du ihn nicht? Was machst du, damit du ihn nicht siehst?

    ER: Viele warten nur darauf, dass ich einen Fehler mache. Wenn der Chef mir die Verant-

    wortung fr den Waage bergeben hat, dann deshalb, weil er mir vertraut. Alles, was in den

    Laden rein- und rausgeht luft ber meine Waage.

    SIE: Wie lange mssen wir denn noch hier bleiben?

    ER: Alles luft ber meine Waage. Der Chef vertraut mir. Er hat mir erzhlt, wie er

    angefangen hat, ganz unten.

    SIE: Und wenn wir bis zum Wald laufen? Wir knnten durch den Wald bis zum Fluss

    kommen.

    ER: Ganz unten, und schau, wo er heute ist. Wenn ich mich weiter so anstrenge

    SIE: Ich werde rennen. Komm mit!

    ER: Wenn ich mich weiter so anstrenge, werde ich irgendwann auch jemand sein.

    Sie geht ab.

    ER: ffne es. Es ist eine berraschung.

    Schweigen.

    ER: Die Zukunft. Darin ist unsere Zukunft.

  • 19

    Das Mdchen steht im Fluss, mit der Puppe. Wir beobachten sie aus einem anderen Blickwin-

    kel als zuvor.

    MDCHEN: Die Arme. Streck die Arme mehr. Behalt die Beine unter Wasser. Der Kopf.

    Du musst durch die Nase atmen und den Kopf ins Wasser halten. (Sie korrigiert sich.) Du

    musst den Kopf ins Wasser halten und durch die Nase atmen. Zwei Armzge. Den Mund aus

    dem Wasser, atme und noch mal. Eins, zwei, sehr gut. Ich lass dich los und du musst es allei-

    ne knnen. Du allein. Hab keine Angst.

    Schweigen.

    Hab keine Angst. Ich brings dir bei. Trau dich. Ich lass dich nicht untergehen. Ich halte dich.

    Beweg die Beine. Eins, zwei. Die Arme. Streck die Arme. Mehr. Bleib mit den Fen unter

    Wasser. Der Kopf. Du musst den Kopf ins Wasser halten. Und durch die Nase atmen.

    Sie sieht einen Zuschauer an, als ob sie ihn entdeckte.

    Sie gre den Zuschauer.

    Sei hflich, Rebecca. Sag diesem Herrn Guten Tag.

    Sie lsst die Puppe den Zuschauer gren. Sie singt der Puppe ein Wiegenlied.

    Zwei Armzge, heb den Mund aus dem Wasser. Atme und wiederhol es noch mal. Eins, zwei,

    sehr gut. Ich werde dich loslassen. Du musst dich alleine ber Wasser halten. Du allein. Hab

    keine Angst.

    Schweigen

    Hab keine Angst. Ich brings dir bei. Trau dich. Du wirst schon nicht untergehen. Ich halte

    dich. Beweg die Beine.

    Sie grt einen Zuschauer.

    Sei hflich, Rebecca. Sag diesem Herrn Guten Tag.

    Sie lsst die Puppe den Zuschauer gren. Sie singt der Puppe ein Wiegenlied.

  • 20

    Eins, zwei. Die Arme. Strecken. Unter Wasser halten. Die Beine. Der Kopf. Durch die Nase.

    Mach zwei Armzge. Amte. Wiederhole. Noch mal. Eins, zwei. Ich werde dich loslassen.

    Allein. Du allein.

    Schweigen. Ihr ist kalt im Wasser.

    Junge 4 hrt Junge 5 zu.

    JUNGE 5: Sie hat sehr weie Haut. Sie hat kleine Fe. Sie hat Kratzer an den Fen weil sie

    gerne barfuss luft, wenn sie allein ist. Sie hat lange Arme. Sie hat kleine Hnde. Sie hat

    schwarze Brustwarzen; fr mich sehen sie schwarz aus, weil ihre Haut so wei ist.

    Ein junger Mann und eine junge Frau, auf der Bank. ER ist der gleiche wie immer, SIE ist

    eine andere, uns sie ist nicht rothaarig. Zwischen ihnen steht ein groes Pakte, verpackt als

    Geschenk.

    ER: Alles, was in den Laden rein- und rausgeht, luft ber meine Waage. Der Chef vertraut

    mir. Er hat mir erzhlt, wie er angefangen hat, von ganz unten. Schau wo er heute ist, weil er

    sich angestrengt hat. Wenn ich mich weiter anstrenge, werde ich bald auch jemand sein.

    Sie gibt ihm das Paket zurck. Er nimmt es nicht.

    ER: Machs auf. Es ist eine berraschung.

    SIE: Es ist leicht. Was ist denn drin?

    ER: Die Zukunft. Da drin ist unsere Zukunft.

    Zuglrm. Sie lsst das Paket fallen. Es hrt sich leer an.

    Das Mdchen steht im Fluss, ohne die Puppe. Ihr ist sehr kalt. Sie sieht die Zuschauer an.

    MDCHEN: Sei hflich, Rebecca. Sag diesem Herrn Guten Tag. Hab keine Angst. Ich

    brings dir bei. Ich werde dich halten. Hab keine Angst. Wir mssen hier bleiben solange sie

    nichts anderes sagen. Hab keine Angst. Ich brings dir bei. Eins, zwei. Eins, zwei. Hab keine

  • 21

    Angst. Eins, zwei. Beweg die Beine. Eins, zwei. Sei hflich, Rebecca, sag diesem Herrn

    Guten Tag. Eins, zwei. Sei hflich, Rebecca. Gre. Diesen Herrn. Hab keine Angst. Angst.

    Sie singt das Wiegenlied. Man hrt den Lrm eines Zuges; sie lchelt.

  • 22

    III So wird die Stille des Friedens sein

    Erkennen Sie mich wieder? Nein. Das geht allen so, keiner kann sich vorstellen, wie ich als

    junger Mann aussah. Aber doch, ich bin es. Mein Name ist... nun gut, wen interessiert schon

    meine Name? Hatten Sie eine gute Reise? Es ist eine schne Strecke von Berlin hierher, ich

    fahre sie oft. Schade nur, dass einem all diese Kontrollen die Fahrt verderben, verfluchter

    Krieg. Setzen Sie sich. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee vielleicht? Haben sie

    eine Besuchserlaubnis? Ja, ja, ich wei schon, sagen sie mir nichts. Sie wollen uns etwas schi-

    cken... Essen? Kleidung? Medikamente, natrlich, sie wollen uns Medikamente schicken!

    Warum denn nicht? Sie knnen sie schicken, wir werden irgendeine Verwendung dafr fin-

    den. Entschuldigen Sie bitte, Ihr Akzent... Fr einen Augenblick dachte ich, sie seien... Aber

    nein, wie konnte ich mich irren? Ihr Akzent ist unverwechselbar, er weckt wunderbare Erin-

    nerungen in mir. Ihr Land gefllt mir gut. Ich war dort im Urlaub. Vor dem Krieg. Wunder-

    volles Land. In Ihrem Land liegt die Kultur in der Luft. Seine Geschichte liegt in der Luft.

    Sagen Sie mir doch bitte etwas in Ihrer Sprache. Ein Wort: Paz. Erlauben Sie mir, Ihnen zu

    sagen, dass es ein Privileg ist, Ihre Sprache zu hren und jeden Tag wird es ein greres sein.

    Wahrscheinlich werden wir alle in nicht allzu langer Zeit eine einzige Sprache sprechen. Ich

    sage das ohne Arroganz, ich sage das mit tiefer Nostalgie. Zum Glck wird uns immer die

    Vergangenheit bleiben. Wir werden immer das Spanische brauchen, um Caldern zu lesen,

    das Franzsische, um Corneille zu lesen. Werfen Sie einen Blick auf meine Bibliothek: das ist

    fr mich Europa. Werfen Sie einen Blick darauf, whrend ich diese Papiere unterschreibe.

    Verzeihen Sie mir, aber diese Unterlagen knnen nicht warten. Ja, sogar hier werden wir von

    der Brokratie heimgesucht. Wenn ich zu ersticken drohe nehme ich mein Auto und fahre

    nach Berlin. In zivil. Ich studiere den Spielplan und whle ein Stck aus. Das Theater ver-

    schafft mir Luft. Spter kann ich hierher zurckkehren, um Unterlagen zu unterschreiben.

    Whrend ich das fertig mache, werfen Sie ruhig einen Blick auf meine Bibliothek. Die Leute

  • 23

    denken, dass wir Tiere sind, aber sehen sie sich meine Bibliothek an. Als ich hierher versetzt

    wurde, brachte ich einhundert Bcher mit. Einhundert, nicht mehr und nicht weniger. Die

    besten. Sie werden einige wieder erkennen, die ich in Ihrem Land gekauft habe. Sehen Sie

    sich jenes Regal an. Ja, ja ich wei schon, Sie sind nicht gekommen, um sich Bcher anzu-

    schauen, Sie sind begierig, den Rundgang zu beginnen. Ich wei, was Sie dazu veranlasst hat,

    hierher zu fahren. Sagen Sie nichts: auch ich habe diese Gerchte gehrt. Schauergeschichten,

    die in aller Munde sind. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, auch ich lasse mich von Zeit zu

    Zeit von meiner Fantasie leiten. Sie haben sich schreckliche Dinge vorgestellt und glauben,

    dass Sie etwas tun mssen. Ihr guter Wille und Ihre Alptrume haben Sie hierher gefhrt. Ab-

    gemagerte Menschen in gestreiften Schlafanzgen. Auch ich hatte diese Alptrume, wer kann

    heutzutage noch schlafen? Sie wollen helfen, aber Sie brauchen Informationen, knnen nicht

    aufs Geratewohl helfen. Das ist es, was Sie hierher fhrt, Sie brauchen Informationen, und wir

    werden sie Ihnen geben. Wir werden einen Rundgang machen, ich habe das Vergngen, Sie

    begleiten zu drfen. Sie knnen gerne Fotos machen. Machen Sie bitte viele Fotos. Aber vor-

    her mssen die Leute sich bereit fhlen. Sie sind sehr eigen, was ihre Sachen betrifft. Es ge-

    fllt ihnen nicht, wenn Fremde in ihren Angelegenheiten herumschnffeln. Sie sind nicht wie

    wir, wie Sie und ich. Noch einen Kaffee? Sobald dieser Krieg zu Ende ist, werde ich Urlaub

    in Ihrem Land machen. Ich bin vor allem Europer und dann erst Deutscher. Eines Tages

    werden wir merken, dass dieser Krieg ein Brgerkrieg gewesen ist. Dieser Krieg ist ein Feh-

    ler, ein Missverstndnis unter Brdern. Betrachten Sie meine Bibliothek: Das ist fr mich

    Europa. Uns das vergessen zu lassen, ist der grte Schaden, den der Krieg uns zufgen kann.

    Haben Sie das Berliner Theaterprogramm gesehen? Es ist ein Theaterprogramm des Krieges.

    Theaterprogramm des Krieges bedeutet: nur deutsche Autoren. Ich vermisse meine Freunde:

    Corneille, Shakespeare, Caldern. Aber Sie sind nicht gekommen, um ber das Theater zu

    sprechen. Machen Sie sich keine Sorgen, Sie werden nicht gehen ohne Ihren Rundgang ge-

    macht zu haben. Sie knnen nicht gehen, ohne die Bahnhofsuhr gesehen zu haben. Wir wer-

  • 24

    den durch den Wald gehen, am Fluss entlang. Das Gefhl dort ist herrlich. Schlieen Sie die

    Augen und lauschen Sie der Stille. Schlieen Sie die Augen: so wird die Stille des Friedens

    sein. Schlieen Sie die Augen. Spinoza sagt, dass der Hass durch eine Liebe besiegt werde,

    die so intensiv sei, wie der ihr vorangegangene Hass. Die Welt geht der Einheit entgegen.

    Dieser Krieg ist ein groer Schritt in diese Richtung. Eine Beschleunigung in einer unver-

    meidlichen Bewegung hin zu Harmonie. Eine einzige Sprache, eine einzige Whrung, ein

    einziger Weg. Sogar wenn wir den Krieg verlieren wrden, was geschehen muss, wird ge-

    schehen. Wer den Krieg gewinnt ist irrelevant. Dieser Krieg war das erste gemeinsame Werk

    der gesamten Menschheit. Der Frieden, der ihn beenden wird, wird das zweite sein. Von die-

    sem Krieg werden alle profitieren. Jeder von uns an der Stelle, die ihm vom Schicksal zuge-

    wiesen wurde. Wir alle werden diesen Krieg gewinnen. Eines Tages werden wir nicht mehr

    zwischen Siegern und Besiegten unterscheiden. In der Zwischenzeit wird es Schmerz geben,

    aber all dieser Schmerz ist ntig. Spinoza sagt: Der Hass, der durch Liebe gnzlich besiegt

    wird, geht in Liebe ber, und die Liebe ist dann strker, als wenn ihr der Hass nicht vorausge-

    gangen wre. Ethik, Lehrsatz 44. Nein, bemhen Sie sich nicht es in meiner Bibliothek zu

    suchen, ich habe nur hundert Bcher mitgebracht, die besten. Was Spinoza sagen will ist, dass

    alles Leiden einen Sinn hat. Das sind die Geburtswehen. Eine neue Welt ist im Begriff zu

    entstehen. Niemand soll versuchen uns auch nur ein klein wenig des Schmerzes zu ersparen.

    Es ist besser tausend Jahre zu leiden als fr einen Augenblick zur alten Welt zurckzukehren.

    Von einer in die andere Welt berzugehen wird von allen unglaublich viel Mut erfordern.

    Mut, um das Notwendige zu tun. Notwendigerweise werden viele Menschen auf dem Weg

    zurckbleiben, sie bilden einen Teil des Weges. Sie sind der Weg. Aber genug von Politik, es

    ist ein wundervoller Tag, verschwenden wir ihn nicht. Sie sind nicht gekommen, um ber

    Politik zu sprechen, Sie sind gekommen, um einen Rundgang zu machen. Es freut mich, dass

    Sie hergefunden haben. Als ich auf Sie wartete, fragte ich mich, ob Sie den Weg alleine fin-

    den knnten. Ob ich losgehen msste, um Sie zu suchen. Woher wussten Sie, welche Strae

  • 25

    Sie nehmen mussten? Sind Sie dem Schatten des Rauchs gefolgt? Wussten Sie, dass der

    Rauch Schatten wirft? Das wei nicht jeder. Oder ist es so, dass Sie schon einmal hier waren?

    Natrlich, deswegen kannten Sie den Weg, weil Sie schon hier waren. Wie kann es sein, dass

    ich Sie bis jetzt nicht wieder erkannt habe? Ich wusste, dass Sie letztendlich zurckkommen

    wrden, es war nur eine Frage der Zeit. Sie werden bemerken, dass sich alles ein bisschen

    verndert hat. Wie es vorgesehen war. Die Baracken waren aus schlechtem Holz, damit sie

    verfaulen und verschwinden wrden. Wir haben Bume gepflanzt. Heut ist es schwer sich

    eine Vorstellung davon zu machen, was das hier war. Dort gab es Schaukeln, dort war der

    Fuballplatz, dort die Synagoge. Es gab ein Theater. Und es gab natrlich den Himmelweg,

    erinnern Sie sich daran? Ich wei nicht, ob jene oder wir die ersten waren, die ihn so nannten.

    Knnten Sie das auf Deutsch sagen?Chim-mel-beck. Sagen Sie das in Ihrer Sprache: Ca-

    mino del cielo. All das ist verschwunden, aber sie sind immer noch hier. Alle, es fehlt nicht

    einer. Die Schaukeln, die Synagoge, alles wurde vom Wald geschluckt, aber sie sind noch

    immer hier. Sie und die Bahnhofsuhr, die immer auf Punkt sechs steht. Gbe es sie und diese

    alte Uhr nicht, wrde nichts diesen Wald von irgendeinem anderen unterscheiden. Ich fragte

    mich, ob Sie sich nicht im Waldstck geirrt htten, ob ich Sie suchen msste, ob der Schatten

    des Rauchs gengen wrde. Ja, dies ist der Wald. Jetzt, wo Sie endlich angekommen sind,

    haben Sie auch nur den geringsten Zweifel, dass dies der Ort sein knnte? Sie knnen sicher

    sein: es ist hier. Seien Sie einmal mehr willkommen. Und erlauben Sie mir einmal mehr, Ih-

    nen Bedachtsamkeit anzuraten. Vertrauen Sie nicht auf das, was Sie sehen. Generation fr

    Generation wurden diese Leute zur Verstellung erzogen. Vor Jahrhunderten entdeckten diese

    Leute, dass es nichts Rentableres gibt, als als Opfer zu gelten. Aber Sie werden sich nicht tu-

    schen lassen. Sie haben ein gutes Gedchtnis. Erinnern Sie sich: wer war Schuld an diesem

    Krieg? Lassen Sie sich nicht tuschen. Bevor Sie uns verurteilen, bedenken Sie, dass wir eine

    Lsung fr ein Problem bieten, das ber Jahrhunderte hinweg ganz Europa geplagt hat. Wir

    waren die ersten, die erkannt haben, dass es sich im Wesentlichen um ein Transportproblem

  • 26

    handelte. Unser grter Verdienst besteht darin, dieses technische Problem gelst zu haben.

    Andere haben es geplant. Wir haben es durchgefhrt. Hren Sie sie? Hren Sie die Zge?

    Alle Zge aus Europa haben hier ihre Endstation. Wenn Sie sie sehen wollen, mssen Sie im

    Wald bernachten: Die Zge kommen immer um 6 Uhr morgens an. Immer um 6, und um 6

    Uhr 15 haben sie bereits den Bahnhof verlassen. Es ist unerlsslich, dass alles so schnell wie

    mglich erledigt wird. Wir haben auch die Probleme der Hygiene und der Beseitigung der

    Reste gelst. Ohne ins Detail gehen zu wollen, kann ich Ihnen versichern, dass wir es ge-

    schafft haben ber alle funktionalen Elemente zu verfgen, die das Problem auf europischer

    Ebene betreffen, und zwar mittels der Koordinierung aller zustndigen Instanzen. Verzeihen

    Sie, dass ich so mit Ihnen rede, auch mich erstickt die Beamtensprache, das ist nicht meine

    Sprache, schauen Sie meine Bibliothek an. Das ist nicht meine Sprache, aber es ist die Spra-

    che, die dem Anlass angemessen ist, eine Sprache der Ziele und Entscheidungen. Das unmit-

    telbare Ziel ist es, alle Hebrer Europas hierher umzugruppieren. Aber unser Endziel ist viel

    hher. Unser Endziel ist es zu beweisen, dass alles mglich ist. Alles ist mglich. Alles was

    wir uns ertrumen knnen, wird geschehen. Hier, in dieser Welt. Sogar das, was wir uns nicht

    vorzustellen gewagt htten. Das ist es, meine Damen und Herren, was Sie im Wald erwartet:

    das was man sehen kann, aber sich nicht vorstellen kann. Deshalb, egal was Sie hier sehen

    werden, erzhlen Sie es nicht. Man wrde Ihnen nicht glauben und wenn Sie darauf bestehen

    wrden, wrde man Sie fr verrckt halten. Erlauben Sie mir einen Ratschlag: Sobald Sie hier

    rausgehen, fangen Sie an zu vergessen. Und so knnen Sie, wenn Sie daheim ankommen,

    Papier und Bleistift zur Hand nehmen und einen schnen Bericht schreiben. Heute wie da-

    mals. Denn das ist es, was Sie veranlasst hat hierher zu fahren, heute wie damals. Sie wollen

    berprfen, ob ihre Alptrume Lgen sind. Auch ich habe diese Alptrume gehabt, wer kann

    heutzutage noch schlafen? Wer kann heute noch schlafen, wenn nachts so viele Zge fahren?

    Zge die nachts fahren, das ist fr mich Europa. In diesen Zgen reisen unsere Alptrume. Sie

    sind wahr geworden. Unsere Alptrume sind schon wahr geworden. Die Trume gehen den

  • 27

    Ereignissen voraus; die Alptrume folgen. Alles was wir frchten, haben wir schon in unse-

    rem Inneren erlebt. Die Alptrume, die uns umgeben, stammen aus unserer Seele, sie sind in

    unserem Inneren herangewachsen, in unseren Kpfen und Herzen. Aber genug von Politik.

    Sie sind nicht gekommen um ber Politik zu sprechen. Wie werden sofort mit dem Rundgang

    beginnen. Noch nicht, noch sind wir nicht bereit. Ich bin es schon, ich bin es immer, aber die

    anderen brauchen ein bisschen mehr Zeit. Sie bereiten alles vor, damit Sie einen angenehmen

    Aufenthalt bei uns haben. Es ist nicht das Paradies, aber Sie erwarten etwas Schlimmeres. Sie

    sind gut gekleidet. Neue Kleidung. Neue Schuhe. Ohne Schnrsenkel. In der Schule lernen sie

    Mathematik und Literatur. Und Geschichte! Jemand sagte mir: Wir knnten die Baracken

    bunt anstreichen Ich antwortete: Nein. Es wrde wie eine Lge wirken. Es wird gengen,

    einen Garten vor jeder Baracke anzulegen. Sie knnen die Blumen anfassen, wenn Sie wol-

    len. Sie sind echt. Fotografieren Sie die Blumen, wenn Sie mchten. Machen Sie Fotos. Wir

    wollen, dass Sie Fotos machen. Und vor allem, ffnen Sie die Augen und erzhlen Sie der

    Welt was Sie gesehen haben. Die Welt muss es erfahren. Sie sind die Augen der Welt. Einer

    von ihnen wird Ihnen als Fhrer dienen. Er wird Ihnen alle Fragen beantworten, die Sie ihm

    stellen wollen. Sie wollen seine Version der Ereignisse hren. Seine Wahrheit. Er wird Ihnen

    seine Wahrheit sagen, wenn Sie ihn danach fragen. Es ist viel Zeit vergangen, er hat nichts

    mehr zu befrchten, er kann mit Ihnen in aller Offenheit sprechen, ohne Verstellung. Ich

    werde mich darauf beschrnken Sie zu begleiten und wenn Sie es mir gestatten, werde ich

    Ihnen beibringen, wie man in Deutschland den Kreisel schlgt. So. So schlgt man ihn.

    Himmelweg. Sagen Sie es in Ihrer Sprache. Camino del cielo. Wir werden dafr sorgen,

    dass Sie sich wohl fhlen, Sie sind unsere Gste. Meine Damen und Herren, hereinspaziert,

    schauen Sie. Ich bin mir sicher, dass es Ihnen gefallen wird. Mitten in der Natur und nur 30

    Kilometer von Berlin. Im Herzen Europas. Und wenn es Ihnen gefllt, kommen Sie zurck

    wann immer Sie wollen. Ich bin hier und erwarte Sie. Die anderen auch. Ein wenig Geduld,

    sie sind schon fast soweit. In der Zwischenzeit, werfen Sie einen Blick auf meine Bibliothek.

  • 28

  • 29

    IV Das Herz Europas

    1

    DER KOMMANDANT ist in seinem Bro und liest in einer Akte. GOTTFRIED kommt herein.

    KOMMANDANT: Nehmen Sie Platz!

    Gottfried setzt sich.

    Ihr Name ist... (liest in der Akte) Gerhard Gottfried.

    GOTTFRIED: Gershom Gottfried.

    KOMMANDANT. Ihr Name ist nicht Gerhard?

    GOTTFRIED: Gershom.

    KOMMANDANT: Dann hat man mich falsch informiert. Kaffee?

    Gottfried schttelt den Kopf.

    Haben Sie sich ausgeruht?

    Gottfried nickt.

    Sie werden sich fragen, warum ich Sie habe rufen lassen.

    Schweigen.

    Wir haben Sie als Vermittler ausgewhlt. Sie und ich werden zusammenarbeiten. Sie werden

    sozusagen mein bersetzer sein. Ich meine nicht die Sprache, ich rede nicht von Sprachen.

  • 30

    Ich rede von Psychologie. Ich sage Ihnen, was wir wollen und Sie geben unsere Wnsche an

    Ihre Leute weiter. Sie werden die richtigen Worte dafr finden. Sie kennen die Denkweise

    Ihres Volkes besser als wir.

    Schweigen.

    Ihre Zusammenarbeit wird belohnt werden. Wenn Sie diese Verantwortung nicht bernehmen

    wollen, werden wir selbstverstndlich jemand anderen suchen auch wenn eine Absage uns

    sehr enttuschen wrde. Wir haben an Sie gedacht, weil wir beobachtet haben, dass Ihre Leute

    Sie respektieren. Kaffee?

    Gottfried schttelt den Kopf.

    Frs Erste wollen wir, dass Ihre Leute sich ausruhen, essen und ausruhen. Sie haben eine an-

    strengende Reise hinter sich. Wir bedauern, was passiert ist und schmen uns dafr. Wir wis-

    sen, dass Sie wie Tiere behandelt wurden. Wir knnen leider nicht jeden einzelnen kontrollie-

    ren, der diese Uniform trgt. Ehrenwerte Familienvter werden zu Bestien, sobald sie unsere

    Uniform tragen. Ich garantiere Ihnen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen

    werden. Aber ich will nicht von der Vergangenheit sprechen. Gottfried, wir haben sehr gute

    Nachrichten fr sie erhalten. Berlin hat sie ausgewhlt. Auch wir knnen mit Stolz sagen:

    Berlin hat uns ausgewhlt. Wir haben nun ein gemeinsames Projekt. Berlin will gewisse Vor-

    urteile ausrumen - Vorurteile bezglich der Beziehungen zwischen unseren Vlkern. Gers-

    hom haben Sie gesagt, richtig? Ist Gershom die jdische Form von Gerhard?

    GOTTFRIED: Nein, es ist nicht das gleiche.

    KOMMANDANT: Dann ist es also nicht das gleiche. Wir wissen so vieles nicht von Ihnen. Ihr

    Volk ist fr uns ein Rtsel. Nicht nur fr Deutschland, fr ganz Europa. Aber auch wir, die

  • 31

    Deutschen, sind in der heutigen Zeit ein Rtsel. Es kursieren seltsame Geschichten ber uns.

    Die Welt hrt diese Geschichten und fragt sich: Ist so etwas mglich? Ist so etwas mglich in

    einen Volk von Dichtern und Denkern, im Herzen Europas? Deshalb sind wir jetzt hier, und

    wollen dieses Projekt in Angriff nehmen.

    Er breitet einen Plan vor Gottfried aus und zeigt auf verschieden Punkte.

    Finden Sie sich zurecht? Das hier ist der Bahnhof, und das hier der Fluss. Wir befinden uns

    hier. An dieser Stelle bauen wir eine Schule. Hier wird es einen Fuballplatz geben. Und le-

    sen Sie hier, Gottfried: die Synagoge.

    Schweigen.

    Wie Sie sehen, werden wir dieses Gelnde grundlegend verndern. Aber es ist sehr viel wich-

    tiger, und sehr viel schwieriger, dass wir uns selbst auch verndern. Alle, Sie und wir. Wir

    mssen lernen anders miteinander umzugehen und uns mit anderen Augen zu sehen. Haben

    Sie Pascal gelesen?

    Gottfried schttelt den Kopf. Der Kommandant sucht ein Buch in seiner Bibliothek , ffnet es,

    sucht einen Abschnitt und liest..

    Gedanke 252: Wir sind ebenso sehr Automat wie Veratand" Und spter: Folglich muss man

    beide Teile berzeugen: den Verstand durch Grnde, und den Automaten durch Gewohnheit.

    Verstehen Sie das, Gottfried? Was Pascal sagen will ist, wenn man betet, beginnt man zu

    glauben. Ich sage es mit anderen Worten: Lache und du wirst glcklich sein. Die Schauspieler

    kennen diese Weisheit. Haben Sie irgendwelche Theatererfahrungen?

  • 32

    Gottfried schttelt den Kopf. Der Kommandant will ihm einen Kaffee anbieten, hlt aber inne.

    Wenigstens als Zuschauer...

    GOTTFRIED: Ich war ein paar Mal im Theater. Nicht oft. Ich kam immer so spt von der

    Arbeit....

    KOMMANDANT: Das ist schade. Das htte es mir erspart, Ihnen bestimmte Dinge erklren zu

    mssen. Aber sobald wir mit der Arbeit beginnen, werden sie mich besser verstehen. Fr

    heute will ich Sie nicht lnger aufhalten. Versuchen Sie sich auszuruhen. Es ist wichtig, dass

    Sie morgen einen freien Kopf haben. Morgen werden wir gemeinsam planen, was gemacht

    werden soll. Wir werden sozusagen ein Drehbuch schreiben.

    2

    KOMMANDANT: Handlung Das ist das Wichtigste, die Handlung. Wie soll ich Ihnen das

    erklren?

    Er sucht ein Buch in der Bibliothek und liest darin ein paar Seiten.

    Die Poetik von Aristoteles, siebtes Kapitel.

    Er ffnet das Buch und legt es vor Gottfried hin, der es leise liest. Pause. Der Kommandant

    wartet auf einen Kommentar von Gottfried. Aber diesem gelingt ihm nicht, etwas zu sagen.

    Was Aristoteles sagt ist, dass ein Kunstwerk umso schner ist je komplexer es ist, solange

    diese Komplexitt unter Kontrolle ist. (Er zeigt ein Stck Seil und macht einen Knoten.) Ein

    Knoten ist interessanter als ein einfaches Seil, aber wenn der Knoten zu komplex ist... (Er

    macht den Knoten immer komplizierter.) Wenn der Knoten zu komplex ist, nimmt das Auge

    nur noch Chaos wahr und verliert das Interesse an ihm. Eine Melodie... (Er summt verschie-

    dene Melodien, jedes Mal komplexer.) Eine Melodie ist interessanter als ein monotones Ge-

  • 33

    rusch, aber wenn die Melodie zu komplex ist, nimmt das Gehr sie als Lrm wahr und ver-

    schliet sich ihr. Knnen Sie mir folgen?

    GOTTFRIED: Heute Nacht kam es mir so vor, als htte ich einen Zug gehrt.

    KOMMANDANT: Einen Zug? Ich wei nichts von der Ankunft eines Zuges. Haben Sie vielleicht

    getrumt?

    GOTTFRIED: Einige andere haben ihn von der Baracke aus auch gehrt. Ich wei nicht um

    wie viel Uhr es war, aber ich glaube, dass es schon dmmerte. Wir konnten die Fenster nicht

    ffnen um hinauszusehen. Die Fenster und Tren der Baracke sind von auen verriegelt. Wir

    dachten, ein Zug sei eingetroffen, und dass neue Leute ins Lager gekommen wren. Aber so

    war es nicht. Niemand ist gekommen.

    KOMMANDANT: Wenn ein Zug angekommen wre, msste ich das wissen. Ich werde mich

    erkundigen. Wo waren wir? Die Handlung. Ein und dieselbe Geschichte kann auf unendlich

    verschiedene Weisen erzhlt werden: vorwrts oder rckwrts, aus dem einen Blickwinkel

    oder aus dem anderen....

    GOTTFRIED: Die Leute fragen nach den Schuhen.

    KOMMANDANT: Wir haben Ihnen neue Kleidung gegeben. Gefllt sie Ihnen nicht?

    GOTTFRIED: Die Leute fragen nach den Schnrsenkeln. Warum haben die Schuhe keine

    Schnrsenkel?

    KOMMANDANT: Die Schuhe haben keine Schnrsenkel. Wollen Sie wirklich, dass wir darber

    sprechen? Oder ist das eine Kostprobe von dem, was man jdischen Humor nennt? Wir ar-

    beiten, Gottfried. Brauchen Sie eine Pause? Nein? Dann konzentrieren Sie sich auf das, was

    wir gerade machen. Im Prinzip gehen wir zunchst von einer klassischen Handlung aus. Erster

    Akt: die Stadt; zweiter Akt: der Wald; dritter Akt: der Bahnhof.

    3

  • 34

    In dem Plan stecken bunte Stecknadeln. Der Kommandant hat vor sich einen Stapel Akten liegen

    und Gottfried hat einen weiteren. Der Kommandant liest auf der ersten Seite eines Heftes, das wir

    Libretto nennen werden.

    KOMMANDANT: Luftballonverkufer.

    Gottfried gibt dem Kommandanten eine Akte, dieser betrachtet sie und steckt eine Stecknadel in

    den Plan.

    KOMMANDANT: Kinder mit Kreisel.

    Gottfried gibt ihm zwei Akten. Der Kommandant betrachtet sie und steckt zwei Nadeln in den

    Plan.

    KOMMANDANT: Kind mit Puppe.

    Gottfried gibt ihm eine Akte. Der Kommandant betrachtet sie. Schweigen.

    KOMMANDANT: Warum ein Mdchen? Ich hatte an einen Jungen gedacht.

    GOTTFRIED: Wegen ihrer Stimme. Ihre Stimme wird Ihnen gefallen.

    Pause. Der Kommandant steckt eine Nadel in den Plan.

    KOMMANDANT: Prchen auf der Bank

    Gottfried gibt ihm zwei Akten. Der Kommandant betrachtet sie. Schweigen. Er gibt Gottfried eine

    der Akten zurck.

    KOMMANDANT: Zu hbsch.

    Pause. Gottfried gibt dem Kommandanten eine andere Akte. Dieser betrachtet sie und steckt zwei

    Nadeln in den Plan.

    KOMMANDANT: Gut, Gottfried, Sie haben gute Arbeit geleistet. Obwohl mir die Szene auf dem

    Platz Sorgen macht. Ich berlege, ob wir die Anzahl der Leute nicht reduzieren sollten.

    GOTTFRIED: Weniger Leute? Und wenn es ein schner Tag wird? Wenn die Sonne scheint,

    sollte die ganze Stadt dort sein.

    KOMMANDANT: Ja, aber mit so vielen Leuten wird das nicht einfach werden. In dieser Szene

    muss der, wie soll ich sagen, Geist der Gemeinschaft zu spren sein. Wir mssen alles koor-

  • 35

    dinieren, die Haltung, die Gesten, die Blicke... Auf der anderen Seite werden auch einige

    meiner Mnner dort sein. Werden wir es schaffen, das gegenseitige Misstrauen zu berwin-

    den? Es wird mhsam, fr Ihre Leute wie fr meine; das ist auch fr uns neu. Auch fr mich.

    Letzten Endes bin ich beim Militr. Ein Soldat. Hren Sie mir zu, Gottfried? Wonach schauen

    Sie denn?

    GOTTFRIED: Der Rauch.

    4

    Der Kommandant versucht den Kreisel zu schlagen, aber wei nicht wie. Er versucht es zwei,

    drei Mal. Vergeblich. Gottfried beobachtet ihn mit dem Libretto in der Hand.

    KOMMANDANT: (Zu Gottfried) Er bemerkt nicht, dass der andere hinter ihm ist, bis er dessen

    Stimme hrt. Du musst die Schnur fester wickeln. Dann hlt er den Kreisel fest. (Er macht

    es) Alle Sinne sind darauf konzentriert, den Kreisel zu verteidigen.

    Er gibt Gottfried den Kreisel. Dieser tut so als wsste er nicht damit umzugehen. Zwei, drei Mal.

    Hinter ihm steht der Kommandant.

    KOMMANDANT: Du musst die Schnur fester wickeln.

    Gottfried hlt den Kreisel fest.

    KOMMANDANT: Je fester, desto besser. Danach musst du mit einem Ruck an der Schnur ziehen.

    Keine Antwort.

    KOMMANDANT: Das schwierigste ist, ihn richtig anzureien. Ich zeige es dir. Lass mich mal.

    GOTTFRIED: Kmmere dich um deinen eigenen Kram.

    KOMMANDANT: Er ist sehr schn. Schwarz mit roter Spitze. Lsst du ihn mich mal sehen?

    GOTTFRIED: Finger weg.

  • 36

    5

    KOMMANDANT: Es reicht! Sie sollen mir aus den Augen gehen. Sagen Sie Ihnen, Sie sollen in

    die Baracke zurckkehren. Sie auch.

    Schweigen.

    Haben Sie nicht gehrt? Sie auch, Gottfried.

    GOTTFRIED: Wir knnen es besser.

    KOMMANDANT: Ich werde ein Telegramm nach Berlin schicken. Auftrag nicht durchfhrbar.

    Stop. Erwarten neue Anweisungen.

    GOTTFRIED: Wir knnen es schaffen. Wir brauchen nur Zeit.

    KOMMANDANT: Ich bin enttuscht, Gottfried. Sehr enttuscht. Ihre Leute verinnerlichen nicht

    das, was man ihnen sagt. Eins von beiden: entweder ich drcke mich nicht deutlich genug aus

    oder der Vermittler macht seine Arbeit nicht gut. Drcke ich mich nicht deutlich genug aus?

    Wie viel Zeit haben wir schon verschwendet, weil wir nicht weiter gekommen sind? Das Es-

    sen war furchtbar. Diese Frauen halten ihre Lffel, als wren es tote Ratten. Und was sagen

    Sie zu der Szene mit dem Kreisel? Mit wie vielen verschiedenen Jungen habe ich es versucht?

    Und Ihr Monolog? Der Uhrenmonolog, Gottfried, der Uhrenmonolog!

    Schweigen.

    Die Rothaarige wei immer noch nicht was sie macht. Was ist sie, ein Mdchen, das wtend

    auf ihren Freund ist, eine einsame Frau auf der Suche nach einem Gesprch oder eine Hure,

    die mit ihrem Zuhlter diskutiert? Was ist ihr Ziel in dieser Szene?

    GOTTFRIED: Ich dachte, sie wrde es gut machen. Sie wird es gut machen. Sie hat zwei

    Jahre an einem Theater in Warschau gearbeitet.

    KOMMANDANT: Eine professionelle Schauspielerin? Warum haben Sie mir das nicht gesagt?

    Sie htten es mir sagen mssen, Gottfried.

    Schweigen.

  • 37

    Der Fette ist grauenhaft. Er spricht undeutlich. Den anderen versteht man besser, aber er ist

    nicht berzeugend.

    GOTTFRIED: Kinder reden nicht so.

    KOMMANDANT: Kinder reden nicht so. Was wollen Sie damit sagen?

    GOTTFRIED: Es sind bestimmte Ausdrcke, wie... Du gingst, als httest du etwas zu

    verbergen. Ein Junge spricht nicht so. Die Leute sprechen nicht so. Die Leute sagen nicht:

    Ich bemhe mich an uns zu denken. An dich, an mich, an alles wovon wir getrumt haben.

    Im richtigen Leben reden man nicht so.

    Schweigen.

    KOMMANDANT: Sie nehmen die anderen immer in Schutz. Sie haben fr jeden Einzelnen eine

    Entschuldigung. Aber Sie sind nicht ihr Anwalt, Gottfried. Sie sind mein Vermittler.

    Schweigen.

    Natrlich redet man im richtigen Leben nicht so.

    Pause.

    Das ist Ihr Problem, Gottfried, da liegt der Ursprung ihrer Verwirrung. Deshalb bekommen

    Sie Ihren Monolog nicht hin. Sie suchen das Leben in den Wrtern, aber das Leben ist nicht in

    den Wrtern, sondern in den Gesten, mit denen wir sie sagen. Schauen wir uns diesen Mono-

    log an, Gottfried. Sie mssen eine Verbindung zwischen Wort und Geste suchen. Beobachten

    Sie mich.

    Er beginnt zu schauspielern. Er unterbricht.

    Ach, das hatte ich vergessen: der Luftballonverkufer. Er taugt nichts. Er geht nach links

    wenn er nach rechts gehen soll. Dieser Mann kann nicht zwischen rechts und links unter-

    scheiden.

    GOTTFRIED: Dieser Mann schlft nicht. Er steht nachts alle paar Minuten auf um sich zu

    vergewissern, dass die Baracke noch verschlossen ist. Er steht auf, prft, ob sie verschlossen

    ist und legt sich wieder hin. Aber er steht dann gleich wieder auf. Er schlft nicht.

  • 38

    KOMMANDANT: Er steht auf um zu prfen, ob die Baracke verschlossen ist? Ist das nicht ko-

    misch? (Er lacht) Ihr Volk hat wirklich Sinn fr Humor. (Er lacht) Suchen Sie einen anderen

    Luftballonverkufer, Gottfried. Einen, der wenigstens rechts von links unterscheiden kann.

    GOTTFRIED: Tadeusz wird es schaffen. Er ist ein intelligenter Mann. Er hat Geschichte an

    der Universitt unterrichtet.

    KOMMANDANT: Der Luftballonverkufer hat Geschichte gelehrt? Welche Geschichte kann er

    schon gelehrt haben, wenn er noch nicht mal rechts von links unterscheiden kann? Auf der

    Krankenstation wird man ihm etwas geben, damit er einschlafen kann. Gut, machen wir mit

    dem Monolog weiter. Es ist Ihr groer Moment, Gottfried, den knnen Sie sich doch nicht so

    ungenutzt entgehen lassen. Man sieht, dass Sie nicht wissen wohin mit Ihren Hnden. Wenn

    Sie einen Gegenstand brauchen, nehmen Sie sich einen. Ein Buch, einen Stock...Einen Spa-

    zierstock! Ein Spazierstock, das ist es: Sie brauchen einen Spazierstock. So vertuschen wir

    andere Details. Wenn du einarmig bist und blaue Augen hast, schaut die niemand in deine

    Augen.

    Er tut so als htte er einen Spazierstock. Er zeigt Gottfried wie man humpelt.

    Aber das Wichtigste ist, dass Sie eine Verbindung zwischen Wort und Geste finden. Sagen

    Sie mir nicht, dass man im richtigen Leben nicht so spricht. Das wei ich auch, Gottfried, das

    wei ich schon. Aber ich wei auch, dass Sie in ihrem Leben Gesten fr diese Worte finden

    knnen. Ich habe ihre Akte gelesen. Sie haben eine Frau, eine Tochter, ein Leben. Sie haben

    ein frheres Leben, Gottfried, benutzen Sie es. Suchen Sie in ihrem Leben. Passen Sie auf:

    Sie wurde im Jahre 1502 von dem Meister Peter Henlein aus Nrnberg, dem berhmten Fab-

    rikanten fr mechanische Spielzeug, gebaut. Sie sind nicht in einer mndlichen Prfung in

    der Schule, sie sprechen ber die Uhr ihrer Stadt. Sie sind stolz auf diese Uhr, sehr stolz.

    Konzentrieren Sie sich auf meinen Blick. Sie wurde im Jahre 1502 von dem Meister Peter

    Henlein aus Nrnberg hergestellt... Erinnern Sie sich wie Antonius Caesars zerrissenen Um-

    hang beschreibt? Julius Caesar, dritter Akt, zweite Szene. Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen

  • 39

    es lesen. Haben Sie es gelesen? If you have tears, prepare to shed them now. / You all do

    know this mantle: I remember / the first time ever Caesar put it on

    GOTTFRIED: Ich hre immer noch Zge. Wir alle hren sie. Wir schlafen nicht, weil wir auf

    das Gerusch des Zuges warten. Wir verbringen die Nacht mit offenen Augen und warten auf

    den Zug.

    KOMMANDANT: Sie sind alle mde. Das ist es was Sie mir sagen wollen? Dass sie es schlecht

    machen, weil Sie mde sind?

    GOTTFRIED: Heute wollten viele die Baracke nicht verlassen.

    KOMMANDANT: Was soll das heien, sie wollten die Baracke nicht verlassen?

    GOTTFRIED: Sie verstehen nichts. Sie wissen nicht, was wir hier machen.

    KOMMANDANT: Was sie hier machen? Wie oft muss ich ihnen das noch erklren, Gottfried? Das

    hier ist ein Modellversuch. Man hat ihnen einen besonderen Status eingerumt: Berlin hat sie

    ausgewhlt.

    GOTTFRIED: Sie sehen in dem Ganzen keinen Sinn.

    KOMMANDANT: Sie sehen den Sinn nicht. Sie brauchen also einen Sinn. Es wird doch wohl

    nicht Ihre Schuld sein, Gottfried, dass sie den Sinn nicht sehen? Sie sind der Vermittler. Sie

    werden schon wissen, was Sie ihnen sagen und wie Sie es ihnen sagen.

    GOTTFRIED: Ich wei nicht mehr was ich ihnen sagen soll.

    KOMMANDANT: Ich kann ihnen da nicht helfen. Ihre Leute sind ein Rtsel fr mich. Sie kennen

    die Psychologie ihres Volkes. Darum sind Sie hier. Die Leute hren Ihnen zu, vertrauen auf

    das, was Sie ihnen sagen, deshalb haben wir uns fr Sie entschieden. Hren Sie mir zu, Gott-

    fried, und versuchen Sie, mich zu verstehen. Vor einigen Wochen, whrend Sie und ihre

    Leute hierher reisten, habe ich ein Telegramm erhalten. Eine Nachricht aus Berlin. Gerade

    noch rechtzeitig, Minuten bevor Ihr Zug am Bahnhof eintraf. Glauben Sie mir wenn ich sage,

    wre diese Nachricht nicht rechzeitig eingetroffen, wrden Sie und ich in diesem Moment

    nicht hier miteinander sprechen. Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will?

  • 40

    Schweigen.

    GOTTFRIED: Aber die Leute mssen wissen, was sie erwartet.

    KOMMANDANT: Was sie erwartet? Sie mchten wissen, was auf sie zukommt? Wir alle wollen

    wissen, was auf uns zukommt. Aber das Leben ist Ungewissheit. Wer kann heutzutage noch

    ruhig schlafen? Sie lsst der Zug nicht schlafen. Wenigstens haben sie eine Gewissheit: Sie

    sind nicht in diesem Zug.

    GOTTFRIED: Die Leute fragen sich, was passieren wird, wenn sie ihre Sache gut machen.

    KOMMANDANT: Konzentrieren Sie sich auf diesen Gedanken, Gottfried: Ich bin nicht in

    diesem Zug. Solange ich hier bin, bin ich nicht in diesem Zug. Konzentrieren Sie sich darauf.

    Gehen Sie in die Baracke zurck und sagen Sie ihren Leuten, was sie hren wollen. Sie sind

    der Vermittler. Sie mssen die Worte whlen. Ich kann Ihnen dabei nicht helfen. Was wei

    ich schon vom Herzen Ihres Volkes? Sie brauchen einen Sinn? Geben Sie ihnen einen Sinn.

    Gehen Sie und sprechen Sie mit ihnen. Aber, erinnern Sie sich bei der Auswahl Ihrer Worte

    daran: Solange wir hier sind, sind wir nicht in diesem Zug.

    6.

    KOMMANDANT: Da stimmt etwas nicht. Ich wei nicht was es ist, aber es passt nicht.

    GOTTFRIED: Es ist, als ob...

    KOMMANDANT: Komm schon Gershom, erzhl weiter.

    GOTTFRIED: Es ist, als ob die Szene anhalten und das Mdchen pltzlich ihr Verhalten n-

    dern wrde, aber man wei nicht, warum sie es tut.

    Schweigen

    KOMMANDANT: Du hast recht. Sehr gut Gershom, sehr gut. Wir werden einige nde-

    rungen vornehmen.

  • 41

    Er ffnet das Libretto, berlegt kurz, streicht etwas weg und schreibt stillschweigend. Er

    reicht Gottfried das Libretto. Schweigsam liest er es durch. Pause.

    GOTTFRIED: Was ist der Unterschied zwischen Pause und Schweigen?

    KOMMANDANT: Das ist eine Frage des Rhythmus. Wenn es Schweigen heit, zhl in

    Gedanken bis drei, ist Pause gemeint, zhl bis fnf.

    Pause. Gottfried zhlt in Gedanken erst bis drei, dann bis fnf. Der Kommandant bringt

    zwei Tassen Kaffee. Sie trinken.

    Eine ganz andere Sache: ich mchte, dass das Mdchen singt. Das knnte z.B. das groe

    Finale des Waldspaziergangs sein, vor dem Betreten des Bahnhofsgelndes. Denkst du,

    dass du sie dazu bringen knntest zu singen?

    GOTTFRIED: Ich denke ja.

    KOMMANDANT: Und falls nicht, nun ja, ihr habt ja viele Kinder. (Schweigen) Ich wei,

    dass du dir Sorgen um sie machst, Gershom. Ich mache mir auch Sorgen um sie. Die

    Kinder. Man hat mich davon in Kenntnis gesetzt, dass du sie nachmittags in der Schule

    versammelst.

    GOTTFRIED: In der Zeit, die uns nach dem Verrichten der Arbeit bleibt.

    KOMMANDANT: Ja, ja ich wei, was ihr in eurer Freizeit macht. Das ist nicht das, was

    mir Sorgen bereitet. Ihr versammelt die Kinder in der Schule. Sie setzen sich in die Bnke

    und notieren, was ihr an die Tafel schreibt.

    GOTTFRIED: Wir unterrichten sie.

    KOMMANDANT: In was unterrichtet ihr sie?

    GOTTFRIED: Mathematik, Sprachen, Geschichte... Es gibt Lehrer unter uns.

    KOMMANDANT: Mathematik, Sprachen, Geschichte!

    (Schweigen)

    Das ist sehr ungewhnlich. Dafr hat Berlin euch nicht ausgesucht.

  • 42

    (Schweigen)

    Ihr knnt sie weiterhin in der Schule versammeln um sie zu unterrichten. Es verstt zwar

    gegen die Vorschriften, aber ihr knnt es machen, solange ihr nicht vergesst, was ihr hier

    zu tun habt. Geschichte, oder was ihr mchtet. Sieh es als Geste des Vertrauens, Gershom.

    Aus Dankbarkeit, warum nicht? Alles luft viel besser in letzter Zeit, und ich sehe deine

    Hand dahinter. Ich wei, dass du endlich die richtigen Worte gefunden hast, um mit ihnen

    zu reden.

    (Schweigen)

    Wir sind also bereit, die wichtigste Phase unseres Projektes anzugehen. Ab morgen wer-

    den einige meiner Mnner als Zivilisten durch das Lager laufen. Sie werden sich verhal-

    ten, als ob sie bei uns zu Besuch wren. Deine Leute mssen sich and diese Besucher ge-

    whnen, die jede Tr ffnen und jede Frage stellen knnen. Jede Frage Gershom, und jede

    Tr.

    7

    KOMMANDANT: Gut, gut, gut. Viel besser Gershom, viel besser. Das Mdchen auf der

    Bank hat Ihren Ton gefunden. Und ich glaube, dass wir endlich auch die richtigen Kinder

    fr den Kreisel gefunden haben. Endlich haben wir ein Duo, das passt. Auch dein Mono-

    log hat sich verbessert. Sie wurde im Jahr1502 vom Meister Peter Henlein aus Nrnberg

    gebaut... gut, sehr gut. Jetzt bereitet mir nur noch die Szene auf dem Platz Sorgen.

    GOTTFRIED: Die Szene auf dem Platz? Die Leute bemhen sich.

    KOMMANDANT: Ich wei, dass sie sich bemhen. Ich habe ihnen nichts vorzuwerfen.

    Im Gegenteil, ich glaube, dass sie tun, was sie knnen. Es ist weder ein Problem des Sich-

    Bemhens, noch des Verstehens: Sie wissen sehr gut, was sie zu tun haben. Und dennoch

  • 43

    schaffen wir es nicht, dem Ganzen eine Form zu geben. Ich habe darber nachgedacht. Wa-

    rum passt die Szene einfach nicht, obwohl wir sie so viele Male wiederholt haben? (Schwei-

    gen)

    GOTTFRIED: Ich glaube, dass sie es besser machen wrden, wenn sie wssten wer er ist. Der

    Mann, der kommen wird.

    (Schweigen)

    KOMMANDANT: Das ist nicht das Problem. Das Problem liegt woanders. Es stellt sich

    nmlich als unmglich heraus, so viele Schaupltze in Einklang zu bringen: Die schau-

    kelnden Kinder, die Alten, die aus der Synagoge herauskommen, der Luftballonverku-

    fer... Erinnerst du dich, was wir ber Aristoteles sagten? Wenn ein Knoten zu komplex ist,

    interessiert sich das Auge nicht mehr fr ihn. Wenn eine Melodie zu komplex ist, verwirft

    das Ohr sie als Lrm. Darum gelingt die Szene nicht.

    GOTTFRIED: Ich glaube nicht, dass sie nicht gelingt, ich...

    KOMMANDANT: Es sind zu viele Leute.

    GOTTFRIED: Aber es ist nicht ihre Schuld, wenn, ...

    KOMMANDANT: Ich wei, dass es nicht ihre Schuld ist. Wer hat von Schuld geredet?

    GOTTFRIED: Aber...

    KOMMANDANT: Zu viele Leute, das habe ich die von Anfang an gesagt.

    (Schweigen)

    GOTTFRIED: Wie viele?

    KOMMANDANT: Ich habe nachgerechnet. Die Szene wrde mit hundert blendend funkti-

    onieren. Hundert ist die optimale Zahl.

    GOTTFRIED: Und die brigen? Die, die dann nicht mehr in der Szene sind.

    KOMMANDANT: Die berschssigen? Nun, Gershom, du wirst verstehen, dass es fr sie

    keinen Platz in unserem Projekt gibt. Wir knnen sie nicht einfach dort lassen wie Ge-

    spenster. Und du wirst nicht wollen, dass wir sie als deutsche Soldaten verkleiden. Das

  • 44

    Beste wre, sie nur zur Krankenstation zu bringen. Ja, es wre bestimmt die beste Lsung

    fr sie: die Krankenstation.

    Er stellt vor Gottfried einen Stapel Personalakten: die von der Szene auf dem Platz

    Hundert. Kmmere dich um das Verhltnis, es muss von allem etwas geben: Mnner und

    Frauen, Kinder und Alte...Und bitte, dass alle ein bisschen lcheln. Deinen Leuten fllt es

    so schwer zu lcheln...

    Er whlt ein Buch aus seiner Bibliothek aus. Gottfried steht vor dem Stapel Personalakten.

    Stille. Nachdem er sie gelesen hat, blttert der Kommandant eine Seite des Buches um.

    8.

    Gottfried vor dem Stapel Personalakten. Der Kommandant liest. Blttert eine Seite des Bu-

    ches um.

    Schweigen.

    9.

    Der Kommandant schliet das Buch.

    KOMMANDANT: Ziehst du es vor, dass ich es mache? Ist es das? Dass ich die hundert

    Besten auswhle?

    Er will den Stapel Personalakten nehmen. Gottfried hlt ihn davon ab.

    GOTTFRIED: Und wenn wir uns weigern, das zu tun?

    KOMMANDANT: Was?

  • 45

    GOTTFRIED: Und wenn wir uns weigern, aus den Baracken zu kommen? Er kommt, aber

    keiner ist da, die Straen sind leer. Oder er kommt, und die Leute verhalten sich nicht, wie

    Sie wollen. Wir kehren diesem Mann den Rcken zu, oder wir schmeien Steine auf ihn.

    Oder wir sagen ihm die Wahrheit. Und wenn wir nicht das tun, was Sie mchten, wenn

    wir nicht Ihre Wnsche erfllen.

    Schweigen

    KOMMANDANT: Meine Wnsche? Denkst du, dass ich Wnsche habe, Gershom? Berlin

    hat mich ausgesucht. Genauso wie dich. Berlin hat uns ausgesucht.

    Schweigen

    Natrlich besteht die Mglichkeit, dass ihr nicht aus den Baracken kommt. Nehmen wir

    an, der Besucher kommt und ihr verlasst die Baracken nicht. Oder ihr kommt heraus und

    macht irgendwelche Dummheiten, fangt an zu weinen oder erzhlt ihm, was auch immer,

    nehmen wir an, ihr erzhlt ihm irgendetwas. Vielleicht, von eurem Standpunkt aus htte so

    etwas irgendeinen symbolischen Wert. Wenn dieser Mann, der Besucher, dieses Symbol

    verstehen, wenn er es begreifen kann. Es wre eine Geste, ja. Inmitten so vieler Gesten,

    eine mehr. Aber wrde sie verstanden werden? Und wenn dieser Mann eure Geste nicht

    verstnde?

    Schweigen, Gottfried beginnt Personalakten zur Seit auszusortieren.

    10.

    Gottfried sortiert die letzte Personalakte aus. Er bergibt dem Kommandanten, was vom Sta-

    pel brig bleibt. Der Kommandant berprft, dass es nicht mehr als hundert Akten sind. Er

    sieht sie durch.

    KOMMANDANT: Wo bist du? Wir haben dich vergessen, Gershom.

    Er will die Akte von Gottfried dazulegen. Er zgert.

  • 46

    Aber wenn ich dich hinzufge, dann ist es einer zu viel.

    Er legt eine Akte des Stapels beiseite.

    Jetzt ja.

    Er legt die Akte von Gottfried auf den Stapel.

    Gerhard Gottfried

    Er entfernt so viele Stecknadeln vom Platz auf der Karte, bis hundert brig bleiben.

    Endlich seid ihr bereit. Nur noch ich fehle. Beobachte mich und sag mir, was du meinst.

    Sag mir, ob die Gesten mit den Worten/Text im Einklang sind.

    Er tut so, als wrde er einen Besucher empfangen.

    Entschuldigen sie bitte, ihr Akzent... Fr einen Augenblick dachte ich, sie seien... Aber

    nein, wie konnte ich mich irren? Einen Kaffee vielleicht? Ihr Akzent ist unverwechselbar,

    er weckt wunderbare Erinnerungen in mir. Mir gefllt ihr Land sehr. Ich war im Urlaub

    dort. Vor dem Krieg. Sagen sie mir bitte etwas in ihrer Sprache. Ein Wort: Paz.

    11

    Der Kommandant mit dem Kreisel.

    KOMMANDANT: Hast du schon von der Melancholie des Schauspielers gehrt? Jetzt

    weit du, was es damit auf sich hat. Der Vorhang fllt, und pltzlich, die ganze Welt von

    Wrtern und Gesten, diese ganze Welt vergeht. Der Vorhang fllt und dem Schauspieler

    bleibt nichts mehr.

    Schweigen

  • 47

    Ein Schauspieler schlgt einen Nagel ein. Pltzlich fllt der Vorhang. Dann bemerkt er es,

    dann versteht er unvermittelt etwas Schreckliches: er versteht, dass, wenn ein Schauspieler

    einen Nagel einschlgt, er einen Nagel einschlgt, aber zur gleichen Zeit nichts tut.

    Schweigen

    Der Vorhang fllt und der Schauspieler findet sich mit einem Hammer in der Hand wie-

    der. Er wei nichts mit dem Hammer anzufangen.

    Schweigen

    Der Vorhang fllt und der Schauspieler kehrt ins Leben zurck. Und nicht immer ist das

    Leben angenehm. Du weit genauso gut, wie ich, dass das Leben nicht immer s ist. Wir

    leben nicht im Paradies, Gerhard. Vielleicht eines Tages, aber jetzt noch nicht.

    Schweigen

    Der Vorhang fllt und das Leben muss weitergehen. Das Leben muss weitergehen.

    Schweigen

    Wir sind solcher Stoff wie der zu Trumen, und dies kleine Leben umfasst ein Schlaf. Der

    Sturm, vierter Aufzug, erste Szene. Pltzlich verfliegt der Zauber. Der Zauber verfliegt

    und alles kehrt zum Leben zurck, was schlimmer ist.

    Schweigen

    Kannst du dir vorstellen fr immer zu schauspielern? War es nicht fantastisch? Es gab

    wunderbare Augenblicke. Ein fantastischer Monolog: ber vierhundert Jahre nachdem

    sie gebaut worden ist, zeigt diese Maschine immer noch die genaue Uhrzeit an, mit nur ei-

    ner halben Minute Unterschied. Es war fast perfekt. Schade nur, um das Mdchen mit der

    Puppe.

    Schweigen.

    Sie war kurz davor, alles zu verpatzen. So viele Kinder, und du musstest die dmmste aus-

    suchen. Was hast du in ihr gesehen? Und die Sache ist, dass sie es gut machte. Sie hat

    wirklich eine schne Stimme. Und das Lied war wirklich schn. Hast du es ausgesucht?

  • 48

    Er summt das Lied des Mdchens. Schweigen.

    Ich habe das mit den Booten nicht verstanden, Gerhard. Glaubst du, dass er dich verstan-

    den hat?

    Schweigen.

    Er war kein gebildeter Mensch. Als ich Spinoza zitiert habe, hatte ich den Eindruck, dass

    er diesen Namen noch nie gehrt hatte. Er fasste meine Bcher an, als wren sie Ziegel-

    steine. Ich fragte ihn nach einem bestimmten Ort in seinem Land und er sagte: Er erinnert

    mich an schne Dinge. Zum Glck vergessen wir das Schlechte vor dem Guten. Was

    denkst du? Welche Mentalitt zeigt ein Satz wie dieser? Diese Art zu denken ist dabei sich

    berall auszubreiten.

    Schweigen.

    Wir sind ein Schiff, das in den Hafen einlaufen mchte, aber der Hafen ist vermint. Der

    Kapitn wartet auf ein eindeutiges Kommando. Solange ist es seine Pflicht, Ruhe zu be-

    wahren. Nein, so hast du es nicht gesagt. Was wolltest du sagen? Manchmal verstehe ich

    dich nicht, Gerhard. Ist es das, was man jdischen Humor nennt? Ich dachte, ich wrde

    dich irgendwann verstehen, aber dem ist nicht so. Solange Zeit arbeiten wir jetzt schon zu-

    sammen und im Grunde sind wir uns immer noch fremd.

    Schweigen. Er summt das Lied. Schweigen.

    Einen Moment lang dachte ich, dass du etwas vorhttest. Dass ihr anfangt zu schreien oder

    etwas hnliches. Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich mir fr einen Moment

    wnschte, dass ihr es gemacht httet? Ich selbst hatte Lust zu schreien. Auf dem Him-

    melweg. Pltzlich fhlte ich mich bedrckt. Es langweilte mich jedes Wort und jede

    Geste wieder zu erkennen. Jedes Wort zu hren, bevor es berhaupt ausgesprochen war.

    Und jede Geste, ich htte selbst die kleinste eurer Gesten vorwegnehmen knnen. Ich

    wollte schreien. Und als du mit den Schiffen anfingst, dachte ich: Endlich. Endlich wird

  • 49

    Gershom es tun. Es war nur ein Augenblick, Gerhard, aber whrend dieses Augenblicks

    wnschte ich mir, dass du es getan httest.

    Schweigen.

    Wir sind ein Schiff, das von den Minen daran gehindert wird in den Hafen einzulaufen.

    Der Kapitn muss die Ruhe bewahren, whrend er auf ein eindeutiges Kommando war-

    tet. Nein, so hast du es nicht gesagt.

    Schweigen.

    Ich habe es nicht verstanden. Das Schiff, fr was steht es? Was bedeutet der Hafen? Wer

    zum Teufel ist der Kapitn? Du? Ich? Er? Ich glaube, er hat es auch nicht verstanden. Er

    machte einen sehr befremdeten Eindruck. Mal sehen, ob er das mit den Schiffen erwhnt.

    Schweigen. Er summt das Lied. Schweigen.

    So viele Kinder, und du musstest die dmmste auswhlen. Pltzlich, anstatt zu sagen: Sei

    hflich, Walter, sag diesem Herrn guten Tag, warf sie die Puppe ins Wasser und sagte:

    Flieh, Rebecca, der Deutsche kommt.

    Schweigen.

    Eine Schande. In einem so schnen Augenblick, als wir gerade aus dem Wald kamen. Nur

    das hat noch gefehlt, damit alles perfekt wre. Ich hoffe, dass er es nicht in seinem Bericht

    erwhnt.

    Er summt das Lied. Schweigen.

    Man nennt es die Melancholie des Schauspielers. Der Vorhang fllt und das Leben muss

    weiter gehen. Das Leben muss weiter gehen, aber wie? Der Vorhang fllt und dir bleibt

    nichts. Du hltst einen Hammer in den Hnden. Du hast Hnde. Fe, einen Krper. Aber

    was machst du mit all dem, nachdem der Vorhang gefallen ist? Die Schauspieler wissen

    alles, was man ber das Leben wissen muss, Gerhard. Hinter den Worten und Gesten gibt

    es nichts, das ist die einzige Wahrheit. Wenn ein Mann einen Nagel einschlgt, schlgt er

    einen Nagel ein und macht zur gleichen Zeit gar nichts.

  • 50

    V Zum Schluss ein Lied

    (Mit einem Spazierstock bt Gottfried die Gangart eines Hinkenden. Er wendet sich an den

    Jungen 1 und an den Jungen 2. Junge 1 hat einen schwarzen Kreisel mit roter Spitze. )

    Gottfried (zu Junge 2)

    Lass dich nicht hetzen. Hr nicht auf Klaus: Wir teilen ihn uns. Einen Tag ich, einen Tag

    du. Hr ihm zu und mach eine Geste, bevor du etwas sagst. Wirf ihm einen verachtenden

    Blick zu. Und dann, ja, dann sagst du deinen Text: Steck dir deinen Kreisel sonst wo hin!

    Ich will deinen Kreisel sowieso nicht! Komm ihm am Anfang nicht so nah. Geh langsam

    auf ihn zu, damit er sich nicht bedroht fhlt. Wir werden es einmal so probieren.

    (Er platziert den Jungen 1 so, als ob dieser mit dem Kreisel spielen wrde. Gottried spielt

    vor, was er sagen soll.)

    Du nherst dich von rechts bis hierhin und sagst: Du musst die Schnur fester wickeln.

    Klaus versteckt den Kreisel, du machst einen Schritt und sagst: Je fester... Noch einen

    Schritt und sagst: Das schwierigste ist das Anreien, blablabla. Lass dich nicht hetzen.

    Hr zu was Klaus dir sagt, mach eine Geste und lass dir mit dem Antworten Zeit.

    Schweigen. Er spricht zu dem Jungen 1.

    Das sieht immer noch unnatrlich aus. Es sieht sehr unnatrlich aus. Der Kommandant

    denkt, dass du es nicht schaffst. Ich habe ihm erzhlt, was mit deiner Schwester passiert ist

    und ihn gebeten, es dich noch ein letztes Mal versuchen zu lassen. Ich habe ihm verspro-

    chen, dass du es dieses Mal schaffen wirst. Ich bin mir sicher, dass du es schaffen wirst

  • 51

    Klaus. Versuche Franz nicht in die Augen zu sehen. Sie hat weie Haut. Sie hat Kratzer

    an den Fen, weil sie gerne barfuss luft, wenn sie allein ist... Schau ihm nicht in die

    Augen. Sie hat lange Arme. Sie hat kleine Hnde. Sie hat schwarze Brustwarzen, mir

    scheinen sie zumindest schwarz, weil ihre Haut so wei ist...

    Pause. Er wendet sich an