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30 <Geschichte der Chemie) Hintergrunde des Rucktritts von Richard Willstatter 1924125 Auch 75 Jahre spater hat der Rucktritt Richard Willstiitters vom traditionsreichen Miinchner Lehrstuhl an Dramatik nicht eingebiiflt. 1st Willstatter (Nobelpreis 191 5) doch den groflen Baumeistern der Chemie des 20. Jahrhunderts zuzurechnen! Die antisemitischen Stromungen, die bei Berufungsverfahren in seiner Fakultat rutage traten, boten den Anlafl zu diesem spektakularen Schritt eines national denkenden Wissenschaftlersjiidischer Herkunft. ,+ Der Historiker legt Wert daraul ein Ereignis von verschiFdenen Seiten zu beleuchten, aus allen Quellen zu schopfen. Freddy Lit- ten vom Munchner Institut fir Geschichte der Natunvissen- schaften fand Akten und Briefe zum Rucktritt Willstiitters in den Archiven der Ludwig-Maximili- ans-Universitat, der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, des Bayerischen Staates und in vielen anderen Quellen und dokumentierte sie in seinem Buch ,,Der Rucktritt Ri- chard Willstatters 1924/25 und seine Hintergrunde 'I (Munchner Univer- sititsschriften, 1999. 96 S., brosch., Unsere Kenntnis vom Gesche- hen stutzte sich wesentlich auf Willstatters 1940 im Schweizer Exil verfaBte Autobiographie ,,Aus mei- nem Leben", die wohl zu den ein- drucksvollsten Selbstzeugnissen ei- nes Naturwissenschaftlers gehort. Im Lichte einer Fulle neuen Materi- als sind die Vorgange komplexer, als bisher angenommen, ein alltag- liches Phanomen fur den Histori- ker. 19,80 DM. ISBN 3-89241-033-X). Richard Willstafter (1872-1942). Foto: Deutsches Museum Munchen Bei zwei Berufungsvorschlagen im Friihjahr 1924 uberging die ,,Philoso- phische Fakultat 11. Sektion" zwei vorzuglich ausgewiesene Wissen- schaftler: Richard Goldschmidt, Ber- lin, und Victor Moritz Goldschmidt, Oslo. ,,... ich bin neuerdings mit der Haltung der Fakutat in Berufungsfra- gen so wenig einverstanden, daB ich der Fakultat nicht mehr langer ange- horen kann, als es fur die Besetzung schwierigkeiten waren ungewohn- lich; im November 1923 wurde die deutsche Wahrung mit der Renten- mark stabilisiert, nachdem der Wert der Goldmark auf 1 Billion Papier- mark gestiegen war. Von grassierendem Antisemitis- mus konnte in der Miinchner Fakul- tat nicht die Redk sein. So wurde noch 1923 der Pole und Jude Kasimir Fajans auf das neue Extraordinariat fur Physikalische Chemie berufen. Von den 28 Mitgliedern der engeren Fakultat waren 5 von judischer Her- kunft. Der Hitler-Putsch im Novem- ber 1923 hatte einen Schock aus- gelost und zu mehrtiigiger Schlie- Bung der Universitat gefuhrt. Antise- mitische Zuge fand Litten im Rah- Nachnchtenaus der Chernie I49 I Januar 2001 I www.gdch.de

Hintergründe des Rücktritts von Richard Willstätter 1924/25

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30 <Geschichte der Chemie)

Hintergrunde des Rucktritts

von Richard Willstatter 1924125

Auch 75 Jahre spater hat der Rucktritt Richard Willstiitters vom traditionsreichen

Miinchner Lehrstuhl an Dramatik nicht eingebiiflt. 1st Willstatter (Nobelpreis 191 5)

doch den groflen Baumeistern der Chemie des 20. Jahrhunderts zuzurechnen! Die

antisemitischen Stromungen, die bei Berufungsverfahren in seiner Fakultat rutage

traten, boten den Anlafl zu diesem spektakularen Schritt eines national denkenden

Wissenschaftlers jiidischer Herkunft.

,+ Der Historiker legt Wert daraul ein Ereignis von verschiFdenen Seiten zu beleuchten, aus allen Quellen zu schopfen. Freddy Lit- ten vom Munchner Institut f i r Geschichte der Natunvissen- schaften fand Akten und Briefe zum Rucktritt Willstiitters in den Archiven der Ludwig-Maximili- ans-Universitat, der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, des Bayerischen Staates und in vielen anderen Quellen und dokumentierte sie in seinem Buch ,,Der Rucktritt Ri- chard Willstatters 1924/25 und seine Hintergrunde ' I (Munchner Univer- sititsschriften, 1999. 96 S., brosch.,

Unsere Kenntnis vom Gesche- hen stutzte sich wesentlich auf Willstatters 1940 im Schweizer Exil verfaBte Autobiographie ,,Aus mei- nem Leben", die wohl zu den ein- drucksvollsten Selbstzeugnissen ei- nes Naturwissenschaftlers gehort. Im Lichte einer Fulle neuen Materi- als sind die Vorgange komplexer, als bisher angenommen, ein alltag- liches Phanomen fur den Histori- ker.

19,80 DM. ISBN 3-89241-033-X). Richard Willstafter (1872-1942).

Foto: Deutsches Museum Munchen

Bei zwei Berufungsvorschlagen im Friihjahr 1924 uberging die ,,Philoso- phische Fakultat 11. Sektion" zwei vorzuglich ausgewiesene Wissen- schaftler: Richard Goldschmidt, Ber- lin, und Victor Moritz Goldschmidt, Oslo. ,,... ich bin neuerdings mit der Haltung der Fakutat in Berufungsfra- gen so wenig einverstanden, daB ich der Fakultat nicht mehr langer ange- horen kann, als es fur die Besetzung

schwierigkeiten waren ungewohn- lich; im November 1923 wurde die deutsche Wahrung mit der Renten- mark stabilisiert, nachdem der Wert der Goldmark auf 1 Billion Papier- mark gestiegen war.

Von grassierendem Antisemitis- mus konnte in der Miinchner Fakul- tat nicht die Redk sein. So wurde noch 1923 der Pole und Jude Kasimir Fajans auf das neue Extraordinariat fur Physikalische Chemie berufen. Von den 28 Mitgliedern der engeren Fakultat waren 5 von judischer Her- kunft. Der Hitler-Putsch im Novem- ber 1923 hatte einen Schock aus- gelost und zu mehrtiigiger Schlie- Bung der Universitat gefuhrt. Antise- mitische Zuge fand Litten im Rah-

Nachnchten aus der Chernie I49 I Januar 2001 I www.gdch.de

men der Fakultiit nur bei Wilhelm Wien, Physiker und Dekan. Es waren wohl Angst und Unsicherheit, welche die Fakulatsmitglieder mehrheitlich dem Wortfuhrer Wien folgen lieBen.

Man erfahrt des weiteren, daB Will- stiitter selbst einraumte, in der Univer- sit& keinerlei personliche Krankung erfahren zu haben. Auf Antrag der Fa- kultiit gewahrte ihm der Kultusminis- ter Emeritusrechte uber den Zeitpunkt der Entlassung (1.10.1925) hinaus. Im gleichen Jahr nahm Wdlstiitter die Wahl zum Mitglied des Bayerischen Maximhnsordens k r Wissenschaft und Kunst an; dem Orden ,,Pour le Me- rite" gehorte er seit 1924 an. Nach sei- ner Resignation hat Willstiitter das In- stitut an der SophienstraBe nicht wie- der betreten, aber seine Assistentin Margarte Rohdewald war weiter im ,,Willstiitter-Labor" , atig; diesen Na- men fiihrte das Labor noch zur Kriegs- zeit. Auf Einladung seines Nachfolgers trug Whtatter noch gelegentlich in der Munchner Chemischen Gesell- schaft vor.

,,Unter meinem Judentum litt ich viel", schrieb Willstiitter in seiner Bio- graphie. Er war alarmiert uber Plakate bei studentischen Wahlen: ,,Kein deutscher Jungling darf kunftig zu Fu- Ben eines jddischen Lehrers sitzen." Wdlstiitter hatte ein feines Gespur fur die Stromungen der Zeit, und wie recht sollte er behalten. ,,Der Rassen- fanatismus ist eine der ubelsten Er- scheinungen der heutigen Zeit", schrieb ihm VM. Goldschmidt 1924.

Wdktiitter erhielt nach seinem Rucktritt Angebote u.a. dreier ame- rikanischer Universiaten sowie 1926 eines auf den Zuricher Lehrstuhl, den er selbst von 1905 bis 1912 innehatte. Warum nahm er keine dieser Chancen wahr, um seine wissenschaftliche Ar-, beit fortzufphen? Stattdessen blieb er in Munchen, sah die Katastrophe he- reinbrechen und setzte sich erst 1939 in die Schweiz ab unter Verlust des grogten Teils seines Vermogens.

Auch aus Willstatters ,,unpoliti- schem" Verhalten nach dem Rucktritt schlieBt Litten, da5 weitere Griindr fur den Rucktritt vorliegen mugten. Mit seinem der Zeit vorauseilenden Enzymprojekt war dem vom Erfolg verwohnten Willstatter der entschei-

Richard Willstiitter <Magazin> 31

dende Durchbruch versagt geblieben. in der Sprache der Wirtschaft war es ein Hochrisiko-Unternehmen; im nachhinein erscheint sogar die Aus- wahl der von ihm studierten Enzyme nicht 'gliicklich. Schon seine Freunde - Litten fuhrt Briefe an - sahen in der Enttauschung ein beteiligtes Motiv.

Der biologische ProzeB des Al- terns lauft individuell recht verschie- den ab. Willstatter trat als 52-Jahriger vom Lehramt zuriick. Eine gewisse Para!lele zu Justus von Liebig, der nach seinem 50. Lebensjahr kaum noch Experimentalarbeiten anleitete, liegt nahe.

Heinrich Wieland war Willsatters Wunschkandidat fur die Lehrstuhl- nachfolge. Wieland war einer der Auf- rechten, die Sorge trugen, daB die Fa- kulat nicht dem Druck der StraBe nachgab. Vor allem in der Kriegszeit gehorte viel Mut dazu, den Pressionen der Behorden zu widerstehen. Wie- land hielt seine schutzende Hand uber mehr als zwei Dutzend halbjudischer Studenten, denen er die Arbeit am Munchner Institut ermoglichte.

Die treibenden Krafte mensch- lichen Handelns sind vielfaltig und zuweilen nicht einmal dem Handeln- den voll bewuBt. Ich messe der politi- schen Komponente im Entschlu5 Willsatters groBere Bedeutung bei, als Litten dies tut. Der Antisemitismus war ftir Richard Willstatter eine zer- murbende Belastung; einige Kapitel seiner Biographie sind ein einziger Aufschrei. Mit dem Rucktritt floh er in eine private Sphare, die er u. a. mit sei- ner Passion fur Kunst und mit reicher Reisetatigkeit zu gestalten suchte.

Das gut geschriebene Buchlein von E Litten tragt dankenswert zur Klarung eines Kapitels der Chemie- historie bei, das die Verstrickung mit einem dunklen Abschnitt deutscher Geschichte aufzeigt.

RolfHuisgen, Ludwig-maximil jam-Universitat,

Munchen

Nachrichten aus der Chemie I49 I Januar 2001 I www.gdch.de

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Wusten sind schon. Wir aber meinen, es gibt bereits genug davon.

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