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Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark Jahrgang 93 (2002) Historische Volkskunde heute: Ansätze - Probleme - Tendenzen Vortrag bei der Jahreshauptversammlung des Historischen Vereines für Steiermark am 21. März 2001 Von Burkhard [pöttler Auch wenn der Titel meines Vortrags die aktuellen Zugänge historischer Volkskun- de betont, scheint es mir - gerade in diesem „historischen" Rahmen - doch wichtig, ein- gangs einige Schlaglichter auf Entstehung und Entwicklung dieses Teilbereichs der Volks- kunde zu richten. Danach möchte ich auf Aspekte des Kontaktes mit benachbarten For- schungsrichtungen in der Geschichtswissenschaft eingehen und einige Beispiele für neue- re Arbeiten der Historischen Volkskunde nennen. Im zweiten Teil des Referats werde ich dann Ausschnitte aus meiner eigenen Arbeit in diesem Bereich vorstellen. 1. Historische Volkskunde oder: Das Verhältnis zwischen Geschichte und Volkskunde Die Anfänge Schon Wilhelm Heinrich Riehl, allgemein zumindest als einer der sog. „Väter" der wissenschaftlichen Volkskunde betrachtet, hat 1859 in seinem Aufsatz „Die Volkskunde als Wissenschaft" gefordert, die Volkskunde als Lehre vom. Volkzu betrachten, die frei- gesprochen [ist] namentlich von ihrer alten Dienstharkeit der [...] Geschichte. 1 Auch wenn hier weder der Rahmen noch die Zeit ist, näher auf die Persönlichkeit und die Pro- blematik der Ideen Riehls einzugehen, so ist die Formulierung doch charakteristisch für das weitere Verhältnis zwischen Geschichte und Volkskunde. Wenngleich Volkskunde primär als historische Wissenschaft galt, 2 so wurde in den theoretischen Konzepten der Jahrhundertwende und der folgenden Jahrzehnte das spezifisch Volkskundliche doch wesentlich darin gesehen, über die reine Darstellung der gesicherten Fakten hinauszu- gehen^ und etwa psychologische, geographische oder soziologische Ansätze mit zu 1 Wilhelm Heinrich RIEHL, Die Volkskunde als Wissenschaft. In: DERS.. Culturstudien aus drei Jahrhunderten. 205-229, hier 226, zit. nach Gerhard LUTZ, Volkskunde und Geschichte. Zur Frage einer als „historische Wissenschaft" verstandenen Volkskunde. In: Dieter HARMENING U. a. (Hgg.), Volkskultur und Geschichte. FS Josef Dünningcr, Berlin 1970, 14-26, hier 16. 2 S. dazu auch Raimund Friedrich KAINDL, Die Volkskunde. Ihre Bedeutung, ihre Ziele und ihre Methode mit besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu den historischen Wissen- schaften. Ein Leitfaden zur Einführung in die Volksforschung (= Die Erdkunde. Eine Darstel- lung ihrer Wissensgebiete, ihrer Hilfswissenschaften und der Methode ihres Unterrichtes 17), Leipzig-Wien 1903. 1 Vgl. dazu LUTZ(wie Anm. 1), 19. 367

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Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark Jahrgang 93 (2002)

Historische Volkskunde heute: Ansätze - Probleme - Tendenzen

Vortrag bei der Jahreshauptversammlung des Historischen Vereines für Steiermark am 21. März 2001

Von Burkhard [pött ler

Auch wenn der Titel meines Vortrags die aktuellen Zugänge historischer Volkskun­de betont, scheint es mir - gerade in diesem „historischen" Rahmen - doch wichtig, ein­gangs einige Schlaglichter auf Entstehung und Entwicklung dieses Teilbereichs der Volks­kunde zu richten. Danach möchte ich auf Aspekte des Kontaktes mit benachbarten For-schungsrichtungen in der Geschichtswissenschaft eingehen und einige Beispiele für neue­re Arbeiten der Historischen Volkskunde nennen. Im zweiten Teil des Referats werde ich dann Ausschnitte aus meiner eigenen Arbeit in diesem Bereich vorstellen.

1. Historische Volkskunde oder: Das Verhältnis zwischen Geschichte und Volkskunde

Die Anfänge

Schon Wilhelm Heinrich Riehl, allgemein zumindest als einer der sog. „Väter" der wissenschaftlichen Volkskunde betrachtet, hat 1859 in seinem Aufsatz „Die Volkskunde als Wissenschaft" gefordert, die Volkskunde als Lehre vom. Volk zu betrachten, die frei­gesprochen [ist] namentlich von ihrer alten Dienstharkeit der [...] Geschichte.1 Auch wenn hier weder der Rahmen noch die Zeit ist, näher auf die Persönlichkeit und die Pro­blematik der Ideen Riehls einzugehen, so ist die Formulierung doch charakteristisch für das weitere Verhältnis zwischen Geschichte und Volkskunde. Wenngleich Volkskunde primär als historische Wissenschaft galt,2 so wurde in den theoretischen Konzepten der Jahrhundertwende und der folgenden Jahrzehnte das spezifisch Volkskundliche doch wesentlich darin gesehen, über die reine Darstellung der gesicherten Fakten hinauszu­gehen^ und etwa psychologische, geographische oder soziologische Ansätze mit zu

1 Wilhelm Heinrich RIEHL, Die Volkskunde als Wissenschaft. In: DERS.. Culturstudien aus drei Jahrhunderten. 205-229, hier 226, zit. nach Gerhard LUTZ, Volkskunde und Geschichte. Zur Frage einer als „historische Wissenschaft" verstandenen Volkskunde. In: Dieter HARMENING U. a. (Hgg.), Volkskultur und Geschichte. FS Josef Dünningcr, Berlin 1970, 14-26, hier 16.

2 S. dazu auch Raimund Friedrich KAINDL, Die Volkskunde. Ihre Bedeutung, ihre Ziele und ihre Methode mit besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu den historischen Wissen­schaften. Ein Leitfaden zur Einführung in die Volksforschung (= Die Erdkunde. Eine Darstel­lung ihrer Wissensgebiete, ihrer Hilfswissenschaften und der Methode ihres Unterrichtes 17), Leipzig-Wien 1903.

1 Vgl. dazu LUTZ (wie Anm. 1), 19.

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berücksichtigen, wodurch sich schon früh die Bestimmung der Volkskunde als Integra-tivwissenschaft konstituierte.

Eine gewisse Institutionalisierung erfuhr der Begriff „Historische Volkskunde" durch das 1925 gegründete „Jahrbuch für historische Volkskunde", dessen erste beide Bände von Wilhelm Fraenger herausgegeben wurden. Nach dessen Entlassung 1933 geriet die Zeitschrift jedoch in ein deutlich politisches Fahrwasser und wurde nach dem Erschei­nen des 10. Bandes. 1943, nicht mehr weitergeführt. Fraenger war der Ausbildung nach Kunsthistoriker, arbeitete aber von Anfang an - an der Kulturgeschichte Karl Lamprechts orientiert - interdisziplinär. Sein Ziel war es. volkskundliche Phaenomene als Indikato­ren fiter historische Ablaeufe und Erscheinungen [zu] untersuchend Das Jahrbuch war dementsprechend inhaltlich sehr weit gefaßt, und die Themen reichten von der Definiti­on und Abgrenzung der Volkskunde über Volkskunst und Sachgüter bis zu den Helden­sagen.5

Die Zeit nach 1945

Der Begriff „Historische Volkskunde", wie er später meist verstanden wird, kann im wesentlichen als Produkt der Nachkriegszeit gesehen werden, wenngleich die Grundla­gen schon vordem Zweiten Weltkrieg gelegt worden waren.6 Mißbrauch durch und Anbie­derung an das politische Regime vor 1945 hatten gerade der Volkskunde großen Scha­den zugefügt und zu einer gewissen Verunsicherung geführt. Auch wenn der Schweizer Volkskundler Richard Weiss schon 1946 mit seiner „Volkskunde der Schweiz" einen Neu­anfang mit Anknüpfung an ältere Zugänge und Theorien vorgelegt hat, so bestanden doch Zweifel, ob man die Volkskunde als Fach überhaupt noch bestehen lassen oder nicht lie­ber auflösen sollte.

Nicht zuletzt durch diese Situation der Unsicherheit wurde Hans Moser zu seinem Aufsatz „Gedanken zur heutigen Volkskunde" von 1954 angeregt, in dem er nicht nur eine differenzierte Sicht der Volkskunde vor und nach 1945 versucht, sondern die For­derung nach einer exakt historischen Methode in der Volkskunde erhebt. Schon die For­mulierung exakt historisch zeigt die bewußte Abgrenzung von einer Vergangenheits-Volkskunde. die ohne ausreichende Quellengrundlage Bezüge über Jahrhunderte hinweg herstellt und weithin im Spekulativen verbleibt. Darüber hinaus stellt Moser fest, daß die sogenannte Geschichtliche Volkskunde, wie sie in München betrieben wird, keine zeitli­che Abgrenzung bedeute, sondern für Vergangenheit und Gegenwart auf die geschicht­liche Entwicklung der Volkskultur schlechthin abziele.1* Der Neuanfang nach 1945 soll­te also vorschnelle Interpretationen ausschließen und so auch eine politische Involvie­rung möglichst vermeiden. Karl-Sigismund Kramer hat 14 Jahre später, 1968. von der exakten Geschichtsschreibung der Volkskultur gesprochen und dazu - wie schon vorher

4 Petra WECKEL. Wilhelm Fraenger (1890-1964). Ein subversiver Kulturwissenschaftler zwi­schen den Systemen, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/beitrag/diskusio/fraenger/fra-eng8.htm> [ 11.10.2001]. - Vgl. jetzt auch Petra WECKEL, Wilhelm Fraenger (1890-1964). Ein subversiver Kulturwissenschaftler zwischen den Systemen. Potsdam 2001.

5 Jahrbuch für historische Volkskunde 1-10 (1925-1943). 6 Hans MOSER. Aufgaben, Wege und Ziele der geschichtlichen Volkskunde. In: Volk und Heimat

14(1938). 80-87. 7 S. z. B. die Forderung von Heinz MALS. Zur Situation der deutschen Volkskunde. In: Die

Umschau 1/2 (1946/47), 349-359. 8 Hans MOSER. Gedanken zur heutigen Volkskunde. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde

1954. 208-234.

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- eine umfassende archivalische Quellenforschung9 verlangt. Er war es auch, der sich besonders mit methodischen Aspekten der archivalischen Quellenforschung auseinander setzte. Die zunächst vor allem von diesen zwei Repräsentanten vertretene Richtung wird exakter gerne auch als „Historische Methode (in der Volkskunde)" oder als „Münchner Schule" bezeichnet.1" da Moser und Kramer zunächst von München aus im bayerischen Raum ihre Untersuchungen durchgeführt haben. Eine genaue Differenzierung zwischen den Begriffen „Historische Volkskunde" und „Historische Methode" ist in der Literatur nicht festzustellen, jedoch wird teilweise etwas spezifiziert, wie bei Hans Schuhladen, der von der ..volkskundlichen historischen" oder auch „historischen volkskundlichen" Methode spricht." Rolf Wilhelm Brednich verwendet hingegen im Quellen- und Metho­denkapitel seines „Grundrisses der Volkskunde" den Begriff der ..historisch-archivali-schen Methode".12

Kritik an der Volkskunde als insgesamt großteils historischer Wissenschaft, wie sie bis dahin meist verstanden wurde.13 regte sich vor allem um 1970, als im Zuge des spä­ter so genannten „Paradigmenwechsels" in weiten Teilen der Geisteswissenschaften auch in der Volkskunde neue Prämissen gesetzt und eine stärkere Hinwendung zu den empi­rischen Sozialwissenschaften vollzogen wurden. Hauptkritikpunktc - besonders auch an der archivalisch arbeilenden Volkskunde - waren der geortete positivistische Ansatz, ver­bunden mit einer Theoriearmut, die nicht zuletzt aus dem „Fließen-Lassen" der Quellen abgeleitet werden konnte, wie es die ältere Volkskunde zumindest teilweise vertrat. Betont kritisch, wenn auch nicht geschichtsfcindlich gegenüber der Historischen Volkskunde -die er übrigens mit der archivalischen Quellenforschung Mosers und Kramers im wesent­lichen gleichsetzt - zeigt sich auch Hermann Bausinger, wenn er die Theoriearmut und teilweise Selbstbeschränkung dieser Richtung anprangert.14

Parallel zur Kritik an der Historischen Volkskunde - und im Folgenden soll der Begriff mit der historisch-archivalischen Methode in der Volkskunde gleichbedeutend verwendet werden - bekommt dieser Teilbereich in den siebziger Jahren aber wieder Auf­schwung durch den Einzug neuer methodischer Ansätze. Gab es schon in den sechziger Jahren vereinzelte Arbeiten, die mit Computer-Unterstützung und Quantifizierung arbei­teten,15 so entwickelte sich dieser Ansatz in den siebziger und achtziger Jahren zu einer

9 Karl-S. KRAMER. Zur Erforschung der historischen Volkskultur. Prinzipielles und Methodi­sches. In: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 1968.7^11. mit einer Ergänzung versehen wie­der abgedruckt als DERS.. Zur Erforschung der historischen Volkskultur. Prinzipielles und Methodisches (= Elhnologia Bavarica 7), Würzburg-München 1978. - S. a. DERS.. Archivali­sche Quellenforschung. In: Zeitschrift für Volkskunde 55 (1959). 91-98. - Der Begriff schon bei MOSER, Gedanken (wie Anm. 8). 221.

10 Konrad KÖSTLIN, Historische Methode und regionale Kultur. In: DERS. (Hg.). Historische Methode und regionale Kultur. Karl-S. KRAMER zum 70. Geburtstag, Berlin-Vilsbeck 1987. 7-22. hier 7.

" Hans SCHUHLADEN, Frühneuzeitliche Volkskultur im Griff der Magie? Zu Ansätzen der volks­kundlichen historischen Methode und einer historischen Anthropologie. In: Bayerisches Jahr­buch für Volkskunde 1994. 183-198. hier 183 u. 191.

, : Rolf Wilhelm BREDNICH. Quellen und Methoden. In: Rolf W. BREDNICH (Hg.), Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. Berlin 21994, 73-95. hier 80f.

15 LUTZ (wie Anm. 1). bes. 14. 25. 14 Hermann BALSINGER, Zur Problematik historischer Volkskunde. In: Abschied vom Volksleben

(= Untersuchungen des Ludw ig-Uhland-lnstituts der Universität Tübingen 27). Tübingen 1970. 155-172. hier bes. 1571'.

15 S. z. B. Dieter HARMENING, Fränkische Mirakelbücher. Quellen und Untersuchungen zur histo­rischen Volkskunde und Geschichte der Volksfrömmigkeit. In: Würzburger Diözesange-schichtsblätter 28 (1966), 25-240.

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erfolgreichen Richtung, die - teilweise im Rahmen großer, auch interdisziplinärer Pro­jekte - der Volkskunde neue Perspektiven eröffnete.,b Klaus Roth stellte mit seinem Auf­satz „Historische Volkskunde und Quantifizierung" 1980 (s. u.) auch das methodische Instrumentarium vor. Sehr schnell stellte sich jedoch heraus, daß die alleinige Anwen­dung quantifizierender Methoden hier - wie auch in anderen Bereichen der Volkskunde - trotz aller Erfolge und neuen Erkenntnisse (z. B. in bezug auf Innovationen) nur einen methodischen Teilaspekt darstellen kann, daß der Schwerpunkt jedoch eindeutig im qua­litativen Ansatz liegt. Dennoch gibt es natürlich Bereiche, in denen erst eine Kombina­tion von qualitativen und quantifizierenden Methoden die ausreichende Erschließung eines Themas ermöglicht. Gerade die Methodenkombination, die Überwindung der star­ren Grenzen zwischen „Qualifizierern" und „Quantifizierern", wird ja auch in Bereichen der Geschichte oder der Soziologie immer wieder gefordert.17

Die seit den siebziger Jahren stattfindenden Veränderungen in der Geschichtswis­senschaft stellten - und stellen auch heute noch - gerade für eine historisch arbeitende Volkskunde eine besondere Herausforderung dar. Die innerhalb der Geschichte verlang­te und praktizierte Ethnologisierung und Anthropologisierung. wie auch die Weiterent­wicklung und Diversifizierung der Sozialgeschichte, führten dazu, daß Forschungsbe­reiche, die bisher der Volkskunde überlassen wurden, nun auch in das Blickfeld eines wesentlich größeren Faches gerieten.18

Das Verhältnis zwischen „Volkskunde und Geschichte", das schon bisher keinesfalls eindeutig bestimmt war und deshalb immer wieder - besonders von Seiten der Volks­kunde - neu untersucht wurde, zeigt sich auch an den verschiedenen Aufsätzen, die unter diesem und ähnlichen Titeln erschienen sind. Hatten sich unter dem Titel „Geschichts­wissenschaft und Volkskunde" schon am 3. Österreichischen Historikertag 1953 in Graz Viktor Geramb und Hans Moser dieser Problematik gewidmet.|l) so erschien 1970 der schon erwähnte Beitrag von Gerhard Lutz und 1989/90 einer von Ruth-E. Mohrmann, in dem sie besonders auf das Verhältnis zwischen den neueren Strömungen in der Geschichte

16 S. dazu z. B.: Sonderforschungsbereich 164. Vergleichende geschichtliche Städteforschung. Annotierte Gesamtbibliographie 1976-1988. Münster 1989.

17 Vgl. z. B. Rolf GUNDI ACH/Carl August LÜCKERATH. Qualifizierende und quantifizierende Geschichtsbetrachtung bei Anwendung der Elektronischen Datenverarbeitung. In: Konrad H. JARALSCII (Hg.). Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft. Probleme und Möglichkeiten. Düsseldorf 1976. 128-146. - Gerhard BOTZ u. a. (Hgg.). Qualität und Quantität. Zur Praxis der Methoden in der Historischen Sozialwissenschaft (= Studien zur Historischen Sozialwissen­schaft 10). Frankfurt a. M.-New York 1988. - Birgit Hertzberg JOHNSON. Quantitative and qualitative methods in folkloristic research. Comparison and evaluation. In- Arv Nordic yearbook of folklore 51 (1995). 9-22. - Philipp MAYRING. Kombination und Integration qualitativer und quantitativer Analyse. In: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Quali­tative Social Research [On-line Journal] 2. 1 (2001). <http://qualitative-research.net/fqs/fqs-eng.htm> [20.02.20011.

18 S. z. B. (samt der dort zitierten Literatur): Thomas NIPPERDEY. Kulturgeschichte. Sozialge­schichte. historische Anthropologie. In: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsge­schichte 55 (1968). 145-164. - Hans SÜSSMUTH (Hg.). Historische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte. Dreizehn Beiträge (= Kleine Vandenhoeck-Reihe 1499). Göltingen 1984. -Richard VAN DÜLMEN. Historische Anthropologie. Entwicklung - Probleme - Aufgaben. Köln-Weimar-Wien 2000.

19 Viktor VON GERAMB. Geschichtswissenschaft und Volkskunde. In: Bericht über den dritten öster-reichischen Histonkertag in Graz, veranstaltet vom Verband Österreichischer Geschichtsver­eine in der Zeit vom 26. bis 29. Mai 1953 (= Veröffentlichungen des Verbandes Österreichi­scher Geschichtsvereine 4). Wien 1954. 113-118. - Hans MOSER. Geschichtswissenschaft und Volkskunde. In: Ebd.. 118-121

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und der historisch arbeitenden Volkskunde abzielt.20 Bei aller Anerkennung neuer theo­retischer Ansätze der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft, wie sie etwa aus der französischen und britischen Forschung übernommen wurden, moniert Mohrmann doch sehr den relativ unbekümmerten Umgang in diesen historischen Arbeiten mit älteren ..volkskundlichen" Quellen und Literatur, die von Seiten der Volkskunde nur mehr mit entsprechender Vorsicht verwendet werden, wie z. B. mit dem Handwörterbuch des deut­schen Aberglaubens.21 Das besondere Interesse für Magie machte ja 1987 auch einen Nachdruck dieses lObandigen Werks - allerdings mit einem kritischen volkskundlichen Kommentar von Christoph Daxelmüller- möglich.22 Ebenso stellt Mohrmann eine gewis­se Ignoranz von Historikern gegenüber der einschlägigen volkskundlichen Literatur fest. Auch der Begriff „Volk" mit allen seinen Komposita, in der Volkskunde schon über Jah­re heftig diskutiert und aufgrund seiner Unscharfe immer mehr als unbrauchbar abge­lehnt. erfuhr besonders in den im weitesten Sinne alltagsgeschichtlichen Untersuchun­gen eine kaum vorhersehbare Wiederbelebung von seiten der Geschichtswissenschaft.21

Speziell das Verhältnis zwischen Historischer Anthropologie und Volkskunde unter­sucht Angela Treiber 1996, wobei sie zu dem Schluß kommt, daß die Prinzipien der Histo­rischen Anthropologie im Grunde mit den Zielen der Volkskunde ]...] korrespondieren?* Dazu zählen u. a. die Adaptierung der Feldforschung als zentrale volkskundliche Metho­de, die Kategorie des „Fremden", das stärkere Interesse an der sozialen Praxis der histo­rischen Akteure oder die Konzentration auf kleine Untersuchungsräume und qualitative Methoden.25

Ebenso das Verhältnis zur Historischen Anthropologie, aber auch das zu anderen historischen Teildisziplinen wie der Mikrohistorie beleuchtet Hans Schuhladen,26 der zwar konzediert, daß vielen der Einsatz von Belegreihen und die weitgehende Beschrän­kung auf sie nach Art der Münchner Schule' als zu langatmig und nicht hinreichend kom­mentiert und analysiert11 erscheinen, daß aber umgekehrt auch viele Konzepte, die in heutigen Strömungen erscheinen, auch hier schon - zumindest vom Prinzip her - zu fin­den sind. Die Situierung in der Lebenswelt, bei Kramer als „Umweltverflechtung" bezeichnet, ist sicher ein wesentlicher Punkt, der dem heutigen z. B. auch in der Histo­rischen Anthropologie oder einer kulturgeschichtlich erweiterten Sozialgeschichte ver­tretenen praxeologischen Ansatz mit seiner Betonung der Wechselwirkung zwischen dem sozialen Handeln des einzelnen und den zugrunde liegenden Strukturen schon sehr nahe kommt.28

Ich möchte mir hier nicht anmaßen, jene unterschiedlichen neueren Strömungen der Geschichte, die ein gewisses Naheverhältnis zur Volkskunde aufweisen, in ihren Ansät­zen und theoretischen Konzepten zu beurteilen. Zweifellos gibt es jedoch auch innerhalb der Geschichtswissenschaft - und nicht nur aus der Perspektive entfernterer Fachberei-

20 Ruth-E. MOHRMANN. Volkskunde und Geschichte. In: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 34/35 (1989/90). 9-23.

21 Ebd.. 13-17. 22 Hanns BÄCHTOLD-STÄLBLI (Hg.). Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Mit einem

Vorwort von Christoph DAXELMÜLLER. Reprint Berlin u. a. 1987. "' MOHRMANN. Volkskunde (wie Anm. 20). 13. 24 Angela TREIBER. Volkskunde und Historische Anthropologie. Zu Positionierungen in der

Geschichtswissenschaft. In: Bayerische Blätter für Volkskunde 23 (1996). 142-149. hier 148. 25 Ebd.. 147. 26 ScHUHi.ADF.N (wie Anm. 11), 190. 27 Ebd.. 191. 28 Vgl. z. B. Gert DRESSEL. Historische Anthropologie. Eine Einführung. Wien-Köln-Weimar

1996,49.

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che - Kritik an der immer stärkeren Diversifizierung einer einst umfassenden Sozialge­schichte. So etwa von Reinhard Sieder, der in seiner Auseinandersetzung mit der Histo­rischen Anthropologie festhält: Historische Anthropologie ist. zeigt sich, kein klar abgrenzbares wissenschaftliches Feld im Sinn einer Disziplin oder Teildisziplin der Geschichtswissenschaften. Und das Ziel, die europäische Geschichte mit den Augen eines Sozial- oder Kulturanthropologen zu sehen, ist keineswegs neu. Als neu muß es aber dar­gestellt werden, wenn man unter dieser Fahne im aktuellen sozialen Geschehen des Wis­senschaftsbetriebs ein neues „ Claim " abstecken will. Wir haben es mit einem weiteren Kampfbegriff zu tun, der wie die Begriffe „Alltagsgeschichte" oder „Erfahrungsge­schichte" helfen soll, eine kulturtheoretische Wende in der Sozialgeschichte durchzuset­zen. Wenn es in den wenigen Versuchen, ein historisch-anthropologisches Paradigma zu explizieren, einen gemeinsamen Nenner gibt, ist es jener vorhin referierte praxeologi-sche Modus der Erkenntnis. Doch ihn teilt die Historische Anthropologie mit der All­tagsgeschichte und mit der Mikrogeschichte, mit Autoren und Autorinnen der Frauen-und der Geschlechtergeschichte, mit jenen Exponenten und Exponentinnen der Volks­kunde. die ihre Wissenschaft als eine historische Kulturwissenschaft verstehen, sowie mit poststrukturalistischen Varianten der Ethnohistorie, um nur die historischen Fächer in den Sozialwissenschaften zu nennen.19

Umgekehrt gibt es jedoch auch innerhalb der Volkskunde durchaus selbstkritische Stellungnahmen zur Situation des Faches, die u. a. die Position der Historischen Volks­kunde beleuchten. So stellte etwa Christoph Daxelmüller. Ordinarius für Volkskunde in Würzburg, unter dem Titel „Volkskunde 2000" fest:

Doch dieser historisch bedingte überweite Rahmen zwischen Heimat- und Reglo-nalgeschichte und globalen Kulturtheorien hat die Volkskunde in den letzten Jahrzehn­ten nicht daran gehindert, noch weiter auszugreifen, ihr Zentrum zu verlassen. Kompe­tenzfelder wie etwa die historische Volkskunde weitgehend aufzugeben und sie den Histo­rikern zu überlassen, sich über den Tellerrand zu lehnen und teilweise darüber hinun-terzupurzeln. Sie ist soweit auseinandergedriftet, daß, wie Wolfgang Brückner einmal schrieb, die jüngere Generation von Volkskundlern nicht mehr miteinander sprechen kön­ne, und ich füge hinzu, nicht deswegen, weil sie in den Scheuklappen von Schulstreitig­keiten befangen wäre, sondern weil durch die Diffüsität der Inhalte eine gemeinsame kompetente Diskussionsbasis kaum mehr gegeben ist.

Man kann hier positiv von innovativem, dem Gegenstand, dem sich wandelnden All­tag des Menschen, angemessenen Pluralismus sprechen, aber auch negativ von einem mehr und mehr verblassenden Außenbild von den Aufgaben und Kompetenzen eines Faches, mit dem niemand mehr und am wenigsten diejenigen etwas anfangen können. die über Stellen und Gelder entscheiden?0

Auch Uwe Meiners weist in seinen Überlegungen zu „Volkskultur und Geschichte" bei aller Kritik an der lockeren Übernahme volkskundlicher Forschungsfelder und Kon­zepte durch Teilbereiche der Geschichtswissenschaften darauf hin, daß diese Entwick­lung auch mit der unzureichenden Selbstdarstellung der Volkskunde zusammen [hänge], mit der fehlenden Durchsetzungskraft im Kanon der großen Fächer, aber auch mit der

29 Reinhard SIEDER. Sozialgeschichte auf dem Weg zu einer historischen Kulturwissenschaft? In: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994). 445^168. hier 456 mit Literaturhinweisen. - Vgl. kri­tisch auch Ute DANIEL. ..Kultur" und ..Gesellschaft". Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993). 69-99. hier 90.

10 Christoph DAXELMÜLLER. Volkskunde 2000. In: Baverische Blätter für Volkskunde NF 1 (1999). 42-54. hier 51 f.

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inkonsequenten Haltung gegenüber eigenen Theorien und Methoden und der damit zusammenhängenden ständigen Selbstreflexion."

Verbale Attacken und Anschuldigungen zwischen Volkskunde und Geschichte wie auch zwischen Teilbereichen innerhalb beider Disziplinen erscheinen obsolet, wenn es um die Forschung als solche geht: sie werden jedoch teilweise verständlich, wo es um Freiräume und Arbeitsmöglichkeiten für eine Disziplin bzw. ihre Vertreterinnen und Ver­treter geht. Hier befindet sich die Volkskunde als kleineres Fach zwangsläufig in der schlechteren Ausgangsposition, was manche Empfindlichkeit hinsichtlich der Auswei­tung der Geschichtswissenschaft auf Kosten der Volkskunde betrifft. Letztlich ist es die­se Sorge um Stellen und Gelder, die es vor allem für ein kleineres Fach günstig erschei­nen läßt, ein spezifisches Profil zu bewahren.

Die verstärkte Hinwendung der Geschichte zu Alltags- und Volkskultur hat aber auch in der Volkskunde - zwangsläufig - eine neue Positionsbestimmung bewirkt, die sich in einer Reihe von einschlägigen Arbeiten seit Anfang der neunziger Jahre ausgedrückt hat. Die schon erwähnte Abgrenzung zu und Kritik an neuen Strömungen der Geschichts­wissenschaft stellt darin nur einen Aspekt dar. Zugleich werden neue Untersuchungsfel­der auch verstärkt in die Historische Völkskunde eingebracht. Die Streuung dieser Arbei­ten zeigt sich schon in den gewählten Themen:

Silke Göttsch etwa geht unter Einbeziehung eines geschlechtsspezifischen Ansatzes u.a. speziell auf die quellenmäßigen Probleme ein. die etwa im Bereich der Gerichts­protokolle durch die ausschließlich männliche Überlieferung bestimmt sind.32 Bei den zahlenmäßig also ohnehin schon wesentlich geringer vertretenen Quellen zu Lebensbe­dingungen von Frauen kommt noch dazu, daß dort, wo die Quellendichte etwas höher ist, die Darstellung ausschließlich aus männlicher Perspektive erfolgt." Göttsch erarbei­tet schließlich neue Perspektiven für die traditionellen Forschungsobjekte des Nacht-freiens und der Brautkronen.

Gegen eine zu starke Dichotomisierung im Sinne der Gegenüberstellung „Kultur des Volks" - „Kultur der Eliten" Muchembleds wendet sich Walter Hartinger in seiner Arbeit über ..Volksleben zwischen Zentraldirigierung und Widerstand".34 Er betont besonders das Verhältnis zwischen obrigkeitlichen Vorschriften und der gelebten Realität der Unter­schichten. wobei er z. B. die Aspekte der Religion und Frömmigkeit ebenso behandelt wie etwa das Verhältnis zu den sogenannten „Zigeunern", die zwar von der Obrigkeit ausgegrenzt werden sollten, mit der Bevölkerung aber trotzdem Kontakte hatten.

Konrad Köstlin konzediert in seiner Arbeit über die „Historische Methode" der Volks­kunde und den „Prozeß der Zivilisation" des Norbert Elias bei aller Kritik auch der älte­ren Historischen Volkskunde eine große Offenheit und „Kompatibilität" mit neueren Ansätzen etwa einer historischen Volkskulturforschung. Etwa, wenn sie z. B. stets von

" Uwe MEINERS. Volkskultur und Geschichte. Anmerkungen zur Erforschung kulturhistorischer Prozesse am Beispiel der Trinkgewohnheiten. In: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volks­kunde 36 (1991). 11-30. hier 13.

12 Silke GÖTTSCH. Frauen und traditionelle Ordnung. Anmerkungen zu Problemen einer archha-lisch arbeitenden Volkskunde. In: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 29 (1991/92). 9-22. hier9f. - S. a. DIES.. Geschlechterforschung und historische Volkskultur. Zur Re-Konstrukti-on frühneuzeitlicher Lebenswelten von Männern und Frauen. In: Christel KÖHLE-HEZINGER, Martin SCHARFE. Rolf Wilhelm BREDNICH (Hgg.). Männlich. Weiblich. Zur Bedeutung der Kate­gorie Geschlecht in der Kultur. 31. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde. Mar­burg 1997. Münster u.a. 1999. 1-17.

33 GOTISCH. Frauen und traditionelle Ordnung (wie Anm. 32). 21. 34 Robert MITHEMBLED. Kultur des Volks-Kultur der Eliten. Die Geschichte einer erfolgreichen

Verdrängung. Stuttgart 1982. - Walter HARTINGER. Volksleben zwischen Zentraldirigierung und Widerstand. In: Bayer. Jb. f. Volkskunde 1996. 51-66.

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einer gewissen kulturellen Autonomie der unteren Sozialschichten ausgegangen ist. wenn die aufgezeigten Momente der Beharrung auch als Gegensatz zur Kultur der Obrigkeit begriffen werden können usw. Hier zeigte sich der Vorteil der verwendeten Quellen gegenüber den normativen Quellen.35

Bei Göttsch ebenso wie bei Hartinger und anderen Autorinnen und Autoren (z. B. Carola Lipp, Wolfgang Kaschuba) kommt also verstärkt der Aspekt des Widerständigen in der Volkskultur zur Sprache, wie ihn die historische Volkskulturforschung verwendet, wie er aber auch schon in der älteren Historischen Volkskunde zwar nicht explizit for­muliert, aber doch vom Konzept her vorgesehen ist.

Die Spezifik historisch-volkskundlicher Arbeiten und damit auch die Abgrenzung zur Geschichte liegt wohl auch darin, daß alle Vertreterinnen und Vertreter dieser Rich­tung eine im weitesten Sinne ethnologische Ausbildung haben und zumindest teilweise parallel zur archivalischen Forschung auch Feldforschung betreiben. Zugleich wird die Historische Volkskunde aber teilweise schon als Randgebiet innerhalb der Volkskunde betrachtet. Volkskundliche „Kanon-Themen" wie Brauch und Ritual, Frömmigkeit oder materielle Kultur können jedenfalls sowohl gegenwarlsorientiert mit Feldforschung als auch historisch nach schriftlichen Quellen untersucht werden, wobei bei volkskundli­chen Untersuchungen die Kombination dieser Ansätze doch recht häufig ist, weil sie sich für viele Untersuchungen über längere Zeiträume von selbst aufdrängt. Feldforschung ist sicher eine zentrale Methode der Volkskunde, Qucllenarbeit ist in der Geschichte zen­tral: Viele Themen, die ursprünglich unbestritten der Volkskunde zugeordnet wurden, sind durch die „Anthropologisierung" der Geschichte heute auch dort vertreten.

Die Genauigkeit und Akribie, mit der Karl-S. Kramer und Hans Moser sowie viele andere nach ihnen arbeiteten und arbeiten, ist sicher keine Schwachstelle der Histori­schen Volkskunde. In der Erweiterung des Ansatzes, im Einbringen neuer Problemstel­lungen in die Forschung liegt aber sicher ein wesentlicher Entwicklungsschritt, der über das angestrebte „Fließen-Lassen" der Quellen in der älteren Historischen Volkskunde hinausgeht und so auch in Zukunft den Weiterbestand einer historisch-archivalischen Volkskunde sichern sollte.

Ein Blick auf die Steiermark

In der Steiermark hatte sich mit Viktor von Geramb ein ausgebildeter Historiker und Archivar 1924 für das Fach Volkskunde habilitiert, was fast zwangsläufig neben der sach-volkskundlichen Ausrichtung einen starken Impuls in Richtung einer archivalisch arbei­tenden Volkskunde auslöste. Von seinen eigenen Arbeiten seien neben der erwähnten Standortbestimmung am 3. Österreichischen Historikertag nur seine Arbeit zu den Ver-lassenschaftsinventaren36, die Edition der Knaffl-Handschrift37 und das steirische Trach-

Konrad KÖSTLIN. Die „Historische Methode" der Volkskunde und der ..Prozeß der Zivilisati­on" des Norbert Elias. In: Dieter HARMKNiNü/Erich WIMMFR (Hgg.), Volkskultur - Geschich­te - Region. Festschrift für Wolfgang Brückner zum 60. Geburtstag (= Quellen und Forschun­gen zur europäischen Ethnologie 7). Würzburg 1990, 58-76, hier z. B. 59. 75. Viktor VON GERAMB, Untertanen-Inventare als Quelle für die Volkskunde der Sachen nebst einem steirischen Beispiel aus Stift Seckau um 1720. In: Niederdeutsche Zeitschrift für Volks­kunde 7 (1929), 209-218. Viktor VON GERAMB (Hg.). Die Knaffl-Handschrift. eine obersteirische Volkskunde aus dem Jahre 1813 (= Quellen zur deutschen Volkskunde 1), Berlin-Leipzig 1928.

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tenbuch38, das reichlich von Steckbriefen Gebrauch macht, in Erinnerung gerufen. Von seinen Schülern, die intensiv mit archivalischem Material gearbeitet haben, möchte ich beispielhaft Hanns Koren, Leopold Kretzenbacher, Oskar Moser oder Elfriede Grabner nennen, die mit ihren Arbeiten ohnehin zahlreich in den Publikationen des Historischen Vereins für Steiermark vertreten sind.3lJ Aber auch in der nächsten „Generation" an Volks­kundlerinnen und Volkskundlern ist das archivalisch-historische Arbeiten zumindest geläufig, auch wenn es durch die persönlichen Schwerpunktsetzungen im Fach unter­schiedlich stark vertreten ist.

Am Grazer Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie stellt die Ausbildung in Historischer Volkskunde einen Teil der Standard-Ausbildung dar, die von allen Studie­renden absolviert werden muß. Hier wird neben einer allgemeinen Einführung in Geschichte und Literatur dieses Teilbereichs sowie einer Diskussion der methodischen Grundlagen intensiv mit Quellenmaterial wie Wallfahrtsakten, Mirakelbüchern, Gerichts­akten, Katastern und Verlassenschaftsinventaren gearbeitet. Um einen breiteren Überblick über Ansätze und Forschungsfelder zu vermitteln, stellen kurze Literaturrefe­rate einschlägige Arbeiten der historischen Volkskunde und der Nachbardisziplinen vor. Natürlich ist zunächst das Erlernen der Kurrentschrift erforderlich - ein für viele doch recht mühsamer Vorgang, zumal „volkskundliche" Quellen, die meist aus den unteren Ebenen der Verwaltung stammen, für Anfänger recht schwierig zu lesen sind und die not­wendige Verwendung von Fotokopien nochmals eine Erschwernis darstellt. Die Arbeit mit Originalquellen bleibt großteils dem persönlichen Engagement der Studierenden überlassen, mit Ausnahme der Kataster, die schon seit Jahren in einer Unterrichtseinheit hier im Landesarchiv vermittelt werden, wodurch sichergestellt wird, daß alle Studie­renden zumindest ein Mal dieses Archiv besuchen.40

Solche Archiv-Besuche sind auch an anderen Volkskunde-Instituten üblich: So verzeichnet der Jahresbericht 1999 für das Staatsarchiv Basel-Stadt kurze Einführungen in archivisches Arbeiten für vier Proseminare und ein Seminar für historische Volkskunde.41

2. Verlassenschaftsinventare und ihre rechnergestützte Analyse

Verlassenschaftsinventare42 haben sich als wertvolle Quelle für die Analyse verschie­dener Aspekte des Alltagslebens und der materiellen Kultur in städtischen und ländlichen Räumen besonders des 16. bis 19. Jahrhunderts erwiesen. Nicht nur Wohnausstattung, Klei­dung, Arbeitsgeräte und Agrarprodukte waren Gegenstand wissenschaftlicher Untersu­chungen, sondern auch abstraktere Konstrukte wie Haushaltstypen, Innovation, Konsum­verhalten und Wohlstand. Historiker, Geographen und Volkskundler oder Ethnologen mit ihren je spezifischen Ansätzen betonen unterschiedliche Aspekte dieser Quelle.43

38 Konrad MAUTNER/Viktor GERAMB. Steirisches Trachtenbuch. 2 Bände, Graz 1932-1935, Reprint Graz 1988.

35 Auf eine Nennung einzelner Werke sei hier verzichtet, da sie entweder den Rahmen sprengen oder doch sehr beliebig sein würde.

40 Für die mittlerweile schon zahlreichen Einführungen danke ich Herrn Oberarchivrat Dr. Karl Spreitzhofer herzlich.

41 <http://www.bs.ch/stabs/main_publikationenJahresbericht-1999.html> [11.11.2001] 42 Im wesentlichen gleich zu beurteilen sind die Übergabe- und Verkaufsinventare. Zusätzliche

Möglichkeiten bieten Abschätzungsinventare, wenn sie neben dem Schätzwert auch den Erlös bei einer Versteigerung verzeichnen.

43 Vgl. Jutta KONIETZKO. Nachlaßinventare in der volkskundlichen Forschung. In: Marina SCHEIN­OST (Hg.). Haube - Hausfrau - Halloween. Lebendige Kulturwissenschaft. Festschrift für Eli-

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Möglichkeiten zur systematischen Bearbeitung größerer Mengen von Inventaren eröffneten sich einerseits mit dem Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung seit den sechziger Jahren, andererseits durch einen methodischen Paradigmen Wechsel in der For­schung. indem an die Stelle der Interpretation einzelner oder nur weniger ausgewählter Inventare die quantifizierende Analyse großer kodierter Quellenbestände trat.44 Mit die­ser Entwicklung stieg auch das Interesse der Geschichte und besonders der Wirtschafts­und Sozialgeschichte an der Auswertung von Nachlaßverzeichnissen, wenngleich hier die Akzente anders gesetzt wurden als von Seiten der Volkskunde.

Quellenkritische Überlegungen

Anlässe für die Errichtung von Inventaren, die seit der frühen Neuzeit mit der zuneh­menden Bürokratisicrung der Verwaltung in immer größer werdender Anzahl entstanden waren, waren vorwiegend Todesfälle, aber auch Verschuldungen, Hofübergaben und Vor­mundschaftsfälle. Trotz großer regionaler Unterschiede waren im Todesfall die geregel­te Verteilung des Erbes und die Festlegung und Sicherung der Abgaben die wichtigsten Gründe für die Errichtung von Verlassenschaftsinventaren.45 Daneben spielte, besonders im ländlichen Raum, auch die Wahrung des Bestandes der Untertanengüter eine gewis­se Rolle.

Offensichtlich ist. daß nicht in jedem Inventar der gesamte Besitz und damit auch nicht die gesamte Wohnausstattung erfaßt wurde: Das fallweise Fehlen von Betten und das häufige Fehlen von Bettwäsche kann durchaus als der Wirklichkeit entsprechend interpretiert werden, wenn man bedenkt, daß etwa noch 1811 in einem Physikatsbericht für die Weststeiermark beklagt wird, daß die Bewohner nur auf den Bänken schlafen und oft nicht einmal frisches Stroh oder ein Leintuch aufbreiten.46 Weniger glaubhaft ist hin­gegen das Fehlen des Tisches, der offenbar bei manchen Grundherrschaften als zum Haus gehörig betrachtet und daher nicht in das Inventar aufgenommen wurde. Ähnliches ist

sabeth Roth zum 75. Geburtstag (= Bamberger Beiträge zur Volkskunde 6). Hildburghausen 1996. 70-84. - Hildegard MANNHEiMs/Klaus ROTH. Nachlaßverzeichnisse. Internationale Bibliographie. Probate Inventories. International Bibliography (= Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 39). Münster 1984.

44 S. z. B. Nils-Ärvid BRINGELS. Nachlaßverzeichnisse als Quellen für das Studium von Land-wirtschaflsgeräten in Südschweden. In: Wilhelm HANSEN (Hg.), Arbeit und Gerät in volks-kundlichcr Dokumentation (= Schriften der Volkskundlichen Kommission des Landschafts­verbandes Westfalen-Lippe 19). Münster 1969. 28-36. - Thomas GROTUM/Thomas WERNER. Sämtlich Hab und Gut... Die Analyse von Besitzstandslisten (= Halbgraue Reihe zur Histori­schen Fachinformatik A 2). St. Katharinen 1989. 20f. - Zur Entwicklung des EDV-Einsatzes in den historischen Wissenschaften allgemein: Manfred THALLER. Entzauberungen. Die Ent­wicklung einer fachspezifischen historischen Datenverarbeitung in der Bundesrepublik. In: Wolfgang PRiNz/Petcr WEINGART (Hg.). Die sog. Geisteswissenschaften: Innenansichten. Frankfurt a. M. 1990. 138-158.

45 Peter LÖFFLER, Inventare. Historische Entw icklung und rechtliche Grundlagen. In: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 23 (1977), 120-131. hier 121. - Oskar MOSER. Archiv­quellen und neuzeitliche Geräteforschung. In: Bericht über den sechzehnten österreichischen Historikertag in Krems/Donau 1984 (= Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer Geschichtsvereine 25). Wien 1985. 449-457. hier 451 f.. Neuabdruck in: DERS.. Des Lebens Wirklichkeit. Ausgewählte Schriften zur Volkskunde (1949-1993). Festgabe zum 80. Geburts­tag (= Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie 75). Klagenfurt 1994. 277-286.

46 StLA. Göthsche Topographie. Seh. 6. H. 115. fol. 10'f. - S. a. Burkhard PÖTTLER. Das ländli­che Wohnhaus im Gcnchtsbezirk Stainz. Eine Untersuchung historischer Hausformen in der Weststeiermark (= Veröffentlichungen des Österreichischen Museums für Volkskunde 21). Wien 1986.64-66.

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für die zahlreichen wandfesten Regale und anderen Aufbewahrungsbehelfe anzunehmen, die oft die Zahl der aufgelisteten Möbel auf einen sehr geringen Wert sinken lassen, aber auch Dinge wie Kruzifixe oder Heiligenbilder kommen in den hier untersuchten Inven­taren praktisch nicht vor.47

Unterschiedliche Rechtsgrundlagen. Vorschriften und Usancen bei der Errichtung der Inventare sind sicher ein wesentlicher Punkt, wenn es um die Nennung oder Nicht­Nennung von Objekten geht, und erschweren die Vergleichbarkeit zwischen verschiede­nen Regionen und Zeilräumen. Die unterschiedliche Ausbildung, der Eifer und die Fähig­keiten der involvierten Beamten stellen ein weiteres Kriterium dar. wie Eva Habel in ihrer Dissertation für das Landgericht Wasserburg zeigen konnte.48

Können schon die Angaben zu den Realien nicht als komplett betrachtet werden, so gilt dies noch stärker für die Angaben zu Personen. Zwar werden die Erben meist mit Namen genannt, und teilweise finden sich Angaben über das Alter, eine Verheiratung bzw. einen anderen Wohnort, jedoch bleibt das Alter des Verstorbenen ebenso unbestimmt wie etwa die Zahl der im Haus Lebenden: Angaben zu diesem Personenkreis finden sich höchstens bei der Auflistung der Schulden, da Dienstboten beim Tod ihres Arbeitgebers oft noch ihren Lohn zu bekommen hatten. Aber auch hier sind den Inventaren meist keine exakten Angaben zu entnehmen: zusätzliche Quellen, wie etwa Tauf- und Sterbematri­ken. sind nur partiell verfügbar.

Zu diesen sich direkt aus dem Einzelinventar ergebenden Schwierigkeiten kommen noch weitere, die schon bei der qualifizierenden Interpretation, besonders aber bei einer quantifizierenden Analyse größerer Mengen von Inventaren relevant sind.

An erster Stelle ist hier die Frage der Repräsentativität des untersuchten Bestandes zu nennen, die von den rechtlichen Grundlagen und ihrer praktischen Umsetzung abhängt. Oft sind soziale Verschiebungen festzustellen, die sich z. B. aus der Tatsache ergeben, daß nicht alle Bevölkerungsschichten gleich intensiv erfaßt wurden, sondern eine „Bevor­zugung" der sozioökonomisch begünstigten Schichten gegeben ist. Bei der Quellenaus­wahl für ein größeres Projekt ist diese Problematik entsprechend zu berücksichtigen, etwa durch die Erstellung eines geschichteten Samples.49

Eine weitere Verschiebung tritt bezüglich des Alters des Erblassers ein. Der Groß­teil der Inventare wurde beim Tod des Besitzers angelegt. Wenn auch das Alter des Ver­storbenen in der Regel nicht angegeben wird, so ist doch mit einer Retardierung hin­sichtlich der genannten Realien zu rechnen: Innovationen werden erst mit einer gewis­sen Verspätung sichtbar, Gegenstände, die bei der Mehrheit der Bevölkerung in ver­gleichbaren Verhältnissen bereits aus dem Gebrauch gekommen sind, werden noch stär­ker vertreten sein. Auch verheiratete Personen sind in den Inventaren überrepräsentiert. da ein wesentlicher Grund für die Errichtung die Sicherung der Erbfolge war.50

47 Im Gegensatz dazu werden z. B. in bayerischen Inventaren Kruzifixe - meist an prominenter Stelle - sehr wohl genannt. S. Eva HABEL. Inventur und Inventar im Pfleggericht Wasserburg (= Münchner Beiträge zur Volkskunde 21 = Münchener Universitätsschriften). Münster u. a. 1997. z.B. 118. 121.299f.

48 HABEL. Inventur (wie Anm. 47). bes. 99-216. 49 Klaus ROTH. Historische Volkskunde und Quantifizierung. In: Zeitschrift für Volkskunde 76

(1980). 37-57. hier 44^16. - Ruth-E. MOHRMANN. Alltagswelt im Land Braunschweig. Städ­tische und ländliche Wohnkultur vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert (= Beiträge zur Volks­kultur in Nordwestdeutschland 56). Münster 1990. 18.

511 Vgl. a. Daniel Scott SMITH. Underregistration and Bias in Probate Records. An Analysis of Data from Eighteenth-Century Hingham. Massachusetts. In: The William and Mary Quarterly. Third Senes. 32(1975). 100-110.

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Trotz dieser quellenkritischen Probleme bieten die Inventare einen wesentlichen Zugang zur Alltagskultur besonders des 16. bis 19. Jahrhunderts. Zusätzliche Infor­mationen kann je nach regionaler und zeitlicher Verfügbarkeit die Einbindung weiterer Quellen bieten: z. B. Handwerkerrechnungen. Baupläne. Bildquellen. Katasterpläne, Stiftregister, Quellen mit demographischen Angaben oder Angaben über Steuerlei­stungen.

Die Auswertung von Inventaren

Nach der lange üblichen Heranziehung einzelner Inventare zur Illustration von Lebensverhältnissen zeigte 1980 eine Konferenz in Wageningen erstmals, daß mittler­weile die rechnergestützte Analyse von Verlassenschaftsinventaren zu einer wesentlichen methodischen Bereicherung geworden war, die jedoch auch verstärkte quellenkritische Überlegungen verlangt.51 Zugleich wird hier der große Einfluß des technisch Machba­ren sichtbar: So war das Problem der Kodierung, das auch heute noch - etwa bei der Klassifikation von Berufen - einen wesentlichen Stellenwert einnimmt, der zentrale inhaltliche Schwerpunkt, bezüglich der Methoden stellte die Quantifizierung das zen­trale Thema dar.

Die frühen rechnergestützten Projekte, wie etwa das Münsteraner Teilprojekt „Dif­fusion städtisch-bürgerlicher Kultur" im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Ver­gleichende geschichtliche Städteforschung", mußten aufgrund der Mitte der siebziger Jahre gegebenen Beschränkungen hinsichtlich der Hard- und Software die Dateneinga­be in kodierter Form durchführen, was die Fehleranfälligkeit bei der Datenerfassung erhöhte und den Bezug der Bearbeiter zur Quelle und damit auch zum Untersuchungs­gegenstand verringerte. Die Eingabe der Inventare in dieser Form setzt außerdem vor­aus, daß bereits vor einer genauen Kenntnis des zu untersuchenden Materials ein Kodie­rungsschema entwickelt werden muß. um die Datenaufnahme durchführen zu können. Neben dem Informationsverlust, der durch die kodierte Eingabe in der Regel gegeben ist. muß eine in der Pilotphase entwickelte Kategorienbildung meist auch dann beibe­halten werden, wenn sie bei der Dateneingabe als fehlerhaft erkannt oder durch zusätz­liches Quellenmaterial teilweise unbrauchbar geworden ist.52 Um dieses Manko auszu­gleichen, wurde in einigen späteren Arbeiten zusätzlich zur Kodierung die Original­schreibung mit aufgenommen, was nachträgliche Kontrollen und Korrekturen erleich­terte.53

Daß der quantifizierende Zugang bei der Auswertung von Inventaren meist unver­zichtbar ist. wird heute kaum noch bestritten. Für zahlreiche Bereiche, besonders inner­halb der Wirtschaftsgeschichte, ist dies sicher ein adäquater Ansatz, z. B. bei der Analy-

5 Ad VAN DER WOUDE/Anton SCHUURMAN (Hgg.). Probate Inventories. Anew source forthe histo-rical study of wealth. material eulture and agricultural de\elopment (= Hes Studia Historica 3). Utrecht 1980.

52 MOHRMANN. Alltagswelt (wie Anm. 49). 22: Micheline BAILANT. Die Kodierung von Nach-laßinventaren. In: Franz IRSIGLER (Hg.). Quantitative Methoden in der Wirtschafts- und Sozi­algeschichte der Vorneuzeit (= Historisch-sozialwissenschaftliche Forschungen 4). Stuttgart 1978. 101-126. - GROTUM/WERNER (wie Anm. 44). 26f.

51 Vgl. z. B. Evelin HABEL. Ausstattung ländlicher Anwesen. Ein Beitrag zur Erforschung der Sachkultur des 18. Jahrhunderts. Magislerarbeit Ludwig-Maximilians-Univ. München 1992. 20-25.

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se von Wohlstand, wie sie besonders in verschiedenen Untersuchungen der US-ameri­kanischen Forschung um 1980 zu finden ist, aber auch in Österreich zur Anwendung kommt.54

Für die Untersuchung der materiellen Kultur konnte die Quantifizierung allein aber auf Dauer nicht befriedigen. Die verfügbaren Computerprogramme steckten jedoch oft enge Grenzen, wenn es um die Bearbeitung von Qualitäten ging, weshalb auch in groß angelegten volkskundlichen Projekten, wie dem erwähnten in Münster, qualitative Aus­wertungen auf konventionelle Art durchgeführt wurden, wie auch Ruth-E. Mohrmann 1990 in ihrer Habilitationsschrift zum Thema „Alltagswclt im Land Braunschweig" fest­hielt.55

Gerade hier bietet sich die Formalisierung eines hermeneutischen Zugangs an. um durch den Einsatz datentechnischer Verfahren diesen qualitativen Zugriff methodisch zu bereichern.5fl Diese neueren datentechnischen Konzepte erlauben es. archivalische Quel­len in sehr quellennaher Form einzugeben und so für qualitative und quantitative Ana­lysen aufzubereiten. Dies ermöglicht nicht nur eine flexiblere Auswertung des Inhalts der Inventare. sondern auch eine differenziertere Quellenkritik, die sich etwa an der Ortho­graphie, bei der Einbindung der Quellen als Images, aber auch an der Handschrift ori­entieren kann. Darüber hinaus bleibt die innere Struktur der Inventare weitestgehend erhalten, was einerseits ebenfalls für quellenkritische Überlegungen aufschlußreich sein kann, andererseits auch die Möglichkeit eröffnet. Probleme bei der Dateneingabe im Nachhinein zu lösen. Die manuelle Eingabe des transkribierten Textes ist jedoch nach wie vor unumgänglich, wenn eine vollständige inhaltliche Erschließung erfolgen soll.

Konzeptionelles Schema und datentechnische Realisierung

Die Gliederung von Inventaren ist der Grundstruktur nach relativ einheitlich: Auf eine Präambel mit den Angaben zum Verstorbenen oder Übergeber, zu den rechtlichen Verhältnissen und zu den Aufnahmebedingungen folgen in der Regel Angaben zu den Erben und - in unterschiedlicher Reihenfolge und Gruppierung - zu den vorhandenen Dokumenten. Liegenschaften. Fahrnissen. Außenständen und Schulden, wobei jede Gruppe weiter untergliedert sein kann. Das Gesamtvermögen und das Restvermögen des Erblassers sowie die Art der Aufteilung unter die vorhandenen Erben, gefolgt von einem stark formalisierten Schlußteil, in dem meist auch die Übergaberegelungen genannt wer­den, beenden das Inventar im allgemeinen.57

54 Vgl. z. B. Alice Hanson JONES. Wealth of a nation to be. The American colonies on the eve of the revolution. New York 1980: Michael PAMMER. Economic Growth and Lower Class Invest­ments in Nineteenth Century Austria. In: Historical Social Research - Historische Sozialfor­schung 25 (2000). 25-48.

s" MOHRMANN. Alltagswelt (wie Anm. 49). 18-23. 56 S. dazu Manfred THALLER. Zur Formalisierbarkeit hermeneutischen Verstehens in der Histo­

rie. In: Mentalitäten und Lebensverhältnisse. Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neuzeit. Festschrift Rudolf Vierhaus. Göttingen 1982.439^154. - DERS.. Databases and Expert Systems asComplemcntary Tools for Historical Research. In: Tijdschrift voor Geschiedenis 103 (1990). 233-243.

57 Vgl. a. Hildegard MANNHEIMS. Wie wird ein Inventar erstellt? (= Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 72). Münster 1991. 7-27.

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Eine Möglichkeit, die vorgegebene Struktur der Inventare zu erhalten, stellt ihre (möglichst) vollständige Transkription und ihre Aufbereitung als „Quellenbank" dar.58

also als Datenbank, die die Quellen in möglichst quellennaher Form wiedergibt. Ein Problem, das bei der Bearbeitung von historischen Quellen stets auftritt, ist die

Berücksichtigung des Kontexts. Währungsangaben und Gewichte, aber auch die Bezeich­nung von Objekten in ihrer zeitlichen und räumlichen Varianz zu erfassen, ist schon bei der Bearbeitung von Einzelquellen nicht immer einfach.59 Für die datentechnische Umset­zung sind jedoch weit komplexere Vorkehrungen vonnöten, die z. B. Wolfgang Lever-mann erläutert hat.60

Anwendungsbeispiele

Der den folgenden Ausführungen zugrunde liegende Datenbestand ist Teil einer größeren Untersuchung und umläßt zur Zeit über 700 vollständig und ca. 1200 in ihren Eckdaten erfaßte Inventare der Herrschaft des steirischen Domstifts Seckau aus der Zeit zwischen 1670 und 1787 sowie über 180 weitere aus Graz und aus verschiedenen steiri­schen Herrschafts- und Gemeindearchiven, die fast alle zu den Beständen des Steier-märkischen Landesarchivs gehören.

Die Erfassung der Inventare erfolgt im wesentlichen vollständig, das heißt, daß ledig­lich die formelhaften Texte am Beginn und am Ende gekürzt werden.61 Nur die voll­ständige Erfassung ermöglicht eine spätere Verwendung des Materials für neue Fra­gestellungen. das Einbeziehen von zunächst unvermuteten Beziehungen und Vernetzun­gen. Einträge wie Dival. der Wallische von Seckau würden ansonsten wohl nicht mit erfaßt, obwohl sie für eine Untersuchung über die Einstellung zu(m) Fremden interes­sant sein könnten.

Die Gliederung der Fahrnisnennungen in einzelne Gruppen und Untergruppen erfolgt in den hier untersuchten Inventaren meist nach eher vagen sachlichen Kriterien. Wenn auch - z. B. in bürgerlichen Ausseer. Eisenerzer oder besonders Grazer Inventaren - teil­weise Untergruppen wie in der heruntern Stubn oder in der Püerstubn zu finden sind, so war die generelle Gruppierung der Fahrnisse nach den Räumen und deren explizite Kenn­zeichnung in unserem Gebiet offenbar nicht weit verbreitet, was für die Analyse einen gravierenden Nachteil bedeutet.62 Eine implizite Gliederung nach Räumen ist zwar in vielen Inventaren - zumindest in Ansätzen - erkennbar, kann jedoch nicht genau defi-

™ Manfred THALLER. Vorschlag für einen internationalen Workshop über internationale Quellen­banken. In: DERS. (Hg.). Datenbanken und Datenverwaltungssysteme als Werkzeuge histori­scher Forschung (= Historisch-sozialwissenschaftliche Forschungen 20). St. Katharinen 1986. 9-30.

59 S. z. B. Robert BARAVALLE. Zur Geschichte der steirischen Maße. In: Zeitschrift des Histori­schen Vereines für Steiermark 29 (1935) 9-98 u. 30 (1936). 53-158.

60 Wolfgang LEVERMANN. Kontextsensitive Datenverwaltung (= Halbgraue Reihe zur Histori­schen Fachinformatik B 8). St. Katharinen 1991.

61 Zur Konzeption vgl. z. B. Burkhard POTTLER. Probate lnventories as a Highly Structured Source. In: Matthew WooLLARD/Peter DENLEY (Hgg.). The Sorcerer's Apprentice: kleio Case Studies (= Halbgraue Reihe zur Historischen Fachinformatik A 29). St. Katharinen 1996. 137-150.

62 Das steht etwa im Gegensatz zu Bayern, wo die Anordnung nach Räumen die am weitesten verbreitete ist. Vgl. z. B. Claudia LISCHKE. Leben und Wirtschaften auf den Höfen im Bayeri­schen Wald. Volkskundliche Untersuchung anhand von Verlassenschaftsinventaren aus dem 18. Jahrhundert (= Passauer Studien zur Volkskunde 6). Passau 1991. 43-86. - HABEL. Ausstat­tung (wie Anm. 53). 49-52. - Hermann HEIDRICH. Wohnen auf dem Lande. Am Beispiel der Region Tölz im 18. und frühen 19. Jahrhundert (= Miscellanea Bavarica Monacensia 128). München 1984.

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niert werden. Insgesamt sind in den Seckauer Inventaren im Schnitt ca. vier Fahrnis-gruppen vorhanden, in den Grazer ca. neun und in den übrigen steirischen ca. fünf, wobei hier der Anteil der bürgerlichen Inventare größer ist als bei den Seckauer Beispielen. Die Feinheit der Untergliederung ist jedoch nicht nur eine Frage des Besitzstandes, sondern auch der Verwaltung. So sind in den Grazer Inventaren auch bei den Inventaren von Dienstboten mit relativ geringem Besitz teilweise feinere Untergliederungen zu finden63

als in jenen reicher Seckauer Bauern.

Die Bildung von zusammengesetzten Items am Beispiel des Bettes

Eine allgemein verbreitete Usance bei der Abfassung von Inventaren ist die Zusam­menfassung mehrerer Objektnennungen zu einem Item mit einem gemeinsamen Schätz­wert. wodurch die genaue Bestimmung des Werts von Einzelobjekten in diesen Fällen unmöglich ist. Insgesamt ist die Zahl der Items mit mehreren Einträgen jedoch relativ gering:

Items mit mehreren Einträgen

absolut relativ

1 Eintrag 2 Einträge 3 Einträge 4 Einträge mehr als 4 Einträge

97.889 6.504

789 176 96

92,83% 6.17% 0.75% 0.17% 0.09%

Summe 105.454 100.00%

Aus der Zusammenfassung von Objekten ergeben sich aber auch zusätzliche Hin­weise auf die Praxis des Schätzens: In der Regel werden gleichartige (z. B. verschiede­ne Hacken. Zangen. Gebinde. Ledervorräte) oder inhaltlich zusammengehörige Objek­te zusammengefaßt, wie z. B. Ensembles von Kleidung. Betten mit Bettzeug und -wasche. Herd- und Küchengerät. Eher selten ist in den hier untersuchten Inventaren die Zusam­menfassung von Objekten, bei denen nur der gemeinsame Aufbewahrungsort als Krite­rium für die gemeinsame Schätzung angenommen werden kann.

Eine Beispielabfrage soll nun jene Items in Seckauer Inventaren von 1670 bis 1785 ausgeben, in denen Betten nicht - wie meist - bloß als „Bett" oder „aufgerichtetes Bett" genannt, sondern etwas genauer beschrieben werden. Neben mindestens einem Bett müs­sen mindestens eine „Plachc" als grobes, in seiner Verwendung nicht eindeutig bestimm­bares (Leinen-)Tuch64 und mindestens eine ..Hülle" als Decke65 genannt sein. Das Ergeb-

; Zu den Grazer Inventaren vgl. Burkhard PÖTTLER. Aspekte historischer Stadtkultur am Beispiel von Verlassenschaftsinventaren. In: Olaf BocKHORN/Gunter DiMT/Edith HÖRANDNER (Hgg.). Urbane Welten. Referate der Österreichischen Volkskundetagung 1998 in Linz (= Buchreihe der Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde NS 16). Wien 1999. 465-481.

' Vgl. Theodor UNGER/Ferdinand KHLLL. Steirischer Wortschatz. Als Ergänzung zu Schmellers Bayerischem Wörterbuch. Graz 1903. 87. - Jacob und Wilhelm GRIMM. Deutsches Wörter­buch. Leipzig 1854-1971. Reprint 1991. Bd. 13. 1882. Vgl. UNGER/KHLLL (wie Anm. 64). 360. - Johann Andreas SCHMELLER. Bayerisches Wörter­buch. 2. Aufl.. München 1872-77. Reprint 1985. Bd. I. 1085.

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nis zeigt, daß diese Kombination zwar relativ selten, aber im gesamten Untersuchungs­zeitraum anzutreffen ist. Die Kombination von Hülle und Plache entspricht in den mei­sten Fällen der von Decke und Leintuch, was auch durch die Sonderform strohplachen bestätigt wird. In einigen Items wird jedoch zusätzlich ein Leilach. also ein Leintuch66

im engeren Sinn, genannt, das nahelegt, daß die Piachen wohl auch anders, vielleicht als Untertuch, verwendet wurden, wenn man eine gleichzeitige Nutzung annimmt.

Nennungen von Betten mit Hülle und Plache in Seckauer Inventaren von 1670 bis 1785

Jahr

1670

1670

1683

1687

1690

1752

1754

1756

1782

1784

Beschreibung

/ pött sambt 2 hillen, 1 plächen I leylach. vnnd 1 haubt polster p

I pöth sub n:o 5 mit 1 piachen vnd 1 hüll p

I pött mit 3 hüllen. 1 lällach vnd piachen pr

1 spanpeth sombt 3 hillen, 1 piachen

1 pött in stadl mit 1 lull vnnd 1 piachen p 1 pött mit 2 hilen vnnd stroplachen p 1 pött mit 1 hill. vnnd 1 stroplachen

l schub bötl. 1 alte hill sambt 1 Machen

I böth: 2 hillen: I Machen

1 braunes taffl-böth. 2 piachen 2 rupfene leyiacher, 2 truckte hillen 2 polster 2 haubt küss

1 gsöllen böth 4 hillen 2 Machen

4 aufgehellte bether 1 alte hill 3 piachen

Wert in Kreuzer

90

60

150

120

120 52 68

30

45

180

180

420

Standesbezeichnung

gast in des Khielle-prein zu St: Benedicten seiner inhabendten kheischen in der Glein

burger: kürschnermaister

burger: vntersasse

maurer meister

Vgl. SCHMELLER (wie Anm. 65), Bd. 1. 1417.

382

Qualitäts- und Material nennungen

Angaben zu Material oder Qualität der aufgelisteten Objekte sind leider relativ sel­ten.

Betrachtet man die Items mit den häufigsten Materialnennungen genauer, so zeigt sich, daß die Zahl der Materialnennungen an zweiter und dritter Stelle vernachlässigbar gering ist.

Materialnennungen an 1. bis 3. Stelle (nach Häufigkeit der I. Stelle)

Eisen Holz Rupfen Reisten Irdenware Zinn Kupfer Sonstige

1. Stelle (N=5335) absolut relativ

1743 32,7% 711 13,3% 589 11,0% 480 9,0% 343 6.4% 319 6,0% 277 5,2% 873 16,4%

2. Stelle absolut

14 30 7 6

17 10 6

13

(N=103) relativ

13.6% 29.1% 6,8% 5,8%

16,5% 9.7% 5,8%

12.6%

3. Stelle (N=8) absolut relativ

3 37,5% 0 0,0% 0 0,0% 0 0,0% 0 0,0% 0 0,0% 0 0,0% 5 62,5%

Besonders die genauere Beschreibung von an dritter Stelle genannten Objekten ist nur in den umfangreicheren Inventaren zu finden: so sind unter den 5 Nennungen von sonstigen Materialien Gold (2). Silber. Messing und Stein (je 1) zu finden.

Die Materialnennungen an erster Stelle zeigen einerseits die überragende Bedeutung des Eisens als erwähnenswertes Material. Die Beschreibung als „hölzern" oder ähnlich tritt hingegen meist in der Gegenüberstellung zu anderen Materialien (wie Eisen oder Irdenware) auf. Rupfen und Reisten sind durch die in der Regel recht differenzierte Auf­nahme von Textilien relativ häufig vertreten, während Zinn und Kupfer als meist wert­vollste. aber bereits seltene Materialien wohl stets angeführt werden.

Die Differenzierung nach dem Fahrnisvermögen zeigt, daß der Anteil der Items mit als „eisern" bezeichneten Objekten bei den Inventaren mit einem Fahrniswert unter 100 und über 800 Gulden etwas geringer ist als bei den dazwischen liegenden. Dies ist einer­seits durch Keuschler- und Dienstboteninventare zu erklären, andererseits durch den höheren Anteil an Handwerker- und Bürgerhaushalten, bei denen der Anteil an bäuerli­chem Arbeitsgerät ebenfalls geringer ausfällt. Die Nennung von Holz, die. wie erwähnt, meist nur in Gegenüberstellung zu anderen Materialien auftritt, zeigt keine charakteri­stische Verteilung. Im Bereich der Textilien sind bei Reisten keine signifikanten Unter­schiede festzustellen, während beim gröberen Rupfen der höchste Anteil bei den Inven­taren mit einem Fahrniswert bis 100 Gulden liegt. Zinn und Kupfer sind als „Indikator­materialien" für den relativen Reichtum am besten geeignet: Ist der Anteil der Material­nennungen von Zinn bei den Inventaren mit dem größten Fahrnisvermögen dreimal so hoch wie in der untersten Gruppe, so ist es bei Kupfer immerhin noch ein doppelt so hoher Anteil. Diese Unterschiede beziehen sich jedoch nur auf die Zahl der Nennungen. Die Zahl der Objekte ist in den oberen Vermögenskategorien deutlich höher, da hier oft mehrere gleichartige Objekte zu einer Nennung zusammengefaßt werden.

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Materialnennungen an I. Stelle nach Gesamtwert der Fahrnisse

Fahrniswert in Gulden

Eisen Holz Rupfen Reisten Irdenware Kupfer Zinn Sonstiges

0-100

211 30,4% 91 13,1%J 89 12,8% 63 9,1% 58 8,4% 25 3,6% 18 2.6%

138 19,9%

693 100,0%

100-400

509 33,5% 221 14,5% 172 11,3% 134 8.8% 92 6,1% 82 5,4% 66 4,3%

244 16,1%;

1520 100,0%

400-800

741 33.6% 296 13,5% 244 11,1% 204 9,3% 143 6,5%) 104 4,7% 163 7,4% 309 14,0%

2204 100,0%

über 800

282 30.7% 103 11.2% 84 9.2% 79 8.6% 50 5,4% 66 7.2% 72 7,8%

182 19,8%

918 100,0%

Summe

1743 32,7% 711 13,3% 589 11.0% 480 9.0% 343 6.4% 277 5.2% 319 6.0% 873 16.4%

5335 100.0%

Beleuchtung

Als letztes Beispiel sollen die Nennungen von Beleuchtungsgegenständen herange­zogen werden. Die Beleuchtung ist zweifellos ein wesentlicher Aspekt des Wohnens und die geringe Zahl dieser Nennungen sicher nicht nur mit der Unvollständigkeit der Inven­tare zu erklären. Vielmehr weist sie einerseits auf die Bedeutung des offenen Herdfeuers für die Beleuchtung hin. andererseits auf die Verwendung von Leuchtspänen, die bei Bedarf in Spalten und Ritzen (etwa im Herdbereich oder in der Mauer) festgesteckt wur­den.

Nennungen von Beleuchtungsgegenständen in Seckauer Inventaren zwischen 1670 und 1785 (Fünfjahresschnitte; N=658)

Kerzen-, Wachsstockleuchter andere Leuchter Laterne Span-, Kienleuchter Fackel(leuchter) Unschlittkerzen, Kerzen Wachskerzen, Wachs Geräte zur Kerzenherstellung Lichtputzer Beleuchtung (allg.)

Summe

an 1, Stelle

245 175 ^S 15 42 37 19 18 5 1

645

Fast alle Beleuchtungsgegenstände werden an erster Stelle eines Items genannt. Lediglich die Lichtputzschere wird - als eines der typischen Hilfsmittel des gehobenen Bedarfs, das in der untersten Kategorie des Fahmiswertes völlig fehlt - meist als „Bei­gabe" zu Kerzenleuchtern genannt. Eine genauere quantitative Analyse scheint aufgrund der relativ geringen Dichte der Angaben nicht sinnvoll, dennoch sind einige Trends erkennbar: So läßt sich die besondere Bedeutung von Unschlittkerzen und nicht näher bestimmten Kerzen in der obersten Vermögenskategorie - besonders im Vergleich zur untersten, aber auch zu den beiden mittleren - feststellen; bei den Laternen sind die Ver-

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hältnisse ähnlich, wenn auch nicht so ausgeprägt. Nennungen von Wachskerzen und ande­ren Wachsvorräten sind jedoch auch in den oberen Vermögenskategorien ziemlich selten.

Während in der untersten Vermögenskategorie insgesamt nur zweimal Kerzen - und auch da keine Wachskerzen - genannt werden, sind Kerzen-, Wachsstock- und andere Leuchter immerhin 92mal zu linden, was deutlich auf die fallweise Verwendung von Ker­zen bei besonderen Anlässen (z. B. bei der Aufbahrung) hinweist.

Zusammenfassung

Das Verhältnis zwischen Volkskunde und Geschichte wurde seit der Institutionali­sierung der Volkskunde immer unterschiedlich bewertet: Perioden großer Nähe waren ebenso vorhanden wie solche starker Ablehnung, jedoch hat es in beiden Fällen keine einheitliche „Fachmeinung" gegeben. Die wechselseitige Übernahme von Konzepten, die wechselseitige Funktion als „Hilfswissenschaft" hat dabei immer wieder erkenntnis­fördernd gewirkt. Die „Historische Volkskunde", also im wesentlichen jene Richtung, die sich der „historisch-archivalischen Methode in der Volkskunde" bedient, hat dabei naturgemäß ein besonderes Naheverhältnis zur Geschichte, kann jedoch nicht als reprä­sentativ für das Gesamtfach betrachtet werden.

Die Aufbereitung von Archivalien als datenbankbasiertes Informationssystem wur­de im zweiten Teil anhand von Inventaren aus dem Ostalpenraum - vorwiegend der Herr­schaft des Domstifts Seckau - dargestellt. Die Vorteile dieses Zugangs liegen zunächst in der quellennahen Verspeicherung, die für eine höhere Transparenz des Forschungs­prozesses sorgt. Durch die Trennung von Daten und Wissen über die Daten ist es mög­lich, das im Laufeines Projekts hinzukommende Wissen einzuarbeiten, ohne den Daten­bestand selbst ändern zu müssen.

Dieses Informationssystem bildet einerseits die Grundlage für einen hermeneuti­schen Zugriff, stellt andererseits aber auch die Basis für eine weitergehende quantitati­ve Analyse mittels spezieller Statistikprogramme zur Verfügung, da so komplexe Quel­len, wie Verlassenschaftsinventare es nun einmal sind, sicher nur mit einer entsprechen­den Methodenkombination gewinnbringend analysiert werden können. Schließlich kann auch die Publikation größerer Datenbestände - wohl nur in elektronischer Form - erfol­gen, wobei die Einbindung der Quellen als Images möglich ist.

Dies sollte nur als ein steirisches Beispiel für eine Historische Volkskunde vorge­stellt werden, die einerseits um einen quellennahen Umgang mit Archivalien bemüht ist, andererseits auch versucht, hermeneutische und analytische Ansätze zu verbinden.

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