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[Zeitschrift für Volkskunde II/1977, S. 181 – 209] Walter Heimann Zur Theorie des musikalischen Folklorismus: Idee, Funktion und Dialektik Das Selbstbewusstsein und der Status einer Wissenschaft sind immer dann tangiert, wenn sie mit Problemen konfrontiert wird, für deren Bewältigung sie zu diesem Zeitpunkt noch keine Lösung anzubieten hat. Mit dem Folklo- rismusproblem scheint die Musikalische Volkskunde in eine solche Situation gestellt zu sein. Die heute außerordentlich häufige Verwendung des Folkloris- musbegriffs hat derzeit wohl weniger zur Klärung des implizit methodischen Problems als zunächst vielmehr zu einer unverhältnismäßig großen Spann- weite der möglichen Bedeutungsnuancen geführt. Sie reicht von einer Verwendung im Sinne der ersten Erläuterung durch Hans Moser über ver- schiedene Ausweitungen und Einschränkungen bis zur völligen Ablehnung des Begriffs aus grundsätzlichen methodologischen Überlegungen. So ist die Folklorismusdiskussion, ohne eigentlich in irgend einem Punkt Einigkeit zu erzielen, bis heute immer komplexer geworden und hat zu einem Punkt ge- führt, von wo aus es gerechtfertigt erscheint, einmal in einer wissenschafts- theoretischen Analyse die Grundlagen des fraglichen Problems neu zu über- denken und zu überprüfen. Ein zunächst flüchtiger Blick über die Folklorismusdiskussion der letzten Jah- re zeigt, dass in der Musikalischen Volkskunde zu diesem Problem gegen- wärtig zumindest drei sehr unterschiedliche Auffassungen vertreten werden. Die auf diese drei Standpunkte eingehende wissenschaftstheoretische Analy- se wird zu dem Ergebnis führen, dass die divergierenden Auffassungen nicht einfach in kontrovers beurteilten Sachfragen begründet sind, die sich wo- möglich leicht klären ließen, sondern dass sie als Folge von ihnen zugrunde liegenden unterschiedlichen Wissenschaftsbegriffen zu verstehen sind, die je- weils konsequent ihre eigene Folklorismuskonzeption entwickelt haben. Dem- nach soll also versucht werden, diese drei Grundtypen von Theorien – hier im Rahmen der Musikalischen Volkskunde – zu unterscheiden, zu benennen und zu erklären. 1 1 Zur weiteren Begründung wissenschaftstheoretischer Analyse vgl. W. Heimann: Erkennt- nis und Interesse in der Musikalischen Volkskunde, in: ad marginem XXXV/ 1976, S. 1 f.

Zur Theorie des musikalischen Folklorismus: Idee, Funktion ... · knüpft in der Musikalischen Volkskunde speziell an den Funktionalismus an. Beide Theorietypen haben – jeweils

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[Zeitschrift für Volkskunde II/1977, S. 181 – 209]

Walter Heimann

Zur Theorie des musikalischen Folklorismus:

Idee, Funktion und Dialektik

Das Selbstbewusstsein und der Status einer Wissenschaft sind immer dann tangiert, wenn sie mit Problemen konfrontiert wird, für deren Bewältigung sie zu diesem Zeitpunkt noch keine Lösung anzubieten hat. Mit dem Folklo­rismusproblem scheint die Musikalische Volkskunde in eine solche Situation gestellt zu sein. Die heute außerordentlich häufige Verwendung des Folkloris­musbegriffs hat derzeit wohl weniger zur Klärung des implizit methodischen Problems als zunächst vielmehr zu einer unverhältnismäßig großen Spann­weite der möglichen Bedeutungsnuancen geführt. Sie reicht von einer Verwendung im Sinne der ersten Erläuterung durch Hans Moser über ver­schiedene Ausweitungen und Einschränkungen bis zur völligen Ablehnung des Begriffs aus grundsätzlichen methodologischen Überlegungen. So ist die Folklorismusdiskussion, ohne eigentlich in irgend einem Punkt Einigkeit zu erzielen, bis heute immer komplexer geworden und hat zu einem Punkt ge­führt, von wo aus es gerechtfertigt erscheint, einmal in einer wissenschafts­theoretischen Analyse die Grundlagen des fraglichen Problems neu zu über­denken und zu überprüfen.

Ein zunächst flüchtiger Blick über die Folklorismusdiskussion der letzten Jah­re zeigt, dass in der Musikalischen Volkskunde zu diesem Problem gegen­wärtig zumindest drei sehr unterschiedliche Auffassungen vertreten werden. Die auf diese drei Standpunkte eingehende wissenschaftstheoretische Analy­se wird zu dem Ergebnis führen, dass die divergierenden Auffassungen nicht einfach in kontrovers beurteilten Sachfragen begründet sind, die sich wo­möglich leicht klären ließen, sondern dass sie als Folge von ihnen zugrunde liegenden unterschiedlichen Wissenschaftsbegriffen zu verstehen sind, die je­weils konsequent ihre eigene Folklorismuskonzeption entwickelt haben. Dem­nach soll also versucht werden, diese drei Grundtypen von Theorien – hier im Rahmen der Musikalischen Volkskunde – zu unterscheiden, zu benennen und zu erklären.1

1 Zur weiteren Begründung wissenschaftstheoretischer Analyse vgl. W. Heimann: Erkennt­nis und Interesse in der Musikalischen Volkskunde, in: ad marginem XXXV/ 1976, S. 1 f.

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Der erste Typus, der im folgenden als ontologisch-normative Theorie be­zeichnet wird, entspricht in seinen Grundzügen einer geisteswissenschaftlich orientierten Phänomenologie. Der zweite, neuere Wissenschaftstypus, der empirisch-analytische Theoriebegriff, steht in scharfem Gegensatz zu ihr und knüpft in der Musikalischen Volkskunde speziell an den Funktionalismus an. Beide Theorietypen haben – jeweils im Rahmen ihrer Prämissen, Methoden und Ziele – zu einem eigenen Folklorismusbegriff geführt. Und schließlich tritt in Konkurrenz zu diesen beiden Theoriebegriffen auch in der Mu­sikalischen Volkskunde die dialektisch-historische Theorie, die auf dem Ge­biet des Folklorismus ebenfalls ein eigenes Konzept vertritt.

I. Ontologisch-normative Theorie

1. Der Begriff des Volksliedes

Vorbemerkung: Eine notwendige Unterscheidung. – Eigentlich wäre demnach zu beginnen mit der Analyse ontologisch-normativer Theorie. Sie geht bei der Erforschung des laienmäßigen liedhaften Singens vom Begriff des Volks­lieds aus, der als „Kern- und Leitbegriff“ in dieser Theorie eine außerordent­lich zentrale und beherrschende Stellung einnimmt und im weiteren, wie sich zeigen wird, auch die Folklorismusfrage zu bestimmen vermag. Indes gibt es über die Brauchbarkeit dieses Begriffs für wissenschaftliche Zwecke gegen­wärtig in der Musikalischen Volkskunde keinen Konsens, sondern im Gegen­teil – wie etwa im Gruppenliedbegriff – konkrete Alternativen. Die gegensätz­lichen Standpunkte müssen also von vornherein als Kontroverse in das Blick­feld einbezogen werden, und sie sind am besten mit Hilfe eines in der me­thodologischen Analyse elementaren Begriffspaares zu beschreiben, auf das im folgenden des öfteren zurückgegriffen werden muss, mit Hilfe der Unter­scheidung von Essentialismus und Nominalismus.

Diese beiden Begriffe bezeichnen kontradiktorische Standpunkte in einer phi­losophisch-methodologischen Auseinandersetzung, deren Ursprung weit in das Mittelalter zurückreicht, deren Aktualität aber bis heute so unvermindert geblieben ist, dass die beiden genannten Begriffe in der Tat vollkommen ge­eignet erscheinen, auch in der gegenwärtigen Diskussion der Musikalischen Volkskunde die kontroversen Standpunkte zu charakterisieren und, wo möglich, einer Klärung näher zu bringen.

Durch die Orientierung an diesem wichtigen Begriffspaar könnte also zwei­erlei erreicht werden: zum einen, das aktuelle wissenschaftliche Problem des Folklorismusstreits innerhalb der Musikalischen Volkskunde methodologisch

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zu klären, zum anderen aber einen darüber hinaus gehenden Zusammen­hang deutlich werden zu lassen, die Analogie dieses Problems nämlich mit einer der ältesten und fundamentalsten Fragen der Wissenschaftstheorie.

Der Begriff Essentialismus, wenn auch nicht die Sache selbst, ist relativ neu und geht auf Karl R. Popper zurück: „Die philosophische Richtung, die ich methodologischen Essentialismus nennen möchte, wurde von Aristoteles be­gründet, der lehrte, dass die wissenschaftliche Forschung zum Wesen der Dinge vordringen muss, um sie zu erklären“.2 So ist für diese Richtung in­nerhalb der Musikalischen Volkskunde die Frage nach dem Wesen des Volks­liedbegriffs das entscheidende Problem. Die Essentialisten forschen mit den für sie entscheidenden Fragen, wie z. B. ,Was ist das Volkslied?’ oder ,Was ist der Schlager?’ nach jener essentia rei, an der die einzelnen Objek­tivationen einen gewissen, je verschiedenen Anteil haben. Sie suchen mit solchen Fragen nach dem gemeinsamen Unwandelbaren hinter den Phä­nomenen, das die Begriffe Volkslied oder Schlager wesentlich in sich ein­schließen und glauben, „dass eine gründliche Beantwortung solcher Fragen, die die wahre und wesentliche Bedeutung dieser Begriffe und damit die wah­re Natur der durch sie bezeichneten Essenzen enthüllt, zumindest eine not­wendige Voraussetzung wissenschaftlicher Forschung, wenn nicht überhaupt deren Hauptaufgabe ist“ (ebd.). Essentialisten betrachten Worte (genauer: universale Begriffe wie etwa Musik, Volkslied oder Schlager) also als Inbe­griff von Wesenheiten, zu denen Wissenschaft vorzudringen habe.

Die Nominalisten dagegen stellen der Wissenschaft andere Aufgaben. In der Musikalischen Volkskunde etwa fragen sie danach, was mit einem Lied in einer gegebenen Situation geschieht, welche Rolle es hier übernimmt, wer es singt, wie und wo es tradiert wird, usw. „Denn nach Ansicht der methodolo­gischen Nominalisten besteht die Aufgabe der Wissenschaft nur in der Beschreibung des Verhaltens der Dinge [oder Menschen], und zu dieser ge­langt man am besten dadurch, dass man, wo immer es nötig ist, ohne Scheu neue Begriffe einführt oder die alten Termini neu definiert, ohne im gerings­ten auf ihre ursprüngliche Bedeutung Rücksicht zu nehmen. Denn die metho­dologischen Nominalisten betrachten Worte nur als zur Beschreibung nützli­che Instrumente“ (ebd.).

So ist das Volkslied hier nur ein neutraler Sammelbegriff für eine bestimmte aus Einzelelementen zusammengesetzte Klasse oder Menge von Liedern – bzw. ein Element aus dieser Menge. Die im folgenden als erste zu beschreibende Theorie aber steht ganz in der Tradition des methodolo­gischen Essentialismus.

2 Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus, Tübingen 21969, S. 23; auch die beiden fol­genden Zitate finden sich ebd.; die Hervorhebungen durch Kursivdruck sind jeweils original.

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a) Eine Wesensbestimmung: die Idee des Volksliedes. – Nach ontologisch-normativer Theorie ist der erste Schritt im Prozess der wissenschaftlichen Arbeit die Reflexion auf das Wesen des zu untersuchenden universalen Objekts, hier des Volksliedes. Noch bevor der Forscher sich der Untersu­chung der konkreten Vielfalt des vorfindlichen Liedgutes zuwendet, sucht er den Wesenskern, den der Begriff des Volksliedes einschließt, zu bestimmen und zu erklären. Bei einer solchen Erläuterung des wahren Wesens handelt es sich aber nicht um eine präzise definitorische Begriffsabgrenzung, sondern um eine umfassende Auslegung und Sinndeutung des Begriffs in einer Be­griffsexplikation.3 Der zentrale Unterschied zur Definition – in ihrer nomi­nalistischen Rolle als nützliches Mittel zur Verständigung – liegt darin, dass die Explikation in jedem Falle Wahrheitsanspruch erhebt: So oft und so un­terschiedlich der eigentliche Wesenskern des Volksliedes in der Geschichte der Volksliedforschung auch erläutert wurde, immer waren – und sind noch heute – tiefe Überzeugungen daran geknüpft, Bekenntnisse, komplexe Ideen und Lebenswahrheiten von „ursprünglicher Erfahrung“, deren Wahrheits­anspruch nie in Frage steht. Die Möglichkeit solcher Wesensbestimmungen durch Begriffsexplikation beruht auf der für ontologisch-normative Theorie konstitutiven Überzeugung von der Existenz einer in den Strukturen des Seins a priori vorgegebenen Wahrheit und von deren Erfahrbarkeit durch un­mittelbares, ganzheitliches Erkennen.

Die von Walter Wiora vorgeschlagene und in der Musikalischen Volkskunde breit rezipierte Volksliedexplikation geht von einer geschichteten Aufteilung des Seins in verschiedene Ebenen aus: „Das eigentliche Volkslied ist seinem Wesen nach Eigengut der Grundschichten“.4 Weit ab von der Formalität no­minalistischer Begrifflichkeit ist der Grundschichtbegriff primär eine ontolo­gische Wesensbestimmung. Wiora bezieht sich hierin konkret auf die von Husserl und Scheler beeinflusste Schichten-Ontologie Nicolai Hartmanns und versteht in Anlehnung an dessen Phänomenologie unter Grundschichten jenen Wesensgrund des Menschen, wodurch dieser an den unteren Schich­ten einer hierarchisch gedachten Seinsordnung Anteil hat. Das Volkslied aber ist das Lied, das jenen Grundschichten gemäß ist, das ihnen entspricht. Da­mit ist der Volksliedbegriff fest eingebunden in eine ontologische Bestim­mung unveränderlichen wahren Seins.5 Die äußerliche Erscheinung der Lie­

3 Der Begriff Explikation wird in den Sozialwissensdiaften leider nicht durchgehend im glei­chen Sinn verwendet; anders z. B. bei R. Carnap und Carl G. Hempel; demgegenüber aber im obigen Sinne auch bei Adorno, vgl. z. B. Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt a. M. 1968, S. 240.

4 W. Wiora: Das echte Volkslied, Heidelberg 1950, S. 53.5 Der ontologische Begriff der Grundschichten ist also nicht mit dem der sozialen Unter­

schicht vergleichbar, denn bei diesem handelt es sich um einen nominalistischen, demographisch quantifizierbaren Begriff. Die Grundschichten als Seinskategorie dagegen sind nicht an einen bestimmten Ort im Statusaufbau der Gesellschaft gebunden: Für die

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der aber, ihre Form und ihre konkrete Gestalt wird dem gegenüber als sehr variabel gedacht: Vor dem Hintergrund der unwandelbaren essentiellen Be­stimmung kann das Wesen des Volksliedes in der konkreten Wirklichkeit in vielen akzidentellen Eigenschaften und Formen auftreten und ausgehend von einem Typus im engeren Sinne in nahezu jeglicher Liedgestalt erscheinen. „Das Lied in diesem weitesten Sinne und das Volk in dem umfassenden Sinne von Grundschichten sind die beiden Komponenten des ,Volksliedes’“.6

Die Dignität des Volksliedbegriffs als Wesen und Idee resultiert jedoch nicht nur aus seiner Verankerung in einer Seinshierarchie und dem daraus abgelei­teten Wahrheitsanspruch. Darüber hinaus wird im wahren, eigentlichen Sein des Volksliedes in ontologisch-normativer Theorie auch das Gute erkannt. Die logische Grundlage für diese Koinzidenz von wahrem und gutem Sein im Volksliedbegriff liegt ebenfalls in seiner ontologischen Wesensbestimmung. Denn indem das eigentliche Volkslied als Ausdruck tieferer Züge grund­schichtigen Wesens gedacht wird, ist hierin zugleich ein bestimmtes Handeln impliziert: ‚Eigentliches’ Singen und ,gutes’ Handeln werden beides als De­rivate der einen, vorgängig erkannten Seinsbestimmung gedacht. „Im guten Volksliede singt der Mensch in seiner unverstellten [grundschichtigen] Natur. Es ist ihm Spiegel und Sinnbild und das Modell einer Handlung, durch die er sein Selbst prägt und festigt. Solches Singen gehört zu den Handlungen, in denen sich der Mensch zum Menschen bildet“.7 Hierin ist ein weiteres wesentliches Moment angedeutet: Das im eigentlichen Volkslied durch­scheinende Gute ist nicht ein relativer, auf eine bestimmte Gesellschaft und eine bestimmte Tradition bezogener Wert, sondern – wie auch der Begriff des Grundschichtigen – eine ontologische Seinskategorie von ahistorischer Normativität.8

Einbindung dieser Idee in die gesellschaftliche Wirklichkeit ist die soziale Unterschicht weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung. Zwar finden sich die Träger des Volksliedes nach W. Wiora dort wohl häufiger, aber ebenso auch auf jedem anderen Besitz- und Bildungsniveau, „teils in Nachbarschaft mit Oberschichten, und teilweise gehören sie diesen sogar an“ (Das echte Volkslied, a. a. O., S. 32); vgl. ebd. S. 20: „auch eine Königin hat am Liede der Grundschicht teil, wenn sie mütterlich ihr Kind mit einem schlichten Wiegenliede in den Schlaf singt“, und umgekehrt können Lieder aus der sozialen Unterschicht „wie ungeratene Söhne aus der Art schlagen“ (ebd., S. 69); zur Kritik des Grundschichtbegriffs vgl. M. Scharfe: Kritik des Kanons, in: Abschied vom Volksleben, Tübingen 1970, S. 74.

6 W. Wiora: Das echte Volkslied, a. a. O., S. 38 f.7 W. Wiora: Das echte Volkslied, a. a. O., S. 60; konzentriert sich durch die Kategorien des

Wahren und Guten das wissenschaftliche Fragen auch auf einen schmalen Objektbereich, so wird dies mit dem Blick auf die daraus erwachsende Wesenserkenntnis doch in Kauf genommen: „Das Gute im Volkslied bildet zwar nur einen Teil der bunten Wirklichkeit, aber den wesenhaftesten Teil“ (ebd., S. 56).

8 In diesem Vorwissen über die Einheit von wahrem und gutem Wesen im Volkslied ist – wenn auch vage – bei vielen Volksliedforschern der älteren Generation eine weitere normative Bestimmung enthalten, wonach das Gute formal sich nur als Schönes realisieren könne. Die Überzeugung von der Untrennbarkeit ethischer und ästhetischer

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b) Das Problem der Vermittlung. – Ziel ontologisch-normativer Theorie ist es nun, in der Vielfalt des liedhaften Singens das dem Wesen des Volksliedes entsprechende zu erkennen, sammelnd-editorisch hervorzuheben und so auch wohl das immanent Gute herauszuschälen. Mit der Begriffsexplikation ist nur der erste, wenn auch der – nach dem Selbstverständnis dieser Theo­rie – wohl wesentlichste Schritt getan.

Der weitere methodische Gang indes führt zu einem besonders kritischen Punkt ontologisch-normativer Wissenschaft, zum praktischen Problem der Vermittlung nämlich zwischen dem gedachten Wesensbild und der konkreten Wirklichkeit. Methodologisch versucht man es zu lösen, indem man eine Rangskala aufstellt, mit deren Hilfe die Lieder jeweils in ihrem Verhältnis zur Idee graduell eingestuft werden können: „ein Kontinuum reicht vom Volkslie­de im eigentlichsten, vollen Sinne über viele Zwischenformen zu äußerlichen und partiellen Grenzerscheinungen. So gibt es ,Volkslieder’ in verschiedenem Sinn und Maß, verschieden nach Stärke und Tiefe der Zugehörigkeit“.9

Um aber ein solches kontinuierliches Maß zu erhalten, müssen die abstrakten ontologisch entwickelten Normen konkret gemacht und als Merkmale lied­haften Singens formuliert werden. Dies geschieht in Listen graduell abgestuf­ter Begriffe, die ein Lied jeweils in seinen verschiedenen Merkmalen zu erfassen suchen, etwa nach Gattung, Lebensverbundenheit, Tradierung usw. So reicht z. B. eine Stufenleiter des produktiven Anteils der Sänger am Lied „vom Schaffen des Volkes ganz aus eigenem Vermögen bis zur völlig passi­ven Rezeption […]. Dieser Stufenleiter entsprechen Skalen und geschichtliche Prozesse fortschreitender Unproduktivität“ (ebd.).

Nach gleicher Art werden weitere Rangskalen eingerichtet: Da zum Beispiel die Züge der Grundschichten sich in den Liedern nicht in gleich starkem Maße ausprägen, ist auch hier eine Abstufung (durch den Begriff des ,Eigenguts’) zu bilden: „Eigengut kann etwas in dreifacher Hinsicht sein: Eigenwuchs, Eigentum, Eigenart. So gliedert sich der Rahmenbegriff Volks­lied in diese drei Arten: 1. Das im Volke selbst entstandene, genuine Volks­lied, 2. das vom Volke als Eigentum behandelte und ihm vertraute, das

Qualität steht als Teil der Begriffsexplikation methodologisch ebenfalls vor jeder Untersu­chung des Liedgutes; so spricht H. J. Moser einmal von der „Vorüberzeugtheit, daß dem singenden Volk (wenigstens in seinen Blütezeiten) zumindest unbewußt eine Qualitätsfor­derung an das Lied zur Seite steht“, in: JbfVf. 4, 1934, S. 136; zur ästhetischen Kompo­nente der Idee, dem ,Kulinarischen’, vgl. auch H. Bausinger: Volkskunde, Darmstadt o. J., S. 194; ders.: Zur Problematik historischer Volkskunde, in: Abschied vom Volksleben, a. a. O., S. 164. ferner E. Klusen: Das apokryphe Volkslied, in: JbfVf. 10, 1965, S. 85-102.

9 W. Wiora: Das echte Volkslied, a. a. O., S. 39 f.; auch die nachfolgenden drei Belegstel­len finden sich ebd.

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heimische Lied, 3. das Lied, das der Eigenart der Grundschicht rechten Aus­druck gibt“,10 das nur ,volkstümliche’ Lied.

Allerdings ist in ontologisch-normativer Theorie das Problem der Vermittlung und Zuordnung von Wesensschau und Wirklichkeit methodologisch nicht grundsätzlich gelöst, sondern kann nur kasuistisch geklärt werden, durch In­terpretation von Fall zu Fall: „Diese drei: das genuine, das heimische und das stileigene Volkslied fallen in der Wirklichkeit nur zum Teil zusammen; vieles ist in einer Hinsicht Volkslied, in anderer nicht […]. In der reichen Wirklich­keit gibt es ja alle drei Arten; die Analyse der Wirklichkeit muss jede von ih­nen klarstellen, begrifflich fassen und eindeutig benennen“ (ebd.). Dieses Benennen – nach sorgfältigem Abwägen nach Maßgabe der vorgängigen We­sensbestimmung – bedeutet für ontologisch-normative Theorie das zentrale Mittel zur Lösung des Vermittlungsproblems.

Mit der Darstellung der beiden grundlegenden Theorieelemente, der Be­griffsexplikation und dem damit gegebenen Vermittlungsproblem, ist das Ge­rüst ontologisch-normativer Theorie in seinen einfachsten Zügen auch schon skizziert, und sicher wäre es zweckmäßig, hier nun die Kritiker zu Wort kom­men zu lassen, die die methodologischen Folgen dieser Theorie betrachten. Doch ist zuvor auf eine andere, gleichsam theorieimmanente Folge einzuge­hen, die uns im folgenden zum eigentlichen Ziel unserer Untersuchung füh­ren wird, zum Problem des Folklorismus.

Der Volksliedbegriff ist in der hier beschriebenen Theorie ontologisch veran­kert und damit als statische Idee über jeglichen historischen Wandel hin­ausgehoben. Er tritt so von Anfang an in einen prinzipiellen Gegensatz zur Dynamik der Geschichte: Vor dem Hintergrund der raschen historischen Entwicklung muss die Kraft des unwandelbaren Ideals, sich in der Wirklich­keit zu realisieren (seine ,Leuchtkraft’) als nachlassend, als schwindend er­scheinen. Man mag darin eine methodologische Konsequenz erblicken oder nicht – jedenfalls wurde zugleich mit der Idee auch stets der Gedanke ihres Niederganges mitgedacht.

In ontologisch-normativer Theorie wird der Prozess des Verfalls aber weniger in seiner Rolle als methodologische Konsequenz gesehen, sondern unter dem zivilisationspessimistischen Aspekt der Wesenszerrüttung. „Er gehört als ein Trend oder Entwicklungszug zum allgemeinen Gang der Kultur und zu ihrem Übergang ins Weltalter der global verbreiteten Zivilisation. Symptome des Abbröckelns sind daher mindestens seit dem Beginn der Neuzeit nachweis­bar“.11

10 Ebd.; weitere ,Topoiskalen’ S. 48 f., S. 60 ff., S. 63 u. ö.11 W. Wiora: Der Untergang des Volkslieds und sein zweites Dasein, in: ders. (Hg.): Musi­

kalische Zeitfragen VII. Das Volkslied heute, Kassel und Basel 1959, S. 14.

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Ganz allgemein ist es in ontologisch-normativer Theorie die Verbreitung der modernen Zivilisation, die das Wesentliche zu zerrütten droht. Und so ist auch „das Volkslied in seinen primären Daseinsformen unrettbar dem Un­tergang verfallen“.12

2. Der Begriff des ‚zweiten Daseins’

a) Der neue Begriff. – Mit dem Schwinden der alten Grundlagen des Volkslie­des einher geht jedoch eine zügige Entwicklung neuer Singgelegenheiten und neuer Formen des Umgangs mit dem Liede überhaupt. Weit außerhalb jeder ursprünglichen Brauchtumsbindung und mündlichen Tradierung finden Lieder aller Art einen neuen gesellschaftlichen Ort in Schule und Verein, in Organisationen, Singkreisen und technischen Medien, im musikalischen Folk­lorismus im weitesten Sinne.

Diese Veränderungen aber vollziehen sich an einem Liedgut, in dem etwa grundschichtiges Wesen, ursprüngliche Lebensverbundenheit oder schöpfe­rische Variabilität kaum relevante Kriterien sind, in einem Bereich also, der innerhalb ontologisch-normativer Theorie, wenn überhaupt, dann nur als Randerscheinung Beachtung finden konnte. Denn die wissenschaftliche Un­tersuchung von ,Nicht-Echtem’ liegt im Prinzip außerhalb ontologisch-norma­tiven Erkenntnisinteresses, das, wie oben gezeigt, auf Wesenserkenntnis zielt.

Unausweichlich aber forderte der rasch wachsende Anteil des ,Unechten’ an der Gesamtheit des Liedes in der Gegenwart doch die Kenntnisnahme auch durch ontologisch-normative Wissenschaft: Ihre Einsicht sowohl in den schwindenden Objektbereich als auch in die vitale und wachsende Präsenz eines Liedgutes, das sich ihrem spezifischen Zugriff entzog, ließ eine Neu­orientierung schließlich unvermeidlich erscheinen.

Walter Wiora inauguriert diesen Schritt 1959 zunächst mit einem neuen Be­griff und fordert in einem seither vielbeachteten Beitrag die Volkskunde dazu auf, sie möge das Volkslied „nicht nur in seinem ersten, sondern auch in sei­nem zweiten Dasein erforschen“.13 Für ontologisch-normative Theorie wird damit programmatisch ein neuer Objektbereich als Forschungsziel um­schrieben und für diesen vordem ignorierten Wirklichkeitsbereich ein nun­mehr erwachtes wissenschaftliches Erkenntnisinteresse bekundet. Dieser Aufbruch vollzieht sich indes, wie wir sehen werden, ganz auf dem Boden ontologisch-normativer Theorie. Zwar wird mit dem neuen Begriff ein neuer, erweiterter Horizont abgesteckt, permissiv, und unter dem unausweichlichen,

12 Ebd. S. 10.13 W. Wiora: Der Untergang des Volkslieds und sein zweites Dasein, a. a. O., S. 25.

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von der Erfahrung der Wirklichkeit erzwungenen Verzicht auf alte Rigorosität. Ursprünglich für wesentlich gehaltene Merkmale wie Lebensverbundenheit oder Produktivität des Volkes sind nun, innerhalb des neuen Objektbereichs, nicht mehr die maßgeblichen Punkte.

Das aus methodologischer Sicht Entscheidende aber ist die Tatsache, dass der Neuansatz an der ontologischen Bestimmung des Volksliedbegriffs unbe­irrbar festhält. Wie aus den Ausführungen Wioras hervorgeht, resultiert der Begriff des zweiten Daseins nicht aus einer korrigierenden Veränderung des Volksliedbegriffs. Er impliziert keinerlei Neubestimmung des alten essenti­ellen Wesenskerns, der sich aufgrund seiner ontologischen Herleitung nicht ändern kann, sondern fasst begrifflich nur akzidentelle Wirklichkeitsmerkma­le: Das zweite Dasein „besteht in neuen Eigenschaften und Formen“.14

b) Das Vermittlungsproblem. – Methodologisch lässt sich dies weiterver­folgen an der für ontologisch-normative Theorie typischen Lösung des Ver­mittlungsproblems. In dem neu bemessenen Wirklichkeitsbereich werden diejenigen Objekte aufgesucht und benannt, in denen das Essentielle eine neue akzidentelle Realisation und Ausprägung in der Wirklichkeit erfährt.15

Das wichtigste Erkenntnismittel ist demnach auch hier wiederum die rangmä­ßige Einstufung und Differenzierung nach dem ontologisch gewonnenen Maßstab des Volksliedbegriffs: „Es sind also mindestens zu unterscheiden: gutes und mindergutes Volkslied, Volksgesang im weiteren Sinn und [schließ­lich] die übrigen populären Lieder“.16

An der Peripherie dieser Rangskala stehen natur- und wesensgemäß die Lie­der der ,Schlagerindustrie’. Sie sind ungeeignet zur Übernahme jeglicher äs­thetischer und ethisch-normativer Aufgaben im Sinne ontologisch-normativer Theorie, sie „sind zu banal und amusisch, als dass sie in Leben und Lehre an die Stelle des Volksliedes treten könnten“.17 Eine Reihe weiterer Abstufungen folgt und bezeichnet jeweils den größeren oder kleineren Abstand zum Ide­al.18 Bereits in der Nähe der Volkslied-Idee aber werden Liedgruppen wie das französische Chanson (S. J. Barjon und George Brassens) oder das ,volks­tümliche Lied’ toleriert. Wo man, wie in diesen Liedern, Wesenszüge des

14 Ders.: Der Untergang des Volkslieds, a. a. O., S. 18.15 Die Erforschung der Gegenwart in diesem Sinne ist immer auch ein Ziel ontologisch-nor­

mativer Theorie gewesen; vgl. hierzu I.-M. Greverus: Zu einer nostalgisch-retrospektiven Bezugsrichtung der Volkskunde, in: HssBlfVk. 60, 1969, S. 11-28.

16 W. Wiora: Der Untergang des Volkslieds, a. a. O., S. 20.17 Ebd. S. 24.18 Vgl. auch etwa in H. Trümpys phänomenologischem Konzept die drei Stufen ansteigen­

der Unechtheit, der wachsenden Entfernung zum normativen Pol; ders.: Folklorismus in der Schweiz, in: ZfVk. 65, 1969 I, S. 42.

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Volksliedes wiedererkennt, „kann man von echten Volksliedern neuer Art sprechen“.19

Den Kern in der weiten Trägerschaft guten Volkslieds jedoch und gleichsam den idealen Nullwert der Rangskala bildet jener engere Kreis der Volkslied­pfleger (Fritz Jöde, Walter Hensel u. a.), der die Idee fast unbeschädigt wei­terträgt: „Ein engerer innerhalb des weiteren Kreises“ fasst das Volkslied „in den Allgemeinbegriff, den wir Herder verdanken, und dieser gilt zugleich als eine Idee, deren Verwirklichung [uns] aufgegeben“ ist.20

Schon aus dieser kurzen Zusammenfassung lässt sich entnehmen, wie konsequent ontologisch-normative Theorie ihre Methode auch im Begriff des zweiten Daseins durchhält. Der neue Begriff umfasst zwar das aktuelle lied­hafte Singen, für das er neue ‚Eigenschaften und Formen’ zulässt und so die akzidentelle Toleranz des Volksliedbegriffs erweitert. Die ontologische Maß­gabe durch die essentielle Idee aber wird unverändert beibehalten. Sie be­wertet vor allem das Restaurative hoch, so dass der neue Begriff letztlich nur das Erkennen der Idee unter veränderten Bedingungen ermöglicht, sowie die Übertragung ihrer Normativität auf vordem nicht beachtete Objektivationen. So ragt die Idee des Volkslieds in unveränderter Gültigkeit auch in den Be­reich ihres zweiten Daseins hinein und begründet die methodologische Folgerichtigkeit der ontologisch-normativen Theorie auch in diesem für sie neuen Wirklichkeitsbereich.

Exkurs in sozialwissenschaftliche Theoriebegriffe. – Die oben in den Grund­zügen umrissene Methode ist eine Form der Erkenntnis, die ohne weiteres auch wohl als phänomenologische oder hermeneutische Methode im wei­teren Sinne bezeichnet werden kann. Der Begriff „ontologisch-normative Theorie“ indes ist hier mit der Absicht gewählt, die weitgehenden Überein­stimmungen mit der entsprechenden sozialwissenschaftlichen Theorie deut­lich zu machen. In diesem Wissenschaftbereich kann der ontologisch-norma­tive Theoriebegriff heute auf eine Tradition zurückblicken, die weit ins 19. Jahrhundert zurückgeht, in eine Zeit also, in der die Sozialwissenschaften von der Philosophie sich erst zu lösen begannen.

Wie in der Musikalischen Volkskunde gehen die Vertreter dieses Theorietypus auch in den Sozialwissenschaften von der Annahme einer in den Strukturen des Seins begründeten, objektiv vorgegebenen Wahrheit aus, der sich die Wissenschaft in stetiger Annäherung oder auch in ganzheitlichem Erschauen zu vergewissern hat. Diese Seinswahrheiten, in welchen zugleich das Gute konvergiert, gelten, wie auch oben anhand des Beispiels aus der Mu­sikalischen Volkskunde gezeigt, nicht als abhängig vom methodischen Gang

19 W. Wiora: Der Untergang des Volkslieds, a. a. O., S. 11.20 Ebd. S. 18.

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der Wissenschaft, sondern als den Dingen und der sozialen Welt als essenti­elle Formursache ontologisch eingewoben. Praktisch erscheinen sie als Nor­men von äußerster Allgemeinheit (Gemeinschaft, Gesellschaft, Demokratie, Parlamentarismus usw.), denen die Wirklichkeit als deren Derivat zuzuordnen ist.

Das Problem der Vermittlung zwischen den allgemein gehaltenen Normen als Wesen und Ziel des jeweils Seienden und der konkreten, dem Wandel un­terworfenen Wirklichkeit kann in der Regel durch Interpretation ohne wei­teres gelöst werden. Man versucht die möglichst überzeugende Zuweisung eines höheren oder geringeren Wertes nach Maßgabe der zuvor erläuterten Wesensbestimmung. Abweichende Entwicklungen und genuin neue Sachver­halte erscheinen als Verfall.21

Eine bedeutende Konkurrenz findet die ontologisch-normative Theorie in der empirisch-analytischen Wissenschaft. Es handelt sich hierbei um eine Theo­rievariante, die sich vor der Aufgabe, die Wirklichkeit wissenschaftlich zu be­greifen, grundsätzlich anders verhält, als der ontologisch-normative Ansatz. Sie beruht zum einen auf der modernen Wissenschaftslogik, als deren Vertreter im deutschen Sprachraum etwa Rudolf Carnap, Hans Albert und Ernst Topitsch zu nennen sind, zum anderen auf den quantifizierenden Me­thoden der empirischen Sozialforschung.

Um zu einer Erklärung eines sozialen Phänomens zu gelangen, bilden die Vertreter dieses Theoriebegriffs zunächst eine Reihe deduktiv abgeleiteter Hypothesen, die in systematischer Verknüpfung für den betreffenden Objekt­bereich einen in sich widerspruchsfreien Zusammenhang von Aussagen dar­stellen. Von mindestens ebenso zentraler Bedeutung im Forschungsprozess ist jedoch der zweite Schritt: Das hypothetische System von Aussagen ist durch die empirischen Verfahren der Faktenanalyse auf seine Gültigkeit zu prüfen, wodurch sich entweder seine Richtigkeit und Vollständigkeit oder aber seine Korrektur- und Ergänzungsbedürftigkeit erweisen muss.

In der strukturell-funktionalen Variante dieses Theoriebegriffs, die im Hin­blick auf die Musikalische Volkskunde hier besonders zu beachten ist, werden die einzelnen Objektbereiche mit Hilfe der axiomatischen Kategorien Struktur und Funktion als mehr oder weniger komplexe Systeme beschrieben. So gelten – in entfernter Analogie zur Anatomie des lebenden Organismus – die

21 Die Vorteile dieses Wissenschaftsbegriffs werden in der sozialwissenschaftlichen Theo­riediskussion durchaus nicht übersehen. Sie können etwa in der der Analyse vorgängigen Wertreflexion oder auch in der Zuordnung von Werten und Sein gesehen werden. Als eine der Gefahren, auf deren Darstellung hier nicht näher einzugehen ist, wird in den Sozialwissenschaften vor allem die durch die Norm bedingte Verengung des Wirklich­keitsbegriffs genannt, durch welche die jeweilige Realität leicht verfehlt werden kann. Eine weitere Gefahr liegt in der möglicherweise zu einfachen Konzeption des Norm- und Wertbegriffs, der als konstant und über die Geschichte und ihren Wandel hinausgehoben gedacht wird.

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relativ stabilen Einheiten eines sozialen Systems als seine Strukturen. Sie bilden den statischen Bezugsraster des Systems. Das dynamische Element in diesem Bezugsraster sind die Funktionen. „Diese müssen direkt mit den strukturellen Kategorien verknüpft sein, d.h. sie müssen Prozesse beschreiben, die diese bestimmten Strukturen erhalten bzw. abbauen und die Beziehungen des Systems zu seiner Umwelt vermitteln“.22

Kennzeichnend für die praktische Arbeit strukturell-funktionaler Wissenschaft ist vor allem die methodologisch integrierte empirische Erfahrungskontrolle der Aussagen. Hypothesen, die dieser Kontrolle nicht unterzogen werden können – etwa wegen mangelnder Operationalisierbarkeit – ebenso wie Aus­sagen, die durch empirische Erfahrung widerlegt sind, werden verworfen bzw. führen zu einer (meist partiellen) Revision des Aussagesystems. Die zentrale Bedeutung der Empirie ermöglicht ferner die Einbeziehung mathe­matischer Analyse und Verarbeitung der Daten, unter anderem die Verwen­dung wahrscheinlichkeitstheoretischer Verfahren und damit – für bestimmte Wirklichkeitsbereiche und im Rahmen statistischer Wahrscheinlichkeit – die Prognose.

II. Der empirisch-analytische Theoriebegriff

In der Musikalischen Volkskunde ist empirisch-analytische Theorie vor allem in Form ihrer strukturell-funktionalen Variante vertreten. Der eigentliche Gegenstand unserer Untersuchung, das Folklorismusproblem, ist aber auch innerhalb dieses Konzepts (wie oben) gänzlich abhängig von den methodolo­gischen Grundfragen. Das führt uns auch hier vor der Behandlung der Folklo­rismusfrage zu zwei grundlegenden Problemkreisen, deren erster ein Pro­blem der Begriffsbildung einschließt; der zweite betrifft sodann Fragen der Theoriebildung im engeren Sinne.

1. Gruppenlied statt Volkslied

Die essentialistische Bestimmung des Volksliedbegriffs hat seit ihrer ersten Explikation durch Herder durchaus nicht nur allgemeine Zustimmung erfah­ren. Im Gegenteil. Sie wurde von jeher teils von polemischem Spott, teils aber auch von wissenschaftlich fundierter Kritik begleitet. So verschieden die Motive zu diesem Widerspruch und die daraus entwickelten Alternativen in­haltlich wie formal auch immer sein mochten, der Haupteinwand gegen

22 T. Parsons: Soziologische Theorie, S. 39 ff.; zit. nach W.-D. Narr: Theoriebegriffe und Systemtheorie, Stuttgart 21971, S. 111.

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wissenschaftliche und editorische Arbeit auf der Grundlage dieses Konzepts galt stets der Möglichkeit von ,Wesenserkenntnis’ und dem Versuch essentialistischer Begriffserklärung im allgemeinen und im besonderen der daraus folgenden Selektivität des Erkenntnisinteresses beim Vermittlungspro­blem zwischen Idee und Wirklichkeit.23

Heute steht auf Seiten dieser Kritik die empirisch orientierte Wissenschafts­logik, die von vornherein ausschließt, dass es möglich sein könnte, „durch reines Nachdenken und ohne eine empirische Kontrolle (mittels Beobach­tung) einen Aufschluss über die Beschaffenheit und über die Gesetze der wirklichen Welt zu gewinnen“.24 So ist es nicht verwunderlich, dass der Volks­liedbegriff mit seiner alten Rolle als Leitidee in ontologisch-normativer Wissenschaft hier nun eine Reihe von Bedingungen nicht erfüllen kann, die seitens der Vertreter empirisch-analytischer Forschung grundsätzlich an einen Begriff und seine wissenschaftliche Brauchbarkeit gestellt werden, wie etwa intersubjektive Gültigkeit und operationale Definition. Zwar könnte man den Volksliedbegriff für moderne Empirie gewiss neu und operationalisierbar definieren, ohne nach guter nominalistischer Tradition auch nur im gerings­ten auf seine ursprüngliche Bedeutung Rücksicht zu nehmen. Fraglich scheint aber, ob die essentialistische Herkunft dieses Begriffs und seine besondere Rolle in der Geschichte nicht doch allzu bündig in ihn einge­gangen sind und ein intersubjektives Verständnis in der Praxis zumindest äußerst erschweren würden. „Ja es stellt sich die Frage, ob der Begriff des Volksliedes sich überhaupt noch so operationalisieren lässt, dass er als Er­kenntnismittel brauchbar ist. Die Wertung ist im Begriff impliziert“.25 Und sie ließe den neuerlichen Versuch einer nominalistischen Definition wohl wenig brauchbar erscheinen.

Ernst Klusen ersetzt bei der Erforschung des gegenwärtigen Singens den Volksliedbegriff daher durch den Begriff des Gruppenliedes und fasst so den Untersuchungsgegenstand – das im laienhaften Gebrauch umlaufende Lied – erstmals innerhalb einer genau angebbaren sozialen Einheit, der Primärgruppe.26 Das aus methodologischer Sicht Entscheidende dabei ist die Hinwendung zu einer präzisen nominalistischen Abgrenzung des zu untersu­chenden Objektbereichs. Denn erst dies eröffnet die Möglichkeit einer reflektierten empirischen Forschung im Sinne moderner Wissenschaftslogik, die auf eine solche Problembestimmung nicht verzichten kann.

23 Vgl. hierzu die fundamentale Kritik an der Selektivität essentialistischer Volksliedbestim­mungen durch E. Klusen: Das apokryphe Volkslied, in: JbfVf. 10, 1965, S. 85-102.

24 W. Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Stuttgart 31969, S. 346.25 H. Bausinger: Schlager und Volkslied, in: R. W. Brednich, L. Röhrich, W. Suppan (Hg.):

Handbuch des Volksliedes 1/I, a. a. O., S. 689.26 Vgl. hierzu E. Klusen: Ein neues Begriffsinstrumentarium, in: Zeitschrift für Volkskunde

63, 1967, S. 51 f.; ders.: Das Gruppenlied als Gegenstand, in: JbfVf. 12. 1967, S. 21-41.

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2. Ein strukturell-funktionales Paradigma

Die nominalistische Qualität des Gruppenliedbegriffs hat aber noch einen zweiten Aspekt, der als logische Konsequenz mit bedacht werden muss. Wird nämlich mit der nominalistischen ,Grundsteinlegung’ das zentrale Theorie­element ontologisch-normativer Wissenschaft, die ontologische Explikation des Volksliedbegriffs, verworfen, so wird zwar ein Problem gelöst, das der präzisen Definition nämlich, zugleich aber auch ein neues geschaffen. Denn der neue nominalistische Begriff führt zunächst einmal nur aus dem ontolo­gisch-normativen Theoriegebäude heraus und begibt sich damit auch des Schutzes der Kohärenz dieser Theorie, die lange Zeit, seit Herder, als gesi­cherter methodologischer Bezugsrahmen gegolten hatte. Ungeachtet ihrer Mängel hatte sie doch durch die systematische Zuordnung alles liedhaften Singens auf den essentiellen Begriff des Volksliedes jene durchgehende Ord­nung geleistet, in der wohl einer der Gründe für ihre wissenschaftsgeschicht­lich außerordentliche Wirkung gesehen werden muss.

Den Anspruch systematischer Gültigkeit aber erhebt gleichermaßen die empi­risch-analytische Wissenschaft, dies freilich auf der Grundlage ihres eigenen Theoriebegriffs. Natürlich sind es nicht schon die empirischen Überprüfungs­verfahren, die von sich aus logisch zu systematischen Aussagen führen. Viel­mehr können Faktizitätskontrollen (die leider oft genug schon als hinrei­chende Bedingung für ,Wissenschaftlichkeit’ überhaupt missverstanden werden) nur dann als ,sinnvoll’ gelten, wenn sie im Zusammenhang mit einem widerspruchsfreien, theoretisch kohärenten System von Definitionen und Aussagen stehen, das ihnen unterliegt und das sie falsifizieren und revi­dieren können.

Die Sozialwissenschaften haben für solche Aussagen sehr unterschiedliche – darunter auch wohl einige für die Zukunft vielversprechende – umfassende Bezugsrahmen entwickelt, die auf eine systematische Gesellschaftstheorie zielen. Die Empirie der Musikalischen Volkskunde aber bleibt – im gegen­wärtigen Zeitpunkt zumindest – noch abseits solcher Reflexion auf das gesellschaftliche Gesamtsystem und damit vorläufig außerhalb dieser äußerst komplexen, für künftige Forschung aber sicher entscheidenden Frage.

Auf einen vorläufigen systematischen Bezugsrahmen ihrer Aussagen indes, der die Gefahr einer theorielosen und mithin jeder vernünftigen Kritik entzo­genen Kompilation von Einzelbeobachtungen ausschließt, kann sie aus me­thodologischen Gründen nicht verzichten. Für diesen Zweck hat Ernst Klusen 1974 ein funktionales Paradigma entwickelt, das im Brennpunkt dieses wichtigen Problems steht.27

27 E. Klusen: Zwischen Symphonie und Hit: Folklore? in: ders. (Hg.): Soziale Implikation – ein Aspekt der Volksmusikforschung, Protokoll der Arbeitstagung veranstaltet von der

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a) Die Funktionen. – In diesem Bezugsrahmen sind wesentliche Momente der Theorie von Talcott Parsons und seiner Schule aufgegriffen und für den Be­reich der Musik weiterentwickelt, dies allerdings in enger Kohärenz mit dem Funktionalismus der traditionellen Volksliedforschung. Ausgangspunkt ist hier wie dort der Mensch als Handelnder in seiner Bezogenheit auf den anderen, die empirisch beobachtbar ist durch Zahl und Art der Interaktionen. Für die Zwecke Musikalischer Volkskunde ist aus dieser Gesamtheit ein bestimmter Bereich herausgegriffen: die musikalischen Vorgänge – bzw. hier speziell das Lied – innerhalb von Primärgruppen.

Aus der Sicht strukturell-funktionaler Theorie erscheint das Lied somit als ein Faktor in der Gesamtheit der Interaktionsprozesse, durch welche Gruppen­mitglieder in einer gegebenen Situation miteinander oder mit ihrer Umwelt musikalisch in Beziehung treten (Arbeit, Entlastung, Information, Feier usf.). In dem Maße aber, wie das Lied eine Komponente jener Lebensvorgänge in der Gruppe ist und an der Bewältigung notwendiger Lebensaufgaben seinen spezifischen Anteil hat, sind umgekehrt diese Aufgaben auch die ‚notwen­digen Voraussetzungen’ für das Lied. So erscheint es als musikalischer Vorgang eingebunden in den Prozess des Lebensvollzugs und als in­tegrierender Teil der Aufgaben, die die Handelnden in der Gruppe zu lösen haben. Für strukturell-funktionale Theorie bilden diese konkreten Anlässe, die Singgelegenheiten und die darauf basierenden Handlungssituationen, das zentrale Interesse.28

b) Die Strukturen. – Darüber hinaus ist jede musikalische Handlungssituation in einer bestimmten Weise koordiniert, im sozialtechnischen Sinn ,organi­siert’. Organsationsstrukturen als massive soziale Realität sind uns heute vor allem im Musikmarkt gegenwärtig mit seinen differenzierten Produktions- und Vertriebsapparaten bzw. der entsprechend differenzierten Nachfrage: Hier treten sie durchgehend als institutionalisierte Organisation auf. Organi­sationsstrukturen regeln jedoch nicht nur die musikalische Versorgung auf dem Niveau solcher größerer anonymer Systeme. Ebenso sind sie in kleineren Gruppen bei laienmäßigem Singen und Musizieren zu beobachten, heute wie in früherer Zeit, ja „Organisation ist bei jeder Art Interaktion im Spiel; auch der Tanz unter der Dorflinde ist organisiert“.29

Kommission für Lied-, Musik- und Tanzforschung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 1974 in Neuss: Neuss 1974, S. 25-42; ders. Beitrag in: W. Gundlach und H. Antholz (Hg.): Gedenkschrift für Michael Alt, Düsseldorf 1975.

28 Vgl. hierzu E. Klusen: Zur Situation des Singens in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, Der Umgang mit dem Lied (Musikalische Volkskunde. Materialien und Analysen, Bd. 4), Köln 1974; ferner Bd. II. Die Lieder, Köln 1975; L. Röhrich: Die Textgattungen des popu­lären Liedes, in: R. W. Brednich, L. Röhrich, W. Suppan (Hg.): Handbuch des Volksliedes 1/I, München 1973, S. 19-35, hier bes. S. 28 ff.: Funktionale Terminologie.

29 E. Klusen: Zwischen Symphonie und Hit: Folklore? a. a. O., S. 37.

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Die strukturell-funktionale Theorie erfasst diese Handlungselemente durch den analytischen Begriff der Struktur. Darunter ist eine „relative Stabilität“ zu verstehen, d. h. Regelmäßigkeiten oder Gleichförmigkeiten, die in einer gegebenen Situation „hinreichend stabil sind, um sie für pragmatische Zwe­cke innerhalb gewisser Grenzen als konstant anzunehmen“.30 Bei empirischen musikalischen Vorgängen (z. B. dem laienmäßigen Gruppensingen ebenso wie bei einer musikalischen ,Nummer’ in einem Pop-Konzert) ist es unter anderem die Rollenverteilung von Singenden und Hörenden, die in der jewei­ligen Situation konstant bleibt und als Struktur beschreibbar ist.

Auf dieser Grundlage ordnet das Paradigma die möglichen Interaktionsmu­ster, „die sich – entsprechend der Struktur einer Gesellschaft und der Struk­tur der Musik – außerordentlich differenzieren können“31 und vermag anhand seiner Dichotomie alle Handlungsalternativen in einen formalen Zusammen­hang zu bringen: Als die beiden extremen Interaktionsmuster fungieren auf der einen Seite das Singen in der Gruppe; hier hat die Gruppe die mu­sikalischen Aufgaben selbst übernommen, gleichsam ,in eigener Regie’. Auf der anderen Seite steht das Interaktionsmuster, wonach diese Aufgaben aus­gegliedert (,ausdifferenziert’), d. h. professionellen Sängern übertragen sind. Dieses Handlungsmuster beginnt überall dort, wo sich die Übertragung zu Berufen verfestigt.

3. Was leistet das strukturell-funktionale Paradigma?

Aus methodologischer Sicht besitzt ein solches Paradigma für den Gang em­pirisch-analytischer Wissenschaft eine elementare Bedeutung. Es steht im Schnittpunkt zweier Probleme, die primär als Probleme der Theoriebildung zu verstehen sind.

Die auf dem Gebiet des laienmäßigen Gruppensingens und -musizierens im Prinzip unbegrenzte Vielfalt möglicher empirischer Beobachtungen ist das eine dieser beiden Probleme, worauf das Paradigma zu antworten sucht. Es schafft durch die Beschränkung auf die Kategorien von Struktur und Funktion den Bezugsrahmen, der die möglichen Beobachtungen auf die wichtigen re­duziert und damit eine Auswahl trifft, die die empirischen Merkmals­beschreibungen zu einem kohärenten ,sinnvollen’ (d. h. praktikablen, über­schaubaren) Ganzen integriert. Ohne eine solche Konzentration auf die domi­nanten Faktoren des laienmäßigen Singens wäre der für empirische For­

30 T. Parsons: Soziologische Theorie, a. a. O., S. 37; Parsons’ vorsichtige Einschränkung wird in anderen Zusammenhängen äußerst wichtig.

31 E. Klusen: Zwischen Symphonie und Hit: Folklore? a. a. O., S. 28.

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schung beständig naheliegenden Gefahr von bloßer Feststellung oder besten­falls summierender Kompilation von Einzelbeobachtungen kaum zu entgehen.

Das zweite Problem, auf das sich das Paradigma bezieht, ist die Schwierig­keit einer weiterreichenden exakten Theoriebildung zum gegenwärtigen Zeit­punkt. Die enormen Anforderungen moderner Wissenschaftslogik verbieten hier jede vorschnelle Konstruktion. So muss die praktische Forschung in­nerhalb des strukturell-funktionalen Ansatzes, um das im Augenblick Mögli­che zu tun, einstweilen auf die vorläufige Lösung eines solchen oder ähnli­chen Bezugsrahmens zurückgreifen, der natürlich seine Rolle als heuris­tisches Instrument auf dem Wege in Richtung einer allgemeinen systema­tischen Theorie deswegen nicht zu verleugnen braucht. Keinesfalls aber darf er mit einer Theorie selbst verwechselt werden. Sein Hauptzweck liegt le­diglich in der Definition, in der Anregung und der Koordination von struk­turell-funktionalen Forschungsvorhaben. Auch Robert K. Merton nimmt für seinen umfassenden Bezugsrahmen nicht mehr Endgültigkeit in Anspruch: „Der erste und wichtigste Zweck liegt darin, einen vorläufigen kodifizierten Leitfaden für angemessene und fruchtbare funktionale Analysen zu liefern […]. Er ist also gedacht als fast allzu stark geraffter, unvollständiger Leit­faden für die Formulierung von Forschungsvorhaben der funktionalen Analy­se sowie als Hilfe bei der Identifizierung der besonderen Beiträge und Män­gel früherer Untersuchungen“.32

a) Die Mängel des Folklorismusbegriffs. – In der Tat erhalten die besonderen Beiträge und Mängel früherer Untersuchungen vor dem Hintergrund des Pa­radigmas und im Hinblick auf die Erkenntnisziele strukturell-funktionaler Theorie jeweils einen bestimmten Stellenwert. Besonders unterschiedlich er­scheint die Brauchbarkeit der Versuche, die aktuelle Entwicklung laienmä­ßiger Sing- und Musizierpraxis begrifflich zu erfassen. Die Konzeption des Volksliedes in seinem zweiten Dasein bleibt schon wegen ihrer ontologisch-normativen Wertrelativität weit hinter den Anforderungen des strukturell-funktionalen Theoriebegriffs zurück. Aber auch der Begriff des musikalischen Folklorismus scheint aus strukturell-funktionaler Sicht nicht frei von Mängeln. Einerseits bezeichnet er zu schnell und zu viel,33 andererseits fällt aus seinem Bedeutungsradius das „tradierte, laienmäßige, funktionale Singen in Grup­pen, die nicht um des Singens willen zusammengekommen sind“ (ebd.), her­aus.

Hier zeigt sich eine Unschärfe, die dem Folklorismusbegriff von Anbeginn anhaftete und deren Ursache ohne Zweifel darin liegt, dass er in doppelter Weise ontologisch-normativer Theorie verpflichtet ist. Einmal benennt er

32 Robert K. Merton: Social Theory and Social Structure, Glencoe 1963, S. 55; Merton be­zieht sich hierin auf das von ihm ausgearbeitete Paradigma.

33 E. Klusen: Zwischen Symphonie und Hit: Folklore? a. a. O., S. 26.

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Objekte, die die ontologisch-normative Theorie (und nur sie) aus ihrer Be­trachtung zunächst ausgeklammert hatte und kompensiert so vor allem de­ren spezifische Auswahl.34 Er benennt also primär ein durch diese Theorie geschaffenes Problem, jenen immer wichtiger werdenden ,Rest’ außerhalb des Fassungsvermögens ihres Schlüsselbegriffs und muss insofern auch als Resultante dieses spezifischen Problems gesehen werden.

Zum anderen enthält auch die erste behutsame Folklorismusdefinition durch Hans Moser schon ontologisch-normative Implikate. Gewiss war Hans Moser 1962 und 1964 sorgfältig darauf bedacht, den Folklorismusbegriff als einen „an sich neutralen Begriff“ vorzustellen,35 ihn also noch nicht auf ein be­stimmtes Konzept festzulegen, um ihn so für möglichst viele wissenschaftli­che Ansätze offen zu halten. Und dennoch ist in diesen beiden wichtigen und aufschlussreichen Folklorismusuntersuchungen ontologisch-normative Theo­rie unaufdringlich, im Prinzip aber konsequent durchgehalten. Moser fasst die Unterschiede im Bereich des Folklorismus als Unterschiede der Entfernung zu einem normativen Bezugspol auf und bezieht dadurch eine Position, von der aus es scheint, „dass es vielerlei Arten des Gebrauchs und Mißbrauchs volks­tümlicher Elemente gibt“.36 Folklorismus scheint also einer ähnlichen Wertung wie das Volkslied in seinem zweiten Dasein zu unterliegen. Auf der einen Sei­te spricht Moser von „Klamaukfolklorismus“ oder „kommerziellem Folk­lorismus“ usw.;37 auf der anderen Seite steht „sympathischer Folklorismus“ oder „Folklorismus bester einwandfrei sauberer Art“,38 den Moser beim Alp­hirtenfest in Unspunnen (1805) verwirklicht sieht. Was dort vorgeführt wurde „an Liedern und Musik und volkssportlichen Bräuchen, war echt“. Und im Schlüsselbegriff der Echtheit muss letztlich wohl auch das normative Maß gesehen werden, das dem Forscher die Sicherheit an die Hand gibt, die Un­terschiede im Bereich des Folklorismus als ,Arten des Gebrauchs und Miss­brauchs’ zu erkennen und zu beschreiben.

Diesen Zusammenhang von traditioneller Theorie und Folklorismusbegriff hat in aller Schärfe zuerst wohl Konrad Köstlin gesehen und eindringlich vor der Illusion gewarnt, wonach etwa mit dem neuen Begriff auch schon wissen­

34 Vgl. hierzu K. Köstlin: Folklorismus und Ben Akiba, in: RhJbfVk. 20, 1970, S. 235.35 H. Moser: Der Folklorismus als Forschungsproblem der Volkskunde, in: HssBlfVk. 55,

1964, S. 44; ebenso in: Vom Folklorismus in unserer Zeit, in: ZfVk. 58, 1962, S. 180, als „Dachbegriff von großer Spannweite“; vgl. hierzu H. Bausinger: Zur Kritik der Folklo­rismuskritik, in: den. (Hg.): Populus revisus, Tübingen 1966, S. 61.

36 H. Moser: Der Folklorismus als Forschungsproblem, a. a. O., S. 44; vgl. hierzu R. Narr: Volkskunde als kritische Sozialwissenschaft, in: Abschied vom Volksleben, a. a. O., S. 44.

37 Ebd. S. 45 bzw. S. 12 f.38 Ebd. S. 33 bzw. S. 27; andere inhaltlich klassifizierende Begriffe wie „humoristischer

Folklorismus“ (S. 41) oder „Blut-und-Boden-Folklorismus“ (S. 35) u. ä. sind wohl mehr nominalistischer Art.

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schaftliches Neuland betreten wäre. Im Gegenteil vermag der Folklorismus­begriff durch seine Orientierung am Natürlichen und Echten einen neuen Weg geradezu zu verstellen. „So ist der Begriff möglicherweise in seinem gegenwärtigen Verständnis unbrauchbar für die Erfassung heutiger Wirklich­keit […]. Unbrauchbar dann nicht nur deshalb, weil er sich hier als Synonym für [ontologisch] schon Bekanntes zeigt, sondern weil er damit auch Syn­onym für immer schon Dagewesenes wird und im Effekt dieser Funktion dann nur immer schon Dagewesenes ins Blickfeld bekommt“.39

Aus methodologischer Sicht ist mit der hier angesprochenen Selektivität des Folklorismusbegriffs eine Wirkung verbunden, die ganz generell – auch in­nerhalb der Sozialwissenschaften – für ontologisch-normative Theorie immer wieder diagnostiziert wird: Konrad Köstlin vermag schlüssig zu zeigen, dass der Begriff in seinem heute in der Wissenschaft weithin akzeptierten Ver­ständnis weniger zur Erfassung gegenwärtiger Probleme beiträgt, als viel­mehr zur „Entlastung dieser Wissenschaft von eben diesen Problemen“.40

Wenn man aber diesen Ansatz für die Beantwortung gegenwärtigen Fragens für ungeeignet hält und jene „fragwürdige Trennung zwischen ,erster Hand’ und ,zweiter Hand’“41 verwirft, taucht ein neuer Fragehorizont auf, „dann kann die Frage nicht mehr lauten, was mit diesen anders [d. h. aus zweiter Hand] vermittelten Gütern so oder so geschieht, sondern dann muss gefragt werden, was mit dem Menschen geschieht, der diesen so vermittelten Gütern gegenübersteht“.

Für die strukturell-funktionale Theorie, die – wie oben gezeigt – auf dem Be­griff des menschlichen Handelns systematisch aufbaut, ist eben dies die zentrale Frage.

b) Eine strukturell-funktionale Folklorismusdefinition. – Die methodologische Nützlichkeit des strukturell-funktionalen Paradigmas liegt aber nicht primär darin, Unscharfen und Mängel essentialistischer Begriffsexplikation hervortre­ten zu lassen, sondern darin, präzise nominalistische Definitionen zu ermögli­chen. Für den musikalischen Folklorismus wird dies mit der Strukturkategorie des Paradigmas erreicht. Sie benennt Handlungsmuster, bezieht sich also auf jene ,relativen Gleichförmigkeiten’, die in der Komplexität folkloristischer Vor­gänge und in der Kompliziertheit ihrer funktionalen Bedingungen gleichsam die Fixpunkte bilden, die für nominalistische Definition eine geeignete Basis sind: So begrenzt Ernst Klusen die Reichweite des Folklorismusbegriffs auf Folklore, die aus der musikalischen Interaktion der Gruppen ,ausdifferenziert’ ist, d. h. auf solche Musik, die zwar der laienmäßigen Sing- und Musizierpra­

39 K. Köstlin: Folklorismus und Ben Akiba, a. a. O., S. 240.40 Ebd. S. 256; vgl. hierzu auch S. 234 ff. und S. 250 f.; ferner E. Klusen: Zur Entideologi­

sierung des Begriffs Volkslied, a. a. O., S. 47 f.41 K. Köstlin: a. a. O., S. 255; auch das folgende Zitat findet sich ebd.

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xis entlehnt, aber über den Markt und in entsprechend professioneller Perfektion angeboten und abgenommen wird. „Maßgebend für die Beurtei­lung [als Folklorismus] erscheint hier die Interaktionsform, in zweiter Linie – durch sie bedingt – erst die musikalische Gestalt“.42 In strukturell-funktiona­ler Theorie wird der Begriff des musikalischen Folklorismus somit stark ein­gegrenzt, aus der Wertungsdichotomie echt-unecht, eigentlich-uneigentlich, herausgelöst und so in seiner neuen intersubjektiv mitteilbaren Formalität völlig gereinigt von dem ihm ursprünglich anhaftenden ontologischen Verdikt, jener „Folklorismuskritik“, gegen die sich Hermann Bausinger schon 1966 kritisch wandte.43

Die nominalistische Präzisierung des Folklorismusbegriffs ist indes nur der eine Aspekt des Paradigmas. In ihrem systematischen Charakter ermöglichen die beiden Kategorien von Struktur und Funktion im Bereich der mu­sikalischen Folklore weitere operationalisierbare Begriffsbestimmungen und Hypothesen ohne den geringsten Rückgriff auf vorgängige Werturteile. Dar­über hinaus aber zielt das Paradigma auf die eminent wichtige Aufgabe der Koordination von funktionalen Forschungsvorhaben und deren Ergebnissen bei vorliegenden und zukünftigen Untersuchungen.

III. Der dialektisch-historische Theoriebegriff

Die dialektische Theorie hat im Gegensatz zu den oben skizzierten Ansätzen keinen spezifischen Theoriebegriff mit abstrakten, von der Erfahrung der his­torischen Wirklichkeit losgelösten methodologischen Prinzipien entwickelt. Was sie von den beiden anderen Theoriebegriffen unterscheidet, lässt sich daher nur schwer für den Zweck eines direkten Vergleichs beschreiben. Ihre Eigenart liegt zum einen in der Negation einiger zentraler Theoreme der kon­kurrierenden Theoriebegriffe, zum anderen in der Forderung nach Beachtung der für die dialektische Theorie unverzichtbaren Kategorien von Geschicht­lichkeit, Totalität und Dialektik. So kann die dialektische Theorie weder die ahistorische Gültigkeit ontologischer Normen anerkennen, noch einer Faktizi­tätskontrolle jene tragende Rolle zumessen, die sie für den empirisch-analy­tischen Theoriebegriff hat. Beides lehnt sie, wenn nicht als falsch, so doch als unzureichend ab zugunsten eines spezifischen Geschichtsbegriffs, der von den antagonistischen Strukturen der Gesellschaft ausgeht: Der Realdialektik der bestehenden gesellschaftlichen Widersprüche hat eine wissenschaftliche Dialektik zu entsprechen, in der die Gegensätze der Gesellschaft als Ursache

42 E. Klusen: Funktionen, Strukturen und Traditionen der Popularmusik: Der „Schnee-Wal­zer“, in: G. Weiss (Hg.): Festschrift E. Valentin, Regensburg 1976.

43 Zur Kritik der Folklorismuskritik, in: Populus revisus, Tübingen 1966, S. 61-75.

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für den unabgeschlossenen, prozesstaften Charakter der Geschichte be­schrieben werden.44 Der Geschichtsprozess wiederum ist durch das Prinzip der Hoffnung teleologisch auf die reale Utopie einer gelungenen Gesellschaft bezogen. Auf beide Aspekte aber zielt der Begriff der Totalität. Er umgreift sowohl den Zusammenhang der gesellschaftlichen Antagonismen als auch deren Verhältnis zum Gegenentwurf der Utopie.

Ziel dialektischer Theorie ist ihre direkte Reflexion auf Praxis in einem eminent politischen und emanzipatorischen Sinn: „Den Prozess aufzuhalten, indem sie ihn begreift, ist die Hoffnung der Theorie“.45 Die Gefahren dieses Theoriebegriffs indes liegen vor allem in der Abnutzung und Aushöhlung von Begriffen wie Dialektik und Totalität sowie in einem Abgleiten in eine durch die Irrationalität der Hoffnung kompensierte Resignation vor der un­ausweichlichen Negativität des vorfindlichen Gesellschaftssystems.

1. Der dialektische Volksliedbegriff

Wie ontologisch-normative Theorie, so geht auch der dialektischhistorische Theoriebegriff in der Musikalischen Volkskunde vom Begriff des Volksliedes aus. In der Tat wird der gleiche Terminus von diesen beiden diametral ent­gegengesetzten Wissenschaftsbegriffen beansprucht, was nicht zuletzt die praktische Schwierigkeit bedeutet, in der wissenschaftlichen Literatur hinter diesem Begriff gelegentlich kontradiktorische theoretische Kontexte mitzu­denken. Im Gegensatz zur ontologisch-normativen Theorie aber ist die Grundlage des dialektisch-historischen Theoriebegriffs ein einziges, gege­benes inhaltliches Konzept: die Geschichts- und Gesellschaftstheorie von Karl Marx. Sie bestimmt auch in dialektisch-historischer Volksliedforschung Prämissen, Auswahl und Methode.

Dabei kristallisiert sich das Spezifische dieser Theorie – wie in ontologisch-normativer Theorie – um den Volksbegriff.

Für die Vertreter des dialektischen Theoriebegriffs bedeutet es zunächst eine erhebliche Klippe, diesen Begriff aus dem breit verankerten ontologisch-nor­mativen Begriffskonsens überhaupt erst einmal herauszulösen, wo er mitun­ter bereits den Rang einer sozialethischen Ordnungskategorie besaß. Hier hatte das Volk, so Brecht, „seine unveränderlichen Eigenschaften, seine ge­heiligten Traditionen, Kunstformen, Sitten und Gebräuche, seine Religiosität, seine Erbfeinde, seine unversiegbare Kraft und so weiter und so weiter“.46

Dieses ist für dialektische Theorie falsch und unbrauchbar. Aus ihrer Sicht handelt es sich beim Begriff des Volkes „einfach um die ,kleinen’, vielen,

44 Vgl. hierzu G. Gurvitch: Dialektik und Soziologie, Neuwied und Berlin 1965.45 M. Horkheimer: Philosophie und Soziologie, in: Monat Nr. 134, November 1959, S. 10.46 Über den Realismus, in: Zur Literatur und Kunst, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1967, S. 324.

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arbeitenden Leute im Gegensatz zu den Oberen“.47 Und dieses antagonis­tische Implikat des Volksbegriffs bildet für dialektische Theorie den Ansatz­punkt, der die Stellung des Volksbegriffs im Rahmen von Geschichtlichkeit, Totalität und Dialektik bestimmt.

Auch Wolfgang Steinitz geht von hier aus und grenzt vorgängig sein Begriffs­verständnis gegen den ontologisch-normativen Volksbegriff traditioneller Volksliedforschung ab.48 Vom Standpunkt seines dialektischhistorischen Theoriebegriffs aus erweisen sich als die kritischen Punkte der traditionellen Begrifflichkeit einmal „die unhistorische Lehre vom Volksgeist als einer im­manenten unveränderlichen Eigenschaft“49 – dieser Lehre steht auf Seiten der dialektischen Theorie die Überzeugung vom dynamischen, unvollendeten Charakter der Geschichte gegenüber. Zum anderen wendet sich Steinitz gegen „die Auffassung vom Volke als eines einheitlichen Ganzen unter völ­liger Übersehung der tiefen Klassengegensätze“ – diese Auffassung widerspricht der Forderung dialektischer Theorie, wonach der vorfindlichen Realdialektik eine wissenschaftliche zu entsprechen habe.

Vor diesem Hintergrund hat auch das Volkslied seinen historischen Ort. Es „stellt in dem jahrhundertelangen Kampf in Deutschland zwischen Leib­eigenen und Feudaladel, zwischen Arbeitern und Kapitalisten, zwischen Aus­gebeuteten und Ausbeutern eine wichtige ideologische Waffe dar, die von beiden Seiten in ihrem Kampf bewusst angewandt worden ist“.50 Speziell aber wird es in dialektischer Theorie im emanzipatorischen Sinn gedeutet und als integrierender Faktor ganzheitlich auf die Totalität der Entwicklung von Gesellschaft und Geschichte bezogen: Es drückt „in umfassender Weise die geistigen Bedürfnisse des werktätigen Volkes aus. Insbesondere – wie könnte es anders sein –, wenn wir das werktätige Volk als die entscheidende Kraft in der geschichtlichen Entwicklung verstehen!“51

Wird der Volksliedbegriff durch die Kategorien einer spezifischen Geschicht­lichkeit und Totalität zunächst also inhaltlich mit großer Konsequenz in den

47 Ebd.; vgl. bes. auch S. 333.48 Vgl. besonders W. Steinitz: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs

Jahrhunderten, Bd. I, Berlin 1954, S. XXVIII et passim; ich beschränke mich hier – wie bei den anderen Theoriebegriffen – auf nur einen Vertreter dieser Richtung, nicht nur um der Konsequenz der Darstellung willen (es geht hier nur um ein Beispiel historisch-dialektischen Denkens), sondern auch, weil die Klarheit in den Ergebnissen – trotz mancher neuerer Publikationen mit dialektischem Anspruch – so weit ich sehe, bisher nicht wieder erreicht wurde. Das Problem seiner Berufung auf Herder bedarf noch der Analyse; vgl. hierzu auch I.-M. Greverus: Zu einer nostalgisch-retrospektiven Bezugsrich­tung der Volkskunde, a. a. O., S. 13, bes. Anm. 10.

49 Dieser wie der folgende Beleg ebd. S. XXX.50 Ebd. S. XXVII.51 Bd. I, S. XXVI f.

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Raum dialektisch-historischen Denkens integriert, so ist damit formal noch nichts festgelegt. Wir müssen daher – vor allem mit dem Blick auf das weite­re Ziel unserer Untersuchung – fragen, unter welchem Aspekt innerhalb dieses inhaltlich prädeterminierten Wissenschaftsbegriffs sich die Entwick­lungen auf dem Gebiet der musikalischen Volkskultur formal darstellen.

a) Das Prinzip der freien Variabilität der Tradierung. – Formal bindet Steinitz seine Volkslieddefinition an das Kriterium der oralen Tradierung, genauer: an die Tradition des aktiven Umsingens der Liedträger; der Begriff umfasst also nur, was vom Kollektiv „aufgenommen und dabei im Laufe seiner Entwick­lung vom Volke schöpferisch geformt“52 wurde.

Dies bildet für das folgende den Angelpunkt, denn in Konsequenz hierzu schließt Steinitz alle Formen der organisierten Verbreitung aus. Dabei fallen die durch Organisationen (Partei, Kirche) tradierten, die ,von oben verordne­ten’ Lieder heraus. Sie gehen entweder über den Druck und andere Medien an die Arbeiter oder werden in Veranstaltungen, Schulungen und Feiern der Organisationen mündlich tradiert, in der Regel aber auch hier (meistens ver­mittelt) ausgerichtet am gedruckten Notentext und mit Hilfe von Liederbü­chern. „So sind seit der Reformation Choräle, seit Herausbildung der moder­nen Staaten Nationalhymnen, seit Entstehung der sozialistischen Arbeiterbe­wegung die ‚Internationale’ usw. von großen Massen gesungen worden – je­doch ohne von den singenden Kollektiven […] umgestaltet zu werden“.53 Für das Arbeitervolkslied dagegen kann Steinitz zeigen, dass es alle Züge des schöpferisch umgesungenen Volksliedes besitzt.

Die durch mündliche Tradierung bedingte Variabilität des Volksliedes im dia­lektischen Sinn erscheint aus ökonomischer Sicht als Ausdruck der objektiven Lage der Arbeiter und Bauern, deren Mittellosigkeit eine Alternative nicht zuließ. Mit der Beseitigung dieser ökonomischen Bedingung durch den Auf­stieg der Arbeiterklasse aber schwinden zugleich die Lebensbedingungen der alten oralen Tradierformen und der freien Variabilität des Umsingens. Hier zeigt sich, dass Wolfgang Steinitz mit seiner Definition des Volksliedes das historische Ende dieser Erscheinung mitdefiniert hat. Aus der Bindung des Begriffs an die historisch auslaufende Tradition des Umsingens resultiert not­wendig auch das allmähliche Erlöschen der Volksliedtradition.

Dem ,Untergang des Volksliedes’ haftet nach dialektisch-historischer Theorie allerdings nichts Negatives an, denn er entspricht – gemäß dem inhaltlichen Konzept dieser Theorie – vollkommen der Logik des Geschichtsprozesses. Das Absterben des Volksliedes in seiner dialektischen Definition durch Steinitz ist ein notwendiger, ja erwünschter Vorgang, besteht doch die

52 A. a. O., Bd. II, S. XIX.53 A. a. O., Bd. I, S. XXVI; vgl. auch H. Bausinger: Folklore und gesunkenes Kulturgut,

DtJbfVk. 12, 1966 I, S. 15-25, bes. S. 21 f.; ders.: Volkskunde a. a. O., S. 193.

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kulturelle Aufgabe der Arbeiterklasse nach dialektischhistorischer Theorie darin, „Träger einer neuen Kultur und die führende Kraft der Nation zu werden“.54 Der für westliche ontologisch-normative Theorie typische Pessimismus fehlt hier völlig. Die Volkskultur soll verbessert, entwickelt, vollendet und in die Lage gebracht werden, die bürgerliche Kunst abzulösen: „Die Kunst der herrschenden Klassen war fertig, in der doppelten Bedeutung des Wortes, der guten und der schlechten, und die der Unterdrückten war unfertig, ebenfalls in der guten und in der schlechten Bedeutung des Wortes“.55

Das Bewusstsein von der historischen Sendung der Arbeiterklasse impliziert somit schon im Ansatz die Schaffung und Entwicklung einer neuen sozialis­tischen Volkskultur. Und damit tauchen in unserer Untersuchung die Kon­turen eines dritten Folklorismusbegriffs auf, nach dessen formalen Grund­lagen in dialektisch-historischer Theorie im folgenden zu fragen ist.

b) Organisation und ,Ästhetik’. – Steinitz sah in der durch Organisation initi­ierten Form der Liedtradierung das entscheidende historisch neue Moment gegenüber der älteren oralen Tradition und spricht in diesem Zusammen­hang vom „qualitativ Neuen, Wesentlichen“,56 das durch eine solche Unter­scheidung herauszuheben sei. Die Dichotomie der Tradierformen fiel Steinitz auf, als er die in der sozialistischen Arbeiterbewegung gesungenen Lieder untersuchte. Damals begannen die Organisationen ihr eigenes Liedgut zu schaffen und zu verbreiten als Mittel praktischer Politik, und sie schufen da­mit in Konkurrenz zu den alten Formen der Tradierung jenes wesentlich Neue: die organisierten Wege der Tradierung von Volkskultur.

Mit dieser neuen Form der Überlieferung beobachtet Steinitz zugleich aber eine grundsätzlich veränderte Einstellung zum Lied und seinen Funktionen: Die Herausgeber von Liederbüchern und allgemein die Initiatoren organisierter Tradierung beurteilen die Lieder – im Gegensatz zu Arbeitern und Bauern älterer Tradition – nach ,ästhetischen’ Maßstäben. So finden sich auch in den gedruckten Arbeiterliederbüchern (sowohl in den sozialdemokra­tischen vor und nach 1918, als auch den kommunistischen) keine der varia­blen Arbeitervolkslieder im Sinne von Wolfgang Steinitz.57 Das qualitativ Neue umfasst also vor allem auch diese neue ,ästhetische’ Beurteilungsnorm, die das variable umlaufende Liedgut als ,unschön’ aussondert.

54 A. a. O., Bd. II, S. XXVI.55 B. Brecht: Hanns Eisler. Beitrag zum Thema Volkstümlichkeit, in: Zur Literatur und

Kunst, Bd. II, Frankfurt a. M. 1967, S. 158.56 A. a. O., Bd. II, S. XXIII; vgl. hierzu auch ebd. S. XXI.57 Als Ausnahme erwähnt W. Steinitz zwei Liederbücher, die solche Lieder im Anhang ent­

halten, vgl. Bd. II, S. XXI f.

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2. Sozialistischer Folklorismus

Die Verbindung von Organisation und ,ästhetischer’ Beurteilungsnorm als historisch neuem Moment der Volkskultur kennzeichnet aber nur den Beginn einer kontinuierlichen Entwicklung, die vom einfachen Massenlied zu den heutigen Formen des musikalischen Folklorismus sozialistischer Prägung führt. Es ist die ,emanzipatorische’ Kontinuität sozialistischer Politik, auf de­ren personale Komponente Steinitz schon 1962 hingewiesen hat: „Die Men­schen, die früher Träger der Volksüberlieferung, der Märchenüberlieferung, die begabte Erzähler und Sänger waren, wurden in der Arbeiterbewegung zu Redakteuren, zu Arbeiterschriftstellern, zu Leitern von Arbeiterchören und Theatergruppen“;58 und sie sind heute, so fügt Steinitz in einem Vortrag ein­mal hinzu, „in allen leitenden Funktionen des Staates und des Kulturlebens tätig“.59

In der Tat hat nach 1945 der Staat, nach östlicher Staatslehre das exekutive Organ der Partei, die Erbfolge der Überlieferung älterer Volkskultur angetre­ten und in die Obhut seiner ,obrigkeitlichen’ Zuständigkeit vor allem die wei­tere Förderung und Entwicklung der Folklore in Richtung einer internationa­len sozialistischen Volkskunst genommen. Über die Organisation der Kultur­häuser und Klubs fördert er eine breite Laienmusikbewegung, in der häufige Wettbewerbe für Leistungssteigerung, künstlerische Qualität und Auslese sorgen. So wird der zentral geförderte, verwaltete, aber auch kontrollierte Folklorismus heute getragen vom „Bestreben der Obrigkeit, die noch im na­türlichen Milieu existierenden Erscheinungen der Folklore zu fördern und zu schützen, um sie am Leben zu halten oder sogar zu entwickeln“.60

Die Entwicklung des sozialistischen Folklorismus erfolgt primär durch die Herauslösung der Folklore aus ihrem ursprünglichen Lebensbereich, ein Pro­zess, der, wie oben erwähnt, als Befreiungsakt, als Entfaltung ehemals gefesselter Kräfte auf dem nunmehr organisatorisch höheren Niveau sozialis­tischer Kultur verstanden wird, als „Ausbruch des Volkstümlich-Authentischen aus seinem natürlichen Milieu, in dem es sich herausbildete und jahr­hundertelang lebte“.61

Überwunden und ,aufgehoben’ im Folklorismus als sozialistischer Kunst ist nunmehr die alte Dialektik von Volkskultur und herrschender Kultur: Die frü­her getrennten Bereiche, „– die ‚herrschaftliche’ und die ,bäuerliche’ Kultur –

58 A. a. O., Bd. II, S. XXVII; hierzu auch D. Kramer: Literatur zur Kultursoziologie der Ar­beiter, ZfVk. 71, 1975 I, S. 88-103, bes. S. 90.

59 H. Strobach: Protokoll der Arbeitstagung des Instituts für deutsche Volkskunde an der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Berlin, in Rostock 1959, in: DtJbfVk. 6, 1960, Teil II, S. 432.

60 Jósef Burszta: Folklorismus in Polen, in: ZfVk. 65, 1969 I, S. 10.61 Ebd. S. 15.

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haben sich nun in einer allgemeinen Nationalkultur vereint, die sich immer mehr ausgleichend gestaltet und vereinheitlicht“62 und schließlich auf diesem Wege das Prinzip des proletarischen Internationalismus zu realisieren sucht. In diesem Bezugsrahmen deutet Dragoslav Antonijević z. B. die Erfolge von Folkloregruppen der jugoslawischen Armee seit 1945: „Seitdem geht unsere Volkskunst, wie allgemein bekannt sein dürfte, in ihrer Ganzheit und Tiefe in die Weltfolklore ein“.63

Überwunden und aufgehoben im Folklorismus als sozialistischer Kunst sind aber nicht nur die alten Antagonismen, sondern auch jene Maßstäbe, die Wolfgang Steinitz bei oraler Tradierung als noch gültig erkannte. War das Volkslied (auch das ,Arbeitervolkslied’) dort noch funktional eingebettet in praktische, alltägliche Lebensvorgänge, so haben wir es heute beim entwi­ckelten sozialistischen Folklorismus „mit einem Verfahren zu tun, das nur noch den Grundsätzen und Regeln der Kunst eigen ist“.64 Andere als ,ästhe­tische’ Maßstäbe gelten als obsolet, und die professionelle Perfektion auf der Grundlage einer theatralischen Ästhetik wird als Zeugnis des endlich erreich­ten Entwicklungsstandes und als Ausdruck der Überwindung früherer Unzu­länglichkeit verstanden: „Die Volkskultur wurde zum Gegenstand besonderen Interesses [und offiziell gedeutet] sowohl als Aufblühen des Lebens des werktätigen Volkes, wie auch besonders in bezug auf ihre ästhetischen, thea­tralischen und Unterhaltungseigenschaften. Endlich wurde sie offiziell aner­kannt als schöne Erscheinung der nationalen Kultur“.65

Die Aussagen von Burszta und Antonijević sind gewiss ohne größeren theo­retischen Anspruch. Das methodologische Gerüst aber ist dennoch das dialektisch-historischer Theorie. Bei Steinitz beruht es einmal auf der von ihm vorgeschlagenen formalen Unterscheidung von variabler und organisierter Tradierung, wobei die letztere die Grundlage des sozialistischen Folklorismus bildet. Zum anderen in der konsequenten Verankerung beider Theorieelemente in einer inhaltlichen Theorie von Gesellschaft und Geschich­te.

Im erstgenannten Punkt freilich basiert Steinitz nicht auf einem genuin dialektisch-historischen Theorieelement. Indem das Kriterium oraler Tradierung eine analytische, formal-logische Kategorie ist, bleibt sie von den inhaltlichen, keinesfalls intersubjektiv gültigen Determinanten dialektischer Theorie gänzlich unabhängig und kann ohne weiteres operationalisiert werden. Befindet sich Steinitz mit diesem formalen Definitionskriterium also

62 Ebd. S. 13; vgl. hierzu auch H. Bausinger: Volkskunde, a. a. O., S. 206.63 D. Antonijević: Folklorismus in Jugoslawien, in: ZfVk. 65, 1969 I, S. 32.64 J. Burszta, a. a. O., S. 9 ff.65 J. Burszta, a. a. O., S. 14; vgl. auch /. Marothy: Music and the bourgeois, engl. Budapest

1974, S. 259, S. 268 und S. 569 ff.

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bereits auf dem Boden nominalistischer Tradition, so wird dies durch die konsequente Ergänzung durch den Begriff der organisierten Tradierung noch deutlicher: In beiden Fällen handelt es sich tatsächlich um Struk­turkategorien: Die Begriffe fassen – wenn auch grob – bestimmte durchge­hende ‚Gleichförmigkeiten’ im System musikalischer Interaktionsformen. Und analog zur strukturell-funktionalen Theorie findet sich auch bei Steinitz schließlich die Erkenntnis von den komplementären – von den strukturellen Bedingungen direkt abhängigen – musikalisch-ästhetischen Unterschieden.

An der oben skizzierten Folklorismusdeutung dialektisch-historischer Theorie indes ist Steinitz weitgehend unbeteiligt. Für ihre auffälligen Mängel ist vielleicht nicht einmal der dialektisch-historische Theoriebegriff an sich verantwortlich zu machen. Vielmehr scheint dies ein Problem des Praxisbe­zugs zu sein, auf dessen Darstellung in dieser Studie allgemein verzichtet wurde. Zwar handelt es sich bei den zitierten Äußerungen durchgehend um Aussagen auf der Grundlage des dialektisch-historischen Theoriebegriffs. Es sind aber zugleich Äußerungen über einen Wirklichkeitsbereich, der seine gegenwärtige Gestaltung und Ausformung offizieller Kulturpolitik verdankt. Als Objekt wissenschaftlichen Fragens ist er damit aber ausgeschieden, denn eine Antwort auf die Frage nach Herkunft, Struktur und gesellschaftlicher Aufgabe gibt es bereits: Sie liegt im überzeugten Selbstverständnis der kulturpolitischen Organe der Partei. Die Erklärung ihrer praktischen Ergeb­nisse kann nicht ungewiss und Gegenstand wissenschaftlichen Fragens sein: Das Gesetz, wonach der musikalische Folklorismus angetreten ist, ist hier im vorhinein bekannt.

So bewegen sich die Aussagen über den sozialistischen Folklorismus auch auf dem Boden des offiziellen kulturpolitischen Selbstverständnisses, d. h. im Kreis älterer, inhaltlich etwa an der Brechtschen Interpretation des ,Volks­tümlichen’ orientierter Erklärungen.66 Ein darüber hinaus gehendes kritisches Fragen, ja selbst auch nur ein neuer Begriff scheint ganz zu fehlen: „Es ist charakteristisch, dass man für diese interessante, neuzeitlich sozial-kulturelle Erscheinung in Polen keine eigene Benennung hat – außer dem allgemeinen Begriff ,Volkstümlichkeit“‘.67

Fraglich ist andererseits, ob dem Selbstverständnis einer Politik und ihrer praktischen Ergebnisse – auch wenn sie sich mittelbar auf eine Theorie be­ruft und sich von ihr legitimiert fühlt – überhaupt der Rang einer theore­tischen Aussage zugebilligt werden kann. Im Gegenteil darf angesichts der wenigen zitierten Äußerungen dialektischer Theorie zum heutigen Folkloris­mus eher wohl als sicher gelten, dass das Interesse am Warum gesellschaft­

66 Vgl. hierzu B. Brecht: Über den Realismus, in: Zur Literatur und Kunst, Bd. II, a. a. O., S. 93-215, hier bes. S. 122 ff. und S. 139-155.

67 J. Burszta, a. a. O., S. 9.

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licher Phänomene erheblich reduziert ist durch die herrschaftlich vermittelte Präsenz jener Theorie, die beansprucht, für die Wirklichkeit verbindlich Maß und Ziel zu setzen, und dass endlich eine entsprechende Politik die Un­befangenheit wissenschaftlichen Fragens auch wohl gänzlich korrumpieren kann.

Und so hält man sich zurück: „Es ist interessant, dass eine solch breite und bisher ständig anwachsende Strömung des Folklorismus in der Publizistik nur einen teilweisen Widerhall fand. Die Wissenschaftler, so Ethnographen und Folkloristen, interessieren sich für diese Erscheinung entweder überhaupt nicht, oder sie nehmen in dieser Angelegenheit nur eine die Originalität verteidigende Haltung ein“.68 Die offenbaren Mängel der Aussagen über den sozialistischen Folklorismus sind daher wohl weniger als Folge grundsätzli­cher methodologischer Unzulänglichkeit des dialektisch-historischen Ansatzes zu interpretieren, eher wohl als Folge jenes eigentümlichen und problema­tischen Verhältnisses, das Theorie und Praxis in sozialistischen Staaten ein­gegangen ist.

An diesem Punkt nun ist die Darstellung der drei unterschiedlichen Theorien in der Musikalischen Volkskunde vorläufig abzuschließen. Ihre wichtigste Auf­gabe war es zu zeigen, dass viele der grundsätzlichen Probleme in dieser Wissenschaft, allen voran das des musikalischen Folklorismus, sicher nicht ohne eine genaue Kenntnis der methodologischen Fundamente verbindlich zu klären sind. Die drei in der Darstellung gewählten Hauptkategorien aber könnten darüber hinaus in Zukunft auch wohl von Nutzen sein für eine ver­stärkte und fruchtbare Integration sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in die Musikalische Volkskunde.

68 Ebd. S. 20.