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HISTORISCHES JAHRBUCH Im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegeben von LAETITIA BOEHM, ODILO ENGELS, ERWIN ISERLOH, RUDOLF MORSEY, KONRAD REPGEN 106. Jahrgang 1986 VERLAG KARL ALBER FREIBURG/MÜNCHEN ISSN 0018-2621

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HISTORISCHESJAHRBUCH

Im Auftrag der Görres-Gesellschaftherausgegeben von

LAETITIA BOEHM, ODILO ENGELS, ERWIN ISERLOH,

RUDOLF MORSEY, KONRAD REPGEN

106. Jahrgang

1986

VERLAG KARL ALBER FREIBURG/MÜNCHEN

ISSN 0018-2621

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GRIFF NACH DER WELTMACHT?

25 Jahre Fischer-Kontroverse

VON GREGOR SCHÖLLGEN

»Once in a decade or generation«, so formulierte 1968 der australischeHistoriker John A. Moses, »the world of historians may be startled by thepublication of some truly striking piece of research which not onlyshatters accepted images by revealing new material but also raises newquestions about the total validity of earlier methodologies. Such a piece ofresearch is Professor Fritz Fischer's Griff nach der Weltmacht ... t< 1

Tatsächlich hat sich im Gefolge des erstmals 1961 unter dem Titel »Griffnach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland1914/18« publizierten Buches von Fritz Fischer eine bis heute anhaltendeintensive, mitunter höchst polemisch geführte Debatte über die Rolle derdeutschen Politik im Vorfeld und im Verlauf des Ersten Weltkrieges so-wie über die Frage ihrer Kontinuität bis in die Zeit des »Dritten Reiches-hinein entwickelt, an der sich nicht nur zahlreiche Historiker, sondernauch die interessierte Öffentlichkeit, insbesondere der BundesrepublikDeutschland, engagiert beteiligten. .

Diese sogenannte »Fischer-Kontroverse« wird seit nunmehr 25 Jahrenvornehmlich in der Historischen Zeitschrift ausgetragen. Zum einenstellte Fischer 1959 hier? - wie auch bei seinen folgenden Arbeiten - die-ersten Ergebnisse- seiner Forschungen vor, mit denen, wie Theodor .Schieder 1983 formulierte ', »die Fischer-Kontroverse überhaupt be-gann«. Zum anderen meldeten sich in der Historischen Zeitschriftbeginnend mit Hans Herzfeld (1960) und Gerhard Ritter (1962)\ sein;Kritiker und Kontrahenten, aber auch seine Schüler und Anhänger, regel-mäßig zu Wort, so zuletzt 1983 Bernd Sösemann und Karl Dietrich Erd-mann anläßlich des erneut entflammenden Streites über den Quellenwertder Riezler- Tagebücher".

I John A. Moses, The War Aims of Imperial Germany: Professor Fritz Fischer and hisCritics (St. Lucia 21975) 1.2 FritzFischer, Deutsche Kriegsziele, Revolutionierung und Separatfrieden im Osten

1914-1918: HZ 188 (1959) 249ff. l

3 Leserbrief an -Dle Zeir-, veröffentlicht am 12.August 1983 (Nr. 33, 27).4 Hans Herz feld, Zur deutschen Politik im Ersten Weltkriege. Kontinuität oder perrna-

nente Krise?: HZ 191 (1960) 67ff.; Gerhard Ritter, Eine neue Kriegsschuldthese? Zu FritzFischers Buch .Griff nach der Weltmacht«: HZ 194 (1962) 646ff.

5 Vg!. dazu unten Anm. 39.

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Griff nach der Weltmacht? 387

I.

Im Vorwort zur 1967 erschienenen Sonderausgabe seines Buches »Griffnach der Weltmacht«, die seit 1977 in einem um ein Begleitwort des Ver- .fassers erweiterten Nachdruck vorliegt", benannte Fritz Fischer selbstjene Punkte, auf die sich die im Anschluß an seine Analyse der deutschenPolitik entstandene Kontroverse »vornehmlich« konzentriert habe, näm-lich 1) auf den von ihm »herausgestellten Zusammenhang zwischen deut-scher Politik im Zeitalter der >Weltpolitik< und den Kriegszielen deskaiserlichen Deutschlands während des Krieges«, 2) auf die den Anteil derdeutschen Politik »starker« als die traditionelle deutsche Anschauunghervorhebende »Neuinterpretation der deutschen Politik im Juli 1914«und schließlich 3) auf Fischers Betonung der »Kontinuitat der deutschenPolitik im. Kriege un~ ihr~ C~arakt~risierl!~g als Kriegszielpoliti~« 7.

Darüber hinaus hatte sich die DIskussion freilich von Anfang an auf Jenevon Fischer selbst angedeutete, von seinen Kritikern sogleich in denVordergrund der Debatte gerückte Frage nach der Kontinuität der deut-schen Politik von Bismarck bis hin zu Hitler konzentriert, die MichaelFreund 1964 polemisch in die Formulierung faßte: »Bethmann Hollweg,der Hitler des Jahres 1914?«8 .

Ausgangspunkt der 1961 vorgelegten Untersuchung war die Julikrise,deren Betrachtung Fischer zu dem Ergebnis führte, daß die deutscheRegierung den »entscheidenden Teil der historischen Verantwortung« fürden aus dieser Krise resultierenden »allgemeinen« Krieg zu tragen habe 9.

Zum Beleg dieser weitreichenden These führte er im wesentlichen dreiArgumente ins ~eld: 1) Deutschland habe den österreichisch-serbischenKrieg gewollt, Ja mehr noch, ~urch den sogenannten »Blankoscheck«,also die Ve.~sicher~ng der unems.es~hränkten deutschen Bündnistreuegegenüber O~terrelch am .5.16.J~li, im Grunde .erst ermöglicht. 2) I?asDeutsche Reich habe es rm lull 1914 - auf die englische Neutralitätspekulierend - bewußt auf einen Krieg mit Rußland und Frankreichankommen lassen. 3) Die deutsche Regierung habe nach den Erfahrun-gen der Jahre 1905 (erste Marokkokrise), 1908/1909 (bosnische Krise)und 1911 (zweite Marokkokrise) gewußt, daß ein jeder regionaler KrieginEuropa, an dem eine qroßmacht beteiligt war, die Gefahr eines allgemei-nen Krieges »unvermeidbar nahe« habe »heranriicken« lassen müssen.

Über diese unmittelbar die Ereignisse des Juli 1914 betreffende Argu-

6 Im folgenden wird nach dieser Ausgabe (Kronberg/Ts, 1977) zitiert.7 Ebd.7.I Wieder abgedruckt in: Ernst W. Graf Lynar (Hrsg.), Deutsche Kriegsziele 1914-

1918. Eine Diskussion (Frankfurt a.M.-Berlin 1964) 175ff.~ Fis cher, Griff nach der Weltmacht, 82.

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mentation hinaus hat Fischer dann aber die These aufgestellt, daß jenedeutsche Politik imJuli 1914 »nicht isoliert« gesehen werden dürfe: »Sieerscheint erst dann im rechten Licht, wenn man sie als Bindeglied zwi-. sehen der deutschen >Weltpolitik< seit Mitte der 90er Jahre und derdeutschen Kriegszielpolitik seit dem August 1914 betrachtet.« to Damitwird auch das zweite große und für die Debatte um dieses Buch und seineAussagen wohl wichtigste Thema benannt. Es handelt sich um FischersThese, daß die Kriegszielpolitik der Jahre 1914-1918 im Grunde nur dieWeiterentwicklung bzw. die Konsequenz aus der deutschen» Weltpoli-tik« im Zeitalter des Imperialismus, vor allem seit 191111912,gewesen sei,als sie sich im Gefolge der zweiten Marokkokrise zunehmend aggressivergestaltet und konkrete Pläne für. eine zunächst wirtschaftliche Expansionin Europa und Ubersee zu entwickeln begonnen habe.

Gewissermaßen im Zentrum des Buches steht eine von Fischer unterden Akten der Reichskanzlei im Deutschen Zentralarchiv in Potsdam ent-deckte, 1963 von Egmont Zechlin publizierte 11 und als Schlüsseldoku-ment verwandte Denkschrift, die Bethmann Hollweg am 9. September1914 aus dem Großen Hauptquartier in Koblenz an seinen Stellvertreterin Berlin sandte. Die Denkschrift, die ihr Verfasser, Bethmann Hollwegsvertrauter Mitarbeiter Kurt Riezler, als »vorläufige Aufzeichnung überdie Richtlinien unserer Politik beim Friedensschluß« bezeichnete und dieFischer als -Kriegsziel-« bzw. »Septemberprogramm« betitelt, wurdevom Kanzler durchkorrigiert. Den Kern des Dokuments bildete nachAnsicht Fischers die »Mitteleuropa-Idee mit ihrem hegemonialenAnspruch Deu.tschlands« 12. A~knüpfend an entsprechend.e und nament-lich In den Kreisen der Industrie und der Bankenwelt entwickelte Uberle-gungen der Vorkriegsjahre habe dieses »Prograrnm« keineswegs nurisolierte Forderungen des Kanzlers oder seiner politischen Berater prä-sentiert, sondern vielmehr die Ideen führender Köpfe aus Wirtschaft undPolitik sowie der Militärs zum Ausdruck gebracht. In diesem Dokumentalso war- abgesehen von der Forderung nach Schaffung eines zusammen-hängenden mittelafrikanischen Kolonialreiches, einer ebenfalls aus derVorkriegszeit stammenden Konzeption - u.a. von den (primär wirt-schaftlich motivierten) Forderungen die Rede, die nach einem in naherZukunft erwarteten Friedensschluß an Frankreich (z. B. Abtretung desKüstenstrichs von Dünkirchen bis Boulogne, »in jedem Falle« aber desErzbeckens von Briey), Belgien '(u. a. Angliederung von Lüttich undVerviers an Preußen) oder Luxemburg (swird deutscher Bundesstaat«) zu

10 Ebd.86.11 Vg!. unten Anm. 36.12 Fis cher, Griff nach der Weltmacht, 90.

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richten seien. Die Bedeutung dieses Programms liegt nun für Fischer vorallem in dem Umstand begründet, daß die in ihm »niedergelegten Richtli-nien im Prinzip Grundlage der gesamten deutschen Kriegszielpolitik biszum Ende des Krieges« gewesen seien, auch wenn sich »je nach derGesamtlage einzelne Modifikationen« ergeben hätten 13. Fischers weitereAusführungen gelten dann, so wird man die Quintessenz des Buchesformulieren dürfen, dem Beleg dieser These.

Dabei rücken die »Kriegsziele .im Osten«, die im »Septemberpro-gramm«nur eine untergeordnete Rolle spielten, im Verlauf der Untersu-chung mehr und mehr in den Vordergrund, ein Vorgehen, das durchausdem gesteigerten Interesse entspricht, das die für den Gang der deutschenPolitik Verantwortlichen - nämlich zusehends die Militärs - dem immermehr unter der Perspektive eines »Großraums« betrachteten Osten,zumal nach dem Friedensschluß von Brest-Litowsk, entgegenbrachten,der im übrigen von Fischer als erste »Realisierung« deutscher Kriegsziel-politik betrachtet wird 14. Zu diesem Zeitpunkt habe sich - »in derHoffnung des unmittelbar bevorstehenden Sieges« - das deutsche Macht-bewußtsein daher auch auf seinem Höhepunkt befunden, von dem ausbetrachtet die deutschen Kriegsziele das »Bild eines Imperiums vongrandiosen Ausmaßen« vermittelt hätten: »Im Westen: Belgien, Luxem-burg und Longwy-Briey mit Deutschland verbunden ... Im Osten:Kurland, Livland, Estland und Litauen, von Reval bis Riga und Wilna,der polnische Grenzstreifen und der Reststaat Polen eng mit Deutschlandverkettet, zugleich ausgreifend auf Finnland, Ukraine, Krim und Geor-gien. Im Südosten: Das mit Deutschland verflochtene Österreich-Ungarn, dazu Rumänien, Bulgarien und (als Ziel der Orientpolitik) das

. he Rei h 15Osmamsc e eicn.«Eng verknüpft mit dieser These von der grundlegenden Bedeutung des

»Septemberprogr~mms« f~r die d~utsche P.olitik bis. zu~. E~de des ~rie-ges ist I!,:m das ~eltere ~nhegen F,schers,.eme Kontinuität d,es~r Kr~egs-zielpohttk zumindest seit 1911 nachzuweisen, Der Demonstration diesesSachverhalts dient sein zweites großes, 1969 erschienenes Buch »Krieg derIllusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914«, dessen wichtigsteThesen er erstmals 1964 in der Historischen Zeitschrift vorgestellt hatte 16

und das über das Aufzeigen der »Kontinuitat der Zielsetzungen in derVorkriegszeit und im Kriege- hinaus eben nicht zuletzt auch einen»Beitrag zum Problem der Kontinuität in der politischen und sozialen

IJ Ebd.95 ..14 Ebd.415.IS Ebd. 534 f.16 Fritz Fis cher. Weltpolitik. Weltmachtstreben und deutsche Kriegsziele : HZ 199

(1964) 265 H.

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Entwicklung des Deutschen Reiches seit der Spätbisrnarckzeit« liefernwill!", Die Indikatoren für diese Kontinuität werden zunächst in dersozialen und wirtschaftlichen Landschaft des Kaiserreichs ausgemacht,die nach Fischers Beobachtungen durch die» Vorherrschaft von Junker-turn und Großindustrie« IS geprägt wurde. Mit Offizierskorps, Bürokra-tie und protestantischen Landeskirchen nämlich hätten die konservativenKräfte die Gesellschaft des Kaiserreichs beherrscht. Eine »erfolgreicheimperialistische Außenpolitik- sollte die Machtstellung dieser herrschen-den Schichten sichern, »ja man hoffte, die verschärften sozialen Spannun-gen durch einen Krieg zu lösen. Durch eine dann erfolgende Nationalisie-rung der Massen würden auch die bisher abseits stehenden Teile derNation in den monarchischen Staat integriert werden.« 19 Eben diese»imperialistische Außenpolitik- des Deutschen Reiches von der Marok-kokrise des Jahres 1911 bis hin zum Kriegsausbruch bildet dann auch deneigentlichen Gegenstand .der Unters~chung, die sich:- da Deutschland beiallen semen außenpolItIschen Aktionen, namentlich auf »weltpoliti-schern« Gebiet, notwendig auf die Interessen Großbritanniens bzw,seiner Entente-Partner stieß - gleichsam um das deutsch-englische Ver-hältnis dreht.

Dieses Problem hatte auch im Zentrum einer vom Kaiser anberaumtenUnterredung mit führenden Militärs am 8. Dezember 1912 gestanden, inderen Verlauf Wilhelm 11.wegen der nunmehr endgültig geschwundenenHoffnungen auf die englische Neutralität im Falle einer sich drohendanbahnenden Auseinandersetzung mit den Nachbarn »für den sofortigenKrieg gegen Rußland und Frankreich « plädiert habe 20. Dieser» Kriegsrat«und seine Folgen haben für Fischers zweites Buch insofern etwa dengleichen zentralen Stellenwert, den das »Septernberprogramm« in seinemersten einnimmt, als die Reichsleitung nach seiner Auffassung von diesemZeitpunkt an sozusagen systemarisch auf den Krieg hingearbeitet habe.Auch der bis dahin nochzögernde Bethma~~ Hellweg habe. den Kriegnunmehr als »unvermeidlich« angesehen, Freilich die Vorbereitungen für»noch nicht hinreichend- erachtet. Er »iibernahm jetzt die Aufgabe, imReichstag eine große Heeresvorlage durchzubringen, die Nation psycho-logisch auf den Krieg vorzubereiten, die Bündnispolitik des DeutschenReiches zu aktivieren und vor allem eine günstige Ausgangslage für denKrieg zu schaffen durch Lockerung der Stellung Englands innerhalb der

17 Der s., Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914 e1970. Kron-berg/Ts, 1978) 12f.

18 Ebd. 40 ff.19 Ebd.13.20 Ebd.233.

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Entente, wodurch er England zumindest in der entscheidenden Anfangs-phase des Krieges neutral zu halten hoffte- 21.

Dieses in der Darstellung Fischers geradezu als »Strategie« anmutendeVorgehen der Reichsleitung und insbesondere des Reichskanzlers ste~tim Vordergrund semer Analyse der deutschen Außenpolitik vor 1914, diesich, außer mit den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen desReiches zu den europäischen Mächten und namentlich zu England, mitder deutschen »weltpolitischen« Betätigung in Afrika, vor allem aber aufdem Balkan und in der Türkei befaßt. Die Analyse mündet schließlich ineine erneute Darstellung jener in Fischers Augen für die deutscheGeschichte seit 1866/1871 im ganzen ebenso charakteristischen wie fürdie weitere Entwicklung maßgeblichen Ereignisse des Juli 1914. Undbereits hier meinte Fischer feststellen zu können, daß sich die Geschichts-schreibung der sechziger Jahre - und das sicher nicht zuletzt als Ergebnisder durch seine Thesen hervorgerufenen Diskussion - »stillschweigendvon der traditionellen Lehrmeinung distanziert- habe, »wonach Deutsch-land wie die anderen europäischen Großmächte diesen Krieg -nichtgewoll~( habe- 22. Freilich mochte .Fischer der sich in eben dies~r Zei~ beiHistonkern ID der Bundesrepublik durchsetzenden und bereits zeitge-nössisch vertretenen Ansicht, nach der es sich um einen »Praventivkrieg«~ehandelt habe, nicht zustimmen. Vielmehr sei es - so resümierte er 196910 pointierter Formulierung noch einmal seine so folgenreiche These - umden ,.Versuch« gegangen, »bevor die gegnerischen Mächte zu sehrerstarkt waren, diese zu unterwerfen und die deutschen politischen Ziele,die sich unter den Begriff der Hegemonie Deutschlands über Europasubsumieren lassen, durchzusetzen« 23.

1979 hat Fritz Fischer diese für sein Werk zentrale These noch einmalbestätigt und gleichzeitig in zweifacher Hinsicht verstärkt bzw. ausgewei-tet. In seiner Studie »Biindnis der Eliten. Zur Kontinuität der Macht-strukturen in Deutschland 1871-1945«, die auf seinen 1978 anläßlich desHamburger Historikertages vorgetragenen, 1979 in der HistorischenZeitschrift publizierten Ausführungen basiert i", wird zum einen diesozialgeschichtliche Komponente insofern eindeutig in den Vordergrundgestellt, als in Fischers Augen primär die »traditionellen agrarischen undindustriellen Machteliten- für den Ausbruch des Ersten Weltkriegesverantwortlich zeichnen, der mithin in erster Linie als »Versuch- ebenjener Eliten zu verstehen sei, »dern Wandel der Gesellschaft im Industrie-

21 Ebd.·24122 Ebd.663.21 Ebd.682.24 Fischer. Der Stellenwert des Ersten Weltkriegs in der Kontinuitätsproblematik der

deutschen Geschichte: HZ 229 (1979) 25H.

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zeitalter zu entgehen durch Behauptung ihrer privilegierten sozialenStellung im Innern, notfalls auch durch kriegerische Expansion nachAußen«25. Zum anderen aber weitet Fischer - wie zuvor z.B. schon ineinem 1968 in Sussex vorgetragenen» Vergleich der deutschen Kriegszielein den zwei Weltkriegen«26 - seine Untersuchung auf die WeimarerRepublik und das -Dritte Reich« aus und nimmt damit dezidiert Stellungzur Frage nach der Kontinuität der deutschen Geschichte, die freilich jetzt- wie im Untertitel annonciert - im wesentlichen auf die »Kontinuitar derMachtstrukturen« reduziert wird. Dreh- und Angelpunkt ist einmal mehrder Erste Weltkrieg, dessen -Stellenwert« für das Kontinuitätsproblemnunmehr pointiert darin gesehen wird, »daß das -Dritte Reich- mit seinerwelthistorisch größten Wirkung, dem Zweiten Weltkrieg, vor allem alsReaktion auf den Ersten Weltkrieg zu verstehen ist, als Weigerung derführenden Schichten des Deutschen Reiches, den Ausgang des ErstenWeltkrieges hinzunehmen« 27. Überdies habe man es nicht erst bei Hitler,sondern bereits bei der (spätestens mit dem »Kriegsrat« von 1912 begin-nenden) Vorbereitung des Ersten Weltkrieges im Grunde mit dem Ver-such zu tun, die »Weltherrschaft« zu erringen 28.

11.Angesichts der spezifischen Situation der deutschen Geschichtswissen-

schaft nach dem Zweiten Weltkrieg mußen und wollten diese Thesen eineDebatte auslösen. So sah Gerhard Ritter in seiner 1962 erschienenenRezension des Fischer-Buches in diesem eine »Erneuerung der Schuldan-klage von Versailles« und einen »erste] n] Gipfel ... in der Selbstverdun-kelung deutschen Geschichtsbewußtseins, das seit der Katastrophe von1945 die frühere Selbstvergötterung verdrängt« habe und »nun immereinseitiger sich durchzusetzen- scheine/". Ja, Ritter glaubte sich bei derBegründung der Thesen Fischers gelegentlich gar »an die antideutscheKriegspropaganda von 1914 erinnert« ' . Bei aller- aus »Traurigkeit undSorge im Blick auf die kommende Generation« erwachsener - Polemiklassen sich aber bereits in dieser Stellungnahme Ritters die wesentlichen

2S Ders., Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland1871-1945 (Düsseldorf 1979) 93 f.

26 In: ders., Der Erste Weltkrieg und das deutsche Geschichtsbild. Beiträge zur Be-wältigung eines historischen Tabus. Aufsätze und Vorträge aus drei Jahrzehnten [Dussel-dorf 1977) 364H.

27 De rs., Bündnis der Eliten, 93 f.28 Ebd.32.29 Ri tter, Eine neue Kriegsschuldthese? (wie Anm. 4) 667f.30 Ebd.657.

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Punkte der seit 25 Jahren andauernden »Kontroverse« ablesen: Erstensdas Problem des deutschen Taktierens in der Julikrise, zweitens die Fragenach der deutschen Politik vor dem Ersten Weltkrieg und drittens die - inRitters Rezension weitgehend ausgeklammerte, im dritten Band seinesHauptwerkes »Staatskunst und Kriegshandwerk« 31 dann abgehandelte-Frage nach der (Kontinuität der) deutschen »Kriegszielpolitik«. Undbereits in dieser Besprechung des damals vielleicht renommiertestendeutschen Historikers wurde die alle drei Punkte letztendlich verbin-dende, Ritter und die Historikerzunft besonders erregende, jedenfallsaber zu erneuter Beschäftigung motivierende Frage nach der Kontinuitätder deutschen Geschichte von Bismarck bis Hitler deutlich. Es ist nunallerdings kaum möglich, diese Kontroverse auf knappem Raum in allenihren Aspekten umfassend zu rekonstruieren und darzustellen. Fischerselbst sprach 1977 allein von über 300 Rezensionen und Aufsätzen 32.

Überdies stand und steht die Debatte in gewissen Intervallen immerwieder im Zentrum von Aufsatzsammlungen oder zum Teil umfangrei-chen Forschungsberichten 33.

31 Ders., Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des »Militarismus- inDeutschland, Bd. 4 (München 1968). Vg!. jetzt auch: Klaus Schwabe - Rolf Reichard t(Hrsg.), Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen (Boppard a. Rh. 1984),besonders seit Ritters Brief an Fischer vom 19.September 1960, 538ff.

32 Fis ehe r, Griff nach der Weltmacht, 9 Anm.n Vg!. z, B. Lynar (Hrsg.), Deutsche Kriegsziele 1914-1918 (wie Anm. 8); WolfgangJ.

Mommsen, Die deutsche Kriegszielpolitik 1914-1918. Bemerkungen zum Stand derDiskussion, in: Waiter Laqueur - George L. Mosse (Hrsg.), Kriegsausbruch 1914(München 21970) 60ff.; George W. F. Hallgarten, Deutsche Selbstschau nach 50Jahren:Fritz Fischer, seine Gegner und Vorläufer, in: ders., Das Schicksal des Imperialismus im20.Jahrhundert. Drei Abhandlungen über Kriegsursachen in Vergangenheit und Gegenwart(Frankfurt a.M. 1969) 57ff.; Wolfgang Schieder (Hrsg.), Erster Weltkrieg. Ursachen,Entstehung und Kriegsziele (Köln-Berlin 1969); H.W.Koch (Hrsg.), The Origins of theFirst World War. Great Power Rivalry and German War Aims (London 1972); ImmanuelGei ss, Die Fischer Kontroverse. Ein kritischer Beitrag zum Verhältnis zwischen Historic-graphie und Politik, in: ders., Studien über Geschichte und Geschichtswissenschaft(Frankfurt a.M. 1972) 108ff.; Jacques Droz, Les causes de la Premiere Guerre mondiale.Essai d'historiographie (Paris 1973); Moses, The War Aims of Imperial Germany (wieAnm. 1); ders., The Politics of Illusion. The Fischer Controversy in German Historiogra-phy (London 1975); Klaus Hildebrand, Imperialismus, Wettrüsten und Kriegsausbruch1914. Zum Problem von Legitimität und Revolution im internationalen System: NPL 20(1975) 160ff. u. 339ff.; Volker R. Berghahn, Die Fischerkontroverse - 15Jahre danach:GG 6 (1980) 403ff.; Gregor Schöllgen, ..Fischer-Kontroverse. und Kontinuitatspro-blem. Deutsche Kriegsziele im Zeitalter der Weltkriege, in: Andreas Hillgruber -JostDülffer (Hrsg.), Ploetz Geschichte der Weltkriege. Mächte, Ereignisse, Entwicklun-gen 1900-1945 (Freiburg i. Br.-Würzburg 1981) 163ff. (der vor!. Bericht folgt in einigenPassagen diesem Beitrag); Wolfgang J ä ger, Historische Forschung und politische Kultur in

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Grundsätzlich wird man konstatieren müssen, daß die Fischer-Kontro-verse die Forschung in vieler Hinsicht um entscheidende Schritte weiter-gebracht hat. Die wohl greifbarsten Resultate der durch den »mächtigenAnstoß Fischers in Gang gebrachter n]« 34 Debatte waren und sind eineerneute Beschäftigung und kritische Auseinandersetzung mit dem ent-sprechenden Aktenmaterial sowie eine darauf basierende und kaum mehrzu überschauende Anzahl von weiterführenden Einzeluntersuchungen.Im Verlauf der Kontroverse nämlich haben sich beide Seiten - d. h.Fischer und sein Schülerkreis einerseits, seine Kontrahenten, insbeson-dere Karl Dietrich Erdmann, Egmont Zechlin und Andreas Hillgruber,andererseits - um eine möglichst quellennahe und dicht dokumentiertePräsentation ihrer Theorien bemüht, schon um sich nicht dem Vorwurfder Verkürzung oder gar Verfälschung der jeweils zur Debatte stehendenVorgänge, Ereignisse etc. auszusetzen. Selbst wenn man - wie deramerikansische Historiker Fritz Stern -von einer gelegentlich »bedauerli-che[n] Buchstabengläubigkeit« sprechen kann, die u. a. zur Folge hatte,daß -jeder -Ferzen Papiere, jedes öffentliche Dokument ... sakrosankt«geworden und »einer besonderen, häufig übertriebenen Exegese unter-worfen« worden sei 35, so wird man doch gleichwohl die Erfolge diesesnach der Zwischenkriegszeit sozusagen zweiten großen Durchgangs'durch die Akten - und namentlich durch die in den zwanziger unddreißiger Jahren gar nicht oder nur in beschränktem Umfang zur Verfü-gung stehenden Quellen - nicht unterschätzen dürfen. Denn nicht nurwurden manche Dokumente nunmehr unter anderer Perspektive betrach-tet, es wurden auch zahlreiche noch nicht bekannte Akten aus demDunkel der Archive ans Licht gebracht, die sich schließlich als nicht nurfür die jeweilige Interpretation wichtige Dokumente erwiesen.

Darüber ~inaus hat die ~ont~overse eine rege editorische Arbeit (mit)-angeregt. DIese machte emersetts solche neuen Dokumente der Offent-lichkeit zugänglich, wie etwa die Publizierung des »Septemberpro-gramms« und anderer Dokumente durch Egmont Zechlin 1961-196336,der Denkschriften der deutschen Diplomaten Lichnowsky und Eulen-

Deutschland. Die Debatte 1914-1980 über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges (Göttin-gen 1984) bes. 132ff.

)4 Klaus Hildebrand. Das Dritte Reich (= Oldenbourg Grundriß der Geschichte. Bd.17. München-Wien 21981) 190.

)5 Fritz Stern. Bethmann Hollweg und der Krieg: Die Grenzen der Verantwortung(Tübingen 1968) 7.

)6 Egmont Ze ch lin , Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche [im ErstenWeltkrieg]. in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 20 (1961) 269ff.; B 24 (1961) 325ff.; B 25(1961) 341 H.; B 20 (1963) 1H.; B 22 (1963) 1H.

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burg zur Kriegsschuldfrage durchJohn C. G. Röhl197137 oder vor allemder Tagebücher Kurt Riezlers durch Kar! Dietrich Erdmann 197238, überderen »Echtheit« und damit Quellenwert für die historische Behandlungder Kriegsschuldfrage seit 1983 erneut heftig gestritten wird 39. Anderer-seits versuchte man, die schier unübersehbar erscheinende Masse vonAkten unter den sich im Verlauf der Debatte eröffnenden Perspektivenund auswahlweise (erneut) zu edieren, wie etwa Immanuel Geiss in seiner1963/1964 erschienenen zweibändigen Dokumentensammlung »[ulikriseund Kriegsausbruch 1914«40.

Überdies haben die Thesen Fischers zu einer großen Anzahl vonStudien, insbesondere zur Innen- und Außenpolitik des Kaiserreiches,geführt. Zu nennen sind hier zum. einen, be&innen~ mit der noch vor»Griff nach der Weltmacht« erschienenen Dissertation von ImmanuelGeiss über den polnischen Grenzstreifen 1914-191841, die Arbeiten ausdem groß~n Kreis .seiner Schült;r, die.zum Teil !hrer~eits zu Standardw~r-ken für die Geschichte des Kaiserreichs avanciert sind. Zum anderen rstfreilich eine deutliche Wirkung der Arbeiten Fritz Fischers über seinen

37 John C.G.Röhl (Hrsg.), Zwei deutsche Fürsten zur Kriegsschuldfrage. Lichnowskyund Eulenburg und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Eine Dokumentation (Düsseldorf1971~ .

38 Karl Dietrich Erdmann (Hrsg.), Kurt Riezler, Tagebücher, Aufsätze, Dokumente(Göttingen 1972). I

39 Vgl. Fritz Fischer,Juli 1914: Wir sind nicht hineingeschlittert. Das Staatsgeheimnisum die Riezler-Tagebücher. Eine Streitschrift (Reinbck 1983); Bcrnd Sösemann, DieTagebücher Kurt Riezlers. Untersuchungen zu ihrer Echtheit und Edition: HZ 236 (1983)327ff.; Karl Dietrich Erdmann, Zur Echtheit der Tagebücher Kurt Riezlers. EineAntikritik, ebd. 371H.; Agnes Blänsdorf, Der Wegder Riezler-Tagebücher, Zur Kontro-verse über die Echtheit der Tagebücher Kurt Riezerls: GWU 35 (1984) 651H.; Bernd F.Sch ulre, Die Verfälschung der Riezler Tagebücher. Ein Beitrag zur Wissenschaftsge-schichte der SOiger und 60iger Jahre (Frankfurt a.Mi-Bern-New York 1985). Gerade dieseDebatte zeigt zudem sehr deutlich, welches rege Interess~.die Fischer- Kontroverse nach wievor auch in der interessierten bundesrepublikanischen Offentlichkeit beanspruchen kann.Vgl. z.B. Karl-Heinz J an~en, August '1~: Wahrheit auf Raten. Zwei J:Iist?riker ~treitenum Tagebücher: Wurde die deutsche Kriegsschuld am Ersten Weltkneg Im nationalenInteresse verschleiert?, in: Die Zeit, Nr.24 (IC.Juni 1983) 9H.; Karl Dietrich Erdmann,Die Tagebücher Riezlers sind echt. Streit um ein historisches Dokument, das ins Zwielichtgeraten ist. Eine Antwort, ebd. Nr.28 (8.Juli 1983) 14; sowie die ebd. (Nr.33 [12. August1983] 27) publizierten Leserbriefet vgl. auch die Rezensionen von Fischers »Streitschrift«z.B. von GregorSchöllgen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (IS. Februar 1983) 19,und Volker Ullrich, in: Süddeutsche Zeitung (8. April 1983) 12. .

40 Immanuel Geiss (Hrsg.), Julikrise und Kriegsausbruch 1914. Eine Dokumenten-sammlung, 2 Bde. (Hannover 1963/1964).

41 Ders., Der polnische Grenzstreifen 1914-1918. Ein Beitrag zur deutschen Kriegs-zielpolitik im Ersten Weltkrieg (Lübeck-Hamburg 1960).

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engeren Schülerkreis hinaus zu registrieren. Vor allem haben seit densechziger Jahren verstärkt wirtschaftliche und soziale Faktoren das Inter-esse der Historiker erweckt und Eingang in ihre Forschungen gefunden.Neben den Studien G. W. F. Hallgartens waren diejenigen Fischers sicherein Anstoß für die Wiederbelebung der sozialgeschichtlichen Traditionauch und gerade im Rahmen der Darstellung der deutschen Politik imZeitalter des Imperialismus. Dabei sind freilich - wie beispielsweise in derTheorie des Sozialimperialismus - die ursprünglichen Thesen Fischers invieler Hinsicht modifiziert worden 42.

Ill.Bei der Untersuchung der deutschen Politik in der Julikrise, die im

Rahmen der Fischer-Kontroverse den größten Raum eingenommen hatsetzte sich nun mehr und mehr die Ansicht durch, daß hier weder, wieinsbesondere in der Zwischenkriegszeit und dann im Verlauf der Kontro-verse namentlich von Gerhard Ritter vertreten, von einem Verteidigungs-krieg noch aber, wie pointiert von Fischer behauptet, von einer gezielt aufden Krieg hinarbeitenden und vom Streben nach der Hegemonie über denKontinent geleiteten Strategie die Rede sein könne, als vielmehr, wieAndreas Hillgruber 1966 formulierte, von der »Konzeption eines kalku-lierten Risikos zur Durchsetzung begrenzter machtpolitischer Verände-rungen unter Ausnutzung von internationalen Krisensituationene ",Diese ging davon aus, daß in der gegebenen, sich für das Reichund seineneinzig noch verbliebenen zuverlässigen Bundesgenossen Osterreich-Ungarn zusehends ungünstiger gestaltenden internationalen Lage eine»Kraftäußerung« der Doppelmonarchie vonnöten sei, um der innerlichgeschwächten Macht wieder den Status einer »vollgültige[ n] Großmacht«zu geben44

• Eine entsprechende Chance mag der Kanzler im Juli 1914nach der Ermordung des Erzherzog- Thronfolgers in einem Schlag Öster-reich-Ungarns gegen Serbien gesehen haben. Eine solche Verschiebungder Machtverhältnisse auf dem Balkan konnte nämlich nach seinemKalkül von Rußland gerade noch hingenommen werden, da sie zwardessen Prestige, nicht aber seine wirklich vitalen Interessen berührte. DiePolitik des »kalkulierten Risikos- begann dann mit der Vergabe des»Blankoschecks« am 5.16 . .Juli.

42 Vg!. dazu Gregor Schöllgen, Das Zeitalter des Imperialismus (= OldenhourgGrundriß der Geschichte, Bd. IS, München 1986) Kap. n. 1. und n. 5. '

4) Andreas Hillgruber, Riezlers Theorie des kalkulierten Risikos und BethmannHollwegs politische Konzeption in der Julikrise 1914, wieder veröffentlicht in: ders.,Deutsche Großmacht- und Weltpolitik im 19. und 20.Jahrhundert (Düsseldorf 1977) 91H.,Zitat 92.

44 Ebd.99.

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Daß hinter diesem Beistandsversprechen wie hinter anderen deutschenSchritten ursprünglich eine auf die Vermeidung des europäischen Kriegesabzielende Konzeption zu sehen ist, hat 1979 noch einmal mit Zechlineiner der prominentesten Kontrahenten Fischers anhand eines scharfsin-nigen Vergleichs der Julikrise mit dem österreichisch-serbischen Konfliktdes November/Dezember 1912, der sogenannten Adriakrise, deutlichgemacht45: Auch i~ dieser Krise nämlich setzte sich der vom damaligenStaatssekretär des Außeren, Alfred v. Kiderlen- Wächter, beratene Kanz-ler - gegen den anfänglichen Widerstand des Kaisers - dafür ein, Öster-reich-Ungarn nicht fallen zu lassen; vielmehr sollte Rußland (etwa durchunannehmbare deutsche Vorschläge) als die provozierende Macht er-scheinen, damit vor den Augen der europäischen Öffentlichkeit insUnrecht gesetzt, auf diese Weise England - und das war das eigentlichedeutsche Zicl- von einem Eingreifen auf russischer Seite abgehalten undeben dadurch die russische wie französische Kriegsbereitschaft aufgeho-ben werden, was ja dann auch nicht zuletzt durch das Zusammentretender Londoner Botschafterkonferenz um die Jahreswende 1912/13 gelang.Warum scheiterte der Versuch, in einer »defensiven Situation- eine»polit.ische Offensive- z~ unternehf!1en, »um einen,andernfalls für .unver:meidhch gehaltenen Kneg zu verhindem- (Zechlm), dann aber im juli1914?Im Grunde war der Fehlschlag (für Zechlin und ähnlich für Hillgruber)

schon im ersten Schritt, dem »Blankoscheck« des 5.16.Juli, insofernangelegt, als da~urch !lic.ht nur die .Art,. sondern vor allem auc~ derZeitpunkt der österreichischen Aktion m das Ermessen der WlenerRegierung gestellt war. Damit nämlich mußte die Vermeidung einerKatastrophe als ungleich weniger wahrscheinlich gelten denn 1912, zumalBethmann Hollweg, entgegen der zuletzt noch einmal 1983 in der Fest-schrift für Adolf Gasser pointiert vorgetragenen Auffassung Fischers46,schon wegen der durch die englisch-russischen Gespräche über eineMarinekonvention entstandenen Vertrauenskrise im deutsch-englischenVerhältnis und der mit derdeutschen Entscheidung des 5.16.Juli nahezuausgeschlossenen Möglichkeit ein~r Botschafterkonferenz bei der Ertei-

45 Egmont Zechlin, Die Adriakrise und der -Kriegsrar« vom 8. Dezember 1912, in:ders., Krieg und Kriegsrisiko. Zur deutschen Politik im Ersten Weltkrieg. Aufsätze(Düsseldorf ~979) 115f~. . .. . . . .

46 Fritz Fischer, Die Neutralitat Englands als Ziel deutscher Politik 1908/09-1914, m:Fried Esterbauer u.a. (Hrsg.), Von der freien Gemeinde zum föderalistischen Europa.Festschrift für Adolf Gasser zum 80. Geburtstag (Berlin 1983) 261H.

27 Hist. Jahrbuch 106111

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lung der »Blankovollmacht« 'offenbar kaum mehr mit der englischenNeutralität rechnen konnte V.

Ganz offensichtlich war dann der Reichskanzler wie die gesamtedeutsche Führungsspitze der Situation nicht mehr gewachsen, die sich auseinem - jetz~ ~leichsa~ nicht mehr ?er ursprünglichen The~rie entspre-chenden - RIsiko entwickelte und nicht zuletzt durch das Hmauszögernder österreichischen Maßnahmen immer weniger gesteuert werdenkonnte. Vollends aus der Hand genommen wurde dem Kanzler die Hand-lungsfreiheit durch die ersten Nachrichten von den russischen Mobilma-chungsmaßnahmen, die auf deutscher Seite, »wie es infolge der terminab-hängigen strategischen Planung des Generalstabes zu erwarten war, denmilitärstrategischen Gesichtspunkten Vorrang vor einer Weiterverfol-gung d~r politischen Strategie Bethrnanns« gaben 48. Un~ .dieses letztend-liehe Emschwenken Bethmann Hollwegs und der politischen Führungauf die Linie der Militärs wird dann auch von Zechlin nicht als Kapitula-tion vor vermeintlichen Weltherrschaftsplänen traditioneller Eliten, son-dern vielmehr als Einsicht in die Notwendigkeit des von den Militärsangesichts des unerwarteten Ausmaßes der russischen Mobilisierung fürunumgänglich befun~enen »Präventivkrieges« gewertet.

IV.

Deutlich wird an dieser Debatte nicht zuletzt ein Charakteristikum undeine Folge der Fischer-Thesen gleichermaßen: Mit der Frage nach derVerantwortung für die Ereignisse des Juli 1914 rückten die Person desReichskanzlers, Theobald von Bethmann Hollweg, und seine politischeKonzeption zusehends in den Vordergrund der Debatte. InsbesondereKar! Dietrich Erdmann 49 hat schon frühzeitig die eigenwillige Persönlich-keit des Kanzlers gegen die Macht gesellschaftlicher Kräfte und konserva-tiver Eliten in die Waagschale geworfen und damit nicht unwesentlich zuder 1970 von Klaus Hildebrand so dahingehend resümierten Wandlung inder Beurteilung Bethmann Hollwegs beigetragen, nach der dieser wohlkaum mehr als ein Kanzler »ohne Eigenschaften- gelten könne. Im Zugedieser Revision wurde auch die außenpolitische Konzeption BethmannHollwegs und seiner Berater einer erneuten Betrachtung unterzogen. Das

47 Vgl. z.B. Volker Ullrich, Das deutsche Kalkül in der Julikrise 1914 und die Frage derenglischen Neutralität: GWU 34 (1983) 79ff.

48 Hillgruber, RiezlersTheorie, 105.•• Karl Dietrich Erdmann, Zur Beurteilung Bethmann Hollwegs: GWU 15 (1964)

525ff.50 Klaus Hildebrand, Bethmann Hollweg - der Kanzler ohne Eigenschaften? Urteile

der Geschichtsschreibung. Eine kritische Bibliographie (Düsseldorf 21970).

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Ergebnis dieser Bemühungen wird man wohl so zusammenfassen müs-sen, daß sich heute das Urteil der Zwischenkriegszeit, in der BethmannHollweg - in den Worten Fritz Sterns - in der Regel als »unentschlosse-ne] r], an sich selbst zweifelnder r] Hamlet« erschien, ebensowenig auf-rechterhalten läßt wie die extreme Gegenthese Fischers, derzufolge -derletzte tatsächlich regierende Kanzler des deutschen Kaiserreichs- 51,

jedenfalls seit Ende 1912, systematisch den von ihm als unvermeidlichbetrachteten europäischen Krieg vorbereitet habe. Erdmann hat bereits1964 darauf hingewiesen, daß es »unmöglich« sei, wie Fischer aus dem.Verlauf der für seine These zentralen Haldane-Mission des Februar 1912und den nachfolgenden Verhandlungen »einen deutschen Kanzler aufzu-bauen«, der das Ziel verfolgt habe, freie Hand gegenüber Frankreich ineinem von Deutschland provozierten Kontinentalkrieg zu gewinnen.Bethmann Hollweg nämlich habe ein englisches Neutralitätsangebot garnicht ablehnen können, da ein solches von Großbritannien niemalsunterbreitet, sondern vielmehr» beharrlich abgelehnt- worden sei 52.

Ähnlich skeptisch wurde die Einschätzung des sogenannten »Kriegsra-tes« vom 8. Dezember 1912, wie sie insbesondere F. Fischer und - anseine These anknüpfend - John C. G. Röhl, Adolf Gasser oder zuletztBernd F. Schulte wiederholt vorgetragen haben.", von der Forschungbeurteilt. Namentlich Wolfgang J. Mommsen und Egmont Zechlin, aberbeispielsweise auch der Verfasser54, haben die These in Zweifel gezogen,nach der in dieser Besprechung der europäische Hegemonialkrieg endgül-tig beschlossen worden sei und auch der Reichskanzler danach systema-tisch auf den Krieg hingearbeitet habe. Mommsen klassifizierte bereits1971 Fischers Auffassung, ..die in einem Augenblick kaiserlicher Hysterieherausgegebene Anweisung, das deutsche Volk psychologisch auf denKrieg ... vorzubereiten«, sei »in der Folgezeit getreulich ausgeführtworden«, als ..groteske ... Verzeichnung der Sachlage- 55. 1979 hat Zech-

SI Stern, Bethmann HoIlweg und der Krieg, Sf.sz Erdmann, Zur Beurteilung Bethmann HoIlwegs, 533 ff.S3 Fischer, Krieg der Illusionen, bes. 232-241; John C. G. Röhl, Admiral von Müller

and the Approach of War, 1911-1914: HJ 12 (1969) 651H.; ders., An der Schwelle zum. Weltkrieg: Eine Dokumentation über den »Kriegsrat« vom 8. Dezember 1912: MGM 1(1977) 77H.; A~~I.~G~sser, De~ deutsche Hegemonialkrie~ von .1914 (1973), in: ders.,Preussischer Militärgeist und Kriegsentfesselung 1914. Drei Studien zum Ausbruch desErsten Weltkrieges (Basel-Frankfurt a.M. 1985) 47ff.; Bernd F. Schulte, Vor demKriegsausbruch 1914. Deutschland, die Türkei und der Balkan (Düsseldorf 1980) bes. 88 ff.;d e r s., Zu der Krisenkonferenz vom 8. Dezember 1912 in Berlin: HJb 102 (1982) 183ff.

S4 Gregor Schöllgen, Imperialismus und Gleichgewicht. Deutschland, England unddie orientalische Frage 1871-1914 (München 1984) bes. 353ff.

ss WolfgangJ. Mommsen, Die deutsche .Weltpolitik« und der Erste Weltkrieg: NPL16 (1971) 482 ff., Zitat 489.

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lin noch einmal auf die sich »geradezu logisch aus der gesteigertenKriegsgefahr« auf dem Balkan und damit in Europa herleitende »Planmä-ßigkeit« der Kriegsvorbereitungen des von Bethmann Hollweg »iro-nisch« als »Kriegsrat« bezeichneten Kreises von Militärs um Wilhelm 11.aufmerksam gemacht, »ohne daß dafür Motivoder Ziel einer Eroberungder Vorherrschaft in Europa maßgebend zu sein braucht- 56.

Mehr noch: Zu eben dieser Zeit setzten ja die auch von Fischerdargestellten, allerdings in ihrer tatsächlichen Bedeutung wohl unter-schätzten Bemühungen um eine deutsch-englische Verständigung überden Weg einer Einigung zunächst in »peripheren« Fragen ein. Angesichtsder Tatsache, daß es in deren Gefolge noch 1914 zu einem sehr wesentlichauf deutscher Konzessionsbereitschaft basierenden Abkommen auf demwichtigsten Gebiet der deutschen »Weltpolitik« vor dem Kriege, derBagdadbahn nämlich, kommen konnte, und daß dieser Vertrag nichtisoliert, sondern im Zusammenhang mit dem in der Offentlichkeit desReichs auf vehementen Widerstand gestoßenen deutsch-französischenKongoabkommen des Jahres 1911 sowie dem im gleichen Jahr abge-schlossenen sogenannten Potsdamer Abkommen mit Rußland zu sehenist ", angesichts dieses Befundes also stellt sich einmal mehr die Frage, obdie politische Führung in Berlin tatsächlich - jedenfalls wie von Fischerpostuliert: seit 1912 - auf den Krieg hingearbeitet hat, oder umgekehrt: obsich eine in den -Kriegszielen« dokumentierte Kontinuität deutscherPolitik vor und nach dem Juli 1914 nachweisen läßt.

V.In diesem Zusammenhang hat bereits Erdmann festgestellt,daß auf

einen »Ausbau der Machtstellung Deutschlands- abzielende Gedankenbei Bethmann Hollweg »bezeichnenderweise erst im Kriege ... , nichtvorher und auch nicht während der Julikrise« auftauchen: »Sie sind daherein Produkt des Krieges, aber sie gehören nicht zu seiner Verursa-chung- ", auch wenn sich in ihnen manche »unspoken assumptions- derVorkriegszeit wiederfinden mögen, wie James Joll 1968 in seinem weg-weisenden gleichnamigen Essay zeigte 9. Eben darin, nämlich in der

56 Zechlin, Die Adriakrise, 114.57 Vgl. dazu Gregor Schöllgen, Richard von Kühlmann und das deutsch-englische

Verhältnis 1912-1914. Zur Bedeutung der Peripherie in der europäischen Vorkriegspolitik:HZ 230 (1980) 293H.: ders., Imperialismus und Gleichgewicht, 329ff.

58 Erdmann, Zur Beurteilung Bethmann Hollwegs, 538f.: vgl. ders., Der ErsteWeltkrieg (= Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Taschenbuchausg. Bd. 18,München 1980) 142ff.

59 Wieder veröffentlicht in: Koch (Hrsg.), The Origins of the First World War (wieAnm.33).

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Tatsache, daß es offenbar in der Natur der Kriege liegt, daß die engagier-ten Mächte in ihrem Verlauf häufig an Vorkriegsüberlegungen anknüp-fende weitreichende bzw. überzogene Pläne und zumal dann entwickeln,wenn der siegreiche Ausgang als wahrscheinlich angenommen wird, un-terschieden sich die deutschen, nach Ausbruch des Ersten Weltkriegesformulierten Pläne freilich kaum von denjenigen der übrigen kriegführen-den Mächte - eine Erkenntnis, die sich in den letzten Jahren auch unterdeutschen Historikern wieder durchzusetzen beginnt. Dieser verstärkteRückgriff auf bewährte Deutungsmuster ist zudem wohl ein interessantesIndiz für die - angesichts der emotionalen Vorbelastung in Deutschlandkaum registrierte - Historisierung der Kontroverse selbst.' und. d. h. ni~htzuletzt für die Relativierung der zentralen Thesen Fntz Fischers ImRahmen der internationalen Diskussion. In diesem Sinne hat beispiels-weise A.J.P. Taylor schon 1956 betont60, daß keine der Großmächte mitklar definierten Zielen in die große Auseinandersetzung eingetreten sei:»Each took up arms for an ostensibly defensive reason; and the/ro-gramme of each was limited at first to victory in the field ... an thebelligerents found themselves, unwillingly enough, with time on theirhands to define what they were fighting for as well as what they werefighting against.« Daß mithin auch die ~nne~i~)Ois.tischen,nicht zuletztaus der Erwägung emer besseren DefenSlVpOSltiOn m der Zukunft herausentwickelten bzw. realisierten Vorstellungenein »universal problern-waren, »not confined to one particular nation- (H. W. Gatzke)?', habendie jüngeren Analysen ger.ade auc~ de~ alliierte~ ~riegszielpolitik ge-zeigt62• Insofern hat Zech~m 1965 I~ seiner Studie uber »Problerne desKriegskalküls und der Kriegsbeendigung- wohl zutreffend festgestellt,daß es sich beim deutschen »Septemberprogramm- um eine »vorlau-fige ... Erörterung der möglichen Kampfmittel für einen gegen England aoutrance zu führenden Krieg- handele ". Uberdies könne von einerKontinuität der auf die Hegemonie über den Kontinent gerichteten»Kriegsziele« keine Rede sein, sondern allenfalls vom Kriegsziel der»Selbstbehauptung« 64.

Mithin scheint Fischers These der Kontinuität deutscher Politik von

60 A.].P. Taylor, The War Aims of the Allies in the First World War, in: RichardPares - ders. (Hrsg.), Essays presented to Sir Lewis Namier (London 1956) 475.

61 Hans W. Gatzke, Germany's Drive to the West. A Study of Germany's War AimsDuring the First World War (Baltimore 1950) 288.

62 Vgl. dazu Schöllgen, Das Zeitalter des Imperialismus (wie Anm. 42) Kap. 11.7.63 Zechlin, Probleme des Kriegskalküls und der Kriegsbeendigung im Ersten Welt-

krieg, in: ders., Krieg und Kriegsrisiko (wie Anm. 45) 32ff., Zitat 42.64 Ders., Das Kriegsziel der »Selbstbehauptung«, ebd. 103ff.

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der Begründung des Deutschen Reiches bis in die Zeit des Ersten Welt-krieges aus der Sicht ihrer Kritiker in zweierlei Hinsicht zu kurz zugreifen. ZU!"!1einen wird die deutsche Politik, insbesondere in der Wilhel-minischen Ara, nicht in ihrer ganzen Tiefendimension verständlich, wennihre Ursprünge im wesentlichen oder ausschließlich in der Bismarckzeitgesucht werden. Zum zweiten - und durchaus in diesem Zusammenhang- gilt es eben stärker, als es gelegentlich bei Fischer den Anschein hat, dasdefensive Element (auch) in der deutschen Politik bis in den Juli 1914hinein zu akzentuieren. In diesem Sinn hat bereits 1962 Ludwig Dehio ineiner bemerkenswerten Besprechung die These Fischers eine »kühneKonstruktion- genannt, nach der jenes »lockere ... Konglomerat vonKriegszielen ... primär durch das Streben nach einem Imperium Germa-nicum als vierter Weltmacht inspiriert« gewesen sei »und nicht vielmehrdurch die Notwehr im Kampf mit England und seiner großen Koali-tion« 65. Damit lenkte Dehio, Gedanken seiner 1948 erschienenen Unter-suchung »Gleichgewicht oder Hegemonie« aufgreifend, die Aufmerk-samkeit auf jene ,.feindlichen Ziele«, auf deren Darlegung Fischer "ver-zichtet« habe und vor deren Hintergrund die »Abschätzung der prakti-schen Bedeutung der deutschen Kriegsziele« erst verständlich werde66-im übrigen eine Sichtweise. die nicht nur Vertretern der deutschenGeschichtswissenschaft, insbesondere in der Zwischenkriegszeit, son-dern etwa auch anglo-amerikanischen Historikern von Eugene A. Ander-son bis hin zu George F. Kennan oder James Joll durchaus vertraut warund ist67• Dehio sah den Ersten Weltkrieg nicht zuletzt in der Traditionjener Koalitionskriege seit dem 16.Jahrhundert, in denen die westliche, indiesem Falle britische Seemacht den festländischen Gegner niederzurin-gen und damit das für Englands Existenz zumal als Inselmacht lebens-wichtige Gleichgewicht in der Mitte des europäischen Kontinents zuerhalten suchte. Insofern war für Deutschland »ja bereits die Erhaltungdes status quo ein Abwehrerfolg, der die Tür zu weiterem Vormarsch indie Welt angelehnt ließ. Dem Hubertusburger Frieden von 1763, der sichals Modell eines Verständigungsfriedens mit dem status quo begnügte,war ja schließlich der Friede von Nicolsburg 1866 gefolgt! Hätte sichDeutschland gegen die stärkst-mögliche Koalition aufrechterhalten - ihm

65 Ludwig Dehio, Deutschlands Griff nach der Weltmacht? Zu Fritz Fischers Buch übe~den Ersten Weltkrieg, in: Der Monat 14 (1962) 65ff., Zitat 66.

66 Ebd.68.67 Vg!. z.B. Eugene A. Anderson, The First Morrocan Crisis 1904-1906 (Chicago

1930);James J oIl, The Origins of the First World War (London-New York 1984); GeorgeF. Kennan, The Fateful Alliance. France, Russia, and the Coming of the First World War(Manchester 1984).

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wäre automatisch eine hegemoniale Funktion in Europa zugefallen unddamit auch eine entsprechende Position in der Welt.«68

Man mag nun die Interpretation Dehios mit ihren Konsequenzen teilenoder nicht, sie macht jedenfalls überzeugend auf den Umstand aufmerk-sam, daß wohl jede sich mit dem Problem der Kontinuität der deutschenPolitik befassende Analyse der preußisch-deutschen Geschichte zu kurzgreift, die nicht jene für diese ebenso wichtige wie traumatische Situationdes Siebenjährigen Krieges angemessen berücksichtigt. Nichts vermagdiesen Sachverhalt eindringlicher zu verdeutlichen als die Sicht der Zeitge-nossen vor allem in den für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges soentscheidenden Jahren seit Ende des 19.Jahrhunderts 69. Hier nämlichzeigt sich, daß die Kontinuität der deutschen Geschichte eben auch sehrwesentlich eine Kontinuität der Angst war, zu der sich seit Friedrich 11.inunheilvoller Weise jener Fatalismus gesellte, der nicht selten die »Theoriedes kalkulierten Risikos« zu nicht mehr kalkulierbarer Praxis werden ließ.Diese aus Angst und Fatalismus z~sammengesetzte Sicht verbürgte sehrweitgehend und ebenso die defensive Grundhaltung der deutschen Füh-rung bis in die Tage des Juli 1914, wie sie dann im Kriege - ins Gegenteilumschlagend, dabei freilich in der Konsequenz an gleichermaßen ver-traute und vor dem Krieg von einer breiten, vom Reichsmarineamt bis zuden Alldeutschen reichenden Koalition propagierte Gedanken anknüp-fend - für das Bestreben verantwortlich zeichnete, das Deutsche Reichzur europäischen Hegemonialmacht aufsteigen zu lassen, die eben nichtmehr der ständigen Gefahr eines Eingeschnürtwerdens durch eine Koali-tion der Mächte ausgesetzt sein sollte. .

Die »tragische Ironie- (Richard v. Kühlmann) der Vorkriegsentwick-lung liegt mithin und namentlich mit Blick auf die Julikrise und ihre Vor-geschichte wohl nicht zuletzt in der Tatsache begründet, daß die Motivefür den Ersten Weltkrieg auf deutscher und englischer Seite ursprünglichsehr wesentlich defensiver Natur und somit auch ein Resultat jenerbeidseitig tiefs~tzende!1Angst waren 70, daß sich also die - freilich in vielenKreisen auf belden Selten des Kanals systemarisch vorbereitete - Aggres-sion gewissermaßen auch aus der sich gegenseitig aufhebenden defensivenGrundhaltung entwickelte und daß schließlich ausgerechnet unter diesen

68 Dehio, Deutschlands Griff nach der Weltmacht? 68.69 Vgl. Gregor Sc h ölige n , Sicherheit durch Expansion? Die außenpolitischen Lageana-

lysen der Hohenzollern im 17. und 18.Jahrhundert im Lichte des Kontinuitätsproblems inder preußischen und deutschen Geschichte: HJb 104 (1984) 22 H.

70 In diesem Sinne hat zuletzt john S. Galbrai rh festgestellt: -Allies and mortal enemieswere united in a common determination to achieve 'permanent security, at almost any cost.«(British War Aims in World W.ar I: A Commentary o.n -Statesrnanship« The Journal ofImperial and Commonwealth History 13 [1984] 25 ff., Zitat 26)

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Voraussetzungen jener die »Selbstentrnachtung Europas« einleitendeKrieg (E. Hölzle) ausbrach, in dessen Verlauf weit über den status quohinausgehende und »grundlegend neue Zielvorstellungen« entwickeltwurderr",

VI.

Solche qualitativ neuen Ziele, insbesondere die im Sommer 1918 imUmkreis Ludendorffs entworfene Konzeption eines deutschen »Groß-raums« im Osten, waren zwar - wie namentlich Hillgruber gezeigt hat -in mancher Hinsicht noch mit den älteren, durch Bethmann Hollweg undzuletzt von Kühlmann vertretenen Zielvorstellungen verbunden, »inhalt-lieh aber in vielem näher an Hitlers späteres -Programm- heranzurük-ken ... , ohne doch bereits das entscheidende Signum der HitlerschenZielsetzung zu tragen« n. Dessen Perspektive nämlich war gegenüber denwährend des Ersten Weltkrieges in Deutschland entwickelten Kriegsziel-entwürfen nicht nur »radikal vereinfacht, sondern stellte auch durch die inHitlers -Programm- enthaltenen Konsequenzen aus der Rassenideologie,die auf eine völlige Neugestaltung Europas nach -rassischen- Prinzipienhinausliefen, qualitativ etwas völlig anderes dar als selbst die extremen ...Kriegszielvorstellungen aus der Endphase des Ersten Weltkrieges« 73.Diese an traditionelle bzw. vertraute Vorstellungen anknüpfende Zielset-zung Hitlers wurde dann nach 1933/1939 in einer Radikalität realisiert,die als Perversion des ursprünglich - nämlich 1918 oder gar 1914 -Gewollten in der Konsequenz endgültig die Kontinuitaten, an die sieanknüpfte, zerbrach.

Natürlich ist eine solche Interpretation kaum mit den von Fritz Fischer,insbesondere in seinen jüngeren Arbeiten und zuletzt in seiner »Streit-schrift« aus dem Jahre 1983, pointiert postulierten »Linien der Kontinui-tät von Bismarck zu Hitler« vereinbar, durch welche »das Preußisch-Deutsche Reich« nach Auffassung des Hamburger Historikers »trotzaller relativen Diskontinuitäten als eine historische Einheit gegenüberdem Vor- und Nachher geschichtlicher Erscheinungen auf deutschemBoden erscheint- 74. Diese in der Konsequenz auf den Faktor »Weltherr-schalt« abhebende Kontinuitätstheorie geht nicht nur erheblich über dieunmittelbar nach 1945 von Franz Schnabel oder Heinrich Ritter von Srbikebenso wie von Friedrich Meinecke oder Hans Rothfels angestellten

71 Andreas Hillgruber, Deutschlands Rolle in der Vorgeschichte der beiden Welt-kriege (Göttingen 21979) 58H.

72 Ebd.58.7l Ebd. 73 f.74 Fischer,JuliI914(wieAnm.39)7.

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Griff nach der Weltmacht? 405

Überlegungen über mögliche Kontinuitätslinien hinaus, die gewisse fürdie weitere Entwicklung verhängisvolle Weichenstellungen etwa in derGründung des kleindeutschen Nationalstaates oder in der sozialen Ver-faßtheit des Kaiserreichs sahen, ohne freilich auf irgendeinem dieserGebiete eine direkte Linie von Bismarck bis Hitler ziehen zu wollen 75.Vielmehr läuft eine primär im »Griff nach der Weltmacht« Kontinuität

vermutende Sichtweise auch Gefahr, die etwa 1978 von Thomas Nipper-dey gegen die. ».~o~struktionsansp~üc~~. der Ko~tinuitätsth~orie« vertei-digte »PluralItat sinnvoller .KO~tl~Ulta~en«.76.Im al.~gemel~en ebensogering zu veranschlag:.n WI~die Einzigartigkeit Jener- uber rem mach~po-litische Eroberungsplane hinausgehenden und wohl kaum als »relative«Diskontinuitäten qualifizierbaren - Komponenten der Rassen- und ins-besondere Judenpolitik Hitlers, die das letztlich ausschlaggebendeMovens und wesentliche Charakteristikum seiner Politik und Kriegfüh-rung gleichermaßen waren. Ein Vergleich beider Kriege und ihrer Ursa-chen ist schon deshalb für den Aufweis von darüber hinaus sicherauffindbaren Kontinuitaten in der deutschen Geschichte nur begrenzttauglich, weil das Kriterium einer aus welchen Motiven immer sichspeisenden und auf die »Weltmacht« abzielenden Politik - im übrigendoch gerade ein typisches Merkmal imperialistischer Machtpolitikschlechthin und nicht nur der des Deutschen Reiches - ungeeignet ist, diegänzlich neue Qualität der Hitlerschen Rassenpolitik in den Blick zubekommen. Dies besagt freilich keineswegs, daß nicht auch Elementeeiner tradittionellen Macht- und Eroberungspolitik bzw. des vielen Deut-schen durchaus vertrauten Revisionismus der Weimarer Zeit eine erhebli-che Rolle in diesem Krieg und seiner Vorbereitung gespielt hätten. Ebendaraus resultierten ja nicht zuletzt die Schwierigkeiten namentlich derkonservativen Widerstandsbewegung gegen Hitler77•

Sieht man freilich hier wie auf anderen Gebieten eine Kontinuitätdeutscher Politik (oder deutscher Mentalität), so gilt es im Auge zu behal-ten daß Hitler und der Nationalsozialismus »an diese Kontinuitätenanknürft und sie doch zerbricht- 78.Damit aber stellt sich abschließendeinma mehr die seit 25 Jahren im Zentrum der Kontroverse stehendeFrage, ob jene.r »Griff(~Hitlers nac~ ?er »Weltmacht« tat.sächlic~ als.einMaßstab für die Beurteilung der Politik des Deutschen Reiches sett scmer

7S Vg!. dazu Hildebrand, Das Dritte Reich, 187ff.76 Thomas Nipperdey, 1933 und die Kontinuität der deutschen Geschichte: HZ 227

(1978) 86ff., Zitat 110.77 Vg!. dazu z.B. Gregor SchölIgen, Ulrich von Hassell, in: Rudolf LilI - Heinrich

Obe r r eu t e r (Hrsg.), 20. Juli. Portraits des Widerstands (Düsseldorf- Wien 1984) 135H.78 Nipperdey, 1933,99.

Page 22: HISTORISCHES JAHRBUCH - mgh-bibliothek.de · -ersten Ergebnisse- seiner Forschungen vor, mit denen, wie Theodor . ... These, daß die Kriegszielpolitik derJahre 1914-1918 im Grunde

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Begründung dienen kann, deren für die Geschicke Europas so folgenrei-cher Kurs mit seinem vorläufigen Kulminationspunkt im Ersten Welt-krieg Fritz Fischer zur Niederschrift seiner- mit Blick auf die geschichts-wissenschaftliche Diskussion - nicht minder folgenreichen und in vielerHinsicht weiterführenden Arbeiten veranlaßte.