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verl angen di e knappe 20 Rappen. E i n Kil o gut es Ri ndf l e i sch k önnt e i ch f ür e t wa 1 F rank en 50 be- k ommen. Und di e Butt er, di e i st unerschwi ngli ch, da zahl t man 60 Rappen f ür e i n hal bes Pf und. Journalist: Das wär en dann zusammen 2 F rank en 60 . (Drückt i hr e i n paar Münzen i n di e Hand) H i er, gut e F rau, servi er en S i e Ihr er Famili e das Festmahl . S t at i on 15/16 · Arm und Re i ch 97 15 / 16 Hörspiel Station 16 Sept ember 1887 . Der ameri k ani sche Journali st John F ix besucht den Geschäf t smann Ke ll er i n se i ner Vill a im nobl en Wohnort Enge Geschäftsmann: Z i garr e ge f älli g, Mi st er F ix, oder li eber e i nen Kogna k ? Journalist: Wenn es ni cht zu vi e l Mühe macht , Herr Ke ll er, be i des. Geschäftsmann: Aber ne i n, k e i neswegs. (Zu se i - nem D i enst mädchen gewandt ) Bal bi ne , zwe i Ko- gna k – und vergi ss di e Z i garr en ni cht! (Wi eder zu F i x) Und, wi e ge f äll t Ihnen unser e schöne S t ad t ri ch?

Hörspiel Station 16 16.pdfJournalist: Das wären dann zusammen 2 Franken 60. (Drückt ihr ein paar Münzen in die Hand)Hier, gute Frau, servieren Sie Ihrer Familie das Festmahl. Station

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verlangen die knappe 20 Rappen. E in Kilo gutesRindfleisch könnte ich für etwa 1 Franken 50 be-kommen. Und die Butter, die ist unerschwinglich,da zahlt man 60 Rappen für ein halbes Pfund.

Journalist: Das wären dann zusammen 2 Franken60. (Drückt ihr ein paar Münzen in die Hand) H ier,gute Frau, servieren S ie Ihrer Familie das Festmahl.

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Hörspiel Station 16

September 1887. Der amerikanische Journalist John F ix besucht den G eschäftsmann Keller in seiner Villa im noblen Wohnort Enge

Geschäftsmann: Z igarre gefällig, Mister F ix, oderlieber einen Kognak?

Journalist: Wenn es nicht zu viel Mühe macht,Herr Keller, beides.

Geschäftsmann: Aber nein, keineswegs. (Zu sei-nem D ienstmädchen gewandt) Balbine, zwei Ko-gnak – und vergiss die Z igarren nicht! (W ieder zuF ix) Und, wie gefällt Ihnen unsere schöne S tadtZürich?

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Journalist: Nun, nicht einfach zu sagen. Ich warheute in Aussersihl. Ich hätte nicht erwartet, sonahe bei Zürich ein E lendsviertel zu finden.

Geschäftsmann: Ja, es ist schlimm. Meine Frauund ich, wir spenden jeden Monat für den Armen-verein. Und den grossen Wohltätigkeitsbazar inder Tonhalle, den haben wir mitorganisiert. HabenS ie davon gehört? Es wurde sogar eine orientali-sche S trasse mit einem türkischen Café nachge-baut. E in riesiger Erfolg! 59’300 Franken Reinge-winn haben wir für die Armen erzielt.

Journalist: Beeindruckend.

Geschäftsmann: Und was haben S ie sonst inZürich gesehen?

Journalist: Nun, das Übliche. Natürlich die brand-neuen Quaianlagen.

Geschäftsmann: Ja, die sind erst am 2. Juli einge-weiht worden. Das war ein Fest!

Journalist: Dann habe ich mit der E isenbahn einenAusflug nach Luzern gemacht.

Geschäftsmann: Da gibt es doch diese Vorzugs-billete für Sonntag. 8 Franken die ganze S trecke,habe ich gehört.

Journalist: S timmt, allerdings bin ich an einemWochentag gefahren, da war es 2 Franken teurer.

Geschäftsmann: 2 Franken sind viel G eld.

Journalist: Oh ja, dafür habe ich gestern im «Baurau Lac» eine sagenhafte Forelle gegessen, fang-frisch aus dem See.

Geschäftsmann: (lacht) Ja, ich hatte das letzteMal eine Seezunge à la Colbert – auch für 2 Fran-ken. Nur der Champagner mit 12 Franken, denfand ich reichlich teuer.

Journalist: (lacht) S ie haben sicher einen VeuveC liquot bestellt.

Geschäftsmann: (lacht w ieder) Ich bitte S ie, dasist doch der E inzige, den man trinken kann.

Journalist: D ie Hotels hier in Zürich sind wirklichgrossartig.

Geschäftsmann: Ja, wir bieten unseren Touristeneiniges. Und die lohnen es uns. 21’490 Fremdeübernachteten allein in diesem August in Zürich.

Journalist: So viele? Das hätte ich nicht gedacht.

Geschäftsmann: W ie lange bleiben S ie dennnoch?

Journalist: Drei Tage.

Geschäftsmann: Da kann ich Ihnen noch ein paarTipps geben. A lso, S ie müssen unbedingt dasHelmhaus besuchen, dort sind die Funde von ur-geschichtlichen Pfahlbauten aus dem Zürichseeausgestellt. Der E intritt kostet 50 Rappen. Dannmüssen S ie sich die neue polytechnische Hoch-schule ansehen. Von dort aus haben S ie einen sa-genhaften B lick über ganz Zürich. Und in der Uni-versität gibt es eine ausgezeichnete Sammlung zurNaturgeschichte. G eöffnet ist zwar nur am Don-nerstag, aber der Abwart schliesst Ihnen für einTrinkgeld von 50 Rappen gerne auf. N icht zu ver-gessen die B ibliothek. Kostet zwar auch 50 Rap-pen E intritt, aber es lohnt sich. Oh, und jetzt hätteich beinahe unser neues Chemielabor vergessen.A llein die Baukosten haben sich auf 1,8 MillionenFranken belaufen. Aber dafür haben wir das mo-dernste, was es derzeit in diesem Bereich in ganzEuropa gibt. Und dann ...

Journalist: Halt, halt, das reicht schon, ich bleibenoch drei Tage in Zürich, nicht drei Wochen.

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Arm und Reich hat es immer gegeben, doch seltenwurden die Unterschiede zwischen Armen undReichen so augenfällig wie in der zweiten Hälftedes 19. Jahrhunderts.

D ies lag zum Teil daran, dass sich im Zuge der In-dustrialisierung in direkter Nachbarschaft zudurchmischten oder gar eleganten Wohngebietensoziale Brennpunkte bildeten, in denen fast aus-schliesslich Arme lebten: Immer mehr Bewohnerder von Krisen heimgesuchten ländlichen G ebietesuchten ihr G lück in der S tadt, wo sie auf eine gutbezahlte Arbeitsstelle in einer Fabrik hofften. S iekamen mit wenig G eld und brauchten deshalbmöglichst billigen Wohnraum. So zogen sie dort-hin, wo sie nicht viel zahlen mussten, um eineB leibe zu finden, und dies waren eben die E lends-viertel, die S lums, der damaligen Zeit.

Das bekannteste Armenviertel des E inzuggebietsZürich lag in der damals noch eigenständigen G e-meinde Aussersihl. Dort waren die Mieten runddreimal billiger als im ebenfalls noch nicht einge-meindeten Nobelviertel Enge – allerdings warendie Wohnungen auch entsprechend kleiner. Zahlteman 1896 in Aussersihl durchschnittlich 641 Fran-ken im Jahr für eine Wohnung, so waren es in derEnge 1859 Franken.1 A llerdings standen demWohnungsbesitzer dort für seine Miete 5,23 Z im-mer zur Verfügung, während es in Aussersihl nur3,65 Z immer waren. Pro Kubikmeter gemieteteWohnung war der Unterschied also gar nicht sogross: In Aussersihl kostete der Kubikmeter 4.01Franken, in der Enge 4.51. B illig hiess also schondamals nicht unbedingt preiswert. Um das G eld fürdie Miete aufzubringen, nahmen in Aussersihldurchschnittlich 0,82 Mieter einen Hausgast auf,während es in der Enge 0,40 waren.2

D ie Lebensverhältnisse in Aussersihl waren für diemeisten seiner Bewohner schrecklich. W ir habenversucht, diese Zustände zu Beginn unseres ers-ten Hörspiels hier lebendig werden zu lassen. D ie

Fakten für den kurzen Monolog unseres amerikani-schen Journalisten haben wir der Autobiografie ei-nes Zürcher Zeitzeugen entnommen, nämlich derdes Arztes Fritz Brupbacher. Im O riginal lautet derText folgendermassen: «Und diese Leute waren zu-meist Leute, denen es recht schlecht ging. S ie hat-ten viele Kinder. Da liefen sie herum mit ihrenSchnudernasen, oft auch auf der S trasse, nur miteinem Hemd bekleidet, rachitisch3, mit krummenBeinen und dünnen Knochen, mit Hautausschlä-gen, mit Drüsen behaftet. G eschwister, elf Monateauseinander – eine Unmenge. (...) Es wurde nichtgeheizt, nicht beleuchtet, da man sparen wollte.Und so lagen denn – auch da, wo mehrere Z immervorhanden waren – die Menschen der Wärme hal-ber alle in einem Z immer – in ein oder zwei Betteneine ganze Herde.»4

Rigorose Sparsamkeit war allen Frauen in Ausser-sihl selbstverständlich. A llerdings haben wir für un-ser Hörspiel eine Familie gewählt, deren E inkom-men sich am unteren Ende der Skala bewegt. E inD ienstmann5 verdiente wegen der langen Warte-

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Kommentar

1 F lüeler, N iklaus; F lüeler- G rauwiler Marianne (Hg.), G e-schichte des Kantons Zürich. Band 3. Zürich 1994, S . 192.

2 D ie Miete, welche unsere Bewohnerin von Aussersihl im Hör-spiel nennt, ist ein Mittelwert. Vgl.: F lüeler et al. (Hg.), a. a. O .,S . 193, und: Im Hof, Ulrich, et al., G eschichte der Schweizund der Schweizer. Entstanden unter der wissenschaftlichenBetreuung des «Comité pour une Nouvelle H istoire de laSuisse». Basel–Frankfurt am Main 1986, S . 687.

3 Mit dem Wort «Rachitis» bezeichnete man im 19. Jahrhundertdas, was wir heute als Knochentuberkulose kennen. Es han-delt sich um eine Krankheit, die vor allem bei Kindern durcheinen Mangel an Vitamin D hervorgerufen wird. D ieses Vita-min schöpft der gesunde Mensch vor allem aus dem Son-nenlicht. Da nun in Aussersihl – wie übrigens auch in vielenanderen industrialisierten S tädten Europas des 19. Jahrhun-derts – der Ausstoss von Fabrikabgasen einen Smog er-zeugte, der verhinderte, dass ausreichendes Sonnenlicht bisauf den Boden durchdrang, war diese Krankheit im Armen-viertel endemisch.

4 Fritz Brupbacher, Sechzig Jahre Ketzer. Zürich 1935, S . 95 f.H ier zitiert nach: Felix Aeppli, «D ie Turnachkinder und Aus-sersihl: Zur Sozialstruktur der Zürcher S tadtquartiere.» In:Zürcher Taschenbuch 106 (1986). S . 163 f.

5 D ie G ebühren für die D ienstmänner sind entnommen: OhneAutor, Zürich in der Westentasche. Wegweiser nebst Fahr-

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zeiten zwischen seinen Aufträgen im Durchschnittnicht besser als ein einfacher Handlanger, der beizehn S tunden Arbeit auf etwa 3.10 Franken Ta-geslohn kam. Facharbeiter waren gefragter. S ie er-hielten fast das Doppelte. E in G iesser in einer Me-tallfabrik zum Beispiel verdiente um die 52 Rappendie S tunde, ein Typograf 6 – einer der angesehens-ten Berufe vor der Jahrhundertwende – sogar etwa62 Rappen.7 Bei solchen G ehältern konnte sicheine Familie einen gewissen Wohlstand erarbei-ten. D ies führte in der Regel dazu, dass sie sicheine neue Wohnung in einer G egend suchte, woes bessere Ausbildungsmöglichkeiten für denNachwuchs gab.8 Im Armenviertel zurück bliebennur die Neuankömmlinge und diejenigen, die esnicht geschafft hatten, die also, die am Rande desExistenzminimums vegetierten und die Hoffnungauf ein besseres Leben schon längst aufgegebenhatten.

Dass eine Frau mitarbeitete, wenn der Lohn ihresMannes nicht ausreichte, um die Familie zuernähren, war in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-hunderts selbstverständlich. D ie meisten arbeite-ten in der Textilindustrie.9 Doch gerade dieseBranche erlitt zwischen 1886 und 1890 einenRückgang,10 sodass viele Frauen wie unsere Pro-tagonistin nicht mehr täglich Arbeit in den Fabrikenfanden.

E inen kleinen Lichtblick im düsteren sozialen Um-feld boten die Ansätze zu H ilfe und Selbsthilfe,welche vor allem von Seiten der reicheren Zürcherkamen. E in Beispiel dafür ist der in unserem Hör-spiel genannte Konsumverein, der bereits 1851auf Initiative von Johann Jakob Treichler und KarlBürkli gegründet worden war.11 Der Konsumvereinorganisierte den Ankauf von Lebensmitteln imgrossen S til und gab sie zu einem günstigerenPreis an seine Mitglieder ab, als diese bei einemprivaten Händler hätten zahlen müssen.

E ine andere typische Erscheinung dieser Jahr-zehnte waren die unzähligen Wohltätigkeitsveran-staltungen, in denen von den «Reichen» für die «Armen» gesammelt wurde. Der von unserem

G eschäftsmann erwähnte Wohltätigkeitsbazar hattatsächlich stattgefunden.12 Solche G rossveran-staltungen ermöglichten es ihren Besuchern, in einer angenehmen und standesgemässen Umge-bung das G efühl zu bekommen, etwas Gutes zutun, ohne sich mit dem eigentlichen Problem, derArmut, auseinander setzen zu müssen.

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plan der E isenbahnen & Dampfschiffe. Sommer-Saison1887. Ohne O rt, ohne Jahr, S . 89 f. Zum Vergleich: E ineDroschke kostete pro S tunde 2.80 Franken, wenn sie vonzwei Personen benutzt wurde, und 4 Franken, wenn vier Per-sonen darin sassen, wie derselben Quelle auf S . 86 f. zu ent-nehmen ist.

6 E in Typograf ist jemand, der ein Schriftbild gestaltet, alsozum Beispiel ein Schriftsetzer oder G rafikdesigner.

7 G alliker, Hans-Rudolf, Tramstadt. Ö ffentlicher Nahverkehrund S tadtentw icklung am B eispiel Zürichs. Zürich, 1997, S . 53.

8 So kam in Aussersihl ein Lehrer im Jahre 1885 auf 84, in derEnge auf 54 Schüler. E ine weiterführende Schule besuchtenin Aussersihl lediglich 8,3 Prozent der E lementarschüler, inder Enge immerhin 19,6 Prozent. Vgl.: F lüeler et al. (Hg.), a.a. O ., S . 193.

9 F lüeler et al. (Hg.), a. a. O ., S . 176.10 G emessen an der G esamtproduktion der Schweiz sank die

Baumwollherstellung zwischen 1879 und 1887 von 17,4 auf10,5 Prozent, die Seidenindustrie ging von 36,5 auf 29,4Prozent zurück. Vgl.: Im Hof et al., a. a. O ., S . 686.

11 Zum Zürcher Konsumverein vgl.: Faucherre, Henry, Umrisseeiner genossenschaftlichen Ideengeschichte. Zweiter Teil:D ie Schweiz. 2. ergänzte Auflage, Basel 1928, S . 67 ff., und:Heister, Michael, Gottlieb Duttweiler als Handels- und G e-nossenschaftspionier. Vom eigennutzorientierten Gross-händler zum gemeinwohlorientierten G enossenschafter.Berlin 1991, S . 81 f. Neben dem genannten Konsumvereingab es in Zürich noch zwei weitere O rganisationen, welchegünstigere Nahrungsmittel an ihre Mitglieder abgaben: dieArbeiterunion Zürich und den Lebensmittelverein Zürich.Vgl.: Kunzmann, Ruedi, Konsumgeld der Schweiz. Regen-stauf 2005, S . 372–375.

12 Sch., M., «Zürcher Chronik auf das Jahr 1887.» In: ZürcherTaschenbuch 12 (1889). S . 297. H ier schreibt der Autor derChronik über das Ereignis Folgendes: «E in Bazar in der Ton-halle zu Gunsten der Fereien-Kolonien [sic] und der Heil-stätte Aegeri wird eröffnet. Durch Entfaltung eines bis dahinin der Schweiz bei derartigen Veranstaltungen noch nichtgesehenen G lanzes wird das Publikum zu interessieren ge-sucht. Der grosse Tonhallensaal ist in eine orientalischeS trasse mit türkischem Cafe, einem russischen Theelokalund einer altdeutschen Wein- und B ierstube verwandeltworden. Im kleinen Tonhallesaal ist eine Ausstellung vonKunstgegenständen eingerichtet. Häufige Konzerte findenstatt.» Auch der G ewinn von 59’300 Franken ist authentischund in derselben Quelle auf S . 313 angegeben.

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Und damit wären wir auf der «anderen Seite» un-seres Jahres 1887 angekommen, beim G eschäfts-mann Keller und dem zweiten Hörspiel. Er verkör-pert den Typ des erfolgreichen Unternehmers, dersämtliche Vorteile des nicht nur wirtschaftlich, son-dern auch kulturell blühenden Zürich geniesst. D ieso genannte zweite industrielle Revolution, wäh-rend der spezialisierte Betriebe in der Maschinen-und E lektroindustrie die traditionellen Industrie-zweige ersetzten, machte Zürich zu einem Mittel-punkt des schweizerischen W irtschaftslebens.13

D ies setzte die Mittel frei für einen Aus- und Um-bau der S tadt. In den Jahren nach 1870 wurde un-ter anderem die Bahnhofsstrasse bis an den Seegeführt und dazu das neue S tadthausquartier ge-baut. 1884 folgte die Quaibrücke und 1887 dieQuaianlagen, auf deren E inweihungsfeier am 2.Juli 1887 unser Unternehmer Bezug nimmt.14

A ll diese Bauten und die einmalige zentrale LageZürichs im modernen E isenbahnnetz15 machtenZürich zu einem Zentrum des Tourismus, das die Besucher mit modernsten Hotels anlockte.21’490 Besucher blieben allein im August desJahres 1887 durchschnittlich zweieinhalb Näch-te!16 Anzusehen gab es genug. D ie Tipps, die un-ser Zürcher Unternehmer im Hörspiel dem Journa-listen gibt, sind alle einem kleinen Touristenführerentnommen, den ein bildungshungriger Besucherim Jahr 1887 für 25 Rappen erwerben konnte.17

Übrigens sind auch die Preise für die Speisen au-thentisch, welche unsere Protagonisten im Hotel«Baur au Lac» eingenommen haben. A llerdingsstammen die Angaben leider nicht aus dem Jahr1887. Für dieses Jahr fehlen selbst im firmeneige-nen Archiv jegliche Rechnungen.18

13 F lüeler et al. (Hg.), a. a. O ., S . 164 ff.14 In «Zürcher Chronik», a. a. O ., S . 298 f., ist dazu zu lesen: «Juli

2. E inweihung des Quais. Nachmittags findet ein Umzug derSchüler der drei betheiligten G emeinden Zürich, Enge, undRiesbach statt. Juli 3. Fortsetzung der Festlichkeiten. Vor-

mittags und Nachmittags werden grosse Regatten und nau-tische Spiele abgehalten. Bei der feierlichen E inweihungdurch Herrn S tadtrath Ulrich erhielten die neuen S trassenund Plätze ihre Namen. Der Platz vor den S tadthausanlagenbekam den Namen S tadthausplatz, welcher durch zweiGypslöwen ‹geziert› worden war. D ie Fortsetzung diesesPlatzes nach der Enge hin soll A lpenquai, diejenige nachRiesbach zu Utoquai genannt werden.»

15 F lüeler et al. (Hg.), a. a. O ., S . 158 ff.16 «Zürcher Chronik», a. a. O ., S . 307. Zum Vergleich: 2004

stiegen 3,2 Millionen Touristen in den Hotels des RaumsZürich ab. Damit waren gerade einmal 56,4 Prozent der G ästezimmer ausgelastet. D ie Zahlen stammen aus: Bun-desamt für S tatistik et al. (Hg.), Schweizer Tourismus inZahlen. Bern, Schweizer Tourismus-Verband, 2005, S . 15.D iese Broschüre ist auch im Internet einsehbar unter http://www.suissetourfed.ch.

17 Zürich in der Westentasche, a. a. O .18 H ier geht unser Dank für die ausführliche Recherche an Frau

Katrin S imon, Assistant to Managing D irector im Hotel «Baurau Lac». S ie hat bei ihren Bemühungen folgende interes-sante Preise gefunden, welche wir unseren Lesern nicht vor-enthalten wollen: Im Jahr 1884 kostete eine F lasche Cham-pagner Veuve C liquot (1⁄1) 12 Franken, eine F lasche Châ-teau Larose (1⁄1) 6 Franken. Im Jahr 1894 stand eine Sole àla Colbert (Seezunge) mit 2 Franken auf der Speisekarte, einB lanquette de veau au riz (Kalbsbraten mit Reis) mit 1.50Franken und eine Truite du lac, sauce Nantua (Forelle ausdem See) mit 2 Franken. Im Jahr 1896 scheint man diePreise drastisch heraufgesetzt zu haben: Nun kosteten F iletsmignons à la Helder (Rindsfilets) schon 2.50 Franken, einPetit poulet en casserole (kleines Huhn im Topf) 4.50 Fran-ken und eine halbe Langouste froide avec sauce remoulade(kalte Languste mit Remouladensauce) 4.00 Franken. E inenormale G emüsebrühe kostete immerhin 75 Rappen. Dafürkonnte man im gleichen Jahr 10 Kilo Kartoffeln, 3 1⁄ 2 LiterMilch oder fast ein Pfund Rindfleisch kaufen.

Weiterführende Literatur:Fritsche, Bruno; Lemmenmeier, Max, «Auf dem

Weg zu einer städtischen Industriegesellschaft1870–1918.» In: F lüeler, N iklaus; F lüeler- G rau-wiler Marianne (Hg.), G eschichte des KantonsZürich. Band 3. Zürich 1994, S . 158–227.

Ohne Autor, Zürich in der Westentasche. Weg-weiser nebst Fahrplan der E isenbahnen &Dampfschiffe. Sommer-Saison 1887. Ohne O rt,ohne Jahr.

Sch., M., «Zürcher Chronik auf das Jahr 1887.» In:Zürcher Taschenbuch 12 (1889). S . 277–317.

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