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Leseprobe Professor Dr. Lutz Hachmeister Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur »Lutz Hachmeister hat der Literatur über das Phänomen der Côte einen schmalen, materialreichen und kurzweilig zu lesenden Band angefügt. Es schreibt da ein exzellenter Kenner.« Frankfurter Allgemeine Zeitung Bestellen Sie mit einem Klick für 22,00 € Seiten: 240 Erscheinungstermin: 13. April 2021 Mehr Informationen zum Buch gibt es auf www.penguinrandomhouse.de

Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

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Page 1: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

Leseprobe

Professor Dr Lutz Hachmeister

Hocirctel Provenccedilal Eine Geschichte der Cocircte dAzur

raquoLutz Hachmeister hat der Literatur uumlber das Phaumlnomen der Cocircte einen schmalen

materialreichen und kurzweilig zu lesenden Band angefuumlgt Es schreibt da ein exzellenter Kennerlaquo Frankfurter Allgemeine

Zeitung

Bestellen Sie mit einem Klick fuumlr 2200 euro

Seiten 240

Erscheinungstermin 13 April 2021

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Buch lesen

Mehr zum Autor

Zum Buch Wie die Franzoumlsische Riviera erfunden wurde

Uumlber dem Pinienwald des Seebads Juan-les-Pins thront seit 44 Jahren die

verlassene Ruine des ehemaligen Luxushotels bdquoLe Provenccedilalldquo Hier

logierten einst Gaumlste wie Winston Churchill Lilian Harvey Charlie Chaplin

und Miles Davis galt es doch zu seiner Eroumlffnung 1927 als die modernste

und aufregendste Herberge der Cocircte drsquoAzur Lutz Hachmeister beschreibt

in seinem auszligergewoumlhnlichen Buch das Schicksal dieses Gebaumludes und

zeichnet dabei den Aufstieg Juan-les-Pins zu einem einzigartigen Ort

ausschweifenden Vergnuumlgens nach Auf dieser farbenpraumlchtigen Tour de

Force erweckt Hachmeister die Geister der intellektuellen und

kuumlnstlerischen Prominenz aber auch viele zwielichtige Gestalten wieder

zum Leben Das Buch ist eine faszinierende Kulturgeschichte und zugleich

eine Einladung zu einer Reise an die Cocircte

Autor

Professor Dr Lutz Hachmeister Lutz Hachmeister geboren 1959 in

MindenWestfalen ist Publizist Filmemacher und

Geschaumlftsfuumlhrer des Instituts fuumlr Medien- und

Kommunikationspolitik in Berlin und Koumlln Der

ehemalige Chef des Grimme-Instituts hat unter

anderem die Dokumentarfilme bdquoDas Goebbels-

Experimentldquo (2005) bdquoDie Koumlche und die Sterneldquo

LU T Z H A C H M E I S T E RHOcircTEL PROVENCcedilAL

Inhalt

Diese besondere Kuumlste 7

Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen an der Cocircte drsquoAzur 25

Frank Jay GouldDer reichste Amerikaner in Frankreich 49

Lost Generation in PyjamapolisDer Aufstieg zum Vergnuumlgungszentrum der Cocircte drsquoAzur 79

Refugium und SchattenspieleDie Cocircte drsquoAzur und das raquoProvenccedilallaquo 1939 bis 1945 111

Das zweite Jazz Age von JuanFun and Games nach 1945 157

Die ewige HotelruineBuumlrgerinitiativen und neue Investoren 191

Vorerst letzte Nachrichten aus Juan-les-Pins 205

AnhangDank 211Anmerkungen 212Literatur 224Bildnachweis 239

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D i e s e b e s o n d e re Kuuml st e

Amerikaner Englaumlnder Franzosen Deutsche Schweden Italiener Liebeleien Enttaumluschungen Streit Versoumlhnung Mord Die Cocircte drsquoAzur erregte ihn wie ihn kein anderer Ort der Welt den er je kennengelernt hatte erregen konnte Und dabei war diese Biegung der Mittelmeerkuumlste so winzig an der die herr-lichen Namen wie die Perlen einer Kette aufgereiht waren ndash Toulon Freacutejus

Saint-Raphaeumll Cannes Nizza Menton und dann San Remo

Patricia Highsmith Der talentierte Mr Ripley

In Juan-les-Pins war ich zum ersten Mal im Februar 1989 Es war angenehm leer an den Straumlnden der Franzoumlsischen Riviera Graham Greene dessen langjaumlhrige Geliebte Yvonne Cloetta in einer Villa oberhalb des Zentrums von Juan-les-Pins wohnte ndash er selbst bevor-zugte von 1966 bis 1990 als Hauptwohnsitz ein unscheinbares Neu-bauappartement in Antibes ndash hatte uumlber diese von allen Kundigen bevorzugte Nebensaison in einer Kurzgeschichte geschrieben

Das war die Jahreszeit die ich am meisten liebe wenn Juan-les-Pins so schaumlbig wird wie ein Vergnuumlgungspark in dem alle Buden mit Brettern verschlagen sind wenn am Pam Pam und am Ma-xim Karten mit der Aufschrift raquoFermeture annuellelaquo angebracht sind und wenn der raquoConcours International Amateur de Strip-teaselaquo im Vieux Colombier wieder fuumlr eine Saison voruumlber ist

Das sanfte Mittelmeer war unvermutet boumlse die einzige Lokalzei-tung der Nice Matin ndash damals weit mehr als heute ein Revolverblatt mit wildem Layout ndash berichtete uumlber einen Rentner den eine Flut-welle von der Seepromenade in Menton in den Vorgarten eines Res-taurants gespuumllt hatte wo er nur noch tot geborgen werden konnte Es waren auch die letzten Monate der alten Weltordnung aber das konnte damals keiner wissen Kurze Zeit spaumlter fiel die Berliner

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Mauer der raquoOstblocklaquo und der Warschauer Pakt brachen auseinan-der Solche welthistorischen Umwaumllzungen kuumlmmern die Cocircte drsquoAzur nicht denn hier wechselt nur die Nationalitaumlt der vermoumlgenden In-vestoren Aktuell setzt man auf reiche Chinesen und Araber in den 1990er Jahren dominierten unangefochten die russischen neureichen Oligarchen raquonovarichslaquo wie Roman Abramowitsch mit seinem pom-poumls renovierten Chacircteau de la Croeuml am Cap drsquoAntibes Zuvor wohn-ten da Bauherr Sir Pomeroy Burton Generaldirektor der Associated Newspapers dann der Herzog und die Herzogin von Windsor sowie die griechischen Reeder-Tycoons Aristoteles Onassis und Stavros Niarchos

Ich war ndash biografisch eher verspaumltet ndash zum ersten Mal an der Cocircte drsquoAzur Sie erschien mir durch ihre filmischen Spiegelungen aber ziemlich vertraut Uumlber den Daumlchern von Nizza Swimmingpool Und Gott schuf die Frau Der Gendarm von Saint-Tropez Lautlos wie die Nacht Sag niemals nie Nur die Sonne war Zeuge Bonjour Tristesse Zwei hinreiszligend verdorbene Schurken und Hunderte von B-Movies mit deut-schen Titeln wie Nimmrsquos leicht nimm Dynamit oder Der Panther wird gehetzt All die Filmpaare ndash Alain Delon und Romy Schneider Grace Kelly und Cary Grant Lino Ventura und Franccediloise Fabian Sean Connery und Kim Basinger ndash die sich wiederum bruchlos mit der inzwischen untergegangenen Playboy-Szenerie mischten ndash Aly Khan und Rita Hayworth Gunter Sachs und Brigitte Bardot Danielle Darrieux und Porfirio Rubirosa ( jener Playboy- Diplomat aus der Dominikanischen Republik mit dem klingendsten Namen der sich fuumlr diese fast ausgestorbene Spezies nur denken laumlsst) sowie Aristo-teles Onassis auch kein schlechter Name mal mit Maria Callas mal mit Jackie Kennedy In keiner anderen Landschaft der Welt auch nicht in Kalifornien oder in der Normandie uumlberlagern und durchdringen Literatur bildende Kunst und Film alle unmittelbaren Eindruumlcke und Assoziationen derart Es handelt sich hier um eine unmittelbar fiktionalisierte Wirklichkeit

Zunaumlchst verbrachte ich einige Tage in der franzoumlsisch-italieni-schen Grenzstadt Menton mit dem kleinen Friedhof der fruumlh verstor-benen tuberkulosekranken Adligen oben am alten Schloss und den gigantischen Hotelpalaumlsten der Belle Eacutepoque mit so luxurierenden

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Namen wie raquoWinter Palacelaquo raquoImperiallaquo raquoHocirctel drsquoOrientlaquo ndash allesamt laumlngst in Einzelappartements umgewandelt Dann weiter nach Ville-franche-sur-Mer zum Hotel Welcome wo Jean Cocteau seinem Opi-umkonsum froumlnte und die Rolling Stones als britische Steuerfluumlcht-linge in der Villa Nelcocircte am gegenuumlberliegenden Cap noch haumlrtere Drogen konsumiert und ihr Album Exile on Main Street komponiert hatten Weiter nach Monaco das mit seiner Mischung aus dem uumlber-mediatisierten Fuumlrstenhaus und den Hochhausbatterien eher uninter-essant schien vorbei an Nizza der Kapitale des Deacutepartement Alpes Maritimes die ich erst spaumlter en deacutetail kennenlernen sollte schnell vorbei auch an der Altstadt von Antibes getreu der alten Alexandre Dumas zugeschriebenen Anekdote raquoWie fanden Sie Antibeslaquo ndash raquoIch habe es uumlberhaupt nicht gefundenlaquo Und dann Juan-les-Pins

Juan-les-Pins knapp 5000 staumlndige Einwohner verwaltungstech-nisch von jeher ein Teil von Antibes seit seiner Gruumlndung 1882 aber ein seltsamer Ort eine Art Resort fuumlr Koumlrperkult Fun und Games mit ausgepraumlgtem Eigenleben erwaumlhnt in einem Popsong der zu Be-ginn der 1970er Jahre weltweit von den Radiosendern immer wieder gespielt wurde Peter Sarstedts raquoWhere Do You Go To My Lovelylaquo Es geht darin um eine gewisse Marie-Claire die aus der leeren Welt der Schoumlnen und Reichen befreit werden soll In der Juan-les-Pins betreffenden Stelle heiszligt es

When you go on your summer vacation you go to Juan-les-PinsWith your carefully designed topless swimsuitYou get an even sun tan on your back and on your legs1

Beim Houmlren des mit eingaumlngigen Akkordeonklaumlngen unterlegten Songs hatte ich mich des Oumlfteren gefragt wie ein raquocarefully designed topless swimsuitlaquo aussehen mochte ndash gemeint war wohl der von Rudi Gernreich erfundene Monokini ndash und auch Sarstedts Refrain

But where do you go to my lovelyWhen yoursquore alone in your bedTell me the thoughts that surround youI want to look inside your head yes I do2

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erschien mir etwas raumltselhaft Klang das nicht irgendwie nach einem unangenehmen und gefaumlhrlichen Stalker

Aber der Name Juan-les-Pins war haumlngen geblieben obwohl Sar-stedt ihn kaum auszusprechen verstand ndash es klang irgendwie wie raquoJanleponlaquo hatte aber etwas von Glamour Verruchtheit und Luxus3 Diese vage Verheiszligung war der eine Grund fuumlr meinen Aufenthalt in Juan-les-Pins der andere und eher handfeste Christian Plumails Auberge de lrsquoEsterel ein kleines Restaurant mit einem Michelin-Stern und guumlnstiger Uumlbernachtungsmoumlglichkeit Die Restaurantfuumlhrer lob-ten das unschlagbare Preis-Leistungs-Verhaumlltnis bei gleichzeitig un-gewoumlhnlich kreativer Kochleistung So war es auch 150 Franc ndash auf heutige Verhaumlltnisse umgerechnet 25 Euro ndash fuumlr vier Gaumlnge mit einem umwerfenden Dessert schwerster Schokokompositionen

Am Tag nach meiner Ankunft machte ich mich auf den kleinen Ort zu erkunden der seinen einzigartigen Aufstieg zum Vergnuuml-gungszentrum der Cocircte drsquoAzur im 20 Jahrhundert ndash lange vor Saint-Tropez ndash einem makellosen Sandstrand verdankte uumlber den Monaco oder Nizza nicht verfuumlgen Unbestrittener Mittelpunkt von Juan-les-Pins ist der Carrefour de la Joie eine Straszligenkreuzung an der sich mit dem raquoLe Crystallaquo und dem raquoPam Pamlaquo zwei Bars der 1920er und 1930er Jahre bis heute gehalten haben Davor von Westen aus zum Strandboulevard verlaufend eine Batterie von weniger exklusiven Snackbars und Boutiquen mit Namen wie raquoHystericalaquo raquoWeekend agrave la merlaquo oder raquoInterdit de me gronderlaquo Gegenuumlber die alte Presse-buchhandlung und das architektonisch schwer verungluumlckte post-moderne Hotel Garden Beach damals noch mit dem Spielcasino einst angeblich das eleganteste an der gesamten Kuumlste Daneben das Pinienwaumlldchen das dem Ort den seltsamen Namen gab und daruumlber thronend ein riesiges weiszliges offenbar leerstehendes Ge-baumlude in einem undefinierbaren Architekturstil einer Mischung aus Stahl beton-Gigantismus und neoprovenzalischer Ornamentik Kein Hinweis kein Name an diesem Bauwerk das aussah wie ein im Wald gestrandeter Ozeandampfer

Ich umrundete den raumltselhaften Bau mehrfach und wandte mich schlieszliglich an ortskundige Passanten Es handele sich so erfuhr ich um das ehemalige Luxushotel Le Provenccedilal das nach seiner Einwei-

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hung 1927 als die modernste und aufregendste Herberge der Cocircte drsquoAzur galt 280 Zimmer in denen Groumlszligen wie Winston Churchill Charlie Chaplin Lilian Harvey und Jack Warner logierten Mit rund 350 Angestellten war das Haus der mit Abstand groumlszligte Arbeitgeber in Juan-les-Pins Unvergessliche Galas schrille Misswahlen und Mu-sikwettbewerbe fanden hier statt In den 1960er Jahren beherbergte das raquoProvenccedilallaquo dann Jazzgroumlszligen wie Dizzy Gillespie Sidney Bechet und Miles Davis nachdem 1960 in Juan-les-Pins das erste europauml-ische Jazzfestival ins Leben gerufen worden war ndash Reminiszenz an das Jazz Age der 1920er Jahre als Pablo Picasso Cole Porter F Scott Fitzgerald Ernest Hemingway Sara und Gerald Murphy und Dut-zende andere Kuumlnstler und Intellektuelle den Ort und das benach-barte Cap drsquoAntibes zu einer Art Montparnasse-sur-Mer gemacht hatten 1977 sei das raquoProvenccedilallaquo dann von seinem neuen Besitzer dem reichen Pariser Juwelier Alexandre Reza von einem Tag auf den anderen geschlossen worden Ein Skandal Die Hinrichtung von Juan-les-Pins Eine Schande

Bei meinem ersten Besuch war das raquoProvenccedilallaquo von dessen Ro-tunde aus man bei klarem Wetter die vorgelagerten Lerinischen In-seln Sainte-Marguerite und Saint-Honorat und sogar Korsika sehen kann seit dreizehn Jahren geschlossen Das war schon deshalb reich-lich merkwuumlrdig weil das Hotel an der uumlbergangslosen Grenze zwi-schen Juan-les-Pins und dem von zahlreichen Milliardaumlren Oligar-chen Waffenhaumlndlern und Edelganoven bewohnten Cap drsquoAntibes an einem der teuersten Kuumlstenabschnitte der Welt liegt Es ging bei dieser Investmentaffaumlre offenbar nicht nur um das Hotel selbst son-dern um das immense Areal drumherum zwei vorgelagerte Villen direkt am Meer auch verfallen das alte Chacircteau Saint-Georges fuumlr besondere Gaumlste Gesindehaumluser eine Art-deacuteco-Garage mit Appar-tements daruumlber ndash ein ganzes Stadtviertel an der Grenze zum Cap drsquoAntibes

Entwickelt hatte dieses Viertel Frank J Gould (1877ndash1956) US-Multimillionaumlr und juumlngster Sohn des beruumlchtigten ultravermoumlgen-den raquoRaubritterslaquo Jason Gould des seinerzeit meistgehassten Unter-nehmers der USA Vater Gould hatte ein Vermoumlgen mit dem Bau von Eisenbahnen und Telegrafie-Einrichtungen Presse-Organen und

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Wall-Street-Manipulationen gemacht Sein Sohn Frank Jay ein hoch-gewachsener hagerer Mann mit markanter Nase der gern und oft in den Gazetten karikiert wurde baute das bis 1918 vor sich hin daumlm-mernde Juan-les-Pins mit anderen Investoren zum raquoResortlaquo mit Spielcasino Nobelrestaurants Tennisplaumltzen und eben dem zentra-len Hotel aus Schon 1913 verlegte er seinen Wohnsitz von New York nach Frankreich investierte in die Pferdezucht von Maisons-Laffitte bei Paris uumlberdies in Papier- und Schokoladenfabriken besaszlig bald ein Chacircteau in der Normandie eine Villa in Vichy war Eigentuumlmer von Hotels und Restaurants in Houlgate Bagnoles de lrsquoOrne und Eacutevreux und versuchte aus Granville am Aumlrmelkanal ndash vergeblich ndash das raquoMonaco des Nordenslaquo zu machen Die Cocircte drsquoAzur entdeckte Frank J Gould 1923 auf der Hochzeitsreise mit seiner dritten Ehefrau Florence geborene La Caze einer fantastisch gutaussehenden feier-wuumltigen und in jeder Hinsicht freigiebigen gelernten Opernsaumlngerin Salonniegravere und Literaturmaumlzenin

Inzwischen steht das raquoProvenccedilallaquo seit 44 Jahren leer Die Ruine und der sie umgebende Ort sind zu einer Attraktion des Dark Tou-rism geworden dessen Anhaumlnger den raquoghosts of placeslaquo so der So-ziologe Michael Mayerfeld Bell nachspuumlren ndash dem subtilen Einfluss der anwesend Abwesenden Dass die Cocircte drsquoAzur eine lebensphiloso-phische Projektion ist ndash im Sinne einer uumlber das urspruumlnglich Land-schaftliche hinausweisenden kulturell-soziologischen Persona ndash hat schon der deutsche Publizist Alexander Moszkowski in seiner Auto-biografie Das Panorama meines Lebens die 1925 in Berlin erschien gut beschrieben

Der landschaftliche Reiz ist hier nicht das Wesentliche Der ver-traumlgt bis zu gewissem Grade eine Analyse er laumlszligt sich auf Bekann-tes zuruumlckfuumlhren mit anderem Landschaftlichen vergleichen und ein Globetrotter duumlrfte mir leicht beweisen daszlig der Ri-vierareiz nach malerischen und pflanzlichen Momenten be urteilt keine besondere Vorrangstellung in der Welt zu beanspruchen hat Aber die sichtbare Landschaft ist hier nicht die Grundursache sondern nur eine begleitende Bedingung des Effektes deren wahre Ursaumlchlichkeit gaumlnzlich unerforschlich bleibt Das Kantische

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raquoDing an sichlaquo findet sein Gegenstuumlck in einem raquoZauber an sichlaquo der als das Letzte und Wesentliche sich hinter den Erscheinungen verbirgt und sich nur erahnen laumlszligt wenn man von diesen alles sinnlich Erfaszligbare fortdenkt

Bei allen erkenntnistheoretischen Reflexionen uumlber den raquoZauber an sichlaquo verdankt sich die Entwicklung von Juan-les-Pins doch der Kombination aus einem relativ unberuumlhrten tourismusoumlkonomisch ausbaufaumlhigen Landstrich zwischen Antibes und Golfe-Juan mit dem Amerikanisierungsschub in den 1920er Jahren angelehnt an die Re-sorts in Florida und Kalifornien mit Flapper Girls Dancings Gamb-ling und fruumlhen Automobilrallyes Juan-les-Pins wurde ein doppeltes Gegenmodell an der Cocircte ndash gegen die existierenden Adelsrefugien wie Nizza und Cannes aber auch gegen den lieblich-friedvollen Midi im Allgemeinen Alles war aufregend und neu und ein Verfallsdatum fuumlr diesen Hotspot schien bis in die 1980er Jahre nicht absehbar 1989 waren die Fenster des raquoProvenccedilallaquo noch intakt wurde das Ganze bewacht von einem Mann mit einem kleinen Sohn und einem Do-bermann Nun gibt es nur noch das halbwegs intakte Stahlbeton-gerippe Das alte Hotelgebaumlude darf nicht abgerissen werden die Fassade steht unter Denkmalschutz

Zehn Jahre nach meinem ersten Besuch habe ich die Geschichte dieses Luxushotels in einem Film dokumentiert Der Eigentuumlmer Alexandre Reza beruumlhmt geworden als der angeblich raquoletzte Juwelier von Lady Dilaquo kam damals zu meinem Erstaunen fuumlr ein Interview extra aus Paris angereist und praumlsentierte mit Verve seine umfang-reichen ausgefeilten Umbauplaumlne die aus seiner Sicht von ruumlck-staumlndigen lokalen Buumlrgerinitiativen sabotiert wurden In weiteren Interviews aumluszligerten sich Jean Leonetti der Buumlrgermeister der Ge-meinde Antibes ndash das ist er noch heute ndash und kurzzeitig franzoumlsischer Europaminister unter Nicolas Sarkozy sowie einige Besitzer und Direktoren umliegender Luxushotels wie dem raquoBelles Riveslaquo dem raquoJuanalaquo und dem Grand Hocirctel du Cap Letzteres im Luxusportfolio der deutschen Oetker-Gruppe4 Dort steigen waumlhrend der Filmfest-spiele von Cannes Stars wie Robert De Niro Lars von Trier oder Sha-ron Stone ab Ferner kamen ehemalige Hotelangestellte und raquoMamolaquo

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der quirlige Pro minentenrestaurateur von Antibes der alle und jeden kennt sowie Lokalhistoriker und andere Spezialisten zu Wort

2007 folgte ein weiterer Film uumlber das Cap drsquoAntibes und seine vermoumlgenden Bewohner Boris Beresowski der Mann der Wladimir Putin ins Amt gebracht hatte und spaumlter sein erbittertster Gegner wurde konnte nur in London interviewt werden und nicht in seinem Chacircteau de la Garoupe am Cap drsquoAntibes da er von Interpol verfolgt wurde Er war einer der Finanziers der Orangen Revolution in der Ukraine und damals noch quicklebendig 2016 wurde er in seinem britischen Exil erhaumlngt aufgefunden ndash Selbstmord oder eine perfide Aktion von Putins Geheimdiensten das konnte bis heute nicht aufge-klaumlrt werden

Inzwischen war ich beruflich oder aus rein privatem Interesse wahrscheinlich mehr als hundertmal in Juan-les-Pins Cannes er-reicht man von dort in neun Minuten mit dem Zug nach Nizza dauert es eine halbe Stunde Man kann sich an einem der privat be-wirtschafteten Straumlnde des kleinen Ortes ndash etwa im raquoLes Pirateslaquo mit seinen tuumlrkisen Sonnenschirmen ndash in aller Ruhe mit den Geistern der intellektuellen und kuumlnstlerischen Prominenz beschaumlftigen die sich hier einst erholte ndash neben Hemingway Fitzgerald und Picasso auch Marlene Dietrich Bert Brecht Klaus Mann Walter Benjamin Joseph Roth Stefan Zweig Lee Miller Walker Evans Man Ray ndash oder auch mit den vielleicht noch spannenderen geisteshistorischen Konstellationen heute unbekannterer Zeitgenossen ndash Morphinisten Transvestiten Suffragetten

Die kulturelle und finanzielle Kolonisierung der Franzoumlsischen Riviera kann anhand der Geschichte von Juan-les-Pins sehr praumlzise beschrieben werden zumal der Ort wie kein anderer fuumlr den schnel-len Wechsel von der adligen Winterkultur mit vornehmer Blaumlsse und den Promenaden mit Sonnenschirm am Strand zur Coco-Chanel-Braumlune zur Bikinischau zur Koumlrperexzentrik steht ndash und zu Sexis-mus und Aumluszligerlichkeiten aller Art Sieht man von der unmittelbaren Gruumlndungsphase ab hat es nie irgendeine Art von Architektur-planung fuumlr Juan-les-Pins gegeben und so ist der Ort stets eine Bau-stelle fuumlr die Geschichte der Franzoumlsischen Riviera geblieben die raquozu-gleich eine Gegend und ein soziologisches Phaumlnomenlaquo ist wie Agnegraves

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Varda es im Begleitbuch ihres mittellangen Filmessays Du cocircteacute de la cocircte formulierte den das Office National du Tourisme 1958 finanzierte

Das Schicksal des raquoProvenccedilallaquo die Geschichte von Juan-les-Pins und die des Cap drsquoAntibes stellen so etwas wie spezielle Sonden fuumlr die Cocircte drsquoAzur dar mit Einblicken die uumlber die konventionellen Reise fuumlhrer mit ihrer traditionellen Tour von Marseille nach Men-ton hinausgehen Juan-les-Pins wurde nach dem Ersten Weltkrieg das Emblem fuumlr die kulturelle kuumlnstlerische und architektonische Mo-dernitaumlt an der Cocircte die nach 1945 eine Zeitlang nicht mehr en vogue war weil die neuen Block- und Riegelbauten entlang der Kuumlste eher eine nostalgische Wendung zur Belle Eacutepoque bewirkten ndash von Kunst-markt und Diskokultur einmal abgesehen Erst 1997 veranstaltete das Departement Provence-Alpes-Cocircte drsquoAzur jene zentrale und uumlber-greifende Ausstellung La Cocircte drsquoAzur et la Moderniteacute in der Malerei Design Film Fotografie Gartenbaukunst und Tanz Beachtung fan-den Signifikante Bauwerke wie Robert Mallet-Stevensrsquo Villa Noailles in Hyegraveres das raquoGloria Mansonlaquo in Nizza oder Eileen Grays Wohn-haus E1027 in Roquebrune-Cap-Martin wurden restauriert und in den letzten Jahren entstand sogar eine ndash privat organisierte ndash Besich-tigungstour zu den Art-deacuteco-Bauten in Juan-les-Pins und am Cap5 Die moderne Cocircte drsquoAzur bildet einen scharfen Gegensatz zu den bekannten Provence-Klischees mit den Lavendelfeldern Bastides Toumlpferarbeiten und Bauern mit gelben Gitanes im Mundwinkel6 auch wenn die Uumlbergaumlnge flieszligend erscheinen An der Cocircte domi-niert das Flair des Halbkriminellen Demi-Mondaumlnen ostentativ Luxurierenden raquoDie franzoumlsische Riviera ist Matisse und Picasso nicht Ceacutezanne und van Goghlaquo so hat es bereits 2009 Julian Hale in seiner Kulturgeschichte der Cocircte formuliert (erschienen in der Oxford-Reihe Landscapes of the Imagination) raquoes gibt Jachten und Speedboote keine Barken und Jollen (hellip) Es gibt Filmstars und Rockmusiker keine Stierkaumlmpfer und tote Paumlpstelaquo

1931 als Juan-les-Pins von der damals fuumlhrenden franzoumlsischen Glamourzeitschrift LrsquoIllustration zur Kapitale der neuen Unisex- Pyjama-Mode ausgerufen und hier gerade das Wasserskifahren in Europa populaumlr wurde veroumlffentlichte der Muumlnchener Piper Verlag Das Buch von der Riviera mit betont legeren Texten von Erika und

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Klaus Mann Das Riviera-Buch erschien in der Reihe Was nicht im Bae-deker steht war also eine Art Vorlaumlufer der raquoalternativen Reisefuumlhrerlaquo Die literarischen Geschwister nahmen das Projekt nicht sonderlich ernst entledigten sich ihrer Aufgabe aber mit Eleganz und im laumlssigen Kumpelstil des Weimarer Feuilletons In dem Buch werden die Grand Tour des 19 Jahrhunderts von Marseille bis zum Golf von La Spezia beschrieben eine Reihe angesagter Hotels und Tanzbars aufgefuumlhrt und die bis heute aktuelle Frage aller Fragen gestellt raquoWoher kommt der groszlige Ruhm dieser blauen Kuumlste Warum blieb die Cocircte drsquoAzur uumlber Jahrzehnte der Vergnuumlgungs- und Erholungsstrand des Konti-nents und der Weltlaquo Inzwischen kommt man schneller nach Bora-Bora Patagonien oder auf irgendeine exotische karibische Insel doch die Riviera hat ihren Statuswert als Reiseziel eher noch gemehrt

Bei aller Begeisterung uumlber das rot schimmernde Esterel-Gebirge die drei grandiosen Corniches zwischen Nizza und Menton putzige Kuumlnstlerdoumlrfer wie Mougins und Saint-Paul-de-Vence oder karibisch anmutende Inselparadiese wie Porquerolles und Port-Cros sollte nicht vergessen werden dass die Cocircte seit Jahrzehnten politisch rechts steht sogar weit rechts auszligen Es gibt einen engen Zusammenhang von lo-kalen Potentaten Mafia-Organisationen aller Spielarten Spekulanten und gewoumlhnlichen Schwerkriminellen Als Albert Spaggiari ein be-kennender Fan der deutschen SS nach dem raquoBankraub des Jahrhun-dertslaquo (1976) auf raumltselhafte Weise aus dem Justizpalast in Nizza ent-kam war sein Anwalt Jacques Peyrat der aus dem Milieu des Front National stammt und spaumlter uumlber Jahre Buumlrgermeister von Nizza war erkennbar nicht unfroh uumlber die spektakulaumlre Flucht seines Klienten nach Suumldamerika Dorthin war auch Peyrats Amtsvorgaumlnger Jacques Meacutedecin 1990 nach anhaltenden Korruptionsvorwuumlrfen Hals uumlber Kopf gefluumlchtet In Nizza ist raquoJacquotlaquo Meacutedecin heute noch sehr be-liebt Sein Buch uumlber die provenzalische Kuumlche mit der Anleitung wie die echte Salade niccediloise zubereitet wird gilt nach wie vor als Standard-werk Daruumlber hinaus war der unscheinbare Kaumlsehaumlndler neben dem Bahnhof von Juan in einen spektakulaumlren Mordfall ver wickelt bei dem 1999 einige Mafiosi enthauptet und zerteilt in Muumlllsaumlcken im Hinterland aufgefunden wurden Selbst im kleinen Juan-les-Pins gab es eine Zelle der brutalen italienischen rsquoNdrangheta7

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Uumlberdies ist die Franzoumlsische Riviera ein Tummelplatz fuumlr Dik-tatoren und Autokraten aller Art ndash von Ben Ali (Tunesien) uumlber Omar Bongo (Gabun) bis hin zu raquoBaby Doclaquo Duvalier (Haiti) der allerdings vor seiner kurzzeitigen Ruumlckkehr auf seine Heimatinsel in einem billigen Hotel in Mougins logieren musste Unrechtmaumlszligig er-worbenes Vermoumlgen wird hier in Villen und Jachten investiert denn uumlblicherweise recherchieren franzoumlsische Untersuchungsrichter zu-ruumlckhaltend wenn es um raquobiens mal acquislaquo ndash schlecht erworbene Guumlter ndash geht Der blutig regierenden saudischen Koumlnigsfamilie die missliebige Journalisten schon einmal foltern oder gar zerstuumlckeln laumlsst gehoumlren ausgedehnte Laumlndereien in Golfe-Juan rund um das Chacircteau de lrsquoHorizon das 1932 von Barry Dierks fuumlr die US-Schau-spielerin Maxine Elliott erbaut wurde ebenso das neomaurische Chacircteau Robert heute eine gigantische Ruine und einst von Emil Jel-linek bewohnt dem Namensgeber der Daimler-Marke raquoMercedeslaquo

Der kriminelle Hintergrund der Cocircte muss den gewoumlhnlichen Touristen nicht kuumlmmern und Hollywood-Stars werden waumlhrend der Filmfestspiele von Cannes gewoumlhnlich verschont Dennoch loumlsen die vermehrten Raubuumlberfaumllle auf Ferienappartements bei denen die Bewohner schon einmal mit Betaumlubungsgas auszliger Gefecht gesetzt werden Beunruhigung aus Nachdem die Tochter seiner Geliebten Yvonne Cloetta einen Mann aus dem raquoMilieulaquo geheiratet hatte der sie offenbar drangsalierte hat Graham Greene der Amateurspion und feinsinnige Autor von Bestsellern wie Unser Mann in Havanna oder Der stille Amerikaner in dem 1982 verfassten Pamphlet Jrsquoaccuse gewarnt raquoVermeiden Sie die Gegend um Nizza ndash sie ist das Revier einiger der kriminellsten Organisationen im Suumlden Frankreichslaquo Greene verursachte damit zunaumlchst einigen Wirbel bis hinauf zum franzoumlsischen Justizminister schlieszliglich war der damals bereits 77-Jaumlhrige nicht irgendwer aber Nizzas Buumlrgermeister Meacutedecin kehrte den Spieszlig einfach um und beschimpfte ndash mit dem Nice Matin im Ruumlcken ndash den ewigen Kandidaten fuumlr den Literaturnobelpreis als raquoalten Spinnerlaquo und weltfremden Auslaumlnder der sich nie in die spezifische Atmosphaumlre der Cocircte habe einfinden koumlnnen

Die Nobelpreise erhielten was die Cocircte drsquoAzur anlangt dann zwei eher zuruumlckhaltende Charaktere zunaumlchst im Jahr 2008 Jean-Marie

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Gustave Le Cleacutezio aus Nizza bekannt als J M G Le Cleacutezio und 2014 Patrick Modiano dessen Romane Sonntage im August und Hochzeits-reise unter anderem durch ausgezeichnete Recherchen glaumlnzen und einen bemerkenswerten Einblick in das Vichy-Regime an der Cocircte und die deutsch-italienische Besatzungszeit gewaumlhren Modianos Hochzeitsreise spielt in einem kardinalen Kapitel im raquoProvenccedilallaquo das auch in zahlreichen weiteren Romanen und Spionagestorys von Georges Simenon bis zu Jean-Paul Sartre oder Irwin Shaw vorkommt

Die klassische Riviera gibt es kulturhistorisch seit dem 18 Jahr-hundert kolonisiert zunaumlchst von reichen Englaumlndern und russischen Adligen die Cocircte drsquoAzur gibt es erst seit 1887 jedenfalls begrifflich8 Das wissen wir ziemlich genau denn Steacutephen Lieacutegeard ein Regional-politiker mit literarischen Neigungen hat in jenem Jahr ein blumiges 630-Seiten-Werk mit dem Titel La Cocircte drsquoAzur publiziert und damit eine bis heute guumlltige landschaftliche Weltmarke erfunden Originell war der Titel nicht denn das Azurblau unter den Blautoumlnen findet man schon in Theacuteodore de Banvilles Buch La mer de Nice (1865)

Lieacutegeard schwer begeistert von der Sommerfrische der Adligen und dem sanften Klima der Provence und ihrer langen griechisch-roumlmischen Kolonisationsgeschichte vermischte fuumlr seine Cocircte- Geschichte munter Zeithistorie Landschaftsekstase und Legenden wobei er es mit den Fakten nicht so genau nahm aber eine fuumlr die Belle Eacutepoque attraktive Lektuumlre schuf Allein dreiszligig Seiten schrieb er uumlber die Lerinischen Inseln vor Cannes uumlber die moumlnchische Kul-tur auf der Insel Saint-Honorat und das Staatsgefaumlngnis auf der Insel Sainte-Marguerite wo der raquoMann mit der eisernen Maskelaquo gefangen gehalten wurde und aus dem 1874 der Marschall Bazaine der raquoVer-lierer von Metzlaquo im Deutsch-Franzoumlsischen Krieg unter suspekten Umstaumlnden entkam Neben den ausschweifenden Beschreibungen von Villenarchitektur und Botanik fehlte das Politische in Lieacutegeards Werk durchaus nicht Napoleon III hatte zwar bedauerlicherweise den Krieg von 187071 gegen die Bismarck-Koalition verloren aber 1860 erreicht dass Nizza als Hauptort des Deacutepartement Alpes-Ma-ritimes franzoumlsisch wurde ndash bis dahin war es Teil des Koumlnigreichs von Savoyen und Sardinien Im Gegenzug hatte der franzoumlsische Kaiser die Entstehung des neuen italienischen Nationalstaats unterstuumltzt

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Wer wuumlrde von der Schoumlnheit der neu entdeckten Kuumlstenregion der Cocircte drsquoAzur oumlkonomisch profitieren nachdem sie durch den Bau schneller Eisenbahnverbindungen noch an Attraktivitaumlt gewonnen hatte Die Hotellerie und das Gastgewerbe machten nun jedenfalls auch jenseits des Hochadels Angebote an das vermoumlgende Buumlrgertum und expandierten in dieser von der raquoindustriellen Revolutionlaquo noch unberuumlhrten Gegend gewaltig Und auch Lieacutegeard hatte begriffen worum es ging Uumlber Juan-les-Pins das kurz vor Erscheinen seines Buches uumlberhaupt erst als Name auf der Landkarte erschienen war schrieb er in der zweiten Auflage seines Werkes

Eine Viertelstunde von dem kleinen Hafen entfernt wo die Tar-tanen die Toumlpferwaren aus Vallauris an Bord nehmen zweigt eine neue Straszlige ab nach Juan-les-Pins Auf feinem Sand verlaumluft sie entlang des schaumbekroumlnten Saums mit dem das Meer sie lieb-kost waumlhrend das Zwitschern der Voumlgel und der Schirm der aus-ladenden Pinien ihr Schatten und Froumlhlichkeit spenden (hellip) Eine Aktiengesellschaft wurde gegruumlndet die das Land aufkauft und parzelliert Schon sind Straszligen und Boulevards trassiert ein Bahn-hof hemmt den Reisenden in seiner Fahrt ein Hotel umwirbt ihn Doch wird sich der Reisende auch verfuumlhren lassen

Mit dem Hotel meinte Lieacutegeard das erste Grandhotel in Juan-les-Pins wo es zuvor nur die Kuumlnstlerpension Chacircteau de la Pinegravede mit ihrem markanten oktogonalen Turm gegeben hatte Diese aumllteste Villa auf dem Terrain des Staumldtchens steht wundersamerweise noch heute ndash neben einem pyramidal anmutenden Komplex aus den 1970er Jahren ndash ist aber inzwischen in teure Einzelwohnungen auf-geteilt worden Claude Monet wohnte hier 1888 als er seine beruumlhm-ten impressionistischen Bilder vom Cap drsquoAntibes und dem men-schenleeren Strand von Juan-les-Pins schuf Empfohlen hatte ihm die Unterkunft sein Kuumlnstlerfreund der Flaubert-Schuumller Guy de Mau-passant damals ein ungeheuer populaumlrer Literat Wie Monet steht Maupassant fuumlr die kuumlnstlerische Drift von der Normandie in die waumlrmeren Gefilde der Cocircte drsquoAzur Jeder Lokalpatriot kennt heute Maupassants prophetische Saumltze

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Von weitem sehen die Panzerschiffe wie Felsen aus wie kleine Inseln wie von abgestorbenen Baumlumen bedeckte Klippen Am Ufer entlang fliegt der Rauch eines Zuges der von Cannes nach Juan-les-Pins faumlhrt das vielleicht spaumlter der huumlbscheste Badeort der ganzen Kuumlste sein wird Drei Tartaren liegen mit ihren ro-mantischen Segeln von denen eines rot und die anderen beiden weiszlig sind im Fahrwasser zwischen Sainte-Marguerite und dem Festland vor Anker Das ist die Stille die suumlszlige und heiszlige Stille eines Fruumlhlingsmorgens im Suumlden und schon kommt es mir so vor als haumltte ich die Leute die reden und umherhetzen seit Wo-chen seit Monaten seit Jahren verlassen ich spuumlre wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt der suumlszlige Rausch der Ruhe die nichts stoumlren wird kein weiszliger Brief kein blaues Tele-gramm nicht die Klingel meiner Tuumlr noch das Bellen meines Hundes

Maupassant war mit seiner Jacht Bel Ami die er 1885 gekauft hatte an der Franzoumlsischen Riviera entlanggesegelt und hatte sich auch eine Zeitlang in Antibes in der Villa Muterse und im Chalet des Alpes an der Route de la Badine niedergelassen Viel schoumlpferische Zeit blieb ihm nicht mehr er starb schon 1894 mit 44 Jahren an den Folgen der Syphilis Und Juan-les-Pins wurde nie raquoder huumlbscheste Badeortlaquo wie er es prophezeit hatte

Huumlbsch und lieblich war es dort vielleicht noch bis 1914 als der Weltkrieg zunaumlchst einmal alle Spekulationsanstrengungen unter-brach Als dann Mitte der 1920er Jahre mit Frank Jay Gould und Konsorten der wirkliche Boom einsetzte und die neuen Straszligenzuumlge agrave la Miami Beach nur noch aus Hotels und Pensionen bestanden ndash innerhalb von zwei drei Jahren waren es an die hundert ndash spottete Jean Cocteau aus Juan-les-Pins sei genau die Karikatur geworden die es schon immer gewesen sei 1939 ging er dann noch weiter In einem Brief an seine Mutter bezeichnete er es als eine raquoville atrocelaquo eine scheuszligliche Stadt Dabei waren damals die meisten alten Villen noch nicht abgerissen die den zeittypischen Appartementkomplexen der 1950er und 1960er Jahre Platz machen mussten weil diese houmlhere Renditen fuumlr die Besitzer versprachen9

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1960 war das absurde architektonische Gesamtkunstwerk Juan-les-Pins mit seinen Art-deacuteco-Bauten den vereinzelt uumlbrig gebliebe-nen Villen aus der Gruumlnderphase und den vielen skurrilen Beton-kloumltzen allerdings schon so musealisiert dass dieser Wirrwarr neue Bewunderer fand Der Fotograf Brassaiuml erinnerte sich an ein Ge-spraumlch unter den riesigen Pinien von Juan-les-Pins mit Henry Miller der damals ndash wie uumlbrigens auch Georges Simenon ndash Jurymitglied beim Filmfestival von Cannes war

MILLER raquoIch mag diesen Ort Ich verlasse mich stets auf meinen Instinkt meine Gewohnheiten Wenn ich in die Auszligenbezirke einer Stadt komme erschnuumlffele ich ob sie mir gefaumlllt oder nicht ob ich dort gluumlcklich sein werde oder ungluumlcklich Ich habe das Gefuumlhl Juan-les-Pins wird mir guttunlaquoBrassaiuml raquoPicasso hatte das gleiche Gefuumlhl In Paris hat er diese Stadt einmal gemalt ohne sie je zuvor gesehen zu haben Und als er 1920 zum ersten Mal herkam sah er dass Juan-les-Pins genau so war wie er es sich vorgestellt hatte Uumlberwaumlltigt rief er rsaquoKein Zweifel diese Stadt gehoumlrt mirlsaquolaquo

Andrew Loog Oldham in den 1960er Jahren Manager der Rolling Stones erinnerte sich an die Zeit als er am Strand von Juan-les-Pins als Aushilfskellner in raquoButlerrsquos Tea Roomlaquo ndash heute das zentrale Cafeacute de la Plage ndash gearbeitet hatte

Juan war eine riesige Filmkulisse Das Licht war unglaublich Sie hatten da eine Art Licht von dem England bis dahin nicht einmal wusste dass es uumlberhaupt existiert Die Rock-rsquonrsquo-Roll-Clubs waren fantastisch Sie lagen alle unter freiem Himmel versteckt hinter einer langen Hecke Man konnte die Musik von der Straszlige aus houmlren Nach Juan-les-Pins fuhren die franzoumlsischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars im Sommer weil das Publikum dort juumlnger war Die franzouml-sischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars waren groszligartig Im Winter flogen sie zum Shoppen nach Amerika und behaupteten sie gingen dort auf Tour

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

Page 2: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

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Mehr zum Autor

Zum Buch Wie die Franzoumlsische Riviera erfunden wurde

Uumlber dem Pinienwald des Seebads Juan-les-Pins thront seit 44 Jahren die

verlassene Ruine des ehemaligen Luxushotels bdquoLe Provenccedilalldquo Hier

logierten einst Gaumlste wie Winston Churchill Lilian Harvey Charlie Chaplin

und Miles Davis galt es doch zu seiner Eroumlffnung 1927 als die modernste

und aufregendste Herberge der Cocircte drsquoAzur Lutz Hachmeister beschreibt

in seinem auszligergewoumlhnlichen Buch das Schicksal dieses Gebaumludes und

zeichnet dabei den Aufstieg Juan-les-Pins zu einem einzigartigen Ort

ausschweifenden Vergnuumlgens nach Auf dieser farbenpraumlchtigen Tour de

Force erweckt Hachmeister die Geister der intellektuellen und

kuumlnstlerischen Prominenz aber auch viele zwielichtige Gestalten wieder

zum Leben Das Buch ist eine faszinierende Kulturgeschichte und zugleich

eine Einladung zu einer Reise an die Cocircte

Autor

Professor Dr Lutz Hachmeister Lutz Hachmeister geboren 1959 in

MindenWestfalen ist Publizist Filmemacher und

Geschaumlftsfuumlhrer des Instituts fuumlr Medien- und

Kommunikationspolitik in Berlin und Koumlln Der

ehemalige Chef des Grimme-Instituts hat unter

anderem die Dokumentarfilme bdquoDas Goebbels-

Experimentldquo (2005) bdquoDie Koumlche und die Sterneldquo

LU T Z H A C H M E I S T E RHOcircTEL PROVENCcedilAL

Inhalt

Diese besondere Kuumlste 7

Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen an der Cocircte drsquoAzur 25

Frank Jay GouldDer reichste Amerikaner in Frankreich 49

Lost Generation in PyjamapolisDer Aufstieg zum Vergnuumlgungszentrum der Cocircte drsquoAzur 79

Refugium und SchattenspieleDie Cocircte drsquoAzur und das raquoProvenccedilallaquo 1939 bis 1945 111

Das zweite Jazz Age von JuanFun and Games nach 1945 157

Die ewige HotelruineBuumlrgerinitiativen und neue Investoren 191

Vorerst letzte Nachrichten aus Juan-les-Pins 205

AnhangDank 211Anmerkungen 212Literatur 224Bildnachweis 239

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D i e s e b e s o n d e re Kuuml st e

Amerikaner Englaumlnder Franzosen Deutsche Schweden Italiener Liebeleien Enttaumluschungen Streit Versoumlhnung Mord Die Cocircte drsquoAzur erregte ihn wie ihn kein anderer Ort der Welt den er je kennengelernt hatte erregen konnte Und dabei war diese Biegung der Mittelmeerkuumlste so winzig an der die herr-lichen Namen wie die Perlen einer Kette aufgereiht waren ndash Toulon Freacutejus

Saint-Raphaeumll Cannes Nizza Menton und dann San Remo

Patricia Highsmith Der talentierte Mr Ripley

In Juan-les-Pins war ich zum ersten Mal im Februar 1989 Es war angenehm leer an den Straumlnden der Franzoumlsischen Riviera Graham Greene dessen langjaumlhrige Geliebte Yvonne Cloetta in einer Villa oberhalb des Zentrums von Juan-les-Pins wohnte ndash er selbst bevor-zugte von 1966 bis 1990 als Hauptwohnsitz ein unscheinbares Neu-bauappartement in Antibes ndash hatte uumlber diese von allen Kundigen bevorzugte Nebensaison in einer Kurzgeschichte geschrieben

Das war die Jahreszeit die ich am meisten liebe wenn Juan-les-Pins so schaumlbig wird wie ein Vergnuumlgungspark in dem alle Buden mit Brettern verschlagen sind wenn am Pam Pam und am Ma-xim Karten mit der Aufschrift raquoFermeture annuellelaquo angebracht sind und wenn der raquoConcours International Amateur de Strip-teaselaquo im Vieux Colombier wieder fuumlr eine Saison voruumlber ist

Das sanfte Mittelmeer war unvermutet boumlse die einzige Lokalzei-tung der Nice Matin ndash damals weit mehr als heute ein Revolverblatt mit wildem Layout ndash berichtete uumlber einen Rentner den eine Flut-welle von der Seepromenade in Menton in den Vorgarten eines Res-taurants gespuumllt hatte wo er nur noch tot geborgen werden konnte Es waren auch die letzten Monate der alten Weltordnung aber das konnte damals keiner wissen Kurze Zeit spaumlter fiel die Berliner

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Mauer der raquoOstblocklaquo und der Warschauer Pakt brachen auseinan-der Solche welthistorischen Umwaumllzungen kuumlmmern die Cocircte drsquoAzur nicht denn hier wechselt nur die Nationalitaumlt der vermoumlgenden In-vestoren Aktuell setzt man auf reiche Chinesen und Araber in den 1990er Jahren dominierten unangefochten die russischen neureichen Oligarchen raquonovarichslaquo wie Roman Abramowitsch mit seinem pom-poumls renovierten Chacircteau de la Croeuml am Cap drsquoAntibes Zuvor wohn-ten da Bauherr Sir Pomeroy Burton Generaldirektor der Associated Newspapers dann der Herzog und die Herzogin von Windsor sowie die griechischen Reeder-Tycoons Aristoteles Onassis und Stavros Niarchos

Ich war ndash biografisch eher verspaumltet ndash zum ersten Mal an der Cocircte drsquoAzur Sie erschien mir durch ihre filmischen Spiegelungen aber ziemlich vertraut Uumlber den Daumlchern von Nizza Swimmingpool Und Gott schuf die Frau Der Gendarm von Saint-Tropez Lautlos wie die Nacht Sag niemals nie Nur die Sonne war Zeuge Bonjour Tristesse Zwei hinreiszligend verdorbene Schurken und Hunderte von B-Movies mit deut-schen Titeln wie Nimmrsquos leicht nimm Dynamit oder Der Panther wird gehetzt All die Filmpaare ndash Alain Delon und Romy Schneider Grace Kelly und Cary Grant Lino Ventura und Franccediloise Fabian Sean Connery und Kim Basinger ndash die sich wiederum bruchlos mit der inzwischen untergegangenen Playboy-Szenerie mischten ndash Aly Khan und Rita Hayworth Gunter Sachs und Brigitte Bardot Danielle Darrieux und Porfirio Rubirosa ( jener Playboy- Diplomat aus der Dominikanischen Republik mit dem klingendsten Namen der sich fuumlr diese fast ausgestorbene Spezies nur denken laumlsst) sowie Aristo-teles Onassis auch kein schlechter Name mal mit Maria Callas mal mit Jackie Kennedy In keiner anderen Landschaft der Welt auch nicht in Kalifornien oder in der Normandie uumlberlagern und durchdringen Literatur bildende Kunst und Film alle unmittelbaren Eindruumlcke und Assoziationen derart Es handelt sich hier um eine unmittelbar fiktionalisierte Wirklichkeit

Zunaumlchst verbrachte ich einige Tage in der franzoumlsisch-italieni-schen Grenzstadt Menton mit dem kleinen Friedhof der fruumlh verstor-benen tuberkulosekranken Adligen oben am alten Schloss und den gigantischen Hotelpalaumlsten der Belle Eacutepoque mit so luxurierenden

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Namen wie raquoWinter Palacelaquo raquoImperiallaquo raquoHocirctel drsquoOrientlaquo ndash allesamt laumlngst in Einzelappartements umgewandelt Dann weiter nach Ville-franche-sur-Mer zum Hotel Welcome wo Jean Cocteau seinem Opi-umkonsum froumlnte und die Rolling Stones als britische Steuerfluumlcht-linge in der Villa Nelcocircte am gegenuumlberliegenden Cap noch haumlrtere Drogen konsumiert und ihr Album Exile on Main Street komponiert hatten Weiter nach Monaco das mit seiner Mischung aus dem uumlber-mediatisierten Fuumlrstenhaus und den Hochhausbatterien eher uninter-essant schien vorbei an Nizza der Kapitale des Deacutepartement Alpes Maritimes die ich erst spaumlter en deacutetail kennenlernen sollte schnell vorbei auch an der Altstadt von Antibes getreu der alten Alexandre Dumas zugeschriebenen Anekdote raquoWie fanden Sie Antibeslaquo ndash raquoIch habe es uumlberhaupt nicht gefundenlaquo Und dann Juan-les-Pins

Juan-les-Pins knapp 5000 staumlndige Einwohner verwaltungstech-nisch von jeher ein Teil von Antibes seit seiner Gruumlndung 1882 aber ein seltsamer Ort eine Art Resort fuumlr Koumlrperkult Fun und Games mit ausgepraumlgtem Eigenleben erwaumlhnt in einem Popsong der zu Be-ginn der 1970er Jahre weltweit von den Radiosendern immer wieder gespielt wurde Peter Sarstedts raquoWhere Do You Go To My Lovelylaquo Es geht darin um eine gewisse Marie-Claire die aus der leeren Welt der Schoumlnen und Reichen befreit werden soll In der Juan-les-Pins betreffenden Stelle heiszligt es

When you go on your summer vacation you go to Juan-les-PinsWith your carefully designed topless swimsuitYou get an even sun tan on your back and on your legs1

Beim Houmlren des mit eingaumlngigen Akkordeonklaumlngen unterlegten Songs hatte ich mich des Oumlfteren gefragt wie ein raquocarefully designed topless swimsuitlaquo aussehen mochte ndash gemeint war wohl der von Rudi Gernreich erfundene Monokini ndash und auch Sarstedts Refrain

But where do you go to my lovelyWhen yoursquore alone in your bedTell me the thoughts that surround youI want to look inside your head yes I do2

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erschien mir etwas raumltselhaft Klang das nicht irgendwie nach einem unangenehmen und gefaumlhrlichen Stalker

Aber der Name Juan-les-Pins war haumlngen geblieben obwohl Sar-stedt ihn kaum auszusprechen verstand ndash es klang irgendwie wie raquoJanleponlaquo hatte aber etwas von Glamour Verruchtheit und Luxus3 Diese vage Verheiszligung war der eine Grund fuumlr meinen Aufenthalt in Juan-les-Pins der andere und eher handfeste Christian Plumails Auberge de lrsquoEsterel ein kleines Restaurant mit einem Michelin-Stern und guumlnstiger Uumlbernachtungsmoumlglichkeit Die Restaurantfuumlhrer lob-ten das unschlagbare Preis-Leistungs-Verhaumlltnis bei gleichzeitig un-gewoumlhnlich kreativer Kochleistung So war es auch 150 Franc ndash auf heutige Verhaumlltnisse umgerechnet 25 Euro ndash fuumlr vier Gaumlnge mit einem umwerfenden Dessert schwerster Schokokompositionen

Am Tag nach meiner Ankunft machte ich mich auf den kleinen Ort zu erkunden der seinen einzigartigen Aufstieg zum Vergnuuml-gungszentrum der Cocircte drsquoAzur im 20 Jahrhundert ndash lange vor Saint-Tropez ndash einem makellosen Sandstrand verdankte uumlber den Monaco oder Nizza nicht verfuumlgen Unbestrittener Mittelpunkt von Juan-les-Pins ist der Carrefour de la Joie eine Straszligenkreuzung an der sich mit dem raquoLe Crystallaquo und dem raquoPam Pamlaquo zwei Bars der 1920er und 1930er Jahre bis heute gehalten haben Davor von Westen aus zum Strandboulevard verlaufend eine Batterie von weniger exklusiven Snackbars und Boutiquen mit Namen wie raquoHystericalaquo raquoWeekend agrave la merlaquo oder raquoInterdit de me gronderlaquo Gegenuumlber die alte Presse-buchhandlung und das architektonisch schwer verungluumlckte post-moderne Hotel Garden Beach damals noch mit dem Spielcasino einst angeblich das eleganteste an der gesamten Kuumlste Daneben das Pinienwaumlldchen das dem Ort den seltsamen Namen gab und daruumlber thronend ein riesiges weiszliges offenbar leerstehendes Ge-baumlude in einem undefinierbaren Architekturstil einer Mischung aus Stahl beton-Gigantismus und neoprovenzalischer Ornamentik Kein Hinweis kein Name an diesem Bauwerk das aussah wie ein im Wald gestrandeter Ozeandampfer

Ich umrundete den raumltselhaften Bau mehrfach und wandte mich schlieszliglich an ortskundige Passanten Es handele sich so erfuhr ich um das ehemalige Luxushotel Le Provenccedilal das nach seiner Einwei-

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hung 1927 als die modernste und aufregendste Herberge der Cocircte drsquoAzur galt 280 Zimmer in denen Groumlszligen wie Winston Churchill Charlie Chaplin Lilian Harvey und Jack Warner logierten Mit rund 350 Angestellten war das Haus der mit Abstand groumlszligte Arbeitgeber in Juan-les-Pins Unvergessliche Galas schrille Misswahlen und Mu-sikwettbewerbe fanden hier statt In den 1960er Jahren beherbergte das raquoProvenccedilallaquo dann Jazzgroumlszligen wie Dizzy Gillespie Sidney Bechet und Miles Davis nachdem 1960 in Juan-les-Pins das erste europauml-ische Jazzfestival ins Leben gerufen worden war ndash Reminiszenz an das Jazz Age der 1920er Jahre als Pablo Picasso Cole Porter F Scott Fitzgerald Ernest Hemingway Sara und Gerald Murphy und Dut-zende andere Kuumlnstler und Intellektuelle den Ort und das benach-barte Cap drsquoAntibes zu einer Art Montparnasse-sur-Mer gemacht hatten 1977 sei das raquoProvenccedilallaquo dann von seinem neuen Besitzer dem reichen Pariser Juwelier Alexandre Reza von einem Tag auf den anderen geschlossen worden Ein Skandal Die Hinrichtung von Juan-les-Pins Eine Schande

Bei meinem ersten Besuch war das raquoProvenccedilallaquo von dessen Ro-tunde aus man bei klarem Wetter die vorgelagerten Lerinischen In-seln Sainte-Marguerite und Saint-Honorat und sogar Korsika sehen kann seit dreizehn Jahren geschlossen Das war schon deshalb reich-lich merkwuumlrdig weil das Hotel an der uumlbergangslosen Grenze zwi-schen Juan-les-Pins und dem von zahlreichen Milliardaumlren Oligar-chen Waffenhaumlndlern und Edelganoven bewohnten Cap drsquoAntibes an einem der teuersten Kuumlstenabschnitte der Welt liegt Es ging bei dieser Investmentaffaumlre offenbar nicht nur um das Hotel selbst son-dern um das immense Areal drumherum zwei vorgelagerte Villen direkt am Meer auch verfallen das alte Chacircteau Saint-Georges fuumlr besondere Gaumlste Gesindehaumluser eine Art-deacuteco-Garage mit Appar-tements daruumlber ndash ein ganzes Stadtviertel an der Grenze zum Cap drsquoAntibes

Entwickelt hatte dieses Viertel Frank J Gould (1877ndash1956) US-Multimillionaumlr und juumlngster Sohn des beruumlchtigten ultravermoumlgen-den raquoRaubritterslaquo Jason Gould des seinerzeit meistgehassten Unter-nehmers der USA Vater Gould hatte ein Vermoumlgen mit dem Bau von Eisenbahnen und Telegrafie-Einrichtungen Presse-Organen und

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Wall-Street-Manipulationen gemacht Sein Sohn Frank Jay ein hoch-gewachsener hagerer Mann mit markanter Nase der gern und oft in den Gazetten karikiert wurde baute das bis 1918 vor sich hin daumlm-mernde Juan-les-Pins mit anderen Investoren zum raquoResortlaquo mit Spielcasino Nobelrestaurants Tennisplaumltzen und eben dem zentra-len Hotel aus Schon 1913 verlegte er seinen Wohnsitz von New York nach Frankreich investierte in die Pferdezucht von Maisons-Laffitte bei Paris uumlberdies in Papier- und Schokoladenfabriken besaszlig bald ein Chacircteau in der Normandie eine Villa in Vichy war Eigentuumlmer von Hotels und Restaurants in Houlgate Bagnoles de lrsquoOrne und Eacutevreux und versuchte aus Granville am Aumlrmelkanal ndash vergeblich ndash das raquoMonaco des Nordenslaquo zu machen Die Cocircte drsquoAzur entdeckte Frank J Gould 1923 auf der Hochzeitsreise mit seiner dritten Ehefrau Florence geborene La Caze einer fantastisch gutaussehenden feier-wuumltigen und in jeder Hinsicht freigiebigen gelernten Opernsaumlngerin Salonniegravere und Literaturmaumlzenin

Inzwischen steht das raquoProvenccedilallaquo seit 44 Jahren leer Die Ruine und der sie umgebende Ort sind zu einer Attraktion des Dark Tou-rism geworden dessen Anhaumlnger den raquoghosts of placeslaquo so der So-ziologe Michael Mayerfeld Bell nachspuumlren ndash dem subtilen Einfluss der anwesend Abwesenden Dass die Cocircte drsquoAzur eine lebensphiloso-phische Projektion ist ndash im Sinne einer uumlber das urspruumlnglich Land-schaftliche hinausweisenden kulturell-soziologischen Persona ndash hat schon der deutsche Publizist Alexander Moszkowski in seiner Auto-biografie Das Panorama meines Lebens die 1925 in Berlin erschien gut beschrieben

Der landschaftliche Reiz ist hier nicht das Wesentliche Der ver-traumlgt bis zu gewissem Grade eine Analyse er laumlszligt sich auf Bekann-tes zuruumlckfuumlhren mit anderem Landschaftlichen vergleichen und ein Globetrotter duumlrfte mir leicht beweisen daszlig der Ri-vierareiz nach malerischen und pflanzlichen Momenten be urteilt keine besondere Vorrangstellung in der Welt zu beanspruchen hat Aber die sichtbare Landschaft ist hier nicht die Grundursache sondern nur eine begleitende Bedingung des Effektes deren wahre Ursaumlchlichkeit gaumlnzlich unerforschlich bleibt Das Kantische

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raquoDing an sichlaquo findet sein Gegenstuumlck in einem raquoZauber an sichlaquo der als das Letzte und Wesentliche sich hinter den Erscheinungen verbirgt und sich nur erahnen laumlszligt wenn man von diesen alles sinnlich Erfaszligbare fortdenkt

Bei allen erkenntnistheoretischen Reflexionen uumlber den raquoZauber an sichlaquo verdankt sich die Entwicklung von Juan-les-Pins doch der Kombination aus einem relativ unberuumlhrten tourismusoumlkonomisch ausbaufaumlhigen Landstrich zwischen Antibes und Golfe-Juan mit dem Amerikanisierungsschub in den 1920er Jahren angelehnt an die Re-sorts in Florida und Kalifornien mit Flapper Girls Dancings Gamb-ling und fruumlhen Automobilrallyes Juan-les-Pins wurde ein doppeltes Gegenmodell an der Cocircte ndash gegen die existierenden Adelsrefugien wie Nizza und Cannes aber auch gegen den lieblich-friedvollen Midi im Allgemeinen Alles war aufregend und neu und ein Verfallsdatum fuumlr diesen Hotspot schien bis in die 1980er Jahre nicht absehbar 1989 waren die Fenster des raquoProvenccedilallaquo noch intakt wurde das Ganze bewacht von einem Mann mit einem kleinen Sohn und einem Do-bermann Nun gibt es nur noch das halbwegs intakte Stahlbeton-gerippe Das alte Hotelgebaumlude darf nicht abgerissen werden die Fassade steht unter Denkmalschutz

Zehn Jahre nach meinem ersten Besuch habe ich die Geschichte dieses Luxushotels in einem Film dokumentiert Der Eigentuumlmer Alexandre Reza beruumlhmt geworden als der angeblich raquoletzte Juwelier von Lady Dilaquo kam damals zu meinem Erstaunen fuumlr ein Interview extra aus Paris angereist und praumlsentierte mit Verve seine umfang-reichen ausgefeilten Umbauplaumlne die aus seiner Sicht von ruumlck-staumlndigen lokalen Buumlrgerinitiativen sabotiert wurden In weiteren Interviews aumluszligerten sich Jean Leonetti der Buumlrgermeister der Ge-meinde Antibes ndash das ist er noch heute ndash und kurzzeitig franzoumlsischer Europaminister unter Nicolas Sarkozy sowie einige Besitzer und Direktoren umliegender Luxushotels wie dem raquoBelles Riveslaquo dem raquoJuanalaquo und dem Grand Hocirctel du Cap Letzteres im Luxusportfolio der deutschen Oetker-Gruppe4 Dort steigen waumlhrend der Filmfest-spiele von Cannes Stars wie Robert De Niro Lars von Trier oder Sha-ron Stone ab Ferner kamen ehemalige Hotelangestellte und raquoMamolaquo

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der quirlige Pro minentenrestaurateur von Antibes der alle und jeden kennt sowie Lokalhistoriker und andere Spezialisten zu Wort

2007 folgte ein weiterer Film uumlber das Cap drsquoAntibes und seine vermoumlgenden Bewohner Boris Beresowski der Mann der Wladimir Putin ins Amt gebracht hatte und spaumlter sein erbittertster Gegner wurde konnte nur in London interviewt werden und nicht in seinem Chacircteau de la Garoupe am Cap drsquoAntibes da er von Interpol verfolgt wurde Er war einer der Finanziers der Orangen Revolution in der Ukraine und damals noch quicklebendig 2016 wurde er in seinem britischen Exil erhaumlngt aufgefunden ndash Selbstmord oder eine perfide Aktion von Putins Geheimdiensten das konnte bis heute nicht aufge-klaumlrt werden

Inzwischen war ich beruflich oder aus rein privatem Interesse wahrscheinlich mehr als hundertmal in Juan-les-Pins Cannes er-reicht man von dort in neun Minuten mit dem Zug nach Nizza dauert es eine halbe Stunde Man kann sich an einem der privat be-wirtschafteten Straumlnde des kleinen Ortes ndash etwa im raquoLes Pirateslaquo mit seinen tuumlrkisen Sonnenschirmen ndash in aller Ruhe mit den Geistern der intellektuellen und kuumlnstlerischen Prominenz beschaumlftigen die sich hier einst erholte ndash neben Hemingway Fitzgerald und Picasso auch Marlene Dietrich Bert Brecht Klaus Mann Walter Benjamin Joseph Roth Stefan Zweig Lee Miller Walker Evans Man Ray ndash oder auch mit den vielleicht noch spannenderen geisteshistorischen Konstellationen heute unbekannterer Zeitgenossen ndash Morphinisten Transvestiten Suffragetten

Die kulturelle und finanzielle Kolonisierung der Franzoumlsischen Riviera kann anhand der Geschichte von Juan-les-Pins sehr praumlzise beschrieben werden zumal der Ort wie kein anderer fuumlr den schnel-len Wechsel von der adligen Winterkultur mit vornehmer Blaumlsse und den Promenaden mit Sonnenschirm am Strand zur Coco-Chanel-Braumlune zur Bikinischau zur Koumlrperexzentrik steht ndash und zu Sexis-mus und Aumluszligerlichkeiten aller Art Sieht man von der unmittelbaren Gruumlndungsphase ab hat es nie irgendeine Art von Architektur-planung fuumlr Juan-les-Pins gegeben und so ist der Ort stets eine Bau-stelle fuumlr die Geschichte der Franzoumlsischen Riviera geblieben die raquozu-gleich eine Gegend und ein soziologisches Phaumlnomenlaquo ist wie Agnegraves

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Varda es im Begleitbuch ihres mittellangen Filmessays Du cocircteacute de la cocircte formulierte den das Office National du Tourisme 1958 finanzierte

Das Schicksal des raquoProvenccedilallaquo die Geschichte von Juan-les-Pins und die des Cap drsquoAntibes stellen so etwas wie spezielle Sonden fuumlr die Cocircte drsquoAzur dar mit Einblicken die uumlber die konventionellen Reise fuumlhrer mit ihrer traditionellen Tour von Marseille nach Men-ton hinausgehen Juan-les-Pins wurde nach dem Ersten Weltkrieg das Emblem fuumlr die kulturelle kuumlnstlerische und architektonische Mo-dernitaumlt an der Cocircte die nach 1945 eine Zeitlang nicht mehr en vogue war weil die neuen Block- und Riegelbauten entlang der Kuumlste eher eine nostalgische Wendung zur Belle Eacutepoque bewirkten ndash von Kunst-markt und Diskokultur einmal abgesehen Erst 1997 veranstaltete das Departement Provence-Alpes-Cocircte drsquoAzur jene zentrale und uumlber-greifende Ausstellung La Cocircte drsquoAzur et la Moderniteacute in der Malerei Design Film Fotografie Gartenbaukunst und Tanz Beachtung fan-den Signifikante Bauwerke wie Robert Mallet-Stevensrsquo Villa Noailles in Hyegraveres das raquoGloria Mansonlaquo in Nizza oder Eileen Grays Wohn-haus E1027 in Roquebrune-Cap-Martin wurden restauriert und in den letzten Jahren entstand sogar eine ndash privat organisierte ndash Besich-tigungstour zu den Art-deacuteco-Bauten in Juan-les-Pins und am Cap5 Die moderne Cocircte drsquoAzur bildet einen scharfen Gegensatz zu den bekannten Provence-Klischees mit den Lavendelfeldern Bastides Toumlpferarbeiten und Bauern mit gelben Gitanes im Mundwinkel6 auch wenn die Uumlbergaumlnge flieszligend erscheinen An der Cocircte domi-niert das Flair des Halbkriminellen Demi-Mondaumlnen ostentativ Luxurierenden raquoDie franzoumlsische Riviera ist Matisse und Picasso nicht Ceacutezanne und van Goghlaquo so hat es bereits 2009 Julian Hale in seiner Kulturgeschichte der Cocircte formuliert (erschienen in der Oxford-Reihe Landscapes of the Imagination) raquoes gibt Jachten und Speedboote keine Barken und Jollen (hellip) Es gibt Filmstars und Rockmusiker keine Stierkaumlmpfer und tote Paumlpstelaquo

1931 als Juan-les-Pins von der damals fuumlhrenden franzoumlsischen Glamourzeitschrift LrsquoIllustration zur Kapitale der neuen Unisex- Pyjama-Mode ausgerufen und hier gerade das Wasserskifahren in Europa populaumlr wurde veroumlffentlichte der Muumlnchener Piper Verlag Das Buch von der Riviera mit betont legeren Texten von Erika und

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Klaus Mann Das Riviera-Buch erschien in der Reihe Was nicht im Bae-deker steht war also eine Art Vorlaumlufer der raquoalternativen Reisefuumlhrerlaquo Die literarischen Geschwister nahmen das Projekt nicht sonderlich ernst entledigten sich ihrer Aufgabe aber mit Eleganz und im laumlssigen Kumpelstil des Weimarer Feuilletons In dem Buch werden die Grand Tour des 19 Jahrhunderts von Marseille bis zum Golf von La Spezia beschrieben eine Reihe angesagter Hotels und Tanzbars aufgefuumlhrt und die bis heute aktuelle Frage aller Fragen gestellt raquoWoher kommt der groszlige Ruhm dieser blauen Kuumlste Warum blieb die Cocircte drsquoAzur uumlber Jahrzehnte der Vergnuumlgungs- und Erholungsstrand des Konti-nents und der Weltlaquo Inzwischen kommt man schneller nach Bora-Bora Patagonien oder auf irgendeine exotische karibische Insel doch die Riviera hat ihren Statuswert als Reiseziel eher noch gemehrt

Bei aller Begeisterung uumlber das rot schimmernde Esterel-Gebirge die drei grandiosen Corniches zwischen Nizza und Menton putzige Kuumlnstlerdoumlrfer wie Mougins und Saint-Paul-de-Vence oder karibisch anmutende Inselparadiese wie Porquerolles und Port-Cros sollte nicht vergessen werden dass die Cocircte seit Jahrzehnten politisch rechts steht sogar weit rechts auszligen Es gibt einen engen Zusammenhang von lo-kalen Potentaten Mafia-Organisationen aller Spielarten Spekulanten und gewoumlhnlichen Schwerkriminellen Als Albert Spaggiari ein be-kennender Fan der deutschen SS nach dem raquoBankraub des Jahrhun-dertslaquo (1976) auf raumltselhafte Weise aus dem Justizpalast in Nizza ent-kam war sein Anwalt Jacques Peyrat der aus dem Milieu des Front National stammt und spaumlter uumlber Jahre Buumlrgermeister von Nizza war erkennbar nicht unfroh uumlber die spektakulaumlre Flucht seines Klienten nach Suumldamerika Dorthin war auch Peyrats Amtsvorgaumlnger Jacques Meacutedecin 1990 nach anhaltenden Korruptionsvorwuumlrfen Hals uumlber Kopf gefluumlchtet In Nizza ist raquoJacquotlaquo Meacutedecin heute noch sehr be-liebt Sein Buch uumlber die provenzalische Kuumlche mit der Anleitung wie die echte Salade niccediloise zubereitet wird gilt nach wie vor als Standard-werk Daruumlber hinaus war der unscheinbare Kaumlsehaumlndler neben dem Bahnhof von Juan in einen spektakulaumlren Mordfall ver wickelt bei dem 1999 einige Mafiosi enthauptet und zerteilt in Muumlllsaumlcken im Hinterland aufgefunden wurden Selbst im kleinen Juan-les-Pins gab es eine Zelle der brutalen italienischen rsquoNdrangheta7

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Uumlberdies ist die Franzoumlsische Riviera ein Tummelplatz fuumlr Dik-tatoren und Autokraten aller Art ndash von Ben Ali (Tunesien) uumlber Omar Bongo (Gabun) bis hin zu raquoBaby Doclaquo Duvalier (Haiti) der allerdings vor seiner kurzzeitigen Ruumlckkehr auf seine Heimatinsel in einem billigen Hotel in Mougins logieren musste Unrechtmaumlszligig er-worbenes Vermoumlgen wird hier in Villen und Jachten investiert denn uumlblicherweise recherchieren franzoumlsische Untersuchungsrichter zu-ruumlckhaltend wenn es um raquobiens mal acquislaquo ndash schlecht erworbene Guumlter ndash geht Der blutig regierenden saudischen Koumlnigsfamilie die missliebige Journalisten schon einmal foltern oder gar zerstuumlckeln laumlsst gehoumlren ausgedehnte Laumlndereien in Golfe-Juan rund um das Chacircteau de lrsquoHorizon das 1932 von Barry Dierks fuumlr die US-Schau-spielerin Maxine Elliott erbaut wurde ebenso das neomaurische Chacircteau Robert heute eine gigantische Ruine und einst von Emil Jel-linek bewohnt dem Namensgeber der Daimler-Marke raquoMercedeslaquo

Der kriminelle Hintergrund der Cocircte muss den gewoumlhnlichen Touristen nicht kuumlmmern und Hollywood-Stars werden waumlhrend der Filmfestspiele von Cannes gewoumlhnlich verschont Dennoch loumlsen die vermehrten Raubuumlberfaumllle auf Ferienappartements bei denen die Bewohner schon einmal mit Betaumlubungsgas auszliger Gefecht gesetzt werden Beunruhigung aus Nachdem die Tochter seiner Geliebten Yvonne Cloetta einen Mann aus dem raquoMilieulaquo geheiratet hatte der sie offenbar drangsalierte hat Graham Greene der Amateurspion und feinsinnige Autor von Bestsellern wie Unser Mann in Havanna oder Der stille Amerikaner in dem 1982 verfassten Pamphlet Jrsquoaccuse gewarnt raquoVermeiden Sie die Gegend um Nizza ndash sie ist das Revier einiger der kriminellsten Organisationen im Suumlden Frankreichslaquo Greene verursachte damit zunaumlchst einigen Wirbel bis hinauf zum franzoumlsischen Justizminister schlieszliglich war der damals bereits 77-Jaumlhrige nicht irgendwer aber Nizzas Buumlrgermeister Meacutedecin kehrte den Spieszlig einfach um und beschimpfte ndash mit dem Nice Matin im Ruumlcken ndash den ewigen Kandidaten fuumlr den Literaturnobelpreis als raquoalten Spinnerlaquo und weltfremden Auslaumlnder der sich nie in die spezifische Atmosphaumlre der Cocircte habe einfinden koumlnnen

Die Nobelpreise erhielten was die Cocircte drsquoAzur anlangt dann zwei eher zuruumlckhaltende Charaktere zunaumlchst im Jahr 2008 Jean-Marie

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Gustave Le Cleacutezio aus Nizza bekannt als J M G Le Cleacutezio und 2014 Patrick Modiano dessen Romane Sonntage im August und Hochzeits-reise unter anderem durch ausgezeichnete Recherchen glaumlnzen und einen bemerkenswerten Einblick in das Vichy-Regime an der Cocircte und die deutsch-italienische Besatzungszeit gewaumlhren Modianos Hochzeitsreise spielt in einem kardinalen Kapitel im raquoProvenccedilallaquo das auch in zahlreichen weiteren Romanen und Spionagestorys von Georges Simenon bis zu Jean-Paul Sartre oder Irwin Shaw vorkommt

Die klassische Riviera gibt es kulturhistorisch seit dem 18 Jahr-hundert kolonisiert zunaumlchst von reichen Englaumlndern und russischen Adligen die Cocircte drsquoAzur gibt es erst seit 1887 jedenfalls begrifflich8 Das wissen wir ziemlich genau denn Steacutephen Lieacutegeard ein Regional-politiker mit literarischen Neigungen hat in jenem Jahr ein blumiges 630-Seiten-Werk mit dem Titel La Cocircte drsquoAzur publiziert und damit eine bis heute guumlltige landschaftliche Weltmarke erfunden Originell war der Titel nicht denn das Azurblau unter den Blautoumlnen findet man schon in Theacuteodore de Banvilles Buch La mer de Nice (1865)

Lieacutegeard schwer begeistert von der Sommerfrische der Adligen und dem sanften Klima der Provence und ihrer langen griechisch-roumlmischen Kolonisationsgeschichte vermischte fuumlr seine Cocircte- Geschichte munter Zeithistorie Landschaftsekstase und Legenden wobei er es mit den Fakten nicht so genau nahm aber eine fuumlr die Belle Eacutepoque attraktive Lektuumlre schuf Allein dreiszligig Seiten schrieb er uumlber die Lerinischen Inseln vor Cannes uumlber die moumlnchische Kul-tur auf der Insel Saint-Honorat und das Staatsgefaumlngnis auf der Insel Sainte-Marguerite wo der raquoMann mit der eisernen Maskelaquo gefangen gehalten wurde und aus dem 1874 der Marschall Bazaine der raquoVer-lierer von Metzlaquo im Deutsch-Franzoumlsischen Krieg unter suspekten Umstaumlnden entkam Neben den ausschweifenden Beschreibungen von Villenarchitektur und Botanik fehlte das Politische in Lieacutegeards Werk durchaus nicht Napoleon III hatte zwar bedauerlicherweise den Krieg von 187071 gegen die Bismarck-Koalition verloren aber 1860 erreicht dass Nizza als Hauptort des Deacutepartement Alpes-Ma-ritimes franzoumlsisch wurde ndash bis dahin war es Teil des Koumlnigreichs von Savoyen und Sardinien Im Gegenzug hatte der franzoumlsische Kaiser die Entstehung des neuen italienischen Nationalstaats unterstuumltzt

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Wer wuumlrde von der Schoumlnheit der neu entdeckten Kuumlstenregion der Cocircte drsquoAzur oumlkonomisch profitieren nachdem sie durch den Bau schneller Eisenbahnverbindungen noch an Attraktivitaumlt gewonnen hatte Die Hotellerie und das Gastgewerbe machten nun jedenfalls auch jenseits des Hochadels Angebote an das vermoumlgende Buumlrgertum und expandierten in dieser von der raquoindustriellen Revolutionlaquo noch unberuumlhrten Gegend gewaltig Und auch Lieacutegeard hatte begriffen worum es ging Uumlber Juan-les-Pins das kurz vor Erscheinen seines Buches uumlberhaupt erst als Name auf der Landkarte erschienen war schrieb er in der zweiten Auflage seines Werkes

Eine Viertelstunde von dem kleinen Hafen entfernt wo die Tar-tanen die Toumlpferwaren aus Vallauris an Bord nehmen zweigt eine neue Straszlige ab nach Juan-les-Pins Auf feinem Sand verlaumluft sie entlang des schaumbekroumlnten Saums mit dem das Meer sie lieb-kost waumlhrend das Zwitschern der Voumlgel und der Schirm der aus-ladenden Pinien ihr Schatten und Froumlhlichkeit spenden (hellip) Eine Aktiengesellschaft wurde gegruumlndet die das Land aufkauft und parzelliert Schon sind Straszligen und Boulevards trassiert ein Bahn-hof hemmt den Reisenden in seiner Fahrt ein Hotel umwirbt ihn Doch wird sich der Reisende auch verfuumlhren lassen

Mit dem Hotel meinte Lieacutegeard das erste Grandhotel in Juan-les-Pins wo es zuvor nur die Kuumlnstlerpension Chacircteau de la Pinegravede mit ihrem markanten oktogonalen Turm gegeben hatte Diese aumllteste Villa auf dem Terrain des Staumldtchens steht wundersamerweise noch heute ndash neben einem pyramidal anmutenden Komplex aus den 1970er Jahren ndash ist aber inzwischen in teure Einzelwohnungen auf-geteilt worden Claude Monet wohnte hier 1888 als er seine beruumlhm-ten impressionistischen Bilder vom Cap drsquoAntibes und dem men-schenleeren Strand von Juan-les-Pins schuf Empfohlen hatte ihm die Unterkunft sein Kuumlnstlerfreund der Flaubert-Schuumller Guy de Mau-passant damals ein ungeheuer populaumlrer Literat Wie Monet steht Maupassant fuumlr die kuumlnstlerische Drift von der Normandie in die waumlrmeren Gefilde der Cocircte drsquoAzur Jeder Lokalpatriot kennt heute Maupassants prophetische Saumltze

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Von weitem sehen die Panzerschiffe wie Felsen aus wie kleine Inseln wie von abgestorbenen Baumlumen bedeckte Klippen Am Ufer entlang fliegt der Rauch eines Zuges der von Cannes nach Juan-les-Pins faumlhrt das vielleicht spaumlter der huumlbscheste Badeort der ganzen Kuumlste sein wird Drei Tartaren liegen mit ihren ro-mantischen Segeln von denen eines rot und die anderen beiden weiszlig sind im Fahrwasser zwischen Sainte-Marguerite und dem Festland vor Anker Das ist die Stille die suumlszlige und heiszlige Stille eines Fruumlhlingsmorgens im Suumlden und schon kommt es mir so vor als haumltte ich die Leute die reden und umherhetzen seit Wo-chen seit Monaten seit Jahren verlassen ich spuumlre wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt der suumlszlige Rausch der Ruhe die nichts stoumlren wird kein weiszliger Brief kein blaues Tele-gramm nicht die Klingel meiner Tuumlr noch das Bellen meines Hundes

Maupassant war mit seiner Jacht Bel Ami die er 1885 gekauft hatte an der Franzoumlsischen Riviera entlanggesegelt und hatte sich auch eine Zeitlang in Antibes in der Villa Muterse und im Chalet des Alpes an der Route de la Badine niedergelassen Viel schoumlpferische Zeit blieb ihm nicht mehr er starb schon 1894 mit 44 Jahren an den Folgen der Syphilis Und Juan-les-Pins wurde nie raquoder huumlbscheste Badeortlaquo wie er es prophezeit hatte

Huumlbsch und lieblich war es dort vielleicht noch bis 1914 als der Weltkrieg zunaumlchst einmal alle Spekulationsanstrengungen unter-brach Als dann Mitte der 1920er Jahre mit Frank Jay Gould und Konsorten der wirkliche Boom einsetzte und die neuen Straszligenzuumlge agrave la Miami Beach nur noch aus Hotels und Pensionen bestanden ndash innerhalb von zwei drei Jahren waren es an die hundert ndash spottete Jean Cocteau aus Juan-les-Pins sei genau die Karikatur geworden die es schon immer gewesen sei 1939 ging er dann noch weiter In einem Brief an seine Mutter bezeichnete er es als eine raquoville atrocelaquo eine scheuszligliche Stadt Dabei waren damals die meisten alten Villen noch nicht abgerissen die den zeittypischen Appartementkomplexen der 1950er und 1960er Jahre Platz machen mussten weil diese houmlhere Renditen fuumlr die Besitzer versprachen9

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1960 war das absurde architektonische Gesamtkunstwerk Juan-les-Pins mit seinen Art-deacuteco-Bauten den vereinzelt uumlbrig gebliebe-nen Villen aus der Gruumlnderphase und den vielen skurrilen Beton-kloumltzen allerdings schon so musealisiert dass dieser Wirrwarr neue Bewunderer fand Der Fotograf Brassaiuml erinnerte sich an ein Ge-spraumlch unter den riesigen Pinien von Juan-les-Pins mit Henry Miller der damals ndash wie uumlbrigens auch Georges Simenon ndash Jurymitglied beim Filmfestival von Cannes war

MILLER raquoIch mag diesen Ort Ich verlasse mich stets auf meinen Instinkt meine Gewohnheiten Wenn ich in die Auszligenbezirke einer Stadt komme erschnuumlffele ich ob sie mir gefaumlllt oder nicht ob ich dort gluumlcklich sein werde oder ungluumlcklich Ich habe das Gefuumlhl Juan-les-Pins wird mir guttunlaquoBrassaiuml raquoPicasso hatte das gleiche Gefuumlhl In Paris hat er diese Stadt einmal gemalt ohne sie je zuvor gesehen zu haben Und als er 1920 zum ersten Mal herkam sah er dass Juan-les-Pins genau so war wie er es sich vorgestellt hatte Uumlberwaumlltigt rief er rsaquoKein Zweifel diese Stadt gehoumlrt mirlsaquolaquo

Andrew Loog Oldham in den 1960er Jahren Manager der Rolling Stones erinnerte sich an die Zeit als er am Strand von Juan-les-Pins als Aushilfskellner in raquoButlerrsquos Tea Roomlaquo ndash heute das zentrale Cafeacute de la Plage ndash gearbeitet hatte

Juan war eine riesige Filmkulisse Das Licht war unglaublich Sie hatten da eine Art Licht von dem England bis dahin nicht einmal wusste dass es uumlberhaupt existiert Die Rock-rsquonrsquo-Roll-Clubs waren fantastisch Sie lagen alle unter freiem Himmel versteckt hinter einer langen Hecke Man konnte die Musik von der Straszlige aus houmlren Nach Juan-les-Pins fuhren die franzoumlsischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars im Sommer weil das Publikum dort juumlnger war Die franzouml-sischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars waren groszligartig Im Winter flogen sie zum Shoppen nach Amerika und behaupteten sie gingen dort auf Tour

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

Page 3: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

LU T Z H A C H M E I S T E RHOcircTEL PROVENCcedilAL

Inhalt

Diese besondere Kuumlste 7

Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen an der Cocircte drsquoAzur 25

Frank Jay GouldDer reichste Amerikaner in Frankreich 49

Lost Generation in PyjamapolisDer Aufstieg zum Vergnuumlgungszentrum der Cocircte drsquoAzur 79

Refugium und SchattenspieleDie Cocircte drsquoAzur und das raquoProvenccedilallaquo 1939 bis 1945 111

Das zweite Jazz Age von JuanFun and Games nach 1945 157

Die ewige HotelruineBuumlrgerinitiativen und neue Investoren 191

Vorerst letzte Nachrichten aus Juan-les-Pins 205

AnhangDank 211Anmerkungen 212Literatur 224Bildnachweis 239

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D i e s e b e s o n d e re Kuuml st e

Amerikaner Englaumlnder Franzosen Deutsche Schweden Italiener Liebeleien Enttaumluschungen Streit Versoumlhnung Mord Die Cocircte drsquoAzur erregte ihn wie ihn kein anderer Ort der Welt den er je kennengelernt hatte erregen konnte Und dabei war diese Biegung der Mittelmeerkuumlste so winzig an der die herr-lichen Namen wie die Perlen einer Kette aufgereiht waren ndash Toulon Freacutejus

Saint-Raphaeumll Cannes Nizza Menton und dann San Remo

Patricia Highsmith Der talentierte Mr Ripley

In Juan-les-Pins war ich zum ersten Mal im Februar 1989 Es war angenehm leer an den Straumlnden der Franzoumlsischen Riviera Graham Greene dessen langjaumlhrige Geliebte Yvonne Cloetta in einer Villa oberhalb des Zentrums von Juan-les-Pins wohnte ndash er selbst bevor-zugte von 1966 bis 1990 als Hauptwohnsitz ein unscheinbares Neu-bauappartement in Antibes ndash hatte uumlber diese von allen Kundigen bevorzugte Nebensaison in einer Kurzgeschichte geschrieben

Das war die Jahreszeit die ich am meisten liebe wenn Juan-les-Pins so schaumlbig wird wie ein Vergnuumlgungspark in dem alle Buden mit Brettern verschlagen sind wenn am Pam Pam und am Ma-xim Karten mit der Aufschrift raquoFermeture annuellelaquo angebracht sind und wenn der raquoConcours International Amateur de Strip-teaselaquo im Vieux Colombier wieder fuumlr eine Saison voruumlber ist

Das sanfte Mittelmeer war unvermutet boumlse die einzige Lokalzei-tung der Nice Matin ndash damals weit mehr als heute ein Revolverblatt mit wildem Layout ndash berichtete uumlber einen Rentner den eine Flut-welle von der Seepromenade in Menton in den Vorgarten eines Res-taurants gespuumllt hatte wo er nur noch tot geborgen werden konnte Es waren auch die letzten Monate der alten Weltordnung aber das konnte damals keiner wissen Kurze Zeit spaumlter fiel die Berliner

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Mauer der raquoOstblocklaquo und der Warschauer Pakt brachen auseinan-der Solche welthistorischen Umwaumllzungen kuumlmmern die Cocircte drsquoAzur nicht denn hier wechselt nur die Nationalitaumlt der vermoumlgenden In-vestoren Aktuell setzt man auf reiche Chinesen und Araber in den 1990er Jahren dominierten unangefochten die russischen neureichen Oligarchen raquonovarichslaquo wie Roman Abramowitsch mit seinem pom-poumls renovierten Chacircteau de la Croeuml am Cap drsquoAntibes Zuvor wohn-ten da Bauherr Sir Pomeroy Burton Generaldirektor der Associated Newspapers dann der Herzog und die Herzogin von Windsor sowie die griechischen Reeder-Tycoons Aristoteles Onassis und Stavros Niarchos

Ich war ndash biografisch eher verspaumltet ndash zum ersten Mal an der Cocircte drsquoAzur Sie erschien mir durch ihre filmischen Spiegelungen aber ziemlich vertraut Uumlber den Daumlchern von Nizza Swimmingpool Und Gott schuf die Frau Der Gendarm von Saint-Tropez Lautlos wie die Nacht Sag niemals nie Nur die Sonne war Zeuge Bonjour Tristesse Zwei hinreiszligend verdorbene Schurken und Hunderte von B-Movies mit deut-schen Titeln wie Nimmrsquos leicht nimm Dynamit oder Der Panther wird gehetzt All die Filmpaare ndash Alain Delon und Romy Schneider Grace Kelly und Cary Grant Lino Ventura und Franccediloise Fabian Sean Connery und Kim Basinger ndash die sich wiederum bruchlos mit der inzwischen untergegangenen Playboy-Szenerie mischten ndash Aly Khan und Rita Hayworth Gunter Sachs und Brigitte Bardot Danielle Darrieux und Porfirio Rubirosa ( jener Playboy- Diplomat aus der Dominikanischen Republik mit dem klingendsten Namen der sich fuumlr diese fast ausgestorbene Spezies nur denken laumlsst) sowie Aristo-teles Onassis auch kein schlechter Name mal mit Maria Callas mal mit Jackie Kennedy In keiner anderen Landschaft der Welt auch nicht in Kalifornien oder in der Normandie uumlberlagern und durchdringen Literatur bildende Kunst und Film alle unmittelbaren Eindruumlcke und Assoziationen derart Es handelt sich hier um eine unmittelbar fiktionalisierte Wirklichkeit

Zunaumlchst verbrachte ich einige Tage in der franzoumlsisch-italieni-schen Grenzstadt Menton mit dem kleinen Friedhof der fruumlh verstor-benen tuberkulosekranken Adligen oben am alten Schloss und den gigantischen Hotelpalaumlsten der Belle Eacutepoque mit so luxurierenden

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Namen wie raquoWinter Palacelaquo raquoImperiallaquo raquoHocirctel drsquoOrientlaquo ndash allesamt laumlngst in Einzelappartements umgewandelt Dann weiter nach Ville-franche-sur-Mer zum Hotel Welcome wo Jean Cocteau seinem Opi-umkonsum froumlnte und die Rolling Stones als britische Steuerfluumlcht-linge in der Villa Nelcocircte am gegenuumlberliegenden Cap noch haumlrtere Drogen konsumiert und ihr Album Exile on Main Street komponiert hatten Weiter nach Monaco das mit seiner Mischung aus dem uumlber-mediatisierten Fuumlrstenhaus und den Hochhausbatterien eher uninter-essant schien vorbei an Nizza der Kapitale des Deacutepartement Alpes Maritimes die ich erst spaumlter en deacutetail kennenlernen sollte schnell vorbei auch an der Altstadt von Antibes getreu der alten Alexandre Dumas zugeschriebenen Anekdote raquoWie fanden Sie Antibeslaquo ndash raquoIch habe es uumlberhaupt nicht gefundenlaquo Und dann Juan-les-Pins

Juan-les-Pins knapp 5000 staumlndige Einwohner verwaltungstech-nisch von jeher ein Teil von Antibes seit seiner Gruumlndung 1882 aber ein seltsamer Ort eine Art Resort fuumlr Koumlrperkult Fun und Games mit ausgepraumlgtem Eigenleben erwaumlhnt in einem Popsong der zu Be-ginn der 1970er Jahre weltweit von den Radiosendern immer wieder gespielt wurde Peter Sarstedts raquoWhere Do You Go To My Lovelylaquo Es geht darin um eine gewisse Marie-Claire die aus der leeren Welt der Schoumlnen und Reichen befreit werden soll In der Juan-les-Pins betreffenden Stelle heiszligt es

When you go on your summer vacation you go to Juan-les-PinsWith your carefully designed topless swimsuitYou get an even sun tan on your back and on your legs1

Beim Houmlren des mit eingaumlngigen Akkordeonklaumlngen unterlegten Songs hatte ich mich des Oumlfteren gefragt wie ein raquocarefully designed topless swimsuitlaquo aussehen mochte ndash gemeint war wohl der von Rudi Gernreich erfundene Monokini ndash und auch Sarstedts Refrain

But where do you go to my lovelyWhen yoursquore alone in your bedTell me the thoughts that surround youI want to look inside your head yes I do2

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erschien mir etwas raumltselhaft Klang das nicht irgendwie nach einem unangenehmen und gefaumlhrlichen Stalker

Aber der Name Juan-les-Pins war haumlngen geblieben obwohl Sar-stedt ihn kaum auszusprechen verstand ndash es klang irgendwie wie raquoJanleponlaquo hatte aber etwas von Glamour Verruchtheit und Luxus3 Diese vage Verheiszligung war der eine Grund fuumlr meinen Aufenthalt in Juan-les-Pins der andere und eher handfeste Christian Plumails Auberge de lrsquoEsterel ein kleines Restaurant mit einem Michelin-Stern und guumlnstiger Uumlbernachtungsmoumlglichkeit Die Restaurantfuumlhrer lob-ten das unschlagbare Preis-Leistungs-Verhaumlltnis bei gleichzeitig un-gewoumlhnlich kreativer Kochleistung So war es auch 150 Franc ndash auf heutige Verhaumlltnisse umgerechnet 25 Euro ndash fuumlr vier Gaumlnge mit einem umwerfenden Dessert schwerster Schokokompositionen

Am Tag nach meiner Ankunft machte ich mich auf den kleinen Ort zu erkunden der seinen einzigartigen Aufstieg zum Vergnuuml-gungszentrum der Cocircte drsquoAzur im 20 Jahrhundert ndash lange vor Saint-Tropez ndash einem makellosen Sandstrand verdankte uumlber den Monaco oder Nizza nicht verfuumlgen Unbestrittener Mittelpunkt von Juan-les-Pins ist der Carrefour de la Joie eine Straszligenkreuzung an der sich mit dem raquoLe Crystallaquo und dem raquoPam Pamlaquo zwei Bars der 1920er und 1930er Jahre bis heute gehalten haben Davor von Westen aus zum Strandboulevard verlaufend eine Batterie von weniger exklusiven Snackbars und Boutiquen mit Namen wie raquoHystericalaquo raquoWeekend agrave la merlaquo oder raquoInterdit de me gronderlaquo Gegenuumlber die alte Presse-buchhandlung und das architektonisch schwer verungluumlckte post-moderne Hotel Garden Beach damals noch mit dem Spielcasino einst angeblich das eleganteste an der gesamten Kuumlste Daneben das Pinienwaumlldchen das dem Ort den seltsamen Namen gab und daruumlber thronend ein riesiges weiszliges offenbar leerstehendes Ge-baumlude in einem undefinierbaren Architekturstil einer Mischung aus Stahl beton-Gigantismus und neoprovenzalischer Ornamentik Kein Hinweis kein Name an diesem Bauwerk das aussah wie ein im Wald gestrandeter Ozeandampfer

Ich umrundete den raumltselhaften Bau mehrfach und wandte mich schlieszliglich an ortskundige Passanten Es handele sich so erfuhr ich um das ehemalige Luxushotel Le Provenccedilal das nach seiner Einwei-

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hung 1927 als die modernste und aufregendste Herberge der Cocircte drsquoAzur galt 280 Zimmer in denen Groumlszligen wie Winston Churchill Charlie Chaplin Lilian Harvey und Jack Warner logierten Mit rund 350 Angestellten war das Haus der mit Abstand groumlszligte Arbeitgeber in Juan-les-Pins Unvergessliche Galas schrille Misswahlen und Mu-sikwettbewerbe fanden hier statt In den 1960er Jahren beherbergte das raquoProvenccedilallaquo dann Jazzgroumlszligen wie Dizzy Gillespie Sidney Bechet und Miles Davis nachdem 1960 in Juan-les-Pins das erste europauml-ische Jazzfestival ins Leben gerufen worden war ndash Reminiszenz an das Jazz Age der 1920er Jahre als Pablo Picasso Cole Porter F Scott Fitzgerald Ernest Hemingway Sara und Gerald Murphy und Dut-zende andere Kuumlnstler und Intellektuelle den Ort und das benach-barte Cap drsquoAntibes zu einer Art Montparnasse-sur-Mer gemacht hatten 1977 sei das raquoProvenccedilallaquo dann von seinem neuen Besitzer dem reichen Pariser Juwelier Alexandre Reza von einem Tag auf den anderen geschlossen worden Ein Skandal Die Hinrichtung von Juan-les-Pins Eine Schande

Bei meinem ersten Besuch war das raquoProvenccedilallaquo von dessen Ro-tunde aus man bei klarem Wetter die vorgelagerten Lerinischen In-seln Sainte-Marguerite und Saint-Honorat und sogar Korsika sehen kann seit dreizehn Jahren geschlossen Das war schon deshalb reich-lich merkwuumlrdig weil das Hotel an der uumlbergangslosen Grenze zwi-schen Juan-les-Pins und dem von zahlreichen Milliardaumlren Oligar-chen Waffenhaumlndlern und Edelganoven bewohnten Cap drsquoAntibes an einem der teuersten Kuumlstenabschnitte der Welt liegt Es ging bei dieser Investmentaffaumlre offenbar nicht nur um das Hotel selbst son-dern um das immense Areal drumherum zwei vorgelagerte Villen direkt am Meer auch verfallen das alte Chacircteau Saint-Georges fuumlr besondere Gaumlste Gesindehaumluser eine Art-deacuteco-Garage mit Appar-tements daruumlber ndash ein ganzes Stadtviertel an der Grenze zum Cap drsquoAntibes

Entwickelt hatte dieses Viertel Frank J Gould (1877ndash1956) US-Multimillionaumlr und juumlngster Sohn des beruumlchtigten ultravermoumlgen-den raquoRaubritterslaquo Jason Gould des seinerzeit meistgehassten Unter-nehmers der USA Vater Gould hatte ein Vermoumlgen mit dem Bau von Eisenbahnen und Telegrafie-Einrichtungen Presse-Organen und

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Wall-Street-Manipulationen gemacht Sein Sohn Frank Jay ein hoch-gewachsener hagerer Mann mit markanter Nase der gern und oft in den Gazetten karikiert wurde baute das bis 1918 vor sich hin daumlm-mernde Juan-les-Pins mit anderen Investoren zum raquoResortlaquo mit Spielcasino Nobelrestaurants Tennisplaumltzen und eben dem zentra-len Hotel aus Schon 1913 verlegte er seinen Wohnsitz von New York nach Frankreich investierte in die Pferdezucht von Maisons-Laffitte bei Paris uumlberdies in Papier- und Schokoladenfabriken besaszlig bald ein Chacircteau in der Normandie eine Villa in Vichy war Eigentuumlmer von Hotels und Restaurants in Houlgate Bagnoles de lrsquoOrne und Eacutevreux und versuchte aus Granville am Aumlrmelkanal ndash vergeblich ndash das raquoMonaco des Nordenslaquo zu machen Die Cocircte drsquoAzur entdeckte Frank J Gould 1923 auf der Hochzeitsreise mit seiner dritten Ehefrau Florence geborene La Caze einer fantastisch gutaussehenden feier-wuumltigen und in jeder Hinsicht freigiebigen gelernten Opernsaumlngerin Salonniegravere und Literaturmaumlzenin

Inzwischen steht das raquoProvenccedilallaquo seit 44 Jahren leer Die Ruine und der sie umgebende Ort sind zu einer Attraktion des Dark Tou-rism geworden dessen Anhaumlnger den raquoghosts of placeslaquo so der So-ziologe Michael Mayerfeld Bell nachspuumlren ndash dem subtilen Einfluss der anwesend Abwesenden Dass die Cocircte drsquoAzur eine lebensphiloso-phische Projektion ist ndash im Sinne einer uumlber das urspruumlnglich Land-schaftliche hinausweisenden kulturell-soziologischen Persona ndash hat schon der deutsche Publizist Alexander Moszkowski in seiner Auto-biografie Das Panorama meines Lebens die 1925 in Berlin erschien gut beschrieben

Der landschaftliche Reiz ist hier nicht das Wesentliche Der ver-traumlgt bis zu gewissem Grade eine Analyse er laumlszligt sich auf Bekann-tes zuruumlckfuumlhren mit anderem Landschaftlichen vergleichen und ein Globetrotter duumlrfte mir leicht beweisen daszlig der Ri-vierareiz nach malerischen und pflanzlichen Momenten be urteilt keine besondere Vorrangstellung in der Welt zu beanspruchen hat Aber die sichtbare Landschaft ist hier nicht die Grundursache sondern nur eine begleitende Bedingung des Effektes deren wahre Ursaumlchlichkeit gaumlnzlich unerforschlich bleibt Das Kantische

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raquoDing an sichlaquo findet sein Gegenstuumlck in einem raquoZauber an sichlaquo der als das Letzte und Wesentliche sich hinter den Erscheinungen verbirgt und sich nur erahnen laumlszligt wenn man von diesen alles sinnlich Erfaszligbare fortdenkt

Bei allen erkenntnistheoretischen Reflexionen uumlber den raquoZauber an sichlaquo verdankt sich die Entwicklung von Juan-les-Pins doch der Kombination aus einem relativ unberuumlhrten tourismusoumlkonomisch ausbaufaumlhigen Landstrich zwischen Antibes und Golfe-Juan mit dem Amerikanisierungsschub in den 1920er Jahren angelehnt an die Re-sorts in Florida und Kalifornien mit Flapper Girls Dancings Gamb-ling und fruumlhen Automobilrallyes Juan-les-Pins wurde ein doppeltes Gegenmodell an der Cocircte ndash gegen die existierenden Adelsrefugien wie Nizza und Cannes aber auch gegen den lieblich-friedvollen Midi im Allgemeinen Alles war aufregend und neu und ein Verfallsdatum fuumlr diesen Hotspot schien bis in die 1980er Jahre nicht absehbar 1989 waren die Fenster des raquoProvenccedilallaquo noch intakt wurde das Ganze bewacht von einem Mann mit einem kleinen Sohn und einem Do-bermann Nun gibt es nur noch das halbwegs intakte Stahlbeton-gerippe Das alte Hotelgebaumlude darf nicht abgerissen werden die Fassade steht unter Denkmalschutz

Zehn Jahre nach meinem ersten Besuch habe ich die Geschichte dieses Luxushotels in einem Film dokumentiert Der Eigentuumlmer Alexandre Reza beruumlhmt geworden als der angeblich raquoletzte Juwelier von Lady Dilaquo kam damals zu meinem Erstaunen fuumlr ein Interview extra aus Paris angereist und praumlsentierte mit Verve seine umfang-reichen ausgefeilten Umbauplaumlne die aus seiner Sicht von ruumlck-staumlndigen lokalen Buumlrgerinitiativen sabotiert wurden In weiteren Interviews aumluszligerten sich Jean Leonetti der Buumlrgermeister der Ge-meinde Antibes ndash das ist er noch heute ndash und kurzzeitig franzoumlsischer Europaminister unter Nicolas Sarkozy sowie einige Besitzer und Direktoren umliegender Luxushotels wie dem raquoBelles Riveslaquo dem raquoJuanalaquo und dem Grand Hocirctel du Cap Letzteres im Luxusportfolio der deutschen Oetker-Gruppe4 Dort steigen waumlhrend der Filmfest-spiele von Cannes Stars wie Robert De Niro Lars von Trier oder Sha-ron Stone ab Ferner kamen ehemalige Hotelangestellte und raquoMamolaquo

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der quirlige Pro minentenrestaurateur von Antibes der alle und jeden kennt sowie Lokalhistoriker und andere Spezialisten zu Wort

2007 folgte ein weiterer Film uumlber das Cap drsquoAntibes und seine vermoumlgenden Bewohner Boris Beresowski der Mann der Wladimir Putin ins Amt gebracht hatte und spaumlter sein erbittertster Gegner wurde konnte nur in London interviewt werden und nicht in seinem Chacircteau de la Garoupe am Cap drsquoAntibes da er von Interpol verfolgt wurde Er war einer der Finanziers der Orangen Revolution in der Ukraine und damals noch quicklebendig 2016 wurde er in seinem britischen Exil erhaumlngt aufgefunden ndash Selbstmord oder eine perfide Aktion von Putins Geheimdiensten das konnte bis heute nicht aufge-klaumlrt werden

Inzwischen war ich beruflich oder aus rein privatem Interesse wahrscheinlich mehr als hundertmal in Juan-les-Pins Cannes er-reicht man von dort in neun Minuten mit dem Zug nach Nizza dauert es eine halbe Stunde Man kann sich an einem der privat be-wirtschafteten Straumlnde des kleinen Ortes ndash etwa im raquoLes Pirateslaquo mit seinen tuumlrkisen Sonnenschirmen ndash in aller Ruhe mit den Geistern der intellektuellen und kuumlnstlerischen Prominenz beschaumlftigen die sich hier einst erholte ndash neben Hemingway Fitzgerald und Picasso auch Marlene Dietrich Bert Brecht Klaus Mann Walter Benjamin Joseph Roth Stefan Zweig Lee Miller Walker Evans Man Ray ndash oder auch mit den vielleicht noch spannenderen geisteshistorischen Konstellationen heute unbekannterer Zeitgenossen ndash Morphinisten Transvestiten Suffragetten

Die kulturelle und finanzielle Kolonisierung der Franzoumlsischen Riviera kann anhand der Geschichte von Juan-les-Pins sehr praumlzise beschrieben werden zumal der Ort wie kein anderer fuumlr den schnel-len Wechsel von der adligen Winterkultur mit vornehmer Blaumlsse und den Promenaden mit Sonnenschirm am Strand zur Coco-Chanel-Braumlune zur Bikinischau zur Koumlrperexzentrik steht ndash und zu Sexis-mus und Aumluszligerlichkeiten aller Art Sieht man von der unmittelbaren Gruumlndungsphase ab hat es nie irgendeine Art von Architektur-planung fuumlr Juan-les-Pins gegeben und so ist der Ort stets eine Bau-stelle fuumlr die Geschichte der Franzoumlsischen Riviera geblieben die raquozu-gleich eine Gegend und ein soziologisches Phaumlnomenlaquo ist wie Agnegraves

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Varda es im Begleitbuch ihres mittellangen Filmessays Du cocircteacute de la cocircte formulierte den das Office National du Tourisme 1958 finanzierte

Das Schicksal des raquoProvenccedilallaquo die Geschichte von Juan-les-Pins und die des Cap drsquoAntibes stellen so etwas wie spezielle Sonden fuumlr die Cocircte drsquoAzur dar mit Einblicken die uumlber die konventionellen Reise fuumlhrer mit ihrer traditionellen Tour von Marseille nach Men-ton hinausgehen Juan-les-Pins wurde nach dem Ersten Weltkrieg das Emblem fuumlr die kulturelle kuumlnstlerische und architektonische Mo-dernitaumlt an der Cocircte die nach 1945 eine Zeitlang nicht mehr en vogue war weil die neuen Block- und Riegelbauten entlang der Kuumlste eher eine nostalgische Wendung zur Belle Eacutepoque bewirkten ndash von Kunst-markt und Diskokultur einmal abgesehen Erst 1997 veranstaltete das Departement Provence-Alpes-Cocircte drsquoAzur jene zentrale und uumlber-greifende Ausstellung La Cocircte drsquoAzur et la Moderniteacute in der Malerei Design Film Fotografie Gartenbaukunst und Tanz Beachtung fan-den Signifikante Bauwerke wie Robert Mallet-Stevensrsquo Villa Noailles in Hyegraveres das raquoGloria Mansonlaquo in Nizza oder Eileen Grays Wohn-haus E1027 in Roquebrune-Cap-Martin wurden restauriert und in den letzten Jahren entstand sogar eine ndash privat organisierte ndash Besich-tigungstour zu den Art-deacuteco-Bauten in Juan-les-Pins und am Cap5 Die moderne Cocircte drsquoAzur bildet einen scharfen Gegensatz zu den bekannten Provence-Klischees mit den Lavendelfeldern Bastides Toumlpferarbeiten und Bauern mit gelben Gitanes im Mundwinkel6 auch wenn die Uumlbergaumlnge flieszligend erscheinen An der Cocircte domi-niert das Flair des Halbkriminellen Demi-Mondaumlnen ostentativ Luxurierenden raquoDie franzoumlsische Riviera ist Matisse und Picasso nicht Ceacutezanne und van Goghlaquo so hat es bereits 2009 Julian Hale in seiner Kulturgeschichte der Cocircte formuliert (erschienen in der Oxford-Reihe Landscapes of the Imagination) raquoes gibt Jachten und Speedboote keine Barken und Jollen (hellip) Es gibt Filmstars und Rockmusiker keine Stierkaumlmpfer und tote Paumlpstelaquo

1931 als Juan-les-Pins von der damals fuumlhrenden franzoumlsischen Glamourzeitschrift LrsquoIllustration zur Kapitale der neuen Unisex- Pyjama-Mode ausgerufen und hier gerade das Wasserskifahren in Europa populaumlr wurde veroumlffentlichte der Muumlnchener Piper Verlag Das Buch von der Riviera mit betont legeren Texten von Erika und

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Klaus Mann Das Riviera-Buch erschien in der Reihe Was nicht im Bae-deker steht war also eine Art Vorlaumlufer der raquoalternativen Reisefuumlhrerlaquo Die literarischen Geschwister nahmen das Projekt nicht sonderlich ernst entledigten sich ihrer Aufgabe aber mit Eleganz und im laumlssigen Kumpelstil des Weimarer Feuilletons In dem Buch werden die Grand Tour des 19 Jahrhunderts von Marseille bis zum Golf von La Spezia beschrieben eine Reihe angesagter Hotels und Tanzbars aufgefuumlhrt und die bis heute aktuelle Frage aller Fragen gestellt raquoWoher kommt der groszlige Ruhm dieser blauen Kuumlste Warum blieb die Cocircte drsquoAzur uumlber Jahrzehnte der Vergnuumlgungs- und Erholungsstrand des Konti-nents und der Weltlaquo Inzwischen kommt man schneller nach Bora-Bora Patagonien oder auf irgendeine exotische karibische Insel doch die Riviera hat ihren Statuswert als Reiseziel eher noch gemehrt

Bei aller Begeisterung uumlber das rot schimmernde Esterel-Gebirge die drei grandiosen Corniches zwischen Nizza und Menton putzige Kuumlnstlerdoumlrfer wie Mougins und Saint-Paul-de-Vence oder karibisch anmutende Inselparadiese wie Porquerolles und Port-Cros sollte nicht vergessen werden dass die Cocircte seit Jahrzehnten politisch rechts steht sogar weit rechts auszligen Es gibt einen engen Zusammenhang von lo-kalen Potentaten Mafia-Organisationen aller Spielarten Spekulanten und gewoumlhnlichen Schwerkriminellen Als Albert Spaggiari ein be-kennender Fan der deutschen SS nach dem raquoBankraub des Jahrhun-dertslaquo (1976) auf raumltselhafte Weise aus dem Justizpalast in Nizza ent-kam war sein Anwalt Jacques Peyrat der aus dem Milieu des Front National stammt und spaumlter uumlber Jahre Buumlrgermeister von Nizza war erkennbar nicht unfroh uumlber die spektakulaumlre Flucht seines Klienten nach Suumldamerika Dorthin war auch Peyrats Amtsvorgaumlnger Jacques Meacutedecin 1990 nach anhaltenden Korruptionsvorwuumlrfen Hals uumlber Kopf gefluumlchtet In Nizza ist raquoJacquotlaquo Meacutedecin heute noch sehr be-liebt Sein Buch uumlber die provenzalische Kuumlche mit der Anleitung wie die echte Salade niccediloise zubereitet wird gilt nach wie vor als Standard-werk Daruumlber hinaus war der unscheinbare Kaumlsehaumlndler neben dem Bahnhof von Juan in einen spektakulaumlren Mordfall ver wickelt bei dem 1999 einige Mafiosi enthauptet und zerteilt in Muumlllsaumlcken im Hinterland aufgefunden wurden Selbst im kleinen Juan-les-Pins gab es eine Zelle der brutalen italienischen rsquoNdrangheta7

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Uumlberdies ist die Franzoumlsische Riviera ein Tummelplatz fuumlr Dik-tatoren und Autokraten aller Art ndash von Ben Ali (Tunesien) uumlber Omar Bongo (Gabun) bis hin zu raquoBaby Doclaquo Duvalier (Haiti) der allerdings vor seiner kurzzeitigen Ruumlckkehr auf seine Heimatinsel in einem billigen Hotel in Mougins logieren musste Unrechtmaumlszligig er-worbenes Vermoumlgen wird hier in Villen und Jachten investiert denn uumlblicherweise recherchieren franzoumlsische Untersuchungsrichter zu-ruumlckhaltend wenn es um raquobiens mal acquislaquo ndash schlecht erworbene Guumlter ndash geht Der blutig regierenden saudischen Koumlnigsfamilie die missliebige Journalisten schon einmal foltern oder gar zerstuumlckeln laumlsst gehoumlren ausgedehnte Laumlndereien in Golfe-Juan rund um das Chacircteau de lrsquoHorizon das 1932 von Barry Dierks fuumlr die US-Schau-spielerin Maxine Elliott erbaut wurde ebenso das neomaurische Chacircteau Robert heute eine gigantische Ruine und einst von Emil Jel-linek bewohnt dem Namensgeber der Daimler-Marke raquoMercedeslaquo

Der kriminelle Hintergrund der Cocircte muss den gewoumlhnlichen Touristen nicht kuumlmmern und Hollywood-Stars werden waumlhrend der Filmfestspiele von Cannes gewoumlhnlich verschont Dennoch loumlsen die vermehrten Raubuumlberfaumllle auf Ferienappartements bei denen die Bewohner schon einmal mit Betaumlubungsgas auszliger Gefecht gesetzt werden Beunruhigung aus Nachdem die Tochter seiner Geliebten Yvonne Cloetta einen Mann aus dem raquoMilieulaquo geheiratet hatte der sie offenbar drangsalierte hat Graham Greene der Amateurspion und feinsinnige Autor von Bestsellern wie Unser Mann in Havanna oder Der stille Amerikaner in dem 1982 verfassten Pamphlet Jrsquoaccuse gewarnt raquoVermeiden Sie die Gegend um Nizza ndash sie ist das Revier einiger der kriminellsten Organisationen im Suumlden Frankreichslaquo Greene verursachte damit zunaumlchst einigen Wirbel bis hinauf zum franzoumlsischen Justizminister schlieszliglich war der damals bereits 77-Jaumlhrige nicht irgendwer aber Nizzas Buumlrgermeister Meacutedecin kehrte den Spieszlig einfach um und beschimpfte ndash mit dem Nice Matin im Ruumlcken ndash den ewigen Kandidaten fuumlr den Literaturnobelpreis als raquoalten Spinnerlaquo und weltfremden Auslaumlnder der sich nie in die spezifische Atmosphaumlre der Cocircte habe einfinden koumlnnen

Die Nobelpreise erhielten was die Cocircte drsquoAzur anlangt dann zwei eher zuruumlckhaltende Charaktere zunaumlchst im Jahr 2008 Jean-Marie

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Gustave Le Cleacutezio aus Nizza bekannt als J M G Le Cleacutezio und 2014 Patrick Modiano dessen Romane Sonntage im August und Hochzeits-reise unter anderem durch ausgezeichnete Recherchen glaumlnzen und einen bemerkenswerten Einblick in das Vichy-Regime an der Cocircte und die deutsch-italienische Besatzungszeit gewaumlhren Modianos Hochzeitsreise spielt in einem kardinalen Kapitel im raquoProvenccedilallaquo das auch in zahlreichen weiteren Romanen und Spionagestorys von Georges Simenon bis zu Jean-Paul Sartre oder Irwin Shaw vorkommt

Die klassische Riviera gibt es kulturhistorisch seit dem 18 Jahr-hundert kolonisiert zunaumlchst von reichen Englaumlndern und russischen Adligen die Cocircte drsquoAzur gibt es erst seit 1887 jedenfalls begrifflich8 Das wissen wir ziemlich genau denn Steacutephen Lieacutegeard ein Regional-politiker mit literarischen Neigungen hat in jenem Jahr ein blumiges 630-Seiten-Werk mit dem Titel La Cocircte drsquoAzur publiziert und damit eine bis heute guumlltige landschaftliche Weltmarke erfunden Originell war der Titel nicht denn das Azurblau unter den Blautoumlnen findet man schon in Theacuteodore de Banvilles Buch La mer de Nice (1865)

Lieacutegeard schwer begeistert von der Sommerfrische der Adligen und dem sanften Klima der Provence und ihrer langen griechisch-roumlmischen Kolonisationsgeschichte vermischte fuumlr seine Cocircte- Geschichte munter Zeithistorie Landschaftsekstase und Legenden wobei er es mit den Fakten nicht so genau nahm aber eine fuumlr die Belle Eacutepoque attraktive Lektuumlre schuf Allein dreiszligig Seiten schrieb er uumlber die Lerinischen Inseln vor Cannes uumlber die moumlnchische Kul-tur auf der Insel Saint-Honorat und das Staatsgefaumlngnis auf der Insel Sainte-Marguerite wo der raquoMann mit der eisernen Maskelaquo gefangen gehalten wurde und aus dem 1874 der Marschall Bazaine der raquoVer-lierer von Metzlaquo im Deutsch-Franzoumlsischen Krieg unter suspekten Umstaumlnden entkam Neben den ausschweifenden Beschreibungen von Villenarchitektur und Botanik fehlte das Politische in Lieacutegeards Werk durchaus nicht Napoleon III hatte zwar bedauerlicherweise den Krieg von 187071 gegen die Bismarck-Koalition verloren aber 1860 erreicht dass Nizza als Hauptort des Deacutepartement Alpes-Ma-ritimes franzoumlsisch wurde ndash bis dahin war es Teil des Koumlnigreichs von Savoyen und Sardinien Im Gegenzug hatte der franzoumlsische Kaiser die Entstehung des neuen italienischen Nationalstaats unterstuumltzt

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Wer wuumlrde von der Schoumlnheit der neu entdeckten Kuumlstenregion der Cocircte drsquoAzur oumlkonomisch profitieren nachdem sie durch den Bau schneller Eisenbahnverbindungen noch an Attraktivitaumlt gewonnen hatte Die Hotellerie und das Gastgewerbe machten nun jedenfalls auch jenseits des Hochadels Angebote an das vermoumlgende Buumlrgertum und expandierten in dieser von der raquoindustriellen Revolutionlaquo noch unberuumlhrten Gegend gewaltig Und auch Lieacutegeard hatte begriffen worum es ging Uumlber Juan-les-Pins das kurz vor Erscheinen seines Buches uumlberhaupt erst als Name auf der Landkarte erschienen war schrieb er in der zweiten Auflage seines Werkes

Eine Viertelstunde von dem kleinen Hafen entfernt wo die Tar-tanen die Toumlpferwaren aus Vallauris an Bord nehmen zweigt eine neue Straszlige ab nach Juan-les-Pins Auf feinem Sand verlaumluft sie entlang des schaumbekroumlnten Saums mit dem das Meer sie lieb-kost waumlhrend das Zwitschern der Voumlgel und der Schirm der aus-ladenden Pinien ihr Schatten und Froumlhlichkeit spenden (hellip) Eine Aktiengesellschaft wurde gegruumlndet die das Land aufkauft und parzelliert Schon sind Straszligen und Boulevards trassiert ein Bahn-hof hemmt den Reisenden in seiner Fahrt ein Hotel umwirbt ihn Doch wird sich der Reisende auch verfuumlhren lassen

Mit dem Hotel meinte Lieacutegeard das erste Grandhotel in Juan-les-Pins wo es zuvor nur die Kuumlnstlerpension Chacircteau de la Pinegravede mit ihrem markanten oktogonalen Turm gegeben hatte Diese aumllteste Villa auf dem Terrain des Staumldtchens steht wundersamerweise noch heute ndash neben einem pyramidal anmutenden Komplex aus den 1970er Jahren ndash ist aber inzwischen in teure Einzelwohnungen auf-geteilt worden Claude Monet wohnte hier 1888 als er seine beruumlhm-ten impressionistischen Bilder vom Cap drsquoAntibes und dem men-schenleeren Strand von Juan-les-Pins schuf Empfohlen hatte ihm die Unterkunft sein Kuumlnstlerfreund der Flaubert-Schuumller Guy de Mau-passant damals ein ungeheuer populaumlrer Literat Wie Monet steht Maupassant fuumlr die kuumlnstlerische Drift von der Normandie in die waumlrmeren Gefilde der Cocircte drsquoAzur Jeder Lokalpatriot kennt heute Maupassants prophetische Saumltze

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Von weitem sehen die Panzerschiffe wie Felsen aus wie kleine Inseln wie von abgestorbenen Baumlumen bedeckte Klippen Am Ufer entlang fliegt der Rauch eines Zuges der von Cannes nach Juan-les-Pins faumlhrt das vielleicht spaumlter der huumlbscheste Badeort der ganzen Kuumlste sein wird Drei Tartaren liegen mit ihren ro-mantischen Segeln von denen eines rot und die anderen beiden weiszlig sind im Fahrwasser zwischen Sainte-Marguerite und dem Festland vor Anker Das ist die Stille die suumlszlige und heiszlige Stille eines Fruumlhlingsmorgens im Suumlden und schon kommt es mir so vor als haumltte ich die Leute die reden und umherhetzen seit Wo-chen seit Monaten seit Jahren verlassen ich spuumlre wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt der suumlszlige Rausch der Ruhe die nichts stoumlren wird kein weiszliger Brief kein blaues Tele-gramm nicht die Klingel meiner Tuumlr noch das Bellen meines Hundes

Maupassant war mit seiner Jacht Bel Ami die er 1885 gekauft hatte an der Franzoumlsischen Riviera entlanggesegelt und hatte sich auch eine Zeitlang in Antibes in der Villa Muterse und im Chalet des Alpes an der Route de la Badine niedergelassen Viel schoumlpferische Zeit blieb ihm nicht mehr er starb schon 1894 mit 44 Jahren an den Folgen der Syphilis Und Juan-les-Pins wurde nie raquoder huumlbscheste Badeortlaquo wie er es prophezeit hatte

Huumlbsch und lieblich war es dort vielleicht noch bis 1914 als der Weltkrieg zunaumlchst einmal alle Spekulationsanstrengungen unter-brach Als dann Mitte der 1920er Jahre mit Frank Jay Gould und Konsorten der wirkliche Boom einsetzte und die neuen Straszligenzuumlge agrave la Miami Beach nur noch aus Hotels und Pensionen bestanden ndash innerhalb von zwei drei Jahren waren es an die hundert ndash spottete Jean Cocteau aus Juan-les-Pins sei genau die Karikatur geworden die es schon immer gewesen sei 1939 ging er dann noch weiter In einem Brief an seine Mutter bezeichnete er es als eine raquoville atrocelaquo eine scheuszligliche Stadt Dabei waren damals die meisten alten Villen noch nicht abgerissen die den zeittypischen Appartementkomplexen der 1950er und 1960er Jahre Platz machen mussten weil diese houmlhere Renditen fuumlr die Besitzer versprachen9

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1960 war das absurde architektonische Gesamtkunstwerk Juan-les-Pins mit seinen Art-deacuteco-Bauten den vereinzelt uumlbrig gebliebe-nen Villen aus der Gruumlnderphase und den vielen skurrilen Beton-kloumltzen allerdings schon so musealisiert dass dieser Wirrwarr neue Bewunderer fand Der Fotograf Brassaiuml erinnerte sich an ein Ge-spraumlch unter den riesigen Pinien von Juan-les-Pins mit Henry Miller der damals ndash wie uumlbrigens auch Georges Simenon ndash Jurymitglied beim Filmfestival von Cannes war

MILLER raquoIch mag diesen Ort Ich verlasse mich stets auf meinen Instinkt meine Gewohnheiten Wenn ich in die Auszligenbezirke einer Stadt komme erschnuumlffele ich ob sie mir gefaumlllt oder nicht ob ich dort gluumlcklich sein werde oder ungluumlcklich Ich habe das Gefuumlhl Juan-les-Pins wird mir guttunlaquoBrassaiuml raquoPicasso hatte das gleiche Gefuumlhl In Paris hat er diese Stadt einmal gemalt ohne sie je zuvor gesehen zu haben Und als er 1920 zum ersten Mal herkam sah er dass Juan-les-Pins genau so war wie er es sich vorgestellt hatte Uumlberwaumlltigt rief er rsaquoKein Zweifel diese Stadt gehoumlrt mirlsaquolaquo

Andrew Loog Oldham in den 1960er Jahren Manager der Rolling Stones erinnerte sich an die Zeit als er am Strand von Juan-les-Pins als Aushilfskellner in raquoButlerrsquos Tea Roomlaquo ndash heute das zentrale Cafeacute de la Plage ndash gearbeitet hatte

Juan war eine riesige Filmkulisse Das Licht war unglaublich Sie hatten da eine Art Licht von dem England bis dahin nicht einmal wusste dass es uumlberhaupt existiert Die Rock-rsquonrsquo-Roll-Clubs waren fantastisch Sie lagen alle unter freiem Himmel versteckt hinter einer langen Hecke Man konnte die Musik von der Straszlige aus houmlren Nach Juan-les-Pins fuhren die franzoumlsischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars im Sommer weil das Publikum dort juumlnger war Die franzouml-sischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars waren groszligartig Im Winter flogen sie zum Shoppen nach Amerika und behaupteten sie gingen dort auf Tour

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

Page 4: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

Inhalt

Diese besondere Kuumlste 7

Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen an der Cocircte drsquoAzur 25

Frank Jay GouldDer reichste Amerikaner in Frankreich 49

Lost Generation in PyjamapolisDer Aufstieg zum Vergnuumlgungszentrum der Cocircte drsquoAzur 79

Refugium und SchattenspieleDie Cocircte drsquoAzur und das raquoProvenccedilallaquo 1939 bis 1945 111

Das zweite Jazz Age von JuanFun and Games nach 1945 157

Die ewige HotelruineBuumlrgerinitiativen und neue Investoren 191

Vorerst letzte Nachrichten aus Juan-les-Pins 205

AnhangDank 211Anmerkungen 212Literatur 224Bildnachweis 239

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D i e s e b e s o n d e re Kuuml st e

Amerikaner Englaumlnder Franzosen Deutsche Schweden Italiener Liebeleien Enttaumluschungen Streit Versoumlhnung Mord Die Cocircte drsquoAzur erregte ihn wie ihn kein anderer Ort der Welt den er je kennengelernt hatte erregen konnte Und dabei war diese Biegung der Mittelmeerkuumlste so winzig an der die herr-lichen Namen wie die Perlen einer Kette aufgereiht waren ndash Toulon Freacutejus

Saint-Raphaeumll Cannes Nizza Menton und dann San Remo

Patricia Highsmith Der talentierte Mr Ripley

In Juan-les-Pins war ich zum ersten Mal im Februar 1989 Es war angenehm leer an den Straumlnden der Franzoumlsischen Riviera Graham Greene dessen langjaumlhrige Geliebte Yvonne Cloetta in einer Villa oberhalb des Zentrums von Juan-les-Pins wohnte ndash er selbst bevor-zugte von 1966 bis 1990 als Hauptwohnsitz ein unscheinbares Neu-bauappartement in Antibes ndash hatte uumlber diese von allen Kundigen bevorzugte Nebensaison in einer Kurzgeschichte geschrieben

Das war die Jahreszeit die ich am meisten liebe wenn Juan-les-Pins so schaumlbig wird wie ein Vergnuumlgungspark in dem alle Buden mit Brettern verschlagen sind wenn am Pam Pam und am Ma-xim Karten mit der Aufschrift raquoFermeture annuellelaquo angebracht sind und wenn der raquoConcours International Amateur de Strip-teaselaquo im Vieux Colombier wieder fuumlr eine Saison voruumlber ist

Das sanfte Mittelmeer war unvermutet boumlse die einzige Lokalzei-tung der Nice Matin ndash damals weit mehr als heute ein Revolverblatt mit wildem Layout ndash berichtete uumlber einen Rentner den eine Flut-welle von der Seepromenade in Menton in den Vorgarten eines Res-taurants gespuumllt hatte wo er nur noch tot geborgen werden konnte Es waren auch die letzten Monate der alten Weltordnung aber das konnte damals keiner wissen Kurze Zeit spaumlter fiel die Berliner

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Mauer der raquoOstblocklaquo und der Warschauer Pakt brachen auseinan-der Solche welthistorischen Umwaumllzungen kuumlmmern die Cocircte drsquoAzur nicht denn hier wechselt nur die Nationalitaumlt der vermoumlgenden In-vestoren Aktuell setzt man auf reiche Chinesen und Araber in den 1990er Jahren dominierten unangefochten die russischen neureichen Oligarchen raquonovarichslaquo wie Roman Abramowitsch mit seinem pom-poumls renovierten Chacircteau de la Croeuml am Cap drsquoAntibes Zuvor wohn-ten da Bauherr Sir Pomeroy Burton Generaldirektor der Associated Newspapers dann der Herzog und die Herzogin von Windsor sowie die griechischen Reeder-Tycoons Aristoteles Onassis und Stavros Niarchos

Ich war ndash biografisch eher verspaumltet ndash zum ersten Mal an der Cocircte drsquoAzur Sie erschien mir durch ihre filmischen Spiegelungen aber ziemlich vertraut Uumlber den Daumlchern von Nizza Swimmingpool Und Gott schuf die Frau Der Gendarm von Saint-Tropez Lautlos wie die Nacht Sag niemals nie Nur die Sonne war Zeuge Bonjour Tristesse Zwei hinreiszligend verdorbene Schurken und Hunderte von B-Movies mit deut-schen Titeln wie Nimmrsquos leicht nimm Dynamit oder Der Panther wird gehetzt All die Filmpaare ndash Alain Delon und Romy Schneider Grace Kelly und Cary Grant Lino Ventura und Franccediloise Fabian Sean Connery und Kim Basinger ndash die sich wiederum bruchlos mit der inzwischen untergegangenen Playboy-Szenerie mischten ndash Aly Khan und Rita Hayworth Gunter Sachs und Brigitte Bardot Danielle Darrieux und Porfirio Rubirosa ( jener Playboy- Diplomat aus der Dominikanischen Republik mit dem klingendsten Namen der sich fuumlr diese fast ausgestorbene Spezies nur denken laumlsst) sowie Aristo-teles Onassis auch kein schlechter Name mal mit Maria Callas mal mit Jackie Kennedy In keiner anderen Landschaft der Welt auch nicht in Kalifornien oder in der Normandie uumlberlagern und durchdringen Literatur bildende Kunst und Film alle unmittelbaren Eindruumlcke und Assoziationen derart Es handelt sich hier um eine unmittelbar fiktionalisierte Wirklichkeit

Zunaumlchst verbrachte ich einige Tage in der franzoumlsisch-italieni-schen Grenzstadt Menton mit dem kleinen Friedhof der fruumlh verstor-benen tuberkulosekranken Adligen oben am alten Schloss und den gigantischen Hotelpalaumlsten der Belle Eacutepoque mit so luxurierenden

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Namen wie raquoWinter Palacelaquo raquoImperiallaquo raquoHocirctel drsquoOrientlaquo ndash allesamt laumlngst in Einzelappartements umgewandelt Dann weiter nach Ville-franche-sur-Mer zum Hotel Welcome wo Jean Cocteau seinem Opi-umkonsum froumlnte und die Rolling Stones als britische Steuerfluumlcht-linge in der Villa Nelcocircte am gegenuumlberliegenden Cap noch haumlrtere Drogen konsumiert und ihr Album Exile on Main Street komponiert hatten Weiter nach Monaco das mit seiner Mischung aus dem uumlber-mediatisierten Fuumlrstenhaus und den Hochhausbatterien eher uninter-essant schien vorbei an Nizza der Kapitale des Deacutepartement Alpes Maritimes die ich erst spaumlter en deacutetail kennenlernen sollte schnell vorbei auch an der Altstadt von Antibes getreu der alten Alexandre Dumas zugeschriebenen Anekdote raquoWie fanden Sie Antibeslaquo ndash raquoIch habe es uumlberhaupt nicht gefundenlaquo Und dann Juan-les-Pins

Juan-les-Pins knapp 5000 staumlndige Einwohner verwaltungstech-nisch von jeher ein Teil von Antibes seit seiner Gruumlndung 1882 aber ein seltsamer Ort eine Art Resort fuumlr Koumlrperkult Fun und Games mit ausgepraumlgtem Eigenleben erwaumlhnt in einem Popsong der zu Be-ginn der 1970er Jahre weltweit von den Radiosendern immer wieder gespielt wurde Peter Sarstedts raquoWhere Do You Go To My Lovelylaquo Es geht darin um eine gewisse Marie-Claire die aus der leeren Welt der Schoumlnen und Reichen befreit werden soll In der Juan-les-Pins betreffenden Stelle heiszligt es

When you go on your summer vacation you go to Juan-les-PinsWith your carefully designed topless swimsuitYou get an even sun tan on your back and on your legs1

Beim Houmlren des mit eingaumlngigen Akkordeonklaumlngen unterlegten Songs hatte ich mich des Oumlfteren gefragt wie ein raquocarefully designed topless swimsuitlaquo aussehen mochte ndash gemeint war wohl der von Rudi Gernreich erfundene Monokini ndash und auch Sarstedts Refrain

But where do you go to my lovelyWhen yoursquore alone in your bedTell me the thoughts that surround youI want to look inside your head yes I do2

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erschien mir etwas raumltselhaft Klang das nicht irgendwie nach einem unangenehmen und gefaumlhrlichen Stalker

Aber der Name Juan-les-Pins war haumlngen geblieben obwohl Sar-stedt ihn kaum auszusprechen verstand ndash es klang irgendwie wie raquoJanleponlaquo hatte aber etwas von Glamour Verruchtheit und Luxus3 Diese vage Verheiszligung war der eine Grund fuumlr meinen Aufenthalt in Juan-les-Pins der andere und eher handfeste Christian Plumails Auberge de lrsquoEsterel ein kleines Restaurant mit einem Michelin-Stern und guumlnstiger Uumlbernachtungsmoumlglichkeit Die Restaurantfuumlhrer lob-ten das unschlagbare Preis-Leistungs-Verhaumlltnis bei gleichzeitig un-gewoumlhnlich kreativer Kochleistung So war es auch 150 Franc ndash auf heutige Verhaumlltnisse umgerechnet 25 Euro ndash fuumlr vier Gaumlnge mit einem umwerfenden Dessert schwerster Schokokompositionen

Am Tag nach meiner Ankunft machte ich mich auf den kleinen Ort zu erkunden der seinen einzigartigen Aufstieg zum Vergnuuml-gungszentrum der Cocircte drsquoAzur im 20 Jahrhundert ndash lange vor Saint-Tropez ndash einem makellosen Sandstrand verdankte uumlber den Monaco oder Nizza nicht verfuumlgen Unbestrittener Mittelpunkt von Juan-les-Pins ist der Carrefour de la Joie eine Straszligenkreuzung an der sich mit dem raquoLe Crystallaquo und dem raquoPam Pamlaquo zwei Bars der 1920er und 1930er Jahre bis heute gehalten haben Davor von Westen aus zum Strandboulevard verlaufend eine Batterie von weniger exklusiven Snackbars und Boutiquen mit Namen wie raquoHystericalaquo raquoWeekend agrave la merlaquo oder raquoInterdit de me gronderlaquo Gegenuumlber die alte Presse-buchhandlung und das architektonisch schwer verungluumlckte post-moderne Hotel Garden Beach damals noch mit dem Spielcasino einst angeblich das eleganteste an der gesamten Kuumlste Daneben das Pinienwaumlldchen das dem Ort den seltsamen Namen gab und daruumlber thronend ein riesiges weiszliges offenbar leerstehendes Ge-baumlude in einem undefinierbaren Architekturstil einer Mischung aus Stahl beton-Gigantismus und neoprovenzalischer Ornamentik Kein Hinweis kein Name an diesem Bauwerk das aussah wie ein im Wald gestrandeter Ozeandampfer

Ich umrundete den raumltselhaften Bau mehrfach und wandte mich schlieszliglich an ortskundige Passanten Es handele sich so erfuhr ich um das ehemalige Luxushotel Le Provenccedilal das nach seiner Einwei-

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hung 1927 als die modernste und aufregendste Herberge der Cocircte drsquoAzur galt 280 Zimmer in denen Groumlszligen wie Winston Churchill Charlie Chaplin Lilian Harvey und Jack Warner logierten Mit rund 350 Angestellten war das Haus der mit Abstand groumlszligte Arbeitgeber in Juan-les-Pins Unvergessliche Galas schrille Misswahlen und Mu-sikwettbewerbe fanden hier statt In den 1960er Jahren beherbergte das raquoProvenccedilallaquo dann Jazzgroumlszligen wie Dizzy Gillespie Sidney Bechet und Miles Davis nachdem 1960 in Juan-les-Pins das erste europauml-ische Jazzfestival ins Leben gerufen worden war ndash Reminiszenz an das Jazz Age der 1920er Jahre als Pablo Picasso Cole Porter F Scott Fitzgerald Ernest Hemingway Sara und Gerald Murphy und Dut-zende andere Kuumlnstler und Intellektuelle den Ort und das benach-barte Cap drsquoAntibes zu einer Art Montparnasse-sur-Mer gemacht hatten 1977 sei das raquoProvenccedilallaquo dann von seinem neuen Besitzer dem reichen Pariser Juwelier Alexandre Reza von einem Tag auf den anderen geschlossen worden Ein Skandal Die Hinrichtung von Juan-les-Pins Eine Schande

Bei meinem ersten Besuch war das raquoProvenccedilallaquo von dessen Ro-tunde aus man bei klarem Wetter die vorgelagerten Lerinischen In-seln Sainte-Marguerite und Saint-Honorat und sogar Korsika sehen kann seit dreizehn Jahren geschlossen Das war schon deshalb reich-lich merkwuumlrdig weil das Hotel an der uumlbergangslosen Grenze zwi-schen Juan-les-Pins und dem von zahlreichen Milliardaumlren Oligar-chen Waffenhaumlndlern und Edelganoven bewohnten Cap drsquoAntibes an einem der teuersten Kuumlstenabschnitte der Welt liegt Es ging bei dieser Investmentaffaumlre offenbar nicht nur um das Hotel selbst son-dern um das immense Areal drumherum zwei vorgelagerte Villen direkt am Meer auch verfallen das alte Chacircteau Saint-Georges fuumlr besondere Gaumlste Gesindehaumluser eine Art-deacuteco-Garage mit Appar-tements daruumlber ndash ein ganzes Stadtviertel an der Grenze zum Cap drsquoAntibes

Entwickelt hatte dieses Viertel Frank J Gould (1877ndash1956) US-Multimillionaumlr und juumlngster Sohn des beruumlchtigten ultravermoumlgen-den raquoRaubritterslaquo Jason Gould des seinerzeit meistgehassten Unter-nehmers der USA Vater Gould hatte ein Vermoumlgen mit dem Bau von Eisenbahnen und Telegrafie-Einrichtungen Presse-Organen und

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Wall-Street-Manipulationen gemacht Sein Sohn Frank Jay ein hoch-gewachsener hagerer Mann mit markanter Nase der gern und oft in den Gazetten karikiert wurde baute das bis 1918 vor sich hin daumlm-mernde Juan-les-Pins mit anderen Investoren zum raquoResortlaquo mit Spielcasino Nobelrestaurants Tennisplaumltzen und eben dem zentra-len Hotel aus Schon 1913 verlegte er seinen Wohnsitz von New York nach Frankreich investierte in die Pferdezucht von Maisons-Laffitte bei Paris uumlberdies in Papier- und Schokoladenfabriken besaszlig bald ein Chacircteau in der Normandie eine Villa in Vichy war Eigentuumlmer von Hotels und Restaurants in Houlgate Bagnoles de lrsquoOrne und Eacutevreux und versuchte aus Granville am Aumlrmelkanal ndash vergeblich ndash das raquoMonaco des Nordenslaquo zu machen Die Cocircte drsquoAzur entdeckte Frank J Gould 1923 auf der Hochzeitsreise mit seiner dritten Ehefrau Florence geborene La Caze einer fantastisch gutaussehenden feier-wuumltigen und in jeder Hinsicht freigiebigen gelernten Opernsaumlngerin Salonniegravere und Literaturmaumlzenin

Inzwischen steht das raquoProvenccedilallaquo seit 44 Jahren leer Die Ruine und der sie umgebende Ort sind zu einer Attraktion des Dark Tou-rism geworden dessen Anhaumlnger den raquoghosts of placeslaquo so der So-ziologe Michael Mayerfeld Bell nachspuumlren ndash dem subtilen Einfluss der anwesend Abwesenden Dass die Cocircte drsquoAzur eine lebensphiloso-phische Projektion ist ndash im Sinne einer uumlber das urspruumlnglich Land-schaftliche hinausweisenden kulturell-soziologischen Persona ndash hat schon der deutsche Publizist Alexander Moszkowski in seiner Auto-biografie Das Panorama meines Lebens die 1925 in Berlin erschien gut beschrieben

Der landschaftliche Reiz ist hier nicht das Wesentliche Der ver-traumlgt bis zu gewissem Grade eine Analyse er laumlszligt sich auf Bekann-tes zuruumlckfuumlhren mit anderem Landschaftlichen vergleichen und ein Globetrotter duumlrfte mir leicht beweisen daszlig der Ri-vierareiz nach malerischen und pflanzlichen Momenten be urteilt keine besondere Vorrangstellung in der Welt zu beanspruchen hat Aber die sichtbare Landschaft ist hier nicht die Grundursache sondern nur eine begleitende Bedingung des Effektes deren wahre Ursaumlchlichkeit gaumlnzlich unerforschlich bleibt Das Kantische

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raquoDing an sichlaquo findet sein Gegenstuumlck in einem raquoZauber an sichlaquo der als das Letzte und Wesentliche sich hinter den Erscheinungen verbirgt und sich nur erahnen laumlszligt wenn man von diesen alles sinnlich Erfaszligbare fortdenkt

Bei allen erkenntnistheoretischen Reflexionen uumlber den raquoZauber an sichlaquo verdankt sich die Entwicklung von Juan-les-Pins doch der Kombination aus einem relativ unberuumlhrten tourismusoumlkonomisch ausbaufaumlhigen Landstrich zwischen Antibes und Golfe-Juan mit dem Amerikanisierungsschub in den 1920er Jahren angelehnt an die Re-sorts in Florida und Kalifornien mit Flapper Girls Dancings Gamb-ling und fruumlhen Automobilrallyes Juan-les-Pins wurde ein doppeltes Gegenmodell an der Cocircte ndash gegen die existierenden Adelsrefugien wie Nizza und Cannes aber auch gegen den lieblich-friedvollen Midi im Allgemeinen Alles war aufregend und neu und ein Verfallsdatum fuumlr diesen Hotspot schien bis in die 1980er Jahre nicht absehbar 1989 waren die Fenster des raquoProvenccedilallaquo noch intakt wurde das Ganze bewacht von einem Mann mit einem kleinen Sohn und einem Do-bermann Nun gibt es nur noch das halbwegs intakte Stahlbeton-gerippe Das alte Hotelgebaumlude darf nicht abgerissen werden die Fassade steht unter Denkmalschutz

Zehn Jahre nach meinem ersten Besuch habe ich die Geschichte dieses Luxushotels in einem Film dokumentiert Der Eigentuumlmer Alexandre Reza beruumlhmt geworden als der angeblich raquoletzte Juwelier von Lady Dilaquo kam damals zu meinem Erstaunen fuumlr ein Interview extra aus Paris angereist und praumlsentierte mit Verve seine umfang-reichen ausgefeilten Umbauplaumlne die aus seiner Sicht von ruumlck-staumlndigen lokalen Buumlrgerinitiativen sabotiert wurden In weiteren Interviews aumluszligerten sich Jean Leonetti der Buumlrgermeister der Ge-meinde Antibes ndash das ist er noch heute ndash und kurzzeitig franzoumlsischer Europaminister unter Nicolas Sarkozy sowie einige Besitzer und Direktoren umliegender Luxushotels wie dem raquoBelles Riveslaquo dem raquoJuanalaquo und dem Grand Hocirctel du Cap Letzteres im Luxusportfolio der deutschen Oetker-Gruppe4 Dort steigen waumlhrend der Filmfest-spiele von Cannes Stars wie Robert De Niro Lars von Trier oder Sha-ron Stone ab Ferner kamen ehemalige Hotelangestellte und raquoMamolaquo

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der quirlige Pro minentenrestaurateur von Antibes der alle und jeden kennt sowie Lokalhistoriker und andere Spezialisten zu Wort

2007 folgte ein weiterer Film uumlber das Cap drsquoAntibes und seine vermoumlgenden Bewohner Boris Beresowski der Mann der Wladimir Putin ins Amt gebracht hatte und spaumlter sein erbittertster Gegner wurde konnte nur in London interviewt werden und nicht in seinem Chacircteau de la Garoupe am Cap drsquoAntibes da er von Interpol verfolgt wurde Er war einer der Finanziers der Orangen Revolution in der Ukraine und damals noch quicklebendig 2016 wurde er in seinem britischen Exil erhaumlngt aufgefunden ndash Selbstmord oder eine perfide Aktion von Putins Geheimdiensten das konnte bis heute nicht aufge-klaumlrt werden

Inzwischen war ich beruflich oder aus rein privatem Interesse wahrscheinlich mehr als hundertmal in Juan-les-Pins Cannes er-reicht man von dort in neun Minuten mit dem Zug nach Nizza dauert es eine halbe Stunde Man kann sich an einem der privat be-wirtschafteten Straumlnde des kleinen Ortes ndash etwa im raquoLes Pirateslaquo mit seinen tuumlrkisen Sonnenschirmen ndash in aller Ruhe mit den Geistern der intellektuellen und kuumlnstlerischen Prominenz beschaumlftigen die sich hier einst erholte ndash neben Hemingway Fitzgerald und Picasso auch Marlene Dietrich Bert Brecht Klaus Mann Walter Benjamin Joseph Roth Stefan Zweig Lee Miller Walker Evans Man Ray ndash oder auch mit den vielleicht noch spannenderen geisteshistorischen Konstellationen heute unbekannterer Zeitgenossen ndash Morphinisten Transvestiten Suffragetten

Die kulturelle und finanzielle Kolonisierung der Franzoumlsischen Riviera kann anhand der Geschichte von Juan-les-Pins sehr praumlzise beschrieben werden zumal der Ort wie kein anderer fuumlr den schnel-len Wechsel von der adligen Winterkultur mit vornehmer Blaumlsse und den Promenaden mit Sonnenschirm am Strand zur Coco-Chanel-Braumlune zur Bikinischau zur Koumlrperexzentrik steht ndash und zu Sexis-mus und Aumluszligerlichkeiten aller Art Sieht man von der unmittelbaren Gruumlndungsphase ab hat es nie irgendeine Art von Architektur-planung fuumlr Juan-les-Pins gegeben und so ist der Ort stets eine Bau-stelle fuumlr die Geschichte der Franzoumlsischen Riviera geblieben die raquozu-gleich eine Gegend und ein soziologisches Phaumlnomenlaquo ist wie Agnegraves

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Varda es im Begleitbuch ihres mittellangen Filmessays Du cocircteacute de la cocircte formulierte den das Office National du Tourisme 1958 finanzierte

Das Schicksal des raquoProvenccedilallaquo die Geschichte von Juan-les-Pins und die des Cap drsquoAntibes stellen so etwas wie spezielle Sonden fuumlr die Cocircte drsquoAzur dar mit Einblicken die uumlber die konventionellen Reise fuumlhrer mit ihrer traditionellen Tour von Marseille nach Men-ton hinausgehen Juan-les-Pins wurde nach dem Ersten Weltkrieg das Emblem fuumlr die kulturelle kuumlnstlerische und architektonische Mo-dernitaumlt an der Cocircte die nach 1945 eine Zeitlang nicht mehr en vogue war weil die neuen Block- und Riegelbauten entlang der Kuumlste eher eine nostalgische Wendung zur Belle Eacutepoque bewirkten ndash von Kunst-markt und Diskokultur einmal abgesehen Erst 1997 veranstaltete das Departement Provence-Alpes-Cocircte drsquoAzur jene zentrale und uumlber-greifende Ausstellung La Cocircte drsquoAzur et la Moderniteacute in der Malerei Design Film Fotografie Gartenbaukunst und Tanz Beachtung fan-den Signifikante Bauwerke wie Robert Mallet-Stevensrsquo Villa Noailles in Hyegraveres das raquoGloria Mansonlaquo in Nizza oder Eileen Grays Wohn-haus E1027 in Roquebrune-Cap-Martin wurden restauriert und in den letzten Jahren entstand sogar eine ndash privat organisierte ndash Besich-tigungstour zu den Art-deacuteco-Bauten in Juan-les-Pins und am Cap5 Die moderne Cocircte drsquoAzur bildet einen scharfen Gegensatz zu den bekannten Provence-Klischees mit den Lavendelfeldern Bastides Toumlpferarbeiten und Bauern mit gelben Gitanes im Mundwinkel6 auch wenn die Uumlbergaumlnge flieszligend erscheinen An der Cocircte domi-niert das Flair des Halbkriminellen Demi-Mondaumlnen ostentativ Luxurierenden raquoDie franzoumlsische Riviera ist Matisse und Picasso nicht Ceacutezanne und van Goghlaquo so hat es bereits 2009 Julian Hale in seiner Kulturgeschichte der Cocircte formuliert (erschienen in der Oxford-Reihe Landscapes of the Imagination) raquoes gibt Jachten und Speedboote keine Barken und Jollen (hellip) Es gibt Filmstars und Rockmusiker keine Stierkaumlmpfer und tote Paumlpstelaquo

1931 als Juan-les-Pins von der damals fuumlhrenden franzoumlsischen Glamourzeitschrift LrsquoIllustration zur Kapitale der neuen Unisex- Pyjama-Mode ausgerufen und hier gerade das Wasserskifahren in Europa populaumlr wurde veroumlffentlichte der Muumlnchener Piper Verlag Das Buch von der Riviera mit betont legeren Texten von Erika und

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Klaus Mann Das Riviera-Buch erschien in der Reihe Was nicht im Bae-deker steht war also eine Art Vorlaumlufer der raquoalternativen Reisefuumlhrerlaquo Die literarischen Geschwister nahmen das Projekt nicht sonderlich ernst entledigten sich ihrer Aufgabe aber mit Eleganz und im laumlssigen Kumpelstil des Weimarer Feuilletons In dem Buch werden die Grand Tour des 19 Jahrhunderts von Marseille bis zum Golf von La Spezia beschrieben eine Reihe angesagter Hotels und Tanzbars aufgefuumlhrt und die bis heute aktuelle Frage aller Fragen gestellt raquoWoher kommt der groszlige Ruhm dieser blauen Kuumlste Warum blieb die Cocircte drsquoAzur uumlber Jahrzehnte der Vergnuumlgungs- und Erholungsstrand des Konti-nents und der Weltlaquo Inzwischen kommt man schneller nach Bora-Bora Patagonien oder auf irgendeine exotische karibische Insel doch die Riviera hat ihren Statuswert als Reiseziel eher noch gemehrt

Bei aller Begeisterung uumlber das rot schimmernde Esterel-Gebirge die drei grandiosen Corniches zwischen Nizza und Menton putzige Kuumlnstlerdoumlrfer wie Mougins und Saint-Paul-de-Vence oder karibisch anmutende Inselparadiese wie Porquerolles und Port-Cros sollte nicht vergessen werden dass die Cocircte seit Jahrzehnten politisch rechts steht sogar weit rechts auszligen Es gibt einen engen Zusammenhang von lo-kalen Potentaten Mafia-Organisationen aller Spielarten Spekulanten und gewoumlhnlichen Schwerkriminellen Als Albert Spaggiari ein be-kennender Fan der deutschen SS nach dem raquoBankraub des Jahrhun-dertslaquo (1976) auf raumltselhafte Weise aus dem Justizpalast in Nizza ent-kam war sein Anwalt Jacques Peyrat der aus dem Milieu des Front National stammt und spaumlter uumlber Jahre Buumlrgermeister von Nizza war erkennbar nicht unfroh uumlber die spektakulaumlre Flucht seines Klienten nach Suumldamerika Dorthin war auch Peyrats Amtsvorgaumlnger Jacques Meacutedecin 1990 nach anhaltenden Korruptionsvorwuumlrfen Hals uumlber Kopf gefluumlchtet In Nizza ist raquoJacquotlaquo Meacutedecin heute noch sehr be-liebt Sein Buch uumlber die provenzalische Kuumlche mit der Anleitung wie die echte Salade niccediloise zubereitet wird gilt nach wie vor als Standard-werk Daruumlber hinaus war der unscheinbare Kaumlsehaumlndler neben dem Bahnhof von Juan in einen spektakulaumlren Mordfall ver wickelt bei dem 1999 einige Mafiosi enthauptet und zerteilt in Muumlllsaumlcken im Hinterland aufgefunden wurden Selbst im kleinen Juan-les-Pins gab es eine Zelle der brutalen italienischen rsquoNdrangheta7

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Uumlberdies ist die Franzoumlsische Riviera ein Tummelplatz fuumlr Dik-tatoren und Autokraten aller Art ndash von Ben Ali (Tunesien) uumlber Omar Bongo (Gabun) bis hin zu raquoBaby Doclaquo Duvalier (Haiti) der allerdings vor seiner kurzzeitigen Ruumlckkehr auf seine Heimatinsel in einem billigen Hotel in Mougins logieren musste Unrechtmaumlszligig er-worbenes Vermoumlgen wird hier in Villen und Jachten investiert denn uumlblicherweise recherchieren franzoumlsische Untersuchungsrichter zu-ruumlckhaltend wenn es um raquobiens mal acquislaquo ndash schlecht erworbene Guumlter ndash geht Der blutig regierenden saudischen Koumlnigsfamilie die missliebige Journalisten schon einmal foltern oder gar zerstuumlckeln laumlsst gehoumlren ausgedehnte Laumlndereien in Golfe-Juan rund um das Chacircteau de lrsquoHorizon das 1932 von Barry Dierks fuumlr die US-Schau-spielerin Maxine Elliott erbaut wurde ebenso das neomaurische Chacircteau Robert heute eine gigantische Ruine und einst von Emil Jel-linek bewohnt dem Namensgeber der Daimler-Marke raquoMercedeslaquo

Der kriminelle Hintergrund der Cocircte muss den gewoumlhnlichen Touristen nicht kuumlmmern und Hollywood-Stars werden waumlhrend der Filmfestspiele von Cannes gewoumlhnlich verschont Dennoch loumlsen die vermehrten Raubuumlberfaumllle auf Ferienappartements bei denen die Bewohner schon einmal mit Betaumlubungsgas auszliger Gefecht gesetzt werden Beunruhigung aus Nachdem die Tochter seiner Geliebten Yvonne Cloetta einen Mann aus dem raquoMilieulaquo geheiratet hatte der sie offenbar drangsalierte hat Graham Greene der Amateurspion und feinsinnige Autor von Bestsellern wie Unser Mann in Havanna oder Der stille Amerikaner in dem 1982 verfassten Pamphlet Jrsquoaccuse gewarnt raquoVermeiden Sie die Gegend um Nizza ndash sie ist das Revier einiger der kriminellsten Organisationen im Suumlden Frankreichslaquo Greene verursachte damit zunaumlchst einigen Wirbel bis hinauf zum franzoumlsischen Justizminister schlieszliglich war der damals bereits 77-Jaumlhrige nicht irgendwer aber Nizzas Buumlrgermeister Meacutedecin kehrte den Spieszlig einfach um und beschimpfte ndash mit dem Nice Matin im Ruumlcken ndash den ewigen Kandidaten fuumlr den Literaturnobelpreis als raquoalten Spinnerlaquo und weltfremden Auslaumlnder der sich nie in die spezifische Atmosphaumlre der Cocircte habe einfinden koumlnnen

Die Nobelpreise erhielten was die Cocircte drsquoAzur anlangt dann zwei eher zuruumlckhaltende Charaktere zunaumlchst im Jahr 2008 Jean-Marie

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Gustave Le Cleacutezio aus Nizza bekannt als J M G Le Cleacutezio und 2014 Patrick Modiano dessen Romane Sonntage im August und Hochzeits-reise unter anderem durch ausgezeichnete Recherchen glaumlnzen und einen bemerkenswerten Einblick in das Vichy-Regime an der Cocircte und die deutsch-italienische Besatzungszeit gewaumlhren Modianos Hochzeitsreise spielt in einem kardinalen Kapitel im raquoProvenccedilallaquo das auch in zahlreichen weiteren Romanen und Spionagestorys von Georges Simenon bis zu Jean-Paul Sartre oder Irwin Shaw vorkommt

Die klassische Riviera gibt es kulturhistorisch seit dem 18 Jahr-hundert kolonisiert zunaumlchst von reichen Englaumlndern und russischen Adligen die Cocircte drsquoAzur gibt es erst seit 1887 jedenfalls begrifflich8 Das wissen wir ziemlich genau denn Steacutephen Lieacutegeard ein Regional-politiker mit literarischen Neigungen hat in jenem Jahr ein blumiges 630-Seiten-Werk mit dem Titel La Cocircte drsquoAzur publiziert und damit eine bis heute guumlltige landschaftliche Weltmarke erfunden Originell war der Titel nicht denn das Azurblau unter den Blautoumlnen findet man schon in Theacuteodore de Banvilles Buch La mer de Nice (1865)

Lieacutegeard schwer begeistert von der Sommerfrische der Adligen und dem sanften Klima der Provence und ihrer langen griechisch-roumlmischen Kolonisationsgeschichte vermischte fuumlr seine Cocircte- Geschichte munter Zeithistorie Landschaftsekstase und Legenden wobei er es mit den Fakten nicht so genau nahm aber eine fuumlr die Belle Eacutepoque attraktive Lektuumlre schuf Allein dreiszligig Seiten schrieb er uumlber die Lerinischen Inseln vor Cannes uumlber die moumlnchische Kul-tur auf der Insel Saint-Honorat und das Staatsgefaumlngnis auf der Insel Sainte-Marguerite wo der raquoMann mit der eisernen Maskelaquo gefangen gehalten wurde und aus dem 1874 der Marschall Bazaine der raquoVer-lierer von Metzlaquo im Deutsch-Franzoumlsischen Krieg unter suspekten Umstaumlnden entkam Neben den ausschweifenden Beschreibungen von Villenarchitektur und Botanik fehlte das Politische in Lieacutegeards Werk durchaus nicht Napoleon III hatte zwar bedauerlicherweise den Krieg von 187071 gegen die Bismarck-Koalition verloren aber 1860 erreicht dass Nizza als Hauptort des Deacutepartement Alpes-Ma-ritimes franzoumlsisch wurde ndash bis dahin war es Teil des Koumlnigreichs von Savoyen und Sardinien Im Gegenzug hatte der franzoumlsische Kaiser die Entstehung des neuen italienischen Nationalstaats unterstuumltzt

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Wer wuumlrde von der Schoumlnheit der neu entdeckten Kuumlstenregion der Cocircte drsquoAzur oumlkonomisch profitieren nachdem sie durch den Bau schneller Eisenbahnverbindungen noch an Attraktivitaumlt gewonnen hatte Die Hotellerie und das Gastgewerbe machten nun jedenfalls auch jenseits des Hochadels Angebote an das vermoumlgende Buumlrgertum und expandierten in dieser von der raquoindustriellen Revolutionlaquo noch unberuumlhrten Gegend gewaltig Und auch Lieacutegeard hatte begriffen worum es ging Uumlber Juan-les-Pins das kurz vor Erscheinen seines Buches uumlberhaupt erst als Name auf der Landkarte erschienen war schrieb er in der zweiten Auflage seines Werkes

Eine Viertelstunde von dem kleinen Hafen entfernt wo die Tar-tanen die Toumlpferwaren aus Vallauris an Bord nehmen zweigt eine neue Straszlige ab nach Juan-les-Pins Auf feinem Sand verlaumluft sie entlang des schaumbekroumlnten Saums mit dem das Meer sie lieb-kost waumlhrend das Zwitschern der Voumlgel und der Schirm der aus-ladenden Pinien ihr Schatten und Froumlhlichkeit spenden (hellip) Eine Aktiengesellschaft wurde gegruumlndet die das Land aufkauft und parzelliert Schon sind Straszligen und Boulevards trassiert ein Bahn-hof hemmt den Reisenden in seiner Fahrt ein Hotel umwirbt ihn Doch wird sich der Reisende auch verfuumlhren lassen

Mit dem Hotel meinte Lieacutegeard das erste Grandhotel in Juan-les-Pins wo es zuvor nur die Kuumlnstlerpension Chacircteau de la Pinegravede mit ihrem markanten oktogonalen Turm gegeben hatte Diese aumllteste Villa auf dem Terrain des Staumldtchens steht wundersamerweise noch heute ndash neben einem pyramidal anmutenden Komplex aus den 1970er Jahren ndash ist aber inzwischen in teure Einzelwohnungen auf-geteilt worden Claude Monet wohnte hier 1888 als er seine beruumlhm-ten impressionistischen Bilder vom Cap drsquoAntibes und dem men-schenleeren Strand von Juan-les-Pins schuf Empfohlen hatte ihm die Unterkunft sein Kuumlnstlerfreund der Flaubert-Schuumller Guy de Mau-passant damals ein ungeheuer populaumlrer Literat Wie Monet steht Maupassant fuumlr die kuumlnstlerische Drift von der Normandie in die waumlrmeren Gefilde der Cocircte drsquoAzur Jeder Lokalpatriot kennt heute Maupassants prophetische Saumltze

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Von weitem sehen die Panzerschiffe wie Felsen aus wie kleine Inseln wie von abgestorbenen Baumlumen bedeckte Klippen Am Ufer entlang fliegt der Rauch eines Zuges der von Cannes nach Juan-les-Pins faumlhrt das vielleicht spaumlter der huumlbscheste Badeort der ganzen Kuumlste sein wird Drei Tartaren liegen mit ihren ro-mantischen Segeln von denen eines rot und die anderen beiden weiszlig sind im Fahrwasser zwischen Sainte-Marguerite und dem Festland vor Anker Das ist die Stille die suumlszlige und heiszlige Stille eines Fruumlhlingsmorgens im Suumlden und schon kommt es mir so vor als haumltte ich die Leute die reden und umherhetzen seit Wo-chen seit Monaten seit Jahren verlassen ich spuumlre wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt der suumlszlige Rausch der Ruhe die nichts stoumlren wird kein weiszliger Brief kein blaues Tele-gramm nicht die Klingel meiner Tuumlr noch das Bellen meines Hundes

Maupassant war mit seiner Jacht Bel Ami die er 1885 gekauft hatte an der Franzoumlsischen Riviera entlanggesegelt und hatte sich auch eine Zeitlang in Antibes in der Villa Muterse und im Chalet des Alpes an der Route de la Badine niedergelassen Viel schoumlpferische Zeit blieb ihm nicht mehr er starb schon 1894 mit 44 Jahren an den Folgen der Syphilis Und Juan-les-Pins wurde nie raquoder huumlbscheste Badeortlaquo wie er es prophezeit hatte

Huumlbsch und lieblich war es dort vielleicht noch bis 1914 als der Weltkrieg zunaumlchst einmal alle Spekulationsanstrengungen unter-brach Als dann Mitte der 1920er Jahre mit Frank Jay Gould und Konsorten der wirkliche Boom einsetzte und die neuen Straszligenzuumlge agrave la Miami Beach nur noch aus Hotels und Pensionen bestanden ndash innerhalb von zwei drei Jahren waren es an die hundert ndash spottete Jean Cocteau aus Juan-les-Pins sei genau die Karikatur geworden die es schon immer gewesen sei 1939 ging er dann noch weiter In einem Brief an seine Mutter bezeichnete er es als eine raquoville atrocelaquo eine scheuszligliche Stadt Dabei waren damals die meisten alten Villen noch nicht abgerissen die den zeittypischen Appartementkomplexen der 1950er und 1960er Jahre Platz machen mussten weil diese houmlhere Renditen fuumlr die Besitzer versprachen9

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1960 war das absurde architektonische Gesamtkunstwerk Juan-les-Pins mit seinen Art-deacuteco-Bauten den vereinzelt uumlbrig gebliebe-nen Villen aus der Gruumlnderphase und den vielen skurrilen Beton-kloumltzen allerdings schon so musealisiert dass dieser Wirrwarr neue Bewunderer fand Der Fotograf Brassaiuml erinnerte sich an ein Ge-spraumlch unter den riesigen Pinien von Juan-les-Pins mit Henry Miller der damals ndash wie uumlbrigens auch Georges Simenon ndash Jurymitglied beim Filmfestival von Cannes war

MILLER raquoIch mag diesen Ort Ich verlasse mich stets auf meinen Instinkt meine Gewohnheiten Wenn ich in die Auszligenbezirke einer Stadt komme erschnuumlffele ich ob sie mir gefaumlllt oder nicht ob ich dort gluumlcklich sein werde oder ungluumlcklich Ich habe das Gefuumlhl Juan-les-Pins wird mir guttunlaquoBrassaiuml raquoPicasso hatte das gleiche Gefuumlhl In Paris hat er diese Stadt einmal gemalt ohne sie je zuvor gesehen zu haben Und als er 1920 zum ersten Mal herkam sah er dass Juan-les-Pins genau so war wie er es sich vorgestellt hatte Uumlberwaumlltigt rief er rsaquoKein Zweifel diese Stadt gehoumlrt mirlsaquolaquo

Andrew Loog Oldham in den 1960er Jahren Manager der Rolling Stones erinnerte sich an die Zeit als er am Strand von Juan-les-Pins als Aushilfskellner in raquoButlerrsquos Tea Roomlaquo ndash heute das zentrale Cafeacute de la Plage ndash gearbeitet hatte

Juan war eine riesige Filmkulisse Das Licht war unglaublich Sie hatten da eine Art Licht von dem England bis dahin nicht einmal wusste dass es uumlberhaupt existiert Die Rock-rsquonrsquo-Roll-Clubs waren fantastisch Sie lagen alle unter freiem Himmel versteckt hinter einer langen Hecke Man konnte die Musik von der Straszlige aus houmlren Nach Juan-les-Pins fuhren die franzoumlsischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars im Sommer weil das Publikum dort juumlnger war Die franzouml-sischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars waren groszligartig Im Winter flogen sie zum Shoppen nach Amerika und behaupteten sie gingen dort auf Tour

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

Page 5: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

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D i e s e b e s o n d e re Kuuml st e

Amerikaner Englaumlnder Franzosen Deutsche Schweden Italiener Liebeleien Enttaumluschungen Streit Versoumlhnung Mord Die Cocircte drsquoAzur erregte ihn wie ihn kein anderer Ort der Welt den er je kennengelernt hatte erregen konnte Und dabei war diese Biegung der Mittelmeerkuumlste so winzig an der die herr-lichen Namen wie die Perlen einer Kette aufgereiht waren ndash Toulon Freacutejus

Saint-Raphaeumll Cannes Nizza Menton und dann San Remo

Patricia Highsmith Der talentierte Mr Ripley

In Juan-les-Pins war ich zum ersten Mal im Februar 1989 Es war angenehm leer an den Straumlnden der Franzoumlsischen Riviera Graham Greene dessen langjaumlhrige Geliebte Yvonne Cloetta in einer Villa oberhalb des Zentrums von Juan-les-Pins wohnte ndash er selbst bevor-zugte von 1966 bis 1990 als Hauptwohnsitz ein unscheinbares Neu-bauappartement in Antibes ndash hatte uumlber diese von allen Kundigen bevorzugte Nebensaison in einer Kurzgeschichte geschrieben

Das war die Jahreszeit die ich am meisten liebe wenn Juan-les-Pins so schaumlbig wird wie ein Vergnuumlgungspark in dem alle Buden mit Brettern verschlagen sind wenn am Pam Pam und am Ma-xim Karten mit der Aufschrift raquoFermeture annuellelaquo angebracht sind und wenn der raquoConcours International Amateur de Strip-teaselaquo im Vieux Colombier wieder fuumlr eine Saison voruumlber ist

Das sanfte Mittelmeer war unvermutet boumlse die einzige Lokalzei-tung der Nice Matin ndash damals weit mehr als heute ein Revolverblatt mit wildem Layout ndash berichtete uumlber einen Rentner den eine Flut-welle von der Seepromenade in Menton in den Vorgarten eines Res-taurants gespuumllt hatte wo er nur noch tot geborgen werden konnte Es waren auch die letzten Monate der alten Weltordnung aber das konnte damals keiner wissen Kurze Zeit spaumlter fiel die Berliner

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Mauer der raquoOstblocklaquo und der Warschauer Pakt brachen auseinan-der Solche welthistorischen Umwaumllzungen kuumlmmern die Cocircte drsquoAzur nicht denn hier wechselt nur die Nationalitaumlt der vermoumlgenden In-vestoren Aktuell setzt man auf reiche Chinesen und Araber in den 1990er Jahren dominierten unangefochten die russischen neureichen Oligarchen raquonovarichslaquo wie Roman Abramowitsch mit seinem pom-poumls renovierten Chacircteau de la Croeuml am Cap drsquoAntibes Zuvor wohn-ten da Bauherr Sir Pomeroy Burton Generaldirektor der Associated Newspapers dann der Herzog und die Herzogin von Windsor sowie die griechischen Reeder-Tycoons Aristoteles Onassis und Stavros Niarchos

Ich war ndash biografisch eher verspaumltet ndash zum ersten Mal an der Cocircte drsquoAzur Sie erschien mir durch ihre filmischen Spiegelungen aber ziemlich vertraut Uumlber den Daumlchern von Nizza Swimmingpool Und Gott schuf die Frau Der Gendarm von Saint-Tropez Lautlos wie die Nacht Sag niemals nie Nur die Sonne war Zeuge Bonjour Tristesse Zwei hinreiszligend verdorbene Schurken und Hunderte von B-Movies mit deut-schen Titeln wie Nimmrsquos leicht nimm Dynamit oder Der Panther wird gehetzt All die Filmpaare ndash Alain Delon und Romy Schneider Grace Kelly und Cary Grant Lino Ventura und Franccediloise Fabian Sean Connery und Kim Basinger ndash die sich wiederum bruchlos mit der inzwischen untergegangenen Playboy-Szenerie mischten ndash Aly Khan und Rita Hayworth Gunter Sachs und Brigitte Bardot Danielle Darrieux und Porfirio Rubirosa ( jener Playboy- Diplomat aus der Dominikanischen Republik mit dem klingendsten Namen der sich fuumlr diese fast ausgestorbene Spezies nur denken laumlsst) sowie Aristo-teles Onassis auch kein schlechter Name mal mit Maria Callas mal mit Jackie Kennedy In keiner anderen Landschaft der Welt auch nicht in Kalifornien oder in der Normandie uumlberlagern und durchdringen Literatur bildende Kunst und Film alle unmittelbaren Eindruumlcke und Assoziationen derart Es handelt sich hier um eine unmittelbar fiktionalisierte Wirklichkeit

Zunaumlchst verbrachte ich einige Tage in der franzoumlsisch-italieni-schen Grenzstadt Menton mit dem kleinen Friedhof der fruumlh verstor-benen tuberkulosekranken Adligen oben am alten Schloss und den gigantischen Hotelpalaumlsten der Belle Eacutepoque mit so luxurierenden

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Namen wie raquoWinter Palacelaquo raquoImperiallaquo raquoHocirctel drsquoOrientlaquo ndash allesamt laumlngst in Einzelappartements umgewandelt Dann weiter nach Ville-franche-sur-Mer zum Hotel Welcome wo Jean Cocteau seinem Opi-umkonsum froumlnte und die Rolling Stones als britische Steuerfluumlcht-linge in der Villa Nelcocircte am gegenuumlberliegenden Cap noch haumlrtere Drogen konsumiert und ihr Album Exile on Main Street komponiert hatten Weiter nach Monaco das mit seiner Mischung aus dem uumlber-mediatisierten Fuumlrstenhaus und den Hochhausbatterien eher uninter-essant schien vorbei an Nizza der Kapitale des Deacutepartement Alpes Maritimes die ich erst spaumlter en deacutetail kennenlernen sollte schnell vorbei auch an der Altstadt von Antibes getreu der alten Alexandre Dumas zugeschriebenen Anekdote raquoWie fanden Sie Antibeslaquo ndash raquoIch habe es uumlberhaupt nicht gefundenlaquo Und dann Juan-les-Pins

Juan-les-Pins knapp 5000 staumlndige Einwohner verwaltungstech-nisch von jeher ein Teil von Antibes seit seiner Gruumlndung 1882 aber ein seltsamer Ort eine Art Resort fuumlr Koumlrperkult Fun und Games mit ausgepraumlgtem Eigenleben erwaumlhnt in einem Popsong der zu Be-ginn der 1970er Jahre weltweit von den Radiosendern immer wieder gespielt wurde Peter Sarstedts raquoWhere Do You Go To My Lovelylaquo Es geht darin um eine gewisse Marie-Claire die aus der leeren Welt der Schoumlnen und Reichen befreit werden soll In der Juan-les-Pins betreffenden Stelle heiszligt es

When you go on your summer vacation you go to Juan-les-PinsWith your carefully designed topless swimsuitYou get an even sun tan on your back and on your legs1

Beim Houmlren des mit eingaumlngigen Akkordeonklaumlngen unterlegten Songs hatte ich mich des Oumlfteren gefragt wie ein raquocarefully designed topless swimsuitlaquo aussehen mochte ndash gemeint war wohl der von Rudi Gernreich erfundene Monokini ndash und auch Sarstedts Refrain

But where do you go to my lovelyWhen yoursquore alone in your bedTell me the thoughts that surround youI want to look inside your head yes I do2

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erschien mir etwas raumltselhaft Klang das nicht irgendwie nach einem unangenehmen und gefaumlhrlichen Stalker

Aber der Name Juan-les-Pins war haumlngen geblieben obwohl Sar-stedt ihn kaum auszusprechen verstand ndash es klang irgendwie wie raquoJanleponlaquo hatte aber etwas von Glamour Verruchtheit und Luxus3 Diese vage Verheiszligung war der eine Grund fuumlr meinen Aufenthalt in Juan-les-Pins der andere und eher handfeste Christian Plumails Auberge de lrsquoEsterel ein kleines Restaurant mit einem Michelin-Stern und guumlnstiger Uumlbernachtungsmoumlglichkeit Die Restaurantfuumlhrer lob-ten das unschlagbare Preis-Leistungs-Verhaumlltnis bei gleichzeitig un-gewoumlhnlich kreativer Kochleistung So war es auch 150 Franc ndash auf heutige Verhaumlltnisse umgerechnet 25 Euro ndash fuumlr vier Gaumlnge mit einem umwerfenden Dessert schwerster Schokokompositionen

Am Tag nach meiner Ankunft machte ich mich auf den kleinen Ort zu erkunden der seinen einzigartigen Aufstieg zum Vergnuuml-gungszentrum der Cocircte drsquoAzur im 20 Jahrhundert ndash lange vor Saint-Tropez ndash einem makellosen Sandstrand verdankte uumlber den Monaco oder Nizza nicht verfuumlgen Unbestrittener Mittelpunkt von Juan-les-Pins ist der Carrefour de la Joie eine Straszligenkreuzung an der sich mit dem raquoLe Crystallaquo und dem raquoPam Pamlaquo zwei Bars der 1920er und 1930er Jahre bis heute gehalten haben Davor von Westen aus zum Strandboulevard verlaufend eine Batterie von weniger exklusiven Snackbars und Boutiquen mit Namen wie raquoHystericalaquo raquoWeekend agrave la merlaquo oder raquoInterdit de me gronderlaquo Gegenuumlber die alte Presse-buchhandlung und das architektonisch schwer verungluumlckte post-moderne Hotel Garden Beach damals noch mit dem Spielcasino einst angeblich das eleganteste an der gesamten Kuumlste Daneben das Pinienwaumlldchen das dem Ort den seltsamen Namen gab und daruumlber thronend ein riesiges weiszliges offenbar leerstehendes Ge-baumlude in einem undefinierbaren Architekturstil einer Mischung aus Stahl beton-Gigantismus und neoprovenzalischer Ornamentik Kein Hinweis kein Name an diesem Bauwerk das aussah wie ein im Wald gestrandeter Ozeandampfer

Ich umrundete den raumltselhaften Bau mehrfach und wandte mich schlieszliglich an ortskundige Passanten Es handele sich so erfuhr ich um das ehemalige Luxushotel Le Provenccedilal das nach seiner Einwei-

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hung 1927 als die modernste und aufregendste Herberge der Cocircte drsquoAzur galt 280 Zimmer in denen Groumlszligen wie Winston Churchill Charlie Chaplin Lilian Harvey und Jack Warner logierten Mit rund 350 Angestellten war das Haus der mit Abstand groumlszligte Arbeitgeber in Juan-les-Pins Unvergessliche Galas schrille Misswahlen und Mu-sikwettbewerbe fanden hier statt In den 1960er Jahren beherbergte das raquoProvenccedilallaquo dann Jazzgroumlszligen wie Dizzy Gillespie Sidney Bechet und Miles Davis nachdem 1960 in Juan-les-Pins das erste europauml-ische Jazzfestival ins Leben gerufen worden war ndash Reminiszenz an das Jazz Age der 1920er Jahre als Pablo Picasso Cole Porter F Scott Fitzgerald Ernest Hemingway Sara und Gerald Murphy und Dut-zende andere Kuumlnstler und Intellektuelle den Ort und das benach-barte Cap drsquoAntibes zu einer Art Montparnasse-sur-Mer gemacht hatten 1977 sei das raquoProvenccedilallaquo dann von seinem neuen Besitzer dem reichen Pariser Juwelier Alexandre Reza von einem Tag auf den anderen geschlossen worden Ein Skandal Die Hinrichtung von Juan-les-Pins Eine Schande

Bei meinem ersten Besuch war das raquoProvenccedilallaquo von dessen Ro-tunde aus man bei klarem Wetter die vorgelagerten Lerinischen In-seln Sainte-Marguerite und Saint-Honorat und sogar Korsika sehen kann seit dreizehn Jahren geschlossen Das war schon deshalb reich-lich merkwuumlrdig weil das Hotel an der uumlbergangslosen Grenze zwi-schen Juan-les-Pins und dem von zahlreichen Milliardaumlren Oligar-chen Waffenhaumlndlern und Edelganoven bewohnten Cap drsquoAntibes an einem der teuersten Kuumlstenabschnitte der Welt liegt Es ging bei dieser Investmentaffaumlre offenbar nicht nur um das Hotel selbst son-dern um das immense Areal drumherum zwei vorgelagerte Villen direkt am Meer auch verfallen das alte Chacircteau Saint-Georges fuumlr besondere Gaumlste Gesindehaumluser eine Art-deacuteco-Garage mit Appar-tements daruumlber ndash ein ganzes Stadtviertel an der Grenze zum Cap drsquoAntibes

Entwickelt hatte dieses Viertel Frank J Gould (1877ndash1956) US-Multimillionaumlr und juumlngster Sohn des beruumlchtigten ultravermoumlgen-den raquoRaubritterslaquo Jason Gould des seinerzeit meistgehassten Unter-nehmers der USA Vater Gould hatte ein Vermoumlgen mit dem Bau von Eisenbahnen und Telegrafie-Einrichtungen Presse-Organen und

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Wall-Street-Manipulationen gemacht Sein Sohn Frank Jay ein hoch-gewachsener hagerer Mann mit markanter Nase der gern und oft in den Gazetten karikiert wurde baute das bis 1918 vor sich hin daumlm-mernde Juan-les-Pins mit anderen Investoren zum raquoResortlaquo mit Spielcasino Nobelrestaurants Tennisplaumltzen und eben dem zentra-len Hotel aus Schon 1913 verlegte er seinen Wohnsitz von New York nach Frankreich investierte in die Pferdezucht von Maisons-Laffitte bei Paris uumlberdies in Papier- und Schokoladenfabriken besaszlig bald ein Chacircteau in der Normandie eine Villa in Vichy war Eigentuumlmer von Hotels und Restaurants in Houlgate Bagnoles de lrsquoOrne und Eacutevreux und versuchte aus Granville am Aumlrmelkanal ndash vergeblich ndash das raquoMonaco des Nordenslaquo zu machen Die Cocircte drsquoAzur entdeckte Frank J Gould 1923 auf der Hochzeitsreise mit seiner dritten Ehefrau Florence geborene La Caze einer fantastisch gutaussehenden feier-wuumltigen und in jeder Hinsicht freigiebigen gelernten Opernsaumlngerin Salonniegravere und Literaturmaumlzenin

Inzwischen steht das raquoProvenccedilallaquo seit 44 Jahren leer Die Ruine und der sie umgebende Ort sind zu einer Attraktion des Dark Tou-rism geworden dessen Anhaumlnger den raquoghosts of placeslaquo so der So-ziologe Michael Mayerfeld Bell nachspuumlren ndash dem subtilen Einfluss der anwesend Abwesenden Dass die Cocircte drsquoAzur eine lebensphiloso-phische Projektion ist ndash im Sinne einer uumlber das urspruumlnglich Land-schaftliche hinausweisenden kulturell-soziologischen Persona ndash hat schon der deutsche Publizist Alexander Moszkowski in seiner Auto-biografie Das Panorama meines Lebens die 1925 in Berlin erschien gut beschrieben

Der landschaftliche Reiz ist hier nicht das Wesentliche Der ver-traumlgt bis zu gewissem Grade eine Analyse er laumlszligt sich auf Bekann-tes zuruumlckfuumlhren mit anderem Landschaftlichen vergleichen und ein Globetrotter duumlrfte mir leicht beweisen daszlig der Ri-vierareiz nach malerischen und pflanzlichen Momenten be urteilt keine besondere Vorrangstellung in der Welt zu beanspruchen hat Aber die sichtbare Landschaft ist hier nicht die Grundursache sondern nur eine begleitende Bedingung des Effektes deren wahre Ursaumlchlichkeit gaumlnzlich unerforschlich bleibt Das Kantische

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raquoDing an sichlaquo findet sein Gegenstuumlck in einem raquoZauber an sichlaquo der als das Letzte und Wesentliche sich hinter den Erscheinungen verbirgt und sich nur erahnen laumlszligt wenn man von diesen alles sinnlich Erfaszligbare fortdenkt

Bei allen erkenntnistheoretischen Reflexionen uumlber den raquoZauber an sichlaquo verdankt sich die Entwicklung von Juan-les-Pins doch der Kombination aus einem relativ unberuumlhrten tourismusoumlkonomisch ausbaufaumlhigen Landstrich zwischen Antibes und Golfe-Juan mit dem Amerikanisierungsschub in den 1920er Jahren angelehnt an die Re-sorts in Florida und Kalifornien mit Flapper Girls Dancings Gamb-ling und fruumlhen Automobilrallyes Juan-les-Pins wurde ein doppeltes Gegenmodell an der Cocircte ndash gegen die existierenden Adelsrefugien wie Nizza und Cannes aber auch gegen den lieblich-friedvollen Midi im Allgemeinen Alles war aufregend und neu und ein Verfallsdatum fuumlr diesen Hotspot schien bis in die 1980er Jahre nicht absehbar 1989 waren die Fenster des raquoProvenccedilallaquo noch intakt wurde das Ganze bewacht von einem Mann mit einem kleinen Sohn und einem Do-bermann Nun gibt es nur noch das halbwegs intakte Stahlbeton-gerippe Das alte Hotelgebaumlude darf nicht abgerissen werden die Fassade steht unter Denkmalschutz

Zehn Jahre nach meinem ersten Besuch habe ich die Geschichte dieses Luxushotels in einem Film dokumentiert Der Eigentuumlmer Alexandre Reza beruumlhmt geworden als der angeblich raquoletzte Juwelier von Lady Dilaquo kam damals zu meinem Erstaunen fuumlr ein Interview extra aus Paris angereist und praumlsentierte mit Verve seine umfang-reichen ausgefeilten Umbauplaumlne die aus seiner Sicht von ruumlck-staumlndigen lokalen Buumlrgerinitiativen sabotiert wurden In weiteren Interviews aumluszligerten sich Jean Leonetti der Buumlrgermeister der Ge-meinde Antibes ndash das ist er noch heute ndash und kurzzeitig franzoumlsischer Europaminister unter Nicolas Sarkozy sowie einige Besitzer und Direktoren umliegender Luxushotels wie dem raquoBelles Riveslaquo dem raquoJuanalaquo und dem Grand Hocirctel du Cap Letzteres im Luxusportfolio der deutschen Oetker-Gruppe4 Dort steigen waumlhrend der Filmfest-spiele von Cannes Stars wie Robert De Niro Lars von Trier oder Sha-ron Stone ab Ferner kamen ehemalige Hotelangestellte und raquoMamolaquo

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der quirlige Pro minentenrestaurateur von Antibes der alle und jeden kennt sowie Lokalhistoriker und andere Spezialisten zu Wort

2007 folgte ein weiterer Film uumlber das Cap drsquoAntibes und seine vermoumlgenden Bewohner Boris Beresowski der Mann der Wladimir Putin ins Amt gebracht hatte und spaumlter sein erbittertster Gegner wurde konnte nur in London interviewt werden und nicht in seinem Chacircteau de la Garoupe am Cap drsquoAntibes da er von Interpol verfolgt wurde Er war einer der Finanziers der Orangen Revolution in der Ukraine und damals noch quicklebendig 2016 wurde er in seinem britischen Exil erhaumlngt aufgefunden ndash Selbstmord oder eine perfide Aktion von Putins Geheimdiensten das konnte bis heute nicht aufge-klaumlrt werden

Inzwischen war ich beruflich oder aus rein privatem Interesse wahrscheinlich mehr als hundertmal in Juan-les-Pins Cannes er-reicht man von dort in neun Minuten mit dem Zug nach Nizza dauert es eine halbe Stunde Man kann sich an einem der privat be-wirtschafteten Straumlnde des kleinen Ortes ndash etwa im raquoLes Pirateslaquo mit seinen tuumlrkisen Sonnenschirmen ndash in aller Ruhe mit den Geistern der intellektuellen und kuumlnstlerischen Prominenz beschaumlftigen die sich hier einst erholte ndash neben Hemingway Fitzgerald und Picasso auch Marlene Dietrich Bert Brecht Klaus Mann Walter Benjamin Joseph Roth Stefan Zweig Lee Miller Walker Evans Man Ray ndash oder auch mit den vielleicht noch spannenderen geisteshistorischen Konstellationen heute unbekannterer Zeitgenossen ndash Morphinisten Transvestiten Suffragetten

Die kulturelle und finanzielle Kolonisierung der Franzoumlsischen Riviera kann anhand der Geschichte von Juan-les-Pins sehr praumlzise beschrieben werden zumal der Ort wie kein anderer fuumlr den schnel-len Wechsel von der adligen Winterkultur mit vornehmer Blaumlsse und den Promenaden mit Sonnenschirm am Strand zur Coco-Chanel-Braumlune zur Bikinischau zur Koumlrperexzentrik steht ndash und zu Sexis-mus und Aumluszligerlichkeiten aller Art Sieht man von der unmittelbaren Gruumlndungsphase ab hat es nie irgendeine Art von Architektur-planung fuumlr Juan-les-Pins gegeben und so ist der Ort stets eine Bau-stelle fuumlr die Geschichte der Franzoumlsischen Riviera geblieben die raquozu-gleich eine Gegend und ein soziologisches Phaumlnomenlaquo ist wie Agnegraves

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Varda es im Begleitbuch ihres mittellangen Filmessays Du cocircteacute de la cocircte formulierte den das Office National du Tourisme 1958 finanzierte

Das Schicksal des raquoProvenccedilallaquo die Geschichte von Juan-les-Pins und die des Cap drsquoAntibes stellen so etwas wie spezielle Sonden fuumlr die Cocircte drsquoAzur dar mit Einblicken die uumlber die konventionellen Reise fuumlhrer mit ihrer traditionellen Tour von Marseille nach Men-ton hinausgehen Juan-les-Pins wurde nach dem Ersten Weltkrieg das Emblem fuumlr die kulturelle kuumlnstlerische und architektonische Mo-dernitaumlt an der Cocircte die nach 1945 eine Zeitlang nicht mehr en vogue war weil die neuen Block- und Riegelbauten entlang der Kuumlste eher eine nostalgische Wendung zur Belle Eacutepoque bewirkten ndash von Kunst-markt und Diskokultur einmal abgesehen Erst 1997 veranstaltete das Departement Provence-Alpes-Cocircte drsquoAzur jene zentrale und uumlber-greifende Ausstellung La Cocircte drsquoAzur et la Moderniteacute in der Malerei Design Film Fotografie Gartenbaukunst und Tanz Beachtung fan-den Signifikante Bauwerke wie Robert Mallet-Stevensrsquo Villa Noailles in Hyegraveres das raquoGloria Mansonlaquo in Nizza oder Eileen Grays Wohn-haus E1027 in Roquebrune-Cap-Martin wurden restauriert und in den letzten Jahren entstand sogar eine ndash privat organisierte ndash Besich-tigungstour zu den Art-deacuteco-Bauten in Juan-les-Pins und am Cap5 Die moderne Cocircte drsquoAzur bildet einen scharfen Gegensatz zu den bekannten Provence-Klischees mit den Lavendelfeldern Bastides Toumlpferarbeiten und Bauern mit gelben Gitanes im Mundwinkel6 auch wenn die Uumlbergaumlnge flieszligend erscheinen An der Cocircte domi-niert das Flair des Halbkriminellen Demi-Mondaumlnen ostentativ Luxurierenden raquoDie franzoumlsische Riviera ist Matisse und Picasso nicht Ceacutezanne und van Goghlaquo so hat es bereits 2009 Julian Hale in seiner Kulturgeschichte der Cocircte formuliert (erschienen in der Oxford-Reihe Landscapes of the Imagination) raquoes gibt Jachten und Speedboote keine Barken und Jollen (hellip) Es gibt Filmstars und Rockmusiker keine Stierkaumlmpfer und tote Paumlpstelaquo

1931 als Juan-les-Pins von der damals fuumlhrenden franzoumlsischen Glamourzeitschrift LrsquoIllustration zur Kapitale der neuen Unisex- Pyjama-Mode ausgerufen und hier gerade das Wasserskifahren in Europa populaumlr wurde veroumlffentlichte der Muumlnchener Piper Verlag Das Buch von der Riviera mit betont legeren Texten von Erika und

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Klaus Mann Das Riviera-Buch erschien in der Reihe Was nicht im Bae-deker steht war also eine Art Vorlaumlufer der raquoalternativen Reisefuumlhrerlaquo Die literarischen Geschwister nahmen das Projekt nicht sonderlich ernst entledigten sich ihrer Aufgabe aber mit Eleganz und im laumlssigen Kumpelstil des Weimarer Feuilletons In dem Buch werden die Grand Tour des 19 Jahrhunderts von Marseille bis zum Golf von La Spezia beschrieben eine Reihe angesagter Hotels und Tanzbars aufgefuumlhrt und die bis heute aktuelle Frage aller Fragen gestellt raquoWoher kommt der groszlige Ruhm dieser blauen Kuumlste Warum blieb die Cocircte drsquoAzur uumlber Jahrzehnte der Vergnuumlgungs- und Erholungsstrand des Konti-nents und der Weltlaquo Inzwischen kommt man schneller nach Bora-Bora Patagonien oder auf irgendeine exotische karibische Insel doch die Riviera hat ihren Statuswert als Reiseziel eher noch gemehrt

Bei aller Begeisterung uumlber das rot schimmernde Esterel-Gebirge die drei grandiosen Corniches zwischen Nizza und Menton putzige Kuumlnstlerdoumlrfer wie Mougins und Saint-Paul-de-Vence oder karibisch anmutende Inselparadiese wie Porquerolles und Port-Cros sollte nicht vergessen werden dass die Cocircte seit Jahrzehnten politisch rechts steht sogar weit rechts auszligen Es gibt einen engen Zusammenhang von lo-kalen Potentaten Mafia-Organisationen aller Spielarten Spekulanten und gewoumlhnlichen Schwerkriminellen Als Albert Spaggiari ein be-kennender Fan der deutschen SS nach dem raquoBankraub des Jahrhun-dertslaquo (1976) auf raumltselhafte Weise aus dem Justizpalast in Nizza ent-kam war sein Anwalt Jacques Peyrat der aus dem Milieu des Front National stammt und spaumlter uumlber Jahre Buumlrgermeister von Nizza war erkennbar nicht unfroh uumlber die spektakulaumlre Flucht seines Klienten nach Suumldamerika Dorthin war auch Peyrats Amtsvorgaumlnger Jacques Meacutedecin 1990 nach anhaltenden Korruptionsvorwuumlrfen Hals uumlber Kopf gefluumlchtet In Nizza ist raquoJacquotlaquo Meacutedecin heute noch sehr be-liebt Sein Buch uumlber die provenzalische Kuumlche mit der Anleitung wie die echte Salade niccediloise zubereitet wird gilt nach wie vor als Standard-werk Daruumlber hinaus war der unscheinbare Kaumlsehaumlndler neben dem Bahnhof von Juan in einen spektakulaumlren Mordfall ver wickelt bei dem 1999 einige Mafiosi enthauptet und zerteilt in Muumlllsaumlcken im Hinterland aufgefunden wurden Selbst im kleinen Juan-les-Pins gab es eine Zelle der brutalen italienischen rsquoNdrangheta7

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Uumlberdies ist die Franzoumlsische Riviera ein Tummelplatz fuumlr Dik-tatoren und Autokraten aller Art ndash von Ben Ali (Tunesien) uumlber Omar Bongo (Gabun) bis hin zu raquoBaby Doclaquo Duvalier (Haiti) der allerdings vor seiner kurzzeitigen Ruumlckkehr auf seine Heimatinsel in einem billigen Hotel in Mougins logieren musste Unrechtmaumlszligig er-worbenes Vermoumlgen wird hier in Villen und Jachten investiert denn uumlblicherweise recherchieren franzoumlsische Untersuchungsrichter zu-ruumlckhaltend wenn es um raquobiens mal acquislaquo ndash schlecht erworbene Guumlter ndash geht Der blutig regierenden saudischen Koumlnigsfamilie die missliebige Journalisten schon einmal foltern oder gar zerstuumlckeln laumlsst gehoumlren ausgedehnte Laumlndereien in Golfe-Juan rund um das Chacircteau de lrsquoHorizon das 1932 von Barry Dierks fuumlr die US-Schau-spielerin Maxine Elliott erbaut wurde ebenso das neomaurische Chacircteau Robert heute eine gigantische Ruine und einst von Emil Jel-linek bewohnt dem Namensgeber der Daimler-Marke raquoMercedeslaquo

Der kriminelle Hintergrund der Cocircte muss den gewoumlhnlichen Touristen nicht kuumlmmern und Hollywood-Stars werden waumlhrend der Filmfestspiele von Cannes gewoumlhnlich verschont Dennoch loumlsen die vermehrten Raubuumlberfaumllle auf Ferienappartements bei denen die Bewohner schon einmal mit Betaumlubungsgas auszliger Gefecht gesetzt werden Beunruhigung aus Nachdem die Tochter seiner Geliebten Yvonne Cloetta einen Mann aus dem raquoMilieulaquo geheiratet hatte der sie offenbar drangsalierte hat Graham Greene der Amateurspion und feinsinnige Autor von Bestsellern wie Unser Mann in Havanna oder Der stille Amerikaner in dem 1982 verfassten Pamphlet Jrsquoaccuse gewarnt raquoVermeiden Sie die Gegend um Nizza ndash sie ist das Revier einiger der kriminellsten Organisationen im Suumlden Frankreichslaquo Greene verursachte damit zunaumlchst einigen Wirbel bis hinauf zum franzoumlsischen Justizminister schlieszliglich war der damals bereits 77-Jaumlhrige nicht irgendwer aber Nizzas Buumlrgermeister Meacutedecin kehrte den Spieszlig einfach um und beschimpfte ndash mit dem Nice Matin im Ruumlcken ndash den ewigen Kandidaten fuumlr den Literaturnobelpreis als raquoalten Spinnerlaquo und weltfremden Auslaumlnder der sich nie in die spezifische Atmosphaumlre der Cocircte habe einfinden koumlnnen

Die Nobelpreise erhielten was die Cocircte drsquoAzur anlangt dann zwei eher zuruumlckhaltende Charaktere zunaumlchst im Jahr 2008 Jean-Marie

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Gustave Le Cleacutezio aus Nizza bekannt als J M G Le Cleacutezio und 2014 Patrick Modiano dessen Romane Sonntage im August und Hochzeits-reise unter anderem durch ausgezeichnete Recherchen glaumlnzen und einen bemerkenswerten Einblick in das Vichy-Regime an der Cocircte und die deutsch-italienische Besatzungszeit gewaumlhren Modianos Hochzeitsreise spielt in einem kardinalen Kapitel im raquoProvenccedilallaquo das auch in zahlreichen weiteren Romanen und Spionagestorys von Georges Simenon bis zu Jean-Paul Sartre oder Irwin Shaw vorkommt

Die klassische Riviera gibt es kulturhistorisch seit dem 18 Jahr-hundert kolonisiert zunaumlchst von reichen Englaumlndern und russischen Adligen die Cocircte drsquoAzur gibt es erst seit 1887 jedenfalls begrifflich8 Das wissen wir ziemlich genau denn Steacutephen Lieacutegeard ein Regional-politiker mit literarischen Neigungen hat in jenem Jahr ein blumiges 630-Seiten-Werk mit dem Titel La Cocircte drsquoAzur publiziert und damit eine bis heute guumlltige landschaftliche Weltmarke erfunden Originell war der Titel nicht denn das Azurblau unter den Blautoumlnen findet man schon in Theacuteodore de Banvilles Buch La mer de Nice (1865)

Lieacutegeard schwer begeistert von der Sommerfrische der Adligen und dem sanften Klima der Provence und ihrer langen griechisch-roumlmischen Kolonisationsgeschichte vermischte fuumlr seine Cocircte- Geschichte munter Zeithistorie Landschaftsekstase und Legenden wobei er es mit den Fakten nicht so genau nahm aber eine fuumlr die Belle Eacutepoque attraktive Lektuumlre schuf Allein dreiszligig Seiten schrieb er uumlber die Lerinischen Inseln vor Cannes uumlber die moumlnchische Kul-tur auf der Insel Saint-Honorat und das Staatsgefaumlngnis auf der Insel Sainte-Marguerite wo der raquoMann mit der eisernen Maskelaquo gefangen gehalten wurde und aus dem 1874 der Marschall Bazaine der raquoVer-lierer von Metzlaquo im Deutsch-Franzoumlsischen Krieg unter suspekten Umstaumlnden entkam Neben den ausschweifenden Beschreibungen von Villenarchitektur und Botanik fehlte das Politische in Lieacutegeards Werk durchaus nicht Napoleon III hatte zwar bedauerlicherweise den Krieg von 187071 gegen die Bismarck-Koalition verloren aber 1860 erreicht dass Nizza als Hauptort des Deacutepartement Alpes-Ma-ritimes franzoumlsisch wurde ndash bis dahin war es Teil des Koumlnigreichs von Savoyen und Sardinien Im Gegenzug hatte der franzoumlsische Kaiser die Entstehung des neuen italienischen Nationalstaats unterstuumltzt

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Wer wuumlrde von der Schoumlnheit der neu entdeckten Kuumlstenregion der Cocircte drsquoAzur oumlkonomisch profitieren nachdem sie durch den Bau schneller Eisenbahnverbindungen noch an Attraktivitaumlt gewonnen hatte Die Hotellerie und das Gastgewerbe machten nun jedenfalls auch jenseits des Hochadels Angebote an das vermoumlgende Buumlrgertum und expandierten in dieser von der raquoindustriellen Revolutionlaquo noch unberuumlhrten Gegend gewaltig Und auch Lieacutegeard hatte begriffen worum es ging Uumlber Juan-les-Pins das kurz vor Erscheinen seines Buches uumlberhaupt erst als Name auf der Landkarte erschienen war schrieb er in der zweiten Auflage seines Werkes

Eine Viertelstunde von dem kleinen Hafen entfernt wo die Tar-tanen die Toumlpferwaren aus Vallauris an Bord nehmen zweigt eine neue Straszlige ab nach Juan-les-Pins Auf feinem Sand verlaumluft sie entlang des schaumbekroumlnten Saums mit dem das Meer sie lieb-kost waumlhrend das Zwitschern der Voumlgel und der Schirm der aus-ladenden Pinien ihr Schatten und Froumlhlichkeit spenden (hellip) Eine Aktiengesellschaft wurde gegruumlndet die das Land aufkauft und parzelliert Schon sind Straszligen und Boulevards trassiert ein Bahn-hof hemmt den Reisenden in seiner Fahrt ein Hotel umwirbt ihn Doch wird sich der Reisende auch verfuumlhren lassen

Mit dem Hotel meinte Lieacutegeard das erste Grandhotel in Juan-les-Pins wo es zuvor nur die Kuumlnstlerpension Chacircteau de la Pinegravede mit ihrem markanten oktogonalen Turm gegeben hatte Diese aumllteste Villa auf dem Terrain des Staumldtchens steht wundersamerweise noch heute ndash neben einem pyramidal anmutenden Komplex aus den 1970er Jahren ndash ist aber inzwischen in teure Einzelwohnungen auf-geteilt worden Claude Monet wohnte hier 1888 als er seine beruumlhm-ten impressionistischen Bilder vom Cap drsquoAntibes und dem men-schenleeren Strand von Juan-les-Pins schuf Empfohlen hatte ihm die Unterkunft sein Kuumlnstlerfreund der Flaubert-Schuumller Guy de Mau-passant damals ein ungeheuer populaumlrer Literat Wie Monet steht Maupassant fuumlr die kuumlnstlerische Drift von der Normandie in die waumlrmeren Gefilde der Cocircte drsquoAzur Jeder Lokalpatriot kennt heute Maupassants prophetische Saumltze

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Von weitem sehen die Panzerschiffe wie Felsen aus wie kleine Inseln wie von abgestorbenen Baumlumen bedeckte Klippen Am Ufer entlang fliegt der Rauch eines Zuges der von Cannes nach Juan-les-Pins faumlhrt das vielleicht spaumlter der huumlbscheste Badeort der ganzen Kuumlste sein wird Drei Tartaren liegen mit ihren ro-mantischen Segeln von denen eines rot und die anderen beiden weiszlig sind im Fahrwasser zwischen Sainte-Marguerite und dem Festland vor Anker Das ist die Stille die suumlszlige und heiszlige Stille eines Fruumlhlingsmorgens im Suumlden und schon kommt es mir so vor als haumltte ich die Leute die reden und umherhetzen seit Wo-chen seit Monaten seit Jahren verlassen ich spuumlre wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt der suumlszlige Rausch der Ruhe die nichts stoumlren wird kein weiszliger Brief kein blaues Tele-gramm nicht die Klingel meiner Tuumlr noch das Bellen meines Hundes

Maupassant war mit seiner Jacht Bel Ami die er 1885 gekauft hatte an der Franzoumlsischen Riviera entlanggesegelt und hatte sich auch eine Zeitlang in Antibes in der Villa Muterse und im Chalet des Alpes an der Route de la Badine niedergelassen Viel schoumlpferische Zeit blieb ihm nicht mehr er starb schon 1894 mit 44 Jahren an den Folgen der Syphilis Und Juan-les-Pins wurde nie raquoder huumlbscheste Badeortlaquo wie er es prophezeit hatte

Huumlbsch und lieblich war es dort vielleicht noch bis 1914 als der Weltkrieg zunaumlchst einmal alle Spekulationsanstrengungen unter-brach Als dann Mitte der 1920er Jahre mit Frank Jay Gould und Konsorten der wirkliche Boom einsetzte und die neuen Straszligenzuumlge agrave la Miami Beach nur noch aus Hotels und Pensionen bestanden ndash innerhalb von zwei drei Jahren waren es an die hundert ndash spottete Jean Cocteau aus Juan-les-Pins sei genau die Karikatur geworden die es schon immer gewesen sei 1939 ging er dann noch weiter In einem Brief an seine Mutter bezeichnete er es als eine raquoville atrocelaquo eine scheuszligliche Stadt Dabei waren damals die meisten alten Villen noch nicht abgerissen die den zeittypischen Appartementkomplexen der 1950er und 1960er Jahre Platz machen mussten weil diese houmlhere Renditen fuumlr die Besitzer versprachen9

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1960 war das absurde architektonische Gesamtkunstwerk Juan-les-Pins mit seinen Art-deacuteco-Bauten den vereinzelt uumlbrig gebliebe-nen Villen aus der Gruumlnderphase und den vielen skurrilen Beton-kloumltzen allerdings schon so musealisiert dass dieser Wirrwarr neue Bewunderer fand Der Fotograf Brassaiuml erinnerte sich an ein Ge-spraumlch unter den riesigen Pinien von Juan-les-Pins mit Henry Miller der damals ndash wie uumlbrigens auch Georges Simenon ndash Jurymitglied beim Filmfestival von Cannes war

MILLER raquoIch mag diesen Ort Ich verlasse mich stets auf meinen Instinkt meine Gewohnheiten Wenn ich in die Auszligenbezirke einer Stadt komme erschnuumlffele ich ob sie mir gefaumlllt oder nicht ob ich dort gluumlcklich sein werde oder ungluumlcklich Ich habe das Gefuumlhl Juan-les-Pins wird mir guttunlaquoBrassaiuml raquoPicasso hatte das gleiche Gefuumlhl In Paris hat er diese Stadt einmal gemalt ohne sie je zuvor gesehen zu haben Und als er 1920 zum ersten Mal herkam sah er dass Juan-les-Pins genau so war wie er es sich vorgestellt hatte Uumlberwaumlltigt rief er rsaquoKein Zweifel diese Stadt gehoumlrt mirlsaquolaquo

Andrew Loog Oldham in den 1960er Jahren Manager der Rolling Stones erinnerte sich an die Zeit als er am Strand von Juan-les-Pins als Aushilfskellner in raquoButlerrsquos Tea Roomlaquo ndash heute das zentrale Cafeacute de la Plage ndash gearbeitet hatte

Juan war eine riesige Filmkulisse Das Licht war unglaublich Sie hatten da eine Art Licht von dem England bis dahin nicht einmal wusste dass es uumlberhaupt existiert Die Rock-rsquonrsquo-Roll-Clubs waren fantastisch Sie lagen alle unter freiem Himmel versteckt hinter einer langen Hecke Man konnte die Musik von der Straszlige aus houmlren Nach Juan-les-Pins fuhren die franzoumlsischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars im Sommer weil das Publikum dort juumlnger war Die franzouml-sischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars waren groszligartig Im Winter flogen sie zum Shoppen nach Amerika und behaupteten sie gingen dort auf Tour

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

Page 6: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

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Mauer der raquoOstblocklaquo und der Warschauer Pakt brachen auseinan-der Solche welthistorischen Umwaumllzungen kuumlmmern die Cocircte drsquoAzur nicht denn hier wechselt nur die Nationalitaumlt der vermoumlgenden In-vestoren Aktuell setzt man auf reiche Chinesen und Araber in den 1990er Jahren dominierten unangefochten die russischen neureichen Oligarchen raquonovarichslaquo wie Roman Abramowitsch mit seinem pom-poumls renovierten Chacircteau de la Croeuml am Cap drsquoAntibes Zuvor wohn-ten da Bauherr Sir Pomeroy Burton Generaldirektor der Associated Newspapers dann der Herzog und die Herzogin von Windsor sowie die griechischen Reeder-Tycoons Aristoteles Onassis und Stavros Niarchos

Ich war ndash biografisch eher verspaumltet ndash zum ersten Mal an der Cocircte drsquoAzur Sie erschien mir durch ihre filmischen Spiegelungen aber ziemlich vertraut Uumlber den Daumlchern von Nizza Swimmingpool Und Gott schuf die Frau Der Gendarm von Saint-Tropez Lautlos wie die Nacht Sag niemals nie Nur die Sonne war Zeuge Bonjour Tristesse Zwei hinreiszligend verdorbene Schurken und Hunderte von B-Movies mit deut-schen Titeln wie Nimmrsquos leicht nimm Dynamit oder Der Panther wird gehetzt All die Filmpaare ndash Alain Delon und Romy Schneider Grace Kelly und Cary Grant Lino Ventura und Franccediloise Fabian Sean Connery und Kim Basinger ndash die sich wiederum bruchlos mit der inzwischen untergegangenen Playboy-Szenerie mischten ndash Aly Khan und Rita Hayworth Gunter Sachs und Brigitte Bardot Danielle Darrieux und Porfirio Rubirosa ( jener Playboy- Diplomat aus der Dominikanischen Republik mit dem klingendsten Namen der sich fuumlr diese fast ausgestorbene Spezies nur denken laumlsst) sowie Aristo-teles Onassis auch kein schlechter Name mal mit Maria Callas mal mit Jackie Kennedy In keiner anderen Landschaft der Welt auch nicht in Kalifornien oder in der Normandie uumlberlagern und durchdringen Literatur bildende Kunst und Film alle unmittelbaren Eindruumlcke und Assoziationen derart Es handelt sich hier um eine unmittelbar fiktionalisierte Wirklichkeit

Zunaumlchst verbrachte ich einige Tage in der franzoumlsisch-italieni-schen Grenzstadt Menton mit dem kleinen Friedhof der fruumlh verstor-benen tuberkulosekranken Adligen oben am alten Schloss und den gigantischen Hotelpalaumlsten der Belle Eacutepoque mit so luxurierenden

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Namen wie raquoWinter Palacelaquo raquoImperiallaquo raquoHocirctel drsquoOrientlaquo ndash allesamt laumlngst in Einzelappartements umgewandelt Dann weiter nach Ville-franche-sur-Mer zum Hotel Welcome wo Jean Cocteau seinem Opi-umkonsum froumlnte und die Rolling Stones als britische Steuerfluumlcht-linge in der Villa Nelcocircte am gegenuumlberliegenden Cap noch haumlrtere Drogen konsumiert und ihr Album Exile on Main Street komponiert hatten Weiter nach Monaco das mit seiner Mischung aus dem uumlber-mediatisierten Fuumlrstenhaus und den Hochhausbatterien eher uninter-essant schien vorbei an Nizza der Kapitale des Deacutepartement Alpes Maritimes die ich erst spaumlter en deacutetail kennenlernen sollte schnell vorbei auch an der Altstadt von Antibes getreu der alten Alexandre Dumas zugeschriebenen Anekdote raquoWie fanden Sie Antibeslaquo ndash raquoIch habe es uumlberhaupt nicht gefundenlaquo Und dann Juan-les-Pins

Juan-les-Pins knapp 5000 staumlndige Einwohner verwaltungstech-nisch von jeher ein Teil von Antibes seit seiner Gruumlndung 1882 aber ein seltsamer Ort eine Art Resort fuumlr Koumlrperkult Fun und Games mit ausgepraumlgtem Eigenleben erwaumlhnt in einem Popsong der zu Be-ginn der 1970er Jahre weltweit von den Radiosendern immer wieder gespielt wurde Peter Sarstedts raquoWhere Do You Go To My Lovelylaquo Es geht darin um eine gewisse Marie-Claire die aus der leeren Welt der Schoumlnen und Reichen befreit werden soll In der Juan-les-Pins betreffenden Stelle heiszligt es

When you go on your summer vacation you go to Juan-les-PinsWith your carefully designed topless swimsuitYou get an even sun tan on your back and on your legs1

Beim Houmlren des mit eingaumlngigen Akkordeonklaumlngen unterlegten Songs hatte ich mich des Oumlfteren gefragt wie ein raquocarefully designed topless swimsuitlaquo aussehen mochte ndash gemeint war wohl der von Rudi Gernreich erfundene Monokini ndash und auch Sarstedts Refrain

But where do you go to my lovelyWhen yoursquore alone in your bedTell me the thoughts that surround youI want to look inside your head yes I do2

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erschien mir etwas raumltselhaft Klang das nicht irgendwie nach einem unangenehmen und gefaumlhrlichen Stalker

Aber der Name Juan-les-Pins war haumlngen geblieben obwohl Sar-stedt ihn kaum auszusprechen verstand ndash es klang irgendwie wie raquoJanleponlaquo hatte aber etwas von Glamour Verruchtheit und Luxus3 Diese vage Verheiszligung war der eine Grund fuumlr meinen Aufenthalt in Juan-les-Pins der andere und eher handfeste Christian Plumails Auberge de lrsquoEsterel ein kleines Restaurant mit einem Michelin-Stern und guumlnstiger Uumlbernachtungsmoumlglichkeit Die Restaurantfuumlhrer lob-ten das unschlagbare Preis-Leistungs-Verhaumlltnis bei gleichzeitig un-gewoumlhnlich kreativer Kochleistung So war es auch 150 Franc ndash auf heutige Verhaumlltnisse umgerechnet 25 Euro ndash fuumlr vier Gaumlnge mit einem umwerfenden Dessert schwerster Schokokompositionen

Am Tag nach meiner Ankunft machte ich mich auf den kleinen Ort zu erkunden der seinen einzigartigen Aufstieg zum Vergnuuml-gungszentrum der Cocircte drsquoAzur im 20 Jahrhundert ndash lange vor Saint-Tropez ndash einem makellosen Sandstrand verdankte uumlber den Monaco oder Nizza nicht verfuumlgen Unbestrittener Mittelpunkt von Juan-les-Pins ist der Carrefour de la Joie eine Straszligenkreuzung an der sich mit dem raquoLe Crystallaquo und dem raquoPam Pamlaquo zwei Bars der 1920er und 1930er Jahre bis heute gehalten haben Davor von Westen aus zum Strandboulevard verlaufend eine Batterie von weniger exklusiven Snackbars und Boutiquen mit Namen wie raquoHystericalaquo raquoWeekend agrave la merlaquo oder raquoInterdit de me gronderlaquo Gegenuumlber die alte Presse-buchhandlung und das architektonisch schwer verungluumlckte post-moderne Hotel Garden Beach damals noch mit dem Spielcasino einst angeblich das eleganteste an der gesamten Kuumlste Daneben das Pinienwaumlldchen das dem Ort den seltsamen Namen gab und daruumlber thronend ein riesiges weiszliges offenbar leerstehendes Ge-baumlude in einem undefinierbaren Architekturstil einer Mischung aus Stahl beton-Gigantismus und neoprovenzalischer Ornamentik Kein Hinweis kein Name an diesem Bauwerk das aussah wie ein im Wald gestrandeter Ozeandampfer

Ich umrundete den raumltselhaften Bau mehrfach und wandte mich schlieszliglich an ortskundige Passanten Es handele sich so erfuhr ich um das ehemalige Luxushotel Le Provenccedilal das nach seiner Einwei-

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hung 1927 als die modernste und aufregendste Herberge der Cocircte drsquoAzur galt 280 Zimmer in denen Groumlszligen wie Winston Churchill Charlie Chaplin Lilian Harvey und Jack Warner logierten Mit rund 350 Angestellten war das Haus der mit Abstand groumlszligte Arbeitgeber in Juan-les-Pins Unvergessliche Galas schrille Misswahlen und Mu-sikwettbewerbe fanden hier statt In den 1960er Jahren beherbergte das raquoProvenccedilallaquo dann Jazzgroumlszligen wie Dizzy Gillespie Sidney Bechet und Miles Davis nachdem 1960 in Juan-les-Pins das erste europauml-ische Jazzfestival ins Leben gerufen worden war ndash Reminiszenz an das Jazz Age der 1920er Jahre als Pablo Picasso Cole Porter F Scott Fitzgerald Ernest Hemingway Sara und Gerald Murphy und Dut-zende andere Kuumlnstler und Intellektuelle den Ort und das benach-barte Cap drsquoAntibes zu einer Art Montparnasse-sur-Mer gemacht hatten 1977 sei das raquoProvenccedilallaquo dann von seinem neuen Besitzer dem reichen Pariser Juwelier Alexandre Reza von einem Tag auf den anderen geschlossen worden Ein Skandal Die Hinrichtung von Juan-les-Pins Eine Schande

Bei meinem ersten Besuch war das raquoProvenccedilallaquo von dessen Ro-tunde aus man bei klarem Wetter die vorgelagerten Lerinischen In-seln Sainte-Marguerite und Saint-Honorat und sogar Korsika sehen kann seit dreizehn Jahren geschlossen Das war schon deshalb reich-lich merkwuumlrdig weil das Hotel an der uumlbergangslosen Grenze zwi-schen Juan-les-Pins und dem von zahlreichen Milliardaumlren Oligar-chen Waffenhaumlndlern und Edelganoven bewohnten Cap drsquoAntibes an einem der teuersten Kuumlstenabschnitte der Welt liegt Es ging bei dieser Investmentaffaumlre offenbar nicht nur um das Hotel selbst son-dern um das immense Areal drumherum zwei vorgelagerte Villen direkt am Meer auch verfallen das alte Chacircteau Saint-Georges fuumlr besondere Gaumlste Gesindehaumluser eine Art-deacuteco-Garage mit Appar-tements daruumlber ndash ein ganzes Stadtviertel an der Grenze zum Cap drsquoAntibes

Entwickelt hatte dieses Viertel Frank J Gould (1877ndash1956) US-Multimillionaumlr und juumlngster Sohn des beruumlchtigten ultravermoumlgen-den raquoRaubritterslaquo Jason Gould des seinerzeit meistgehassten Unter-nehmers der USA Vater Gould hatte ein Vermoumlgen mit dem Bau von Eisenbahnen und Telegrafie-Einrichtungen Presse-Organen und

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Wall-Street-Manipulationen gemacht Sein Sohn Frank Jay ein hoch-gewachsener hagerer Mann mit markanter Nase der gern und oft in den Gazetten karikiert wurde baute das bis 1918 vor sich hin daumlm-mernde Juan-les-Pins mit anderen Investoren zum raquoResortlaquo mit Spielcasino Nobelrestaurants Tennisplaumltzen und eben dem zentra-len Hotel aus Schon 1913 verlegte er seinen Wohnsitz von New York nach Frankreich investierte in die Pferdezucht von Maisons-Laffitte bei Paris uumlberdies in Papier- und Schokoladenfabriken besaszlig bald ein Chacircteau in der Normandie eine Villa in Vichy war Eigentuumlmer von Hotels und Restaurants in Houlgate Bagnoles de lrsquoOrne und Eacutevreux und versuchte aus Granville am Aumlrmelkanal ndash vergeblich ndash das raquoMonaco des Nordenslaquo zu machen Die Cocircte drsquoAzur entdeckte Frank J Gould 1923 auf der Hochzeitsreise mit seiner dritten Ehefrau Florence geborene La Caze einer fantastisch gutaussehenden feier-wuumltigen und in jeder Hinsicht freigiebigen gelernten Opernsaumlngerin Salonniegravere und Literaturmaumlzenin

Inzwischen steht das raquoProvenccedilallaquo seit 44 Jahren leer Die Ruine und der sie umgebende Ort sind zu einer Attraktion des Dark Tou-rism geworden dessen Anhaumlnger den raquoghosts of placeslaquo so der So-ziologe Michael Mayerfeld Bell nachspuumlren ndash dem subtilen Einfluss der anwesend Abwesenden Dass die Cocircte drsquoAzur eine lebensphiloso-phische Projektion ist ndash im Sinne einer uumlber das urspruumlnglich Land-schaftliche hinausweisenden kulturell-soziologischen Persona ndash hat schon der deutsche Publizist Alexander Moszkowski in seiner Auto-biografie Das Panorama meines Lebens die 1925 in Berlin erschien gut beschrieben

Der landschaftliche Reiz ist hier nicht das Wesentliche Der ver-traumlgt bis zu gewissem Grade eine Analyse er laumlszligt sich auf Bekann-tes zuruumlckfuumlhren mit anderem Landschaftlichen vergleichen und ein Globetrotter duumlrfte mir leicht beweisen daszlig der Ri-vierareiz nach malerischen und pflanzlichen Momenten be urteilt keine besondere Vorrangstellung in der Welt zu beanspruchen hat Aber die sichtbare Landschaft ist hier nicht die Grundursache sondern nur eine begleitende Bedingung des Effektes deren wahre Ursaumlchlichkeit gaumlnzlich unerforschlich bleibt Das Kantische

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raquoDing an sichlaquo findet sein Gegenstuumlck in einem raquoZauber an sichlaquo der als das Letzte und Wesentliche sich hinter den Erscheinungen verbirgt und sich nur erahnen laumlszligt wenn man von diesen alles sinnlich Erfaszligbare fortdenkt

Bei allen erkenntnistheoretischen Reflexionen uumlber den raquoZauber an sichlaquo verdankt sich die Entwicklung von Juan-les-Pins doch der Kombination aus einem relativ unberuumlhrten tourismusoumlkonomisch ausbaufaumlhigen Landstrich zwischen Antibes und Golfe-Juan mit dem Amerikanisierungsschub in den 1920er Jahren angelehnt an die Re-sorts in Florida und Kalifornien mit Flapper Girls Dancings Gamb-ling und fruumlhen Automobilrallyes Juan-les-Pins wurde ein doppeltes Gegenmodell an der Cocircte ndash gegen die existierenden Adelsrefugien wie Nizza und Cannes aber auch gegen den lieblich-friedvollen Midi im Allgemeinen Alles war aufregend und neu und ein Verfallsdatum fuumlr diesen Hotspot schien bis in die 1980er Jahre nicht absehbar 1989 waren die Fenster des raquoProvenccedilallaquo noch intakt wurde das Ganze bewacht von einem Mann mit einem kleinen Sohn und einem Do-bermann Nun gibt es nur noch das halbwegs intakte Stahlbeton-gerippe Das alte Hotelgebaumlude darf nicht abgerissen werden die Fassade steht unter Denkmalschutz

Zehn Jahre nach meinem ersten Besuch habe ich die Geschichte dieses Luxushotels in einem Film dokumentiert Der Eigentuumlmer Alexandre Reza beruumlhmt geworden als der angeblich raquoletzte Juwelier von Lady Dilaquo kam damals zu meinem Erstaunen fuumlr ein Interview extra aus Paris angereist und praumlsentierte mit Verve seine umfang-reichen ausgefeilten Umbauplaumlne die aus seiner Sicht von ruumlck-staumlndigen lokalen Buumlrgerinitiativen sabotiert wurden In weiteren Interviews aumluszligerten sich Jean Leonetti der Buumlrgermeister der Ge-meinde Antibes ndash das ist er noch heute ndash und kurzzeitig franzoumlsischer Europaminister unter Nicolas Sarkozy sowie einige Besitzer und Direktoren umliegender Luxushotels wie dem raquoBelles Riveslaquo dem raquoJuanalaquo und dem Grand Hocirctel du Cap Letzteres im Luxusportfolio der deutschen Oetker-Gruppe4 Dort steigen waumlhrend der Filmfest-spiele von Cannes Stars wie Robert De Niro Lars von Trier oder Sha-ron Stone ab Ferner kamen ehemalige Hotelangestellte und raquoMamolaquo

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der quirlige Pro minentenrestaurateur von Antibes der alle und jeden kennt sowie Lokalhistoriker und andere Spezialisten zu Wort

2007 folgte ein weiterer Film uumlber das Cap drsquoAntibes und seine vermoumlgenden Bewohner Boris Beresowski der Mann der Wladimir Putin ins Amt gebracht hatte und spaumlter sein erbittertster Gegner wurde konnte nur in London interviewt werden und nicht in seinem Chacircteau de la Garoupe am Cap drsquoAntibes da er von Interpol verfolgt wurde Er war einer der Finanziers der Orangen Revolution in der Ukraine und damals noch quicklebendig 2016 wurde er in seinem britischen Exil erhaumlngt aufgefunden ndash Selbstmord oder eine perfide Aktion von Putins Geheimdiensten das konnte bis heute nicht aufge-klaumlrt werden

Inzwischen war ich beruflich oder aus rein privatem Interesse wahrscheinlich mehr als hundertmal in Juan-les-Pins Cannes er-reicht man von dort in neun Minuten mit dem Zug nach Nizza dauert es eine halbe Stunde Man kann sich an einem der privat be-wirtschafteten Straumlnde des kleinen Ortes ndash etwa im raquoLes Pirateslaquo mit seinen tuumlrkisen Sonnenschirmen ndash in aller Ruhe mit den Geistern der intellektuellen und kuumlnstlerischen Prominenz beschaumlftigen die sich hier einst erholte ndash neben Hemingway Fitzgerald und Picasso auch Marlene Dietrich Bert Brecht Klaus Mann Walter Benjamin Joseph Roth Stefan Zweig Lee Miller Walker Evans Man Ray ndash oder auch mit den vielleicht noch spannenderen geisteshistorischen Konstellationen heute unbekannterer Zeitgenossen ndash Morphinisten Transvestiten Suffragetten

Die kulturelle und finanzielle Kolonisierung der Franzoumlsischen Riviera kann anhand der Geschichte von Juan-les-Pins sehr praumlzise beschrieben werden zumal der Ort wie kein anderer fuumlr den schnel-len Wechsel von der adligen Winterkultur mit vornehmer Blaumlsse und den Promenaden mit Sonnenschirm am Strand zur Coco-Chanel-Braumlune zur Bikinischau zur Koumlrperexzentrik steht ndash und zu Sexis-mus und Aumluszligerlichkeiten aller Art Sieht man von der unmittelbaren Gruumlndungsphase ab hat es nie irgendeine Art von Architektur-planung fuumlr Juan-les-Pins gegeben und so ist der Ort stets eine Bau-stelle fuumlr die Geschichte der Franzoumlsischen Riviera geblieben die raquozu-gleich eine Gegend und ein soziologisches Phaumlnomenlaquo ist wie Agnegraves

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Varda es im Begleitbuch ihres mittellangen Filmessays Du cocircteacute de la cocircte formulierte den das Office National du Tourisme 1958 finanzierte

Das Schicksal des raquoProvenccedilallaquo die Geschichte von Juan-les-Pins und die des Cap drsquoAntibes stellen so etwas wie spezielle Sonden fuumlr die Cocircte drsquoAzur dar mit Einblicken die uumlber die konventionellen Reise fuumlhrer mit ihrer traditionellen Tour von Marseille nach Men-ton hinausgehen Juan-les-Pins wurde nach dem Ersten Weltkrieg das Emblem fuumlr die kulturelle kuumlnstlerische und architektonische Mo-dernitaumlt an der Cocircte die nach 1945 eine Zeitlang nicht mehr en vogue war weil die neuen Block- und Riegelbauten entlang der Kuumlste eher eine nostalgische Wendung zur Belle Eacutepoque bewirkten ndash von Kunst-markt und Diskokultur einmal abgesehen Erst 1997 veranstaltete das Departement Provence-Alpes-Cocircte drsquoAzur jene zentrale und uumlber-greifende Ausstellung La Cocircte drsquoAzur et la Moderniteacute in der Malerei Design Film Fotografie Gartenbaukunst und Tanz Beachtung fan-den Signifikante Bauwerke wie Robert Mallet-Stevensrsquo Villa Noailles in Hyegraveres das raquoGloria Mansonlaquo in Nizza oder Eileen Grays Wohn-haus E1027 in Roquebrune-Cap-Martin wurden restauriert und in den letzten Jahren entstand sogar eine ndash privat organisierte ndash Besich-tigungstour zu den Art-deacuteco-Bauten in Juan-les-Pins und am Cap5 Die moderne Cocircte drsquoAzur bildet einen scharfen Gegensatz zu den bekannten Provence-Klischees mit den Lavendelfeldern Bastides Toumlpferarbeiten und Bauern mit gelben Gitanes im Mundwinkel6 auch wenn die Uumlbergaumlnge flieszligend erscheinen An der Cocircte domi-niert das Flair des Halbkriminellen Demi-Mondaumlnen ostentativ Luxurierenden raquoDie franzoumlsische Riviera ist Matisse und Picasso nicht Ceacutezanne und van Goghlaquo so hat es bereits 2009 Julian Hale in seiner Kulturgeschichte der Cocircte formuliert (erschienen in der Oxford-Reihe Landscapes of the Imagination) raquoes gibt Jachten und Speedboote keine Barken und Jollen (hellip) Es gibt Filmstars und Rockmusiker keine Stierkaumlmpfer und tote Paumlpstelaquo

1931 als Juan-les-Pins von der damals fuumlhrenden franzoumlsischen Glamourzeitschrift LrsquoIllustration zur Kapitale der neuen Unisex- Pyjama-Mode ausgerufen und hier gerade das Wasserskifahren in Europa populaumlr wurde veroumlffentlichte der Muumlnchener Piper Verlag Das Buch von der Riviera mit betont legeren Texten von Erika und

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Klaus Mann Das Riviera-Buch erschien in der Reihe Was nicht im Bae-deker steht war also eine Art Vorlaumlufer der raquoalternativen Reisefuumlhrerlaquo Die literarischen Geschwister nahmen das Projekt nicht sonderlich ernst entledigten sich ihrer Aufgabe aber mit Eleganz und im laumlssigen Kumpelstil des Weimarer Feuilletons In dem Buch werden die Grand Tour des 19 Jahrhunderts von Marseille bis zum Golf von La Spezia beschrieben eine Reihe angesagter Hotels und Tanzbars aufgefuumlhrt und die bis heute aktuelle Frage aller Fragen gestellt raquoWoher kommt der groszlige Ruhm dieser blauen Kuumlste Warum blieb die Cocircte drsquoAzur uumlber Jahrzehnte der Vergnuumlgungs- und Erholungsstrand des Konti-nents und der Weltlaquo Inzwischen kommt man schneller nach Bora-Bora Patagonien oder auf irgendeine exotische karibische Insel doch die Riviera hat ihren Statuswert als Reiseziel eher noch gemehrt

Bei aller Begeisterung uumlber das rot schimmernde Esterel-Gebirge die drei grandiosen Corniches zwischen Nizza und Menton putzige Kuumlnstlerdoumlrfer wie Mougins und Saint-Paul-de-Vence oder karibisch anmutende Inselparadiese wie Porquerolles und Port-Cros sollte nicht vergessen werden dass die Cocircte seit Jahrzehnten politisch rechts steht sogar weit rechts auszligen Es gibt einen engen Zusammenhang von lo-kalen Potentaten Mafia-Organisationen aller Spielarten Spekulanten und gewoumlhnlichen Schwerkriminellen Als Albert Spaggiari ein be-kennender Fan der deutschen SS nach dem raquoBankraub des Jahrhun-dertslaquo (1976) auf raumltselhafte Weise aus dem Justizpalast in Nizza ent-kam war sein Anwalt Jacques Peyrat der aus dem Milieu des Front National stammt und spaumlter uumlber Jahre Buumlrgermeister von Nizza war erkennbar nicht unfroh uumlber die spektakulaumlre Flucht seines Klienten nach Suumldamerika Dorthin war auch Peyrats Amtsvorgaumlnger Jacques Meacutedecin 1990 nach anhaltenden Korruptionsvorwuumlrfen Hals uumlber Kopf gefluumlchtet In Nizza ist raquoJacquotlaquo Meacutedecin heute noch sehr be-liebt Sein Buch uumlber die provenzalische Kuumlche mit der Anleitung wie die echte Salade niccediloise zubereitet wird gilt nach wie vor als Standard-werk Daruumlber hinaus war der unscheinbare Kaumlsehaumlndler neben dem Bahnhof von Juan in einen spektakulaumlren Mordfall ver wickelt bei dem 1999 einige Mafiosi enthauptet und zerteilt in Muumlllsaumlcken im Hinterland aufgefunden wurden Selbst im kleinen Juan-les-Pins gab es eine Zelle der brutalen italienischen rsquoNdrangheta7

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Uumlberdies ist die Franzoumlsische Riviera ein Tummelplatz fuumlr Dik-tatoren und Autokraten aller Art ndash von Ben Ali (Tunesien) uumlber Omar Bongo (Gabun) bis hin zu raquoBaby Doclaquo Duvalier (Haiti) der allerdings vor seiner kurzzeitigen Ruumlckkehr auf seine Heimatinsel in einem billigen Hotel in Mougins logieren musste Unrechtmaumlszligig er-worbenes Vermoumlgen wird hier in Villen und Jachten investiert denn uumlblicherweise recherchieren franzoumlsische Untersuchungsrichter zu-ruumlckhaltend wenn es um raquobiens mal acquislaquo ndash schlecht erworbene Guumlter ndash geht Der blutig regierenden saudischen Koumlnigsfamilie die missliebige Journalisten schon einmal foltern oder gar zerstuumlckeln laumlsst gehoumlren ausgedehnte Laumlndereien in Golfe-Juan rund um das Chacircteau de lrsquoHorizon das 1932 von Barry Dierks fuumlr die US-Schau-spielerin Maxine Elliott erbaut wurde ebenso das neomaurische Chacircteau Robert heute eine gigantische Ruine und einst von Emil Jel-linek bewohnt dem Namensgeber der Daimler-Marke raquoMercedeslaquo

Der kriminelle Hintergrund der Cocircte muss den gewoumlhnlichen Touristen nicht kuumlmmern und Hollywood-Stars werden waumlhrend der Filmfestspiele von Cannes gewoumlhnlich verschont Dennoch loumlsen die vermehrten Raubuumlberfaumllle auf Ferienappartements bei denen die Bewohner schon einmal mit Betaumlubungsgas auszliger Gefecht gesetzt werden Beunruhigung aus Nachdem die Tochter seiner Geliebten Yvonne Cloetta einen Mann aus dem raquoMilieulaquo geheiratet hatte der sie offenbar drangsalierte hat Graham Greene der Amateurspion und feinsinnige Autor von Bestsellern wie Unser Mann in Havanna oder Der stille Amerikaner in dem 1982 verfassten Pamphlet Jrsquoaccuse gewarnt raquoVermeiden Sie die Gegend um Nizza ndash sie ist das Revier einiger der kriminellsten Organisationen im Suumlden Frankreichslaquo Greene verursachte damit zunaumlchst einigen Wirbel bis hinauf zum franzoumlsischen Justizminister schlieszliglich war der damals bereits 77-Jaumlhrige nicht irgendwer aber Nizzas Buumlrgermeister Meacutedecin kehrte den Spieszlig einfach um und beschimpfte ndash mit dem Nice Matin im Ruumlcken ndash den ewigen Kandidaten fuumlr den Literaturnobelpreis als raquoalten Spinnerlaquo und weltfremden Auslaumlnder der sich nie in die spezifische Atmosphaumlre der Cocircte habe einfinden koumlnnen

Die Nobelpreise erhielten was die Cocircte drsquoAzur anlangt dann zwei eher zuruumlckhaltende Charaktere zunaumlchst im Jahr 2008 Jean-Marie

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Gustave Le Cleacutezio aus Nizza bekannt als J M G Le Cleacutezio und 2014 Patrick Modiano dessen Romane Sonntage im August und Hochzeits-reise unter anderem durch ausgezeichnete Recherchen glaumlnzen und einen bemerkenswerten Einblick in das Vichy-Regime an der Cocircte und die deutsch-italienische Besatzungszeit gewaumlhren Modianos Hochzeitsreise spielt in einem kardinalen Kapitel im raquoProvenccedilallaquo das auch in zahlreichen weiteren Romanen und Spionagestorys von Georges Simenon bis zu Jean-Paul Sartre oder Irwin Shaw vorkommt

Die klassische Riviera gibt es kulturhistorisch seit dem 18 Jahr-hundert kolonisiert zunaumlchst von reichen Englaumlndern und russischen Adligen die Cocircte drsquoAzur gibt es erst seit 1887 jedenfalls begrifflich8 Das wissen wir ziemlich genau denn Steacutephen Lieacutegeard ein Regional-politiker mit literarischen Neigungen hat in jenem Jahr ein blumiges 630-Seiten-Werk mit dem Titel La Cocircte drsquoAzur publiziert und damit eine bis heute guumlltige landschaftliche Weltmarke erfunden Originell war der Titel nicht denn das Azurblau unter den Blautoumlnen findet man schon in Theacuteodore de Banvilles Buch La mer de Nice (1865)

Lieacutegeard schwer begeistert von der Sommerfrische der Adligen und dem sanften Klima der Provence und ihrer langen griechisch-roumlmischen Kolonisationsgeschichte vermischte fuumlr seine Cocircte- Geschichte munter Zeithistorie Landschaftsekstase und Legenden wobei er es mit den Fakten nicht so genau nahm aber eine fuumlr die Belle Eacutepoque attraktive Lektuumlre schuf Allein dreiszligig Seiten schrieb er uumlber die Lerinischen Inseln vor Cannes uumlber die moumlnchische Kul-tur auf der Insel Saint-Honorat und das Staatsgefaumlngnis auf der Insel Sainte-Marguerite wo der raquoMann mit der eisernen Maskelaquo gefangen gehalten wurde und aus dem 1874 der Marschall Bazaine der raquoVer-lierer von Metzlaquo im Deutsch-Franzoumlsischen Krieg unter suspekten Umstaumlnden entkam Neben den ausschweifenden Beschreibungen von Villenarchitektur und Botanik fehlte das Politische in Lieacutegeards Werk durchaus nicht Napoleon III hatte zwar bedauerlicherweise den Krieg von 187071 gegen die Bismarck-Koalition verloren aber 1860 erreicht dass Nizza als Hauptort des Deacutepartement Alpes-Ma-ritimes franzoumlsisch wurde ndash bis dahin war es Teil des Koumlnigreichs von Savoyen und Sardinien Im Gegenzug hatte der franzoumlsische Kaiser die Entstehung des neuen italienischen Nationalstaats unterstuumltzt

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Wer wuumlrde von der Schoumlnheit der neu entdeckten Kuumlstenregion der Cocircte drsquoAzur oumlkonomisch profitieren nachdem sie durch den Bau schneller Eisenbahnverbindungen noch an Attraktivitaumlt gewonnen hatte Die Hotellerie und das Gastgewerbe machten nun jedenfalls auch jenseits des Hochadels Angebote an das vermoumlgende Buumlrgertum und expandierten in dieser von der raquoindustriellen Revolutionlaquo noch unberuumlhrten Gegend gewaltig Und auch Lieacutegeard hatte begriffen worum es ging Uumlber Juan-les-Pins das kurz vor Erscheinen seines Buches uumlberhaupt erst als Name auf der Landkarte erschienen war schrieb er in der zweiten Auflage seines Werkes

Eine Viertelstunde von dem kleinen Hafen entfernt wo die Tar-tanen die Toumlpferwaren aus Vallauris an Bord nehmen zweigt eine neue Straszlige ab nach Juan-les-Pins Auf feinem Sand verlaumluft sie entlang des schaumbekroumlnten Saums mit dem das Meer sie lieb-kost waumlhrend das Zwitschern der Voumlgel und der Schirm der aus-ladenden Pinien ihr Schatten und Froumlhlichkeit spenden (hellip) Eine Aktiengesellschaft wurde gegruumlndet die das Land aufkauft und parzelliert Schon sind Straszligen und Boulevards trassiert ein Bahn-hof hemmt den Reisenden in seiner Fahrt ein Hotel umwirbt ihn Doch wird sich der Reisende auch verfuumlhren lassen

Mit dem Hotel meinte Lieacutegeard das erste Grandhotel in Juan-les-Pins wo es zuvor nur die Kuumlnstlerpension Chacircteau de la Pinegravede mit ihrem markanten oktogonalen Turm gegeben hatte Diese aumllteste Villa auf dem Terrain des Staumldtchens steht wundersamerweise noch heute ndash neben einem pyramidal anmutenden Komplex aus den 1970er Jahren ndash ist aber inzwischen in teure Einzelwohnungen auf-geteilt worden Claude Monet wohnte hier 1888 als er seine beruumlhm-ten impressionistischen Bilder vom Cap drsquoAntibes und dem men-schenleeren Strand von Juan-les-Pins schuf Empfohlen hatte ihm die Unterkunft sein Kuumlnstlerfreund der Flaubert-Schuumller Guy de Mau-passant damals ein ungeheuer populaumlrer Literat Wie Monet steht Maupassant fuumlr die kuumlnstlerische Drift von der Normandie in die waumlrmeren Gefilde der Cocircte drsquoAzur Jeder Lokalpatriot kennt heute Maupassants prophetische Saumltze

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Von weitem sehen die Panzerschiffe wie Felsen aus wie kleine Inseln wie von abgestorbenen Baumlumen bedeckte Klippen Am Ufer entlang fliegt der Rauch eines Zuges der von Cannes nach Juan-les-Pins faumlhrt das vielleicht spaumlter der huumlbscheste Badeort der ganzen Kuumlste sein wird Drei Tartaren liegen mit ihren ro-mantischen Segeln von denen eines rot und die anderen beiden weiszlig sind im Fahrwasser zwischen Sainte-Marguerite und dem Festland vor Anker Das ist die Stille die suumlszlige und heiszlige Stille eines Fruumlhlingsmorgens im Suumlden und schon kommt es mir so vor als haumltte ich die Leute die reden und umherhetzen seit Wo-chen seit Monaten seit Jahren verlassen ich spuumlre wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt der suumlszlige Rausch der Ruhe die nichts stoumlren wird kein weiszliger Brief kein blaues Tele-gramm nicht die Klingel meiner Tuumlr noch das Bellen meines Hundes

Maupassant war mit seiner Jacht Bel Ami die er 1885 gekauft hatte an der Franzoumlsischen Riviera entlanggesegelt und hatte sich auch eine Zeitlang in Antibes in der Villa Muterse und im Chalet des Alpes an der Route de la Badine niedergelassen Viel schoumlpferische Zeit blieb ihm nicht mehr er starb schon 1894 mit 44 Jahren an den Folgen der Syphilis Und Juan-les-Pins wurde nie raquoder huumlbscheste Badeortlaquo wie er es prophezeit hatte

Huumlbsch und lieblich war es dort vielleicht noch bis 1914 als der Weltkrieg zunaumlchst einmal alle Spekulationsanstrengungen unter-brach Als dann Mitte der 1920er Jahre mit Frank Jay Gould und Konsorten der wirkliche Boom einsetzte und die neuen Straszligenzuumlge agrave la Miami Beach nur noch aus Hotels und Pensionen bestanden ndash innerhalb von zwei drei Jahren waren es an die hundert ndash spottete Jean Cocteau aus Juan-les-Pins sei genau die Karikatur geworden die es schon immer gewesen sei 1939 ging er dann noch weiter In einem Brief an seine Mutter bezeichnete er es als eine raquoville atrocelaquo eine scheuszligliche Stadt Dabei waren damals die meisten alten Villen noch nicht abgerissen die den zeittypischen Appartementkomplexen der 1950er und 1960er Jahre Platz machen mussten weil diese houmlhere Renditen fuumlr die Besitzer versprachen9

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1960 war das absurde architektonische Gesamtkunstwerk Juan-les-Pins mit seinen Art-deacuteco-Bauten den vereinzelt uumlbrig gebliebe-nen Villen aus der Gruumlnderphase und den vielen skurrilen Beton-kloumltzen allerdings schon so musealisiert dass dieser Wirrwarr neue Bewunderer fand Der Fotograf Brassaiuml erinnerte sich an ein Ge-spraumlch unter den riesigen Pinien von Juan-les-Pins mit Henry Miller der damals ndash wie uumlbrigens auch Georges Simenon ndash Jurymitglied beim Filmfestival von Cannes war

MILLER raquoIch mag diesen Ort Ich verlasse mich stets auf meinen Instinkt meine Gewohnheiten Wenn ich in die Auszligenbezirke einer Stadt komme erschnuumlffele ich ob sie mir gefaumlllt oder nicht ob ich dort gluumlcklich sein werde oder ungluumlcklich Ich habe das Gefuumlhl Juan-les-Pins wird mir guttunlaquoBrassaiuml raquoPicasso hatte das gleiche Gefuumlhl In Paris hat er diese Stadt einmal gemalt ohne sie je zuvor gesehen zu haben Und als er 1920 zum ersten Mal herkam sah er dass Juan-les-Pins genau so war wie er es sich vorgestellt hatte Uumlberwaumlltigt rief er rsaquoKein Zweifel diese Stadt gehoumlrt mirlsaquolaquo

Andrew Loog Oldham in den 1960er Jahren Manager der Rolling Stones erinnerte sich an die Zeit als er am Strand von Juan-les-Pins als Aushilfskellner in raquoButlerrsquos Tea Roomlaquo ndash heute das zentrale Cafeacute de la Plage ndash gearbeitet hatte

Juan war eine riesige Filmkulisse Das Licht war unglaublich Sie hatten da eine Art Licht von dem England bis dahin nicht einmal wusste dass es uumlberhaupt existiert Die Rock-rsquonrsquo-Roll-Clubs waren fantastisch Sie lagen alle unter freiem Himmel versteckt hinter einer langen Hecke Man konnte die Musik von der Straszlige aus houmlren Nach Juan-les-Pins fuhren die franzoumlsischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars im Sommer weil das Publikum dort juumlnger war Die franzouml-sischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars waren groszligartig Im Winter flogen sie zum Shoppen nach Amerika und behaupteten sie gingen dort auf Tour

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

Page 7: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

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Namen wie raquoWinter Palacelaquo raquoImperiallaquo raquoHocirctel drsquoOrientlaquo ndash allesamt laumlngst in Einzelappartements umgewandelt Dann weiter nach Ville-franche-sur-Mer zum Hotel Welcome wo Jean Cocteau seinem Opi-umkonsum froumlnte und die Rolling Stones als britische Steuerfluumlcht-linge in der Villa Nelcocircte am gegenuumlberliegenden Cap noch haumlrtere Drogen konsumiert und ihr Album Exile on Main Street komponiert hatten Weiter nach Monaco das mit seiner Mischung aus dem uumlber-mediatisierten Fuumlrstenhaus und den Hochhausbatterien eher uninter-essant schien vorbei an Nizza der Kapitale des Deacutepartement Alpes Maritimes die ich erst spaumlter en deacutetail kennenlernen sollte schnell vorbei auch an der Altstadt von Antibes getreu der alten Alexandre Dumas zugeschriebenen Anekdote raquoWie fanden Sie Antibeslaquo ndash raquoIch habe es uumlberhaupt nicht gefundenlaquo Und dann Juan-les-Pins

Juan-les-Pins knapp 5000 staumlndige Einwohner verwaltungstech-nisch von jeher ein Teil von Antibes seit seiner Gruumlndung 1882 aber ein seltsamer Ort eine Art Resort fuumlr Koumlrperkult Fun und Games mit ausgepraumlgtem Eigenleben erwaumlhnt in einem Popsong der zu Be-ginn der 1970er Jahre weltweit von den Radiosendern immer wieder gespielt wurde Peter Sarstedts raquoWhere Do You Go To My Lovelylaquo Es geht darin um eine gewisse Marie-Claire die aus der leeren Welt der Schoumlnen und Reichen befreit werden soll In der Juan-les-Pins betreffenden Stelle heiszligt es

When you go on your summer vacation you go to Juan-les-PinsWith your carefully designed topless swimsuitYou get an even sun tan on your back and on your legs1

Beim Houmlren des mit eingaumlngigen Akkordeonklaumlngen unterlegten Songs hatte ich mich des Oumlfteren gefragt wie ein raquocarefully designed topless swimsuitlaquo aussehen mochte ndash gemeint war wohl der von Rudi Gernreich erfundene Monokini ndash und auch Sarstedts Refrain

But where do you go to my lovelyWhen yoursquore alone in your bedTell me the thoughts that surround youI want to look inside your head yes I do2

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erschien mir etwas raumltselhaft Klang das nicht irgendwie nach einem unangenehmen und gefaumlhrlichen Stalker

Aber der Name Juan-les-Pins war haumlngen geblieben obwohl Sar-stedt ihn kaum auszusprechen verstand ndash es klang irgendwie wie raquoJanleponlaquo hatte aber etwas von Glamour Verruchtheit und Luxus3 Diese vage Verheiszligung war der eine Grund fuumlr meinen Aufenthalt in Juan-les-Pins der andere und eher handfeste Christian Plumails Auberge de lrsquoEsterel ein kleines Restaurant mit einem Michelin-Stern und guumlnstiger Uumlbernachtungsmoumlglichkeit Die Restaurantfuumlhrer lob-ten das unschlagbare Preis-Leistungs-Verhaumlltnis bei gleichzeitig un-gewoumlhnlich kreativer Kochleistung So war es auch 150 Franc ndash auf heutige Verhaumlltnisse umgerechnet 25 Euro ndash fuumlr vier Gaumlnge mit einem umwerfenden Dessert schwerster Schokokompositionen

Am Tag nach meiner Ankunft machte ich mich auf den kleinen Ort zu erkunden der seinen einzigartigen Aufstieg zum Vergnuuml-gungszentrum der Cocircte drsquoAzur im 20 Jahrhundert ndash lange vor Saint-Tropez ndash einem makellosen Sandstrand verdankte uumlber den Monaco oder Nizza nicht verfuumlgen Unbestrittener Mittelpunkt von Juan-les-Pins ist der Carrefour de la Joie eine Straszligenkreuzung an der sich mit dem raquoLe Crystallaquo und dem raquoPam Pamlaquo zwei Bars der 1920er und 1930er Jahre bis heute gehalten haben Davor von Westen aus zum Strandboulevard verlaufend eine Batterie von weniger exklusiven Snackbars und Boutiquen mit Namen wie raquoHystericalaquo raquoWeekend agrave la merlaquo oder raquoInterdit de me gronderlaquo Gegenuumlber die alte Presse-buchhandlung und das architektonisch schwer verungluumlckte post-moderne Hotel Garden Beach damals noch mit dem Spielcasino einst angeblich das eleganteste an der gesamten Kuumlste Daneben das Pinienwaumlldchen das dem Ort den seltsamen Namen gab und daruumlber thronend ein riesiges weiszliges offenbar leerstehendes Ge-baumlude in einem undefinierbaren Architekturstil einer Mischung aus Stahl beton-Gigantismus und neoprovenzalischer Ornamentik Kein Hinweis kein Name an diesem Bauwerk das aussah wie ein im Wald gestrandeter Ozeandampfer

Ich umrundete den raumltselhaften Bau mehrfach und wandte mich schlieszliglich an ortskundige Passanten Es handele sich so erfuhr ich um das ehemalige Luxushotel Le Provenccedilal das nach seiner Einwei-

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hung 1927 als die modernste und aufregendste Herberge der Cocircte drsquoAzur galt 280 Zimmer in denen Groumlszligen wie Winston Churchill Charlie Chaplin Lilian Harvey und Jack Warner logierten Mit rund 350 Angestellten war das Haus der mit Abstand groumlszligte Arbeitgeber in Juan-les-Pins Unvergessliche Galas schrille Misswahlen und Mu-sikwettbewerbe fanden hier statt In den 1960er Jahren beherbergte das raquoProvenccedilallaquo dann Jazzgroumlszligen wie Dizzy Gillespie Sidney Bechet und Miles Davis nachdem 1960 in Juan-les-Pins das erste europauml-ische Jazzfestival ins Leben gerufen worden war ndash Reminiszenz an das Jazz Age der 1920er Jahre als Pablo Picasso Cole Porter F Scott Fitzgerald Ernest Hemingway Sara und Gerald Murphy und Dut-zende andere Kuumlnstler und Intellektuelle den Ort und das benach-barte Cap drsquoAntibes zu einer Art Montparnasse-sur-Mer gemacht hatten 1977 sei das raquoProvenccedilallaquo dann von seinem neuen Besitzer dem reichen Pariser Juwelier Alexandre Reza von einem Tag auf den anderen geschlossen worden Ein Skandal Die Hinrichtung von Juan-les-Pins Eine Schande

Bei meinem ersten Besuch war das raquoProvenccedilallaquo von dessen Ro-tunde aus man bei klarem Wetter die vorgelagerten Lerinischen In-seln Sainte-Marguerite und Saint-Honorat und sogar Korsika sehen kann seit dreizehn Jahren geschlossen Das war schon deshalb reich-lich merkwuumlrdig weil das Hotel an der uumlbergangslosen Grenze zwi-schen Juan-les-Pins und dem von zahlreichen Milliardaumlren Oligar-chen Waffenhaumlndlern und Edelganoven bewohnten Cap drsquoAntibes an einem der teuersten Kuumlstenabschnitte der Welt liegt Es ging bei dieser Investmentaffaumlre offenbar nicht nur um das Hotel selbst son-dern um das immense Areal drumherum zwei vorgelagerte Villen direkt am Meer auch verfallen das alte Chacircteau Saint-Georges fuumlr besondere Gaumlste Gesindehaumluser eine Art-deacuteco-Garage mit Appar-tements daruumlber ndash ein ganzes Stadtviertel an der Grenze zum Cap drsquoAntibes

Entwickelt hatte dieses Viertel Frank J Gould (1877ndash1956) US-Multimillionaumlr und juumlngster Sohn des beruumlchtigten ultravermoumlgen-den raquoRaubritterslaquo Jason Gould des seinerzeit meistgehassten Unter-nehmers der USA Vater Gould hatte ein Vermoumlgen mit dem Bau von Eisenbahnen und Telegrafie-Einrichtungen Presse-Organen und

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Wall-Street-Manipulationen gemacht Sein Sohn Frank Jay ein hoch-gewachsener hagerer Mann mit markanter Nase der gern und oft in den Gazetten karikiert wurde baute das bis 1918 vor sich hin daumlm-mernde Juan-les-Pins mit anderen Investoren zum raquoResortlaquo mit Spielcasino Nobelrestaurants Tennisplaumltzen und eben dem zentra-len Hotel aus Schon 1913 verlegte er seinen Wohnsitz von New York nach Frankreich investierte in die Pferdezucht von Maisons-Laffitte bei Paris uumlberdies in Papier- und Schokoladenfabriken besaszlig bald ein Chacircteau in der Normandie eine Villa in Vichy war Eigentuumlmer von Hotels und Restaurants in Houlgate Bagnoles de lrsquoOrne und Eacutevreux und versuchte aus Granville am Aumlrmelkanal ndash vergeblich ndash das raquoMonaco des Nordenslaquo zu machen Die Cocircte drsquoAzur entdeckte Frank J Gould 1923 auf der Hochzeitsreise mit seiner dritten Ehefrau Florence geborene La Caze einer fantastisch gutaussehenden feier-wuumltigen und in jeder Hinsicht freigiebigen gelernten Opernsaumlngerin Salonniegravere und Literaturmaumlzenin

Inzwischen steht das raquoProvenccedilallaquo seit 44 Jahren leer Die Ruine und der sie umgebende Ort sind zu einer Attraktion des Dark Tou-rism geworden dessen Anhaumlnger den raquoghosts of placeslaquo so der So-ziologe Michael Mayerfeld Bell nachspuumlren ndash dem subtilen Einfluss der anwesend Abwesenden Dass die Cocircte drsquoAzur eine lebensphiloso-phische Projektion ist ndash im Sinne einer uumlber das urspruumlnglich Land-schaftliche hinausweisenden kulturell-soziologischen Persona ndash hat schon der deutsche Publizist Alexander Moszkowski in seiner Auto-biografie Das Panorama meines Lebens die 1925 in Berlin erschien gut beschrieben

Der landschaftliche Reiz ist hier nicht das Wesentliche Der ver-traumlgt bis zu gewissem Grade eine Analyse er laumlszligt sich auf Bekann-tes zuruumlckfuumlhren mit anderem Landschaftlichen vergleichen und ein Globetrotter duumlrfte mir leicht beweisen daszlig der Ri-vierareiz nach malerischen und pflanzlichen Momenten be urteilt keine besondere Vorrangstellung in der Welt zu beanspruchen hat Aber die sichtbare Landschaft ist hier nicht die Grundursache sondern nur eine begleitende Bedingung des Effektes deren wahre Ursaumlchlichkeit gaumlnzlich unerforschlich bleibt Das Kantische

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raquoDing an sichlaquo findet sein Gegenstuumlck in einem raquoZauber an sichlaquo der als das Letzte und Wesentliche sich hinter den Erscheinungen verbirgt und sich nur erahnen laumlszligt wenn man von diesen alles sinnlich Erfaszligbare fortdenkt

Bei allen erkenntnistheoretischen Reflexionen uumlber den raquoZauber an sichlaquo verdankt sich die Entwicklung von Juan-les-Pins doch der Kombination aus einem relativ unberuumlhrten tourismusoumlkonomisch ausbaufaumlhigen Landstrich zwischen Antibes und Golfe-Juan mit dem Amerikanisierungsschub in den 1920er Jahren angelehnt an die Re-sorts in Florida und Kalifornien mit Flapper Girls Dancings Gamb-ling und fruumlhen Automobilrallyes Juan-les-Pins wurde ein doppeltes Gegenmodell an der Cocircte ndash gegen die existierenden Adelsrefugien wie Nizza und Cannes aber auch gegen den lieblich-friedvollen Midi im Allgemeinen Alles war aufregend und neu und ein Verfallsdatum fuumlr diesen Hotspot schien bis in die 1980er Jahre nicht absehbar 1989 waren die Fenster des raquoProvenccedilallaquo noch intakt wurde das Ganze bewacht von einem Mann mit einem kleinen Sohn und einem Do-bermann Nun gibt es nur noch das halbwegs intakte Stahlbeton-gerippe Das alte Hotelgebaumlude darf nicht abgerissen werden die Fassade steht unter Denkmalschutz

Zehn Jahre nach meinem ersten Besuch habe ich die Geschichte dieses Luxushotels in einem Film dokumentiert Der Eigentuumlmer Alexandre Reza beruumlhmt geworden als der angeblich raquoletzte Juwelier von Lady Dilaquo kam damals zu meinem Erstaunen fuumlr ein Interview extra aus Paris angereist und praumlsentierte mit Verve seine umfang-reichen ausgefeilten Umbauplaumlne die aus seiner Sicht von ruumlck-staumlndigen lokalen Buumlrgerinitiativen sabotiert wurden In weiteren Interviews aumluszligerten sich Jean Leonetti der Buumlrgermeister der Ge-meinde Antibes ndash das ist er noch heute ndash und kurzzeitig franzoumlsischer Europaminister unter Nicolas Sarkozy sowie einige Besitzer und Direktoren umliegender Luxushotels wie dem raquoBelles Riveslaquo dem raquoJuanalaquo und dem Grand Hocirctel du Cap Letzteres im Luxusportfolio der deutschen Oetker-Gruppe4 Dort steigen waumlhrend der Filmfest-spiele von Cannes Stars wie Robert De Niro Lars von Trier oder Sha-ron Stone ab Ferner kamen ehemalige Hotelangestellte und raquoMamolaquo

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der quirlige Pro minentenrestaurateur von Antibes der alle und jeden kennt sowie Lokalhistoriker und andere Spezialisten zu Wort

2007 folgte ein weiterer Film uumlber das Cap drsquoAntibes und seine vermoumlgenden Bewohner Boris Beresowski der Mann der Wladimir Putin ins Amt gebracht hatte und spaumlter sein erbittertster Gegner wurde konnte nur in London interviewt werden und nicht in seinem Chacircteau de la Garoupe am Cap drsquoAntibes da er von Interpol verfolgt wurde Er war einer der Finanziers der Orangen Revolution in der Ukraine und damals noch quicklebendig 2016 wurde er in seinem britischen Exil erhaumlngt aufgefunden ndash Selbstmord oder eine perfide Aktion von Putins Geheimdiensten das konnte bis heute nicht aufge-klaumlrt werden

Inzwischen war ich beruflich oder aus rein privatem Interesse wahrscheinlich mehr als hundertmal in Juan-les-Pins Cannes er-reicht man von dort in neun Minuten mit dem Zug nach Nizza dauert es eine halbe Stunde Man kann sich an einem der privat be-wirtschafteten Straumlnde des kleinen Ortes ndash etwa im raquoLes Pirateslaquo mit seinen tuumlrkisen Sonnenschirmen ndash in aller Ruhe mit den Geistern der intellektuellen und kuumlnstlerischen Prominenz beschaumlftigen die sich hier einst erholte ndash neben Hemingway Fitzgerald und Picasso auch Marlene Dietrich Bert Brecht Klaus Mann Walter Benjamin Joseph Roth Stefan Zweig Lee Miller Walker Evans Man Ray ndash oder auch mit den vielleicht noch spannenderen geisteshistorischen Konstellationen heute unbekannterer Zeitgenossen ndash Morphinisten Transvestiten Suffragetten

Die kulturelle und finanzielle Kolonisierung der Franzoumlsischen Riviera kann anhand der Geschichte von Juan-les-Pins sehr praumlzise beschrieben werden zumal der Ort wie kein anderer fuumlr den schnel-len Wechsel von der adligen Winterkultur mit vornehmer Blaumlsse und den Promenaden mit Sonnenschirm am Strand zur Coco-Chanel-Braumlune zur Bikinischau zur Koumlrperexzentrik steht ndash und zu Sexis-mus und Aumluszligerlichkeiten aller Art Sieht man von der unmittelbaren Gruumlndungsphase ab hat es nie irgendeine Art von Architektur-planung fuumlr Juan-les-Pins gegeben und so ist der Ort stets eine Bau-stelle fuumlr die Geschichte der Franzoumlsischen Riviera geblieben die raquozu-gleich eine Gegend und ein soziologisches Phaumlnomenlaquo ist wie Agnegraves

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Varda es im Begleitbuch ihres mittellangen Filmessays Du cocircteacute de la cocircte formulierte den das Office National du Tourisme 1958 finanzierte

Das Schicksal des raquoProvenccedilallaquo die Geschichte von Juan-les-Pins und die des Cap drsquoAntibes stellen so etwas wie spezielle Sonden fuumlr die Cocircte drsquoAzur dar mit Einblicken die uumlber die konventionellen Reise fuumlhrer mit ihrer traditionellen Tour von Marseille nach Men-ton hinausgehen Juan-les-Pins wurde nach dem Ersten Weltkrieg das Emblem fuumlr die kulturelle kuumlnstlerische und architektonische Mo-dernitaumlt an der Cocircte die nach 1945 eine Zeitlang nicht mehr en vogue war weil die neuen Block- und Riegelbauten entlang der Kuumlste eher eine nostalgische Wendung zur Belle Eacutepoque bewirkten ndash von Kunst-markt und Diskokultur einmal abgesehen Erst 1997 veranstaltete das Departement Provence-Alpes-Cocircte drsquoAzur jene zentrale und uumlber-greifende Ausstellung La Cocircte drsquoAzur et la Moderniteacute in der Malerei Design Film Fotografie Gartenbaukunst und Tanz Beachtung fan-den Signifikante Bauwerke wie Robert Mallet-Stevensrsquo Villa Noailles in Hyegraveres das raquoGloria Mansonlaquo in Nizza oder Eileen Grays Wohn-haus E1027 in Roquebrune-Cap-Martin wurden restauriert und in den letzten Jahren entstand sogar eine ndash privat organisierte ndash Besich-tigungstour zu den Art-deacuteco-Bauten in Juan-les-Pins und am Cap5 Die moderne Cocircte drsquoAzur bildet einen scharfen Gegensatz zu den bekannten Provence-Klischees mit den Lavendelfeldern Bastides Toumlpferarbeiten und Bauern mit gelben Gitanes im Mundwinkel6 auch wenn die Uumlbergaumlnge flieszligend erscheinen An der Cocircte domi-niert das Flair des Halbkriminellen Demi-Mondaumlnen ostentativ Luxurierenden raquoDie franzoumlsische Riviera ist Matisse und Picasso nicht Ceacutezanne und van Goghlaquo so hat es bereits 2009 Julian Hale in seiner Kulturgeschichte der Cocircte formuliert (erschienen in der Oxford-Reihe Landscapes of the Imagination) raquoes gibt Jachten und Speedboote keine Barken und Jollen (hellip) Es gibt Filmstars und Rockmusiker keine Stierkaumlmpfer und tote Paumlpstelaquo

1931 als Juan-les-Pins von der damals fuumlhrenden franzoumlsischen Glamourzeitschrift LrsquoIllustration zur Kapitale der neuen Unisex- Pyjama-Mode ausgerufen und hier gerade das Wasserskifahren in Europa populaumlr wurde veroumlffentlichte der Muumlnchener Piper Verlag Das Buch von der Riviera mit betont legeren Texten von Erika und

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Klaus Mann Das Riviera-Buch erschien in der Reihe Was nicht im Bae-deker steht war also eine Art Vorlaumlufer der raquoalternativen Reisefuumlhrerlaquo Die literarischen Geschwister nahmen das Projekt nicht sonderlich ernst entledigten sich ihrer Aufgabe aber mit Eleganz und im laumlssigen Kumpelstil des Weimarer Feuilletons In dem Buch werden die Grand Tour des 19 Jahrhunderts von Marseille bis zum Golf von La Spezia beschrieben eine Reihe angesagter Hotels und Tanzbars aufgefuumlhrt und die bis heute aktuelle Frage aller Fragen gestellt raquoWoher kommt der groszlige Ruhm dieser blauen Kuumlste Warum blieb die Cocircte drsquoAzur uumlber Jahrzehnte der Vergnuumlgungs- und Erholungsstrand des Konti-nents und der Weltlaquo Inzwischen kommt man schneller nach Bora-Bora Patagonien oder auf irgendeine exotische karibische Insel doch die Riviera hat ihren Statuswert als Reiseziel eher noch gemehrt

Bei aller Begeisterung uumlber das rot schimmernde Esterel-Gebirge die drei grandiosen Corniches zwischen Nizza und Menton putzige Kuumlnstlerdoumlrfer wie Mougins und Saint-Paul-de-Vence oder karibisch anmutende Inselparadiese wie Porquerolles und Port-Cros sollte nicht vergessen werden dass die Cocircte seit Jahrzehnten politisch rechts steht sogar weit rechts auszligen Es gibt einen engen Zusammenhang von lo-kalen Potentaten Mafia-Organisationen aller Spielarten Spekulanten und gewoumlhnlichen Schwerkriminellen Als Albert Spaggiari ein be-kennender Fan der deutschen SS nach dem raquoBankraub des Jahrhun-dertslaquo (1976) auf raumltselhafte Weise aus dem Justizpalast in Nizza ent-kam war sein Anwalt Jacques Peyrat der aus dem Milieu des Front National stammt und spaumlter uumlber Jahre Buumlrgermeister von Nizza war erkennbar nicht unfroh uumlber die spektakulaumlre Flucht seines Klienten nach Suumldamerika Dorthin war auch Peyrats Amtsvorgaumlnger Jacques Meacutedecin 1990 nach anhaltenden Korruptionsvorwuumlrfen Hals uumlber Kopf gefluumlchtet In Nizza ist raquoJacquotlaquo Meacutedecin heute noch sehr be-liebt Sein Buch uumlber die provenzalische Kuumlche mit der Anleitung wie die echte Salade niccediloise zubereitet wird gilt nach wie vor als Standard-werk Daruumlber hinaus war der unscheinbare Kaumlsehaumlndler neben dem Bahnhof von Juan in einen spektakulaumlren Mordfall ver wickelt bei dem 1999 einige Mafiosi enthauptet und zerteilt in Muumlllsaumlcken im Hinterland aufgefunden wurden Selbst im kleinen Juan-les-Pins gab es eine Zelle der brutalen italienischen rsquoNdrangheta7

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Uumlberdies ist die Franzoumlsische Riviera ein Tummelplatz fuumlr Dik-tatoren und Autokraten aller Art ndash von Ben Ali (Tunesien) uumlber Omar Bongo (Gabun) bis hin zu raquoBaby Doclaquo Duvalier (Haiti) der allerdings vor seiner kurzzeitigen Ruumlckkehr auf seine Heimatinsel in einem billigen Hotel in Mougins logieren musste Unrechtmaumlszligig er-worbenes Vermoumlgen wird hier in Villen und Jachten investiert denn uumlblicherweise recherchieren franzoumlsische Untersuchungsrichter zu-ruumlckhaltend wenn es um raquobiens mal acquislaquo ndash schlecht erworbene Guumlter ndash geht Der blutig regierenden saudischen Koumlnigsfamilie die missliebige Journalisten schon einmal foltern oder gar zerstuumlckeln laumlsst gehoumlren ausgedehnte Laumlndereien in Golfe-Juan rund um das Chacircteau de lrsquoHorizon das 1932 von Barry Dierks fuumlr die US-Schau-spielerin Maxine Elliott erbaut wurde ebenso das neomaurische Chacircteau Robert heute eine gigantische Ruine und einst von Emil Jel-linek bewohnt dem Namensgeber der Daimler-Marke raquoMercedeslaquo

Der kriminelle Hintergrund der Cocircte muss den gewoumlhnlichen Touristen nicht kuumlmmern und Hollywood-Stars werden waumlhrend der Filmfestspiele von Cannes gewoumlhnlich verschont Dennoch loumlsen die vermehrten Raubuumlberfaumllle auf Ferienappartements bei denen die Bewohner schon einmal mit Betaumlubungsgas auszliger Gefecht gesetzt werden Beunruhigung aus Nachdem die Tochter seiner Geliebten Yvonne Cloetta einen Mann aus dem raquoMilieulaquo geheiratet hatte der sie offenbar drangsalierte hat Graham Greene der Amateurspion und feinsinnige Autor von Bestsellern wie Unser Mann in Havanna oder Der stille Amerikaner in dem 1982 verfassten Pamphlet Jrsquoaccuse gewarnt raquoVermeiden Sie die Gegend um Nizza ndash sie ist das Revier einiger der kriminellsten Organisationen im Suumlden Frankreichslaquo Greene verursachte damit zunaumlchst einigen Wirbel bis hinauf zum franzoumlsischen Justizminister schlieszliglich war der damals bereits 77-Jaumlhrige nicht irgendwer aber Nizzas Buumlrgermeister Meacutedecin kehrte den Spieszlig einfach um und beschimpfte ndash mit dem Nice Matin im Ruumlcken ndash den ewigen Kandidaten fuumlr den Literaturnobelpreis als raquoalten Spinnerlaquo und weltfremden Auslaumlnder der sich nie in die spezifische Atmosphaumlre der Cocircte habe einfinden koumlnnen

Die Nobelpreise erhielten was die Cocircte drsquoAzur anlangt dann zwei eher zuruumlckhaltende Charaktere zunaumlchst im Jahr 2008 Jean-Marie

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Gustave Le Cleacutezio aus Nizza bekannt als J M G Le Cleacutezio und 2014 Patrick Modiano dessen Romane Sonntage im August und Hochzeits-reise unter anderem durch ausgezeichnete Recherchen glaumlnzen und einen bemerkenswerten Einblick in das Vichy-Regime an der Cocircte und die deutsch-italienische Besatzungszeit gewaumlhren Modianos Hochzeitsreise spielt in einem kardinalen Kapitel im raquoProvenccedilallaquo das auch in zahlreichen weiteren Romanen und Spionagestorys von Georges Simenon bis zu Jean-Paul Sartre oder Irwin Shaw vorkommt

Die klassische Riviera gibt es kulturhistorisch seit dem 18 Jahr-hundert kolonisiert zunaumlchst von reichen Englaumlndern und russischen Adligen die Cocircte drsquoAzur gibt es erst seit 1887 jedenfalls begrifflich8 Das wissen wir ziemlich genau denn Steacutephen Lieacutegeard ein Regional-politiker mit literarischen Neigungen hat in jenem Jahr ein blumiges 630-Seiten-Werk mit dem Titel La Cocircte drsquoAzur publiziert und damit eine bis heute guumlltige landschaftliche Weltmarke erfunden Originell war der Titel nicht denn das Azurblau unter den Blautoumlnen findet man schon in Theacuteodore de Banvilles Buch La mer de Nice (1865)

Lieacutegeard schwer begeistert von der Sommerfrische der Adligen und dem sanften Klima der Provence und ihrer langen griechisch-roumlmischen Kolonisationsgeschichte vermischte fuumlr seine Cocircte- Geschichte munter Zeithistorie Landschaftsekstase und Legenden wobei er es mit den Fakten nicht so genau nahm aber eine fuumlr die Belle Eacutepoque attraktive Lektuumlre schuf Allein dreiszligig Seiten schrieb er uumlber die Lerinischen Inseln vor Cannes uumlber die moumlnchische Kul-tur auf der Insel Saint-Honorat und das Staatsgefaumlngnis auf der Insel Sainte-Marguerite wo der raquoMann mit der eisernen Maskelaquo gefangen gehalten wurde und aus dem 1874 der Marschall Bazaine der raquoVer-lierer von Metzlaquo im Deutsch-Franzoumlsischen Krieg unter suspekten Umstaumlnden entkam Neben den ausschweifenden Beschreibungen von Villenarchitektur und Botanik fehlte das Politische in Lieacutegeards Werk durchaus nicht Napoleon III hatte zwar bedauerlicherweise den Krieg von 187071 gegen die Bismarck-Koalition verloren aber 1860 erreicht dass Nizza als Hauptort des Deacutepartement Alpes-Ma-ritimes franzoumlsisch wurde ndash bis dahin war es Teil des Koumlnigreichs von Savoyen und Sardinien Im Gegenzug hatte der franzoumlsische Kaiser die Entstehung des neuen italienischen Nationalstaats unterstuumltzt

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Wer wuumlrde von der Schoumlnheit der neu entdeckten Kuumlstenregion der Cocircte drsquoAzur oumlkonomisch profitieren nachdem sie durch den Bau schneller Eisenbahnverbindungen noch an Attraktivitaumlt gewonnen hatte Die Hotellerie und das Gastgewerbe machten nun jedenfalls auch jenseits des Hochadels Angebote an das vermoumlgende Buumlrgertum und expandierten in dieser von der raquoindustriellen Revolutionlaquo noch unberuumlhrten Gegend gewaltig Und auch Lieacutegeard hatte begriffen worum es ging Uumlber Juan-les-Pins das kurz vor Erscheinen seines Buches uumlberhaupt erst als Name auf der Landkarte erschienen war schrieb er in der zweiten Auflage seines Werkes

Eine Viertelstunde von dem kleinen Hafen entfernt wo die Tar-tanen die Toumlpferwaren aus Vallauris an Bord nehmen zweigt eine neue Straszlige ab nach Juan-les-Pins Auf feinem Sand verlaumluft sie entlang des schaumbekroumlnten Saums mit dem das Meer sie lieb-kost waumlhrend das Zwitschern der Voumlgel und der Schirm der aus-ladenden Pinien ihr Schatten und Froumlhlichkeit spenden (hellip) Eine Aktiengesellschaft wurde gegruumlndet die das Land aufkauft und parzelliert Schon sind Straszligen und Boulevards trassiert ein Bahn-hof hemmt den Reisenden in seiner Fahrt ein Hotel umwirbt ihn Doch wird sich der Reisende auch verfuumlhren lassen

Mit dem Hotel meinte Lieacutegeard das erste Grandhotel in Juan-les-Pins wo es zuvor nur die Kuumlnstlerpension Chacircteau de la Pinegravede mit ihrem markanten oktogonalen Turm gegeben hatte Diese aumllteste Villa auf dem Terrain des Staumldtchens steht wundersamerweise noch heute ndash neben einem pyramidal anmutenden Komplex aus den 1970er Jahren ndash ist aber inzwischen in teure Einzelwohnungen auf-geteilt worden Claude Monet wohnte hier 1888 als er seine beruumlhm-ten impressionistischen Bilder vom Cap drsquoAntibes und dem men-schenleeren Strand von Juan-les-Pins schuf Empfohlen hatte ihm die Unterkunft sein Kuumlnstlerfreund der Flaubert-Schuumller Guy de Mau-passant damals ein ungeheuer populaumlrer Literat Wie Monet steht Maupassant fuumlr die kuumlnstlerische Drift von der Normandie in die waumlrmeren Gefilde der Cocircte drsquoAzur Jeder Lokalpatriot kennt heute Maupassants prophetische Saumltze

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Von weitem sehen die Panzerschiffe wie Felsen aus wie kleine Inseln wie von abgestorbenen Baumlumen bedeckte Klippen Am Ufer entlang fliegt der Rauch eines Zuges der von Cannes nach Juan-les-Pins faumlhrt das vielleicht spaumlter der huumlbscheste Badeort der ganzen Kuumlste sein wird Drei Tartaren liegen mit ihren ro-mantischen Segeln von denen eines rot und die anderen beiden weiszlig sind im Fahrwasser zwischen Sainte-Marguerite und dem Festland vor Anker Das ist die Stille die suumlszlige und heiszlige Stille eines Fruumlhlingsmorgens im Suumlden und schon kommt es mir so vor als haumltte ich die Leute die reden und umherhetzen seit Wo-chen seit Monaten seit Jahren verlassen ich spuumlre wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt der suumlszlige Rausch der Ruhe die nichts stoumlren wird kein weiszliger Brief kein blaues Tele-gramm nicht die Klingel meiner Tuumlr noch das Bellen meines Hundes

Maupassant war mit seiner Jacht Bel Ami die er 1885 gekauft hatte an der Franzoumlsischen Riviera entlanggesegelt und hatte sich auch eine Zeitlang in Antibes in der Villa Muterse und im Chalet des Alpes an der Route de la Badine niedergelassen Viel schoumlpferische Zeit blieb ihm nicht mehr er starb schon 1894 mit 44 Jahren an den Folgen der Syphilis Und Juan-les-Pins wurde nie raquoder huumlbscheste Badeortlaquo wie er es prophezeit hatte

Huumlbsch und lieblich war es dort vielleicht noch bis 1914 als der Weltkrieg zunaumlchst einmal alle Spekulationsanstrengungen unter-brach Als dann Mitte der 1920er Jahre mit Frank Jay Gould und Konsorten der wirkliche Boom einsetzte und die neuen Straszligenzuumlge agrave la Miami Beach nur noch aus Hotels und Pensionen bestanden ndash innerhalb von zwei drei Jahren waren es an die hundert ndash spottete Jean Cocteau aus Juan-les-Pins sei genau die Karikatur geworden die es schon immer gewesen sei 1939 ging er dann noch weiter In einem Brief an seine Mutter bezeichnete er es als eine raquoville atrocelaquo eine scheuszligliche Stadt Dabei waren damals die meisten alten Villen noch nicht abgerissen die den zeittypischen Appartementkomplexen der 1950er und 1960er Jahre Platz machen mussten weil diese houmlhere Renditen fuumlr die Besitzer versprachen9

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1960 war das absurde architektonische Gesamtkunstwerk Juan-les-Pins mit seinen Art-deacuteco-Bauten den vereinzelt uumlbrig gebliebe-nen Villen aus der Gruumlnderphase und den vielen skurrilen Beton-kloumltzen allerdings schon so musealisiert dass dieser Wirrwarr neue Bewunderer fand Der Fotograf Brassaiuml erinnerte sich an ein Ge-spraumlch unter den riesigen Pinien von Juan-les-Pins mit Henry Miller der damals ndash wie uumlbrigens auch Georges Simenon ndash Jurymitglied beim Filmfestival von Cannes war

MILLER raquoIch mag diesen Ort Ich verlasse mich stets auf meinen Instinkt meine Gewohnheiten Wenn ich in die Auszligenbezirke einer Stadt komme erschnuumlffele ich ob sie mir gefaumlllt oder nicht ob ich dort gluumlcklich sein werde oder ungluumlcklich Ich habe das Gefuumlhl Juan-les-Pins wird mir guttunlaquoBrassaiuml raquoPicasso hatte das gleiche Gefuumlhl In Paris hat er diese Stadt einmal gemalt ohne sie je zuvor gesehen zu haben Und als er 1920 zum ersten Mal herkam sah er dass Juan-les-Pins genau so war wie er es sich vorgestellt hatte Uumlberwaumlltigt rief er rsaquoKein Zweifel diese Stadt gehoumlrt mirlsaquolaquo

Andrew Loog Oldham in den 1960er Jahren Manager der Rolling Stones erinnerte sich an die Zeit als er am Strand von Juan-les-Pins als Aushilfskellner in raquoButlerrsquos Tea Roomlaquo ndash heute das zentrale Cafeacute de la Plage ndash gearbeitet hatte

Juan war eine riesige Filmkulisse Das Licht war unglaublich Sie hatten da eine Art Licht von dem England bis dahin nicht einmal wusste dass es uumlberhaupt existiert Die Rock-rsquonrsquo-Roll-Clubs waren fantastisch Sie lagen alle unter freiem Himmel versteckt hinter einer langen Hecke Man konnte die Musik von der Straszlige aus houmlren Nach Juan-les-Pins fuhren die franzoumlsischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars im Sommer weil das Publikum dort juumlnger war Die franzouml-sischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars waren groszligartig Im Winter flogen sie zum Shoppen nach Amerika und behaupteten sie gingen dort auf Tour

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

Page 8: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

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erschien mir etwas raumltselhaft Klang das nicht irgendwie nach einem unangenehmen und gefaumlhrlichen Stalker

Aber der Name Juan-les-Pins war haumlngen geblieben obwohl Sar-stedt ihn kaum auszusprechen verstand ndash es klang irgendwie wie raquoJanleponlaquo hatte aber etwas von Glamour Verruchtheit und Luxus3 Diese vage Verheiszligung war der eine Grund fuumlr meinen Aufenthalt in Juan-les-Pins der andere und eher handfeste Christian Plumails Auberge de lrsquoEsterel ein kleines Restaurant mit einem Michelin-Stern und guumlnstiger Uumlbernachtungsmoumlglichkeit Die Restaurantfuumlhrer lob-ten das unschlagbare Preis-Leistungs-Verhaumlltnis bei gleichzeitig un-gewoumlhnlich kreativer Kochleistung So war es auch 150 Franc ndash auf heutige Verhaumlltnisse umgerechnet 25 Euro ndash fuumlr vier Gaumlnge mit einem umwerfenden Dessert schwerster Schokokompositionen

Am Tag nach meiner Ankunft machte ich mich auf den kleinen Ort zu erkunden der seinen einzigartigen Aufstieg zum Vergnuuml-gungszentrum der Cocircte drsquoAzur im 20 Jahrhundert ndash lange vor Saint-Tropez ndash einem makellosen Sandstrand verdankte uumlber den Monaco oder Nizza nicht verfuumlgen Unbestrittener Mittelpunkt von Juan-les-Pins ist der Carrefour de la Joie eine Straszligenkreuzung an der sich mit dem raquoLe Crystallaquo und dem raquoPam Pamlaquo zwei Bars der 1920er und 1930er Jahre bis heute gehalten haben Davor von Westen aus zum Strandboulevard verlaufend eine Batterie von weniger exklusiven Snackbars und Boutiquen mit Namen wie raquoHystericalaquo raquoWeekend agrave la merlaquo oder raquoInterdit de me gronderlaquo Gegenuumlber die alte Presse-buchhandlung und das architektonisch schwer verungluumlckte post-moderne Hotel Garden Beach damals noch mit dem Spielcasino einst angeblich das eleganteste an der gesamten Kuumlste Daneben das Pinienwaumlldchen das dem Ort den seltsamen Namen gab und daruumlber thronend ein riesiges weiszliges offenbar leerstehendes Ge-baumlude in einem undefinierbaren Architekturstil einer Mischung aus Stahl beton-Gigantismus und neoprovenzalischer Ornamentik Kein Hinweis kein Name an diesem Bauwerk das aussah wie ein im Wald gestrandeter Ozeandampfer

Ich umrundete den raumltselhaften Bau mehrfach und wandte mich schlieszliglich an ortskundige Passanten Es handele sich so erfuhr ich um das ehemalige Luxushotel Le Provenccedilal das nach seiner Einwei-

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hung 1927 als die modernste und aufregendste Herberge der Cocircte drsquoAzur galt 280 Zimmer in denen Groumlszligen wie Winston Churchill Charlie Chaplin Lilian Harvey und Jack Warner logierten Mit rund 350 Angestellten war das Haus der mit Abstand groumlszligte Arbeitgeber in Juan-les-Pins Unvergessliche Galas schrille Misswahlen und Mu-sikwettbewerbe fanden hier statt In den 1960er Jahren beherbergte das raquoProvenccedilallaquo dann Jazzgroumlszligen wie Dizzy Gillespie Sidney Bechet und Miles Davis nachdem 1960 in Juan-les-Pins das erste europauml-ische Jazzfestival ins Leben gerufen worden war ndash Reminiszenz an das Jazz Age der 1920er Jahre als Pablo Picasso Cole Porter F Scott Fitzgerald Ernest Hemingway Sara und Gerald Murphy und Dut-zende andere Kuumlnstler und Intellektuelle den Ort und das benach-barte Cap drsquoAntibes zu einer Art Montparnasse-sur-Mer gemacht hatten 1977 sei das raquoProvenccedilallaquo dann von seinem neuen Besitzer dem reichen Pariser Juwelier Alexandre Reza von einem Tag auf den anderen geschlossen worden Ein Skandal Die Hinrichtung von Juan-les-Pins Eine Schande

Bei meinem ersten Besuch war das raquoProvenccedilallaquo von dessen Ro-tunde aus man bei klarem Wetter die vorgelagerten Lerinischen In-seln Sainte-Marguerite und Saint-Honorat und sogar Korsika sehen kann seit dreizehn Jahren geschlossen Das war schon deshalb reich-lich merkwuumlrdig weil das Hotel an der uumlbergangslosen Grenze zwi-schen Juan-les-Pins und dem von zahlreichen Milliardaumlren Oligar-chen Waffenhaumlndlern und Edelganoven bewohnten Cap drsquoAntibes an einem der teuersten Kuumlstenabschnitte der Welt liegt Es ging bei dieser Investmentaffaumlre offenbar nicht nur um das Hotel selbst son-dern um das immense Areal drumherum zwei vorgelagerte Villen direkt am Meer auch verfallen das alte Chacircteau Saint-Georges fuumlr besondere Gaumlste Gesindehaumluser eine Art-deacuteco-Garage mit Appar-tements daruumlber ndash ein ganzes Stadtviertel an der Grenze zum Cap drsquoAntibes

Entwickelt hatte dieses Viertel Frank J Gould (1877ndash1956) US-Multimillionaumlr und juumlngster Sohn des beruumlchtigten ultravermoumlgen-den raquoRaubritterslaquo Jason Gould des seinerzeit meistgehassten Unter-nehmers der USA Vater Gould hatte ein Vermoumlgen mit dem Bau von Eisenbahnen und Telegrafie-Einrichtungen Presse-Organen und

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Wall-Street-Manipulationen gemacht Sein Sohn Frank Jay ein hoch-gewachsener hagerer Mann mit markanter Nase der gern und oft in den Gazetten karikiert wurde baute das bis 1918 vor sich hin daumlm-mernde Juan-les-Pins mit anderen Investoren zum raquoResortlaquo mit Spielcasino Nobelrestaurants Tennisplaumltzen und eben dem zentra-len Hotel aus Schon 1913 verlegte er seinen Wohnsitz von New York nach Frankreich investierte in die Pferdezucht von Maisons-Laffitte bei Paris uumlberdies in Papier- und Schokoladenfabriken besaszlig bald ein Chacircteau in der Normandie eine Villa in Vichy war Eigentuumlmer von Hotels und Restaurants in Houlgate Bagnoles de lrsquoOrne und Eacutevreux und versuchte aus Granville am Aumlrmelkanal ndash vergeblich ndash das raquoMonaco des Nordenslaquo zu machen Die Cocircte drsquoAzur entdeckte Frank J Gould 1923 auf der Hochzeitsreise mit seiner dritten Ehefrau Florence geborene La Caze einer fantastisch gutaussehenden feier-wuumltigen und in jeder Hinsicht freigiebigen gelernten Opernsaumlngerin Salonniegravere und Literaturmaumlzenin

Inzwischen steht das raquoProvenccedilallaquo seit 44 Jahren leer Die Ruine und der sie umgebende Ort sind zu einer Attraktion des Dark Tou-rism geworden dessen Anhaumlnger den raquoghosts of placeslaquo so der So-ziologe Michael Mayerfeld Bell nachspuumlren ndash dem subtilen Einfluss der anwesend Abwesenden Dass die Cocircte drsquoAzur eine lebensphiloso-phische Projektion ist ndash im Sinne einer uumlber das urspruumlnglich Land-schaftliche hinausweisenden kulturell-soziologischen Persona ndash hat schon der deutsche Publizist Alexander Moszkowski in seiner Auto-biografie Das Panorama meines Lebens die 1925 in Berlin erschien gut beschrieben

Der landschaftliche Reiz ist hier nicht das Wesentliche Der ver-traumlgt bis zu gewissem Grade eine Analyse er laumlszligt sich auf Bekann-tes zuruumlckfuumlhren mit anderem Landschaftlichen vergleichen und ein Globetrotter duumlrfte mir leicht beweisen daszlig der Ri-vierareiz nach malerischen und pflanzlichen Momenten be urteilt keine besondere Vorrangstellung in der Welt zu beanspruchen hat Aber die sichtbare Landschaft ist hier nicht die Grundursache sondern nur eine begleitende Bedingung des Effektes deren wahre Ursaumlchlichkeit gaumlnzlich unerforschlich bleibt Das Kantische

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raquoDing an sichlaquo findet sein Gegenstuumlck in einem raquoZauber an sichlaquo der als das Letzte und Wesentliche sich hinter den Erscheinungen verbirgt und sich nur erahnen laumlszligt wenn man von diesen alles sinnlich Erfaszligbare fortdenkt

Bei allen erkenntnistheoretischen Reflexionen uumlber den raquoZauber an sichlaquo verdankt sich die Entwicklung von Juan-les-Pins doch der Kombination aus einem relativ unberuumlhrten tourismusoumlkonomisch ausbaufaumlhigen Landstrich zwischen Antibes und Golfe-Juan mit dem Amerikanisierungsschub in den 1920er Jahren angelehnt an die Re-sorts in Florida und Kalifornien mit Flapper Girls Dancings Gamb-ling und fruumlhen Automobilrallyes Juan-les-Pins wurde ein doppeltes Gegenmodell an der Cocircte ndash gegen die existierenden Adelsrefugien wie Nizza und Cannes aber auch gegen den lieblich-friedvollen Midi im Allgemeinen Alles war aufregend und neu und ein Verfallsdatum fuumlr diesen Hotspot schien bis in die 1980er Jahre nicht absehbar 1989 waren die Fenster des raquoProvenccedilallaquo noch intakt wurde das Ganze bewacht von einem Mann mit einem kleinen Sohn und einem Do-bermann Nun gibt es nur noch das halbwegs intakte Stahlbeton-gerippe Das alte Hotelgebaumlude darf nicht abgerissen werden die Fassade steht unter Denkmalschutz

Zehn Jahre nach meinem ersten Besuch habe ich die Geschichte dieses Luxushotels in einem Film dokumentiert Der Eigentuumlmer Alexandre Reza beruumlhmt geworden als der angeblich raquoletzte Juwelier von Lady Dilaquo kam damals zu meinem Erstaunen fuumlr ein Interview extra aus Paris angereist und praumlsentierte mit Verve seine umfang-reichen ausgefeilten Umbauplaumlne die aus seiner Sicht von ruumlck-staumlndigen lokalen Buumlrgerinitiativen sabotiert wurden In weiteren Interviews aumluszligerten sich Jean Leonetti der Buumlrgermeister der Ge-meinde Antibes ndash das ist er noch heute ndash und kurzzeitig franzoumlsischer Europaminister unter Nicolas Sarkozy sowie einige Besitzer und Direktoren umliegender Luxushotels wie dem raquoBelles Riveslaquo dem raquoJuanalaquo und dem Grand Hocirctel du Cap Letzteres im Luxusportfolio der deutschen Oetker-Gruppe4 Dort steigen waumlhrend der Filmfest-spiele von Cannes Stars wie Robert De Niro Lars von Trier oder Sha-ron Stone ab Ferner kamen ehemalige Hotelangestellte und raquoMamolaquo

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der quirlige Pro minentenrestaurateur von Antibes der alle und jeden kennt sowie Lokalhistoriker und andere Spezialisten zu Wort

2007 folgte ein weiterer Film uumlber das Cap drsquoAntibes und seine vermoumlgenden Bewohner Boris Beresowski der Mann der Wladimir Putin ins Amt gebracht hatte und spaumlter sein erbittertster Gegner wurde konnte nur in London interviewt werden und nicht in seinem Chacircteau de la Garoupe am Cap drsquoAntibes da er von Interpol verfolgt wurde Er war einer der Finanziers der Orangen Revolution in der Ukraine und damals noch quicklebendig 2016 wurde er in seinem britischen Exil erhaumlngt aufgefunden ndash Selbstmord oder eine perfide Aktion von Putins Geheimdiensten das konnte bis heute nicht aufge-klaumlrt werden

Inzwischen war ich beruflich oder aus rein privatem Interesse wahrscheinlich mehr als hundertmal in Juan-les-Pins Cannes er-reicht man von dort in neun Minuten mit dem Zug nach Nizza dauert es eine halbe Stunde Man kann sich an einem der privat be-wirtschafteten Straumlnde des kleinen Ortes ndash etwa im raquoLes Pirateslaquo mit seinen tuumlrkisen Sonnenschirmen ndash in aller Ruhe mit den Geistern der intellektuellen und kuumlnstlerischen Prominenz beschaumlftigen die sich hier einst erholte ndash neben Hemingway Fitzgerald und Picasso auch Marlene Dietrich Bert Brecht Klaus Mann Walter Benjamin Joseph Roth Stefan Zweig Lee Miller Walker Evans Man Ray ndash oder auch mit den vielleicht noch spannenderen geisteshistorischen Konstellationen heute unbekannterer Zeitgenossen ndash Morphinisten Transvestiten Suffragetten

Die kulturelle und finanzielle Kolonisierung der Franzoumlsischen Riviera kann anhand der Geschichte von Juan-les-Pins sehr praumlzise beschrieben werden zumal der Ort wie kein anderer fuumlr den schnel-len Wechsel von der adligen Winterkultur mit vornehmer Blaumlsse und den Promenaden mit Sonnenschirm am Strand zur Coco-Chanel-Braumlune zur Bikinischau zur Koumlrperexzentrik steht ndash und zu Sexis-mus und Aumluszligerlichkeiten aller Art Sieht man von der unmittelbaren Gruumlndungsphase ab hat es nie irgendeine Art von Architektur-planung fuumlr Juan-les-Pins gegeben und so ist der Ort stets eine Bau-stelle fuumlr die Geschichte der Franzoumlsischen Riviera geblieben die raquozu-gleich eine Gegend und ein soziologisches Phaumlnomenlaquo ist wie Agnegraves

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Varda es im Begleitbuch ihres mittellangen Filmessays Du cocircteacute de la cocircte formulierte den das Office National du Tourisme 1958 finanzierte

Das Schicksal des raquoProvenccedilallaquo die Geschichte von Juan-les-Pins und die des Cap drsquoAntibes stellen so etwas wie spezielle Sonden fuumlr die Cocircte drsquoAzur dar mit Einblicken die uumlber die konventionellen Reise fuumlhrer mit ihrer traditionellen Tour von Marseille nach Men-ton hinausgehen Juan-les-Pins wurde nach dem Ersten Weltkrieg das Emblem fuumlr die kulturelle kuumlnstlerische und architektonische Mo-dernitaumlt an der Cocircte die nach 1945 eine Zeitlang nicht mehr en vogue war weil die neuen Block- und Riegelbauten entlang der Kuumlste eher eine nostalgische Wendung zur Belle Eacutepoque bewirkten ndash von Kunst-markt und Diskokultur einmal abgesehen Erst 1997 veranstaltete das Departement Provence-Alpes-Cocircte drsquoAzur jene zentrale und uumlber-greifende Ausstellung La Cocircte drsquoAzur et la Moderniteacute in der Malerei Design Film Fotografie Gartenbaukunst und Tanz Beachtung fan-den Signifikante Bauwerke wie Robert Mallet-Stevensrsquo Villa Noailles in Hyegraveres das raquoGloria Mansonlaquo in Nizza oder Eileen Grays Wohn-haus E1027 in Roquebrune-Cap-Martin wurden restauriert und in den letzten Jahren entstand sogar eine ndash privat organisierte ndash Besich-tigungstour zu den Art-deacuteco-Bauten in Juan-les-Pins und am Cap5 Die moderne Cocircte drsquoAzur bildet einen scharfen Gegensatz zu den bekannten Provence-Klischees mit den Lavendelfeldern Bastides Toumlpferarbeiten und Bauern mit gelben Gitanes im Mundwinkel6 auch wenn die Uumlbergaumlnge flieszligend erscheinen An der Cocircte domi-niert das Flair des Halbkriminellen Demi-Mondaumlnen ostentativ Luxurierenden raquoDie franzoumlsische Riviera ist Matisse und Picasso nicht Ceacutezanne und van Goghlaquo so hat es bereits 2009 Julian Hale in seiner Kulturgeschichte der Cocircte formuliert (erschienen in der Oxford-Reihe Landscapes of the Imagination) raquoes gibt Jachten und Speedboote keine Barken und Jollen (hellip) Es gibt Filmstars und Rockmusiker keine Stierkaumlmpfer und tote Paumlpstelaquo

1931 als Juan-les-Pins von der damals fuumlhrenden franzoumlsischen Glamourzeitschrift LrsquoIllustration zur Kapitale der neuen Unisex- Pyjama-Mode ausgerufen und hier gerade das Wasserskifahren in Europa populaumlr wurde veroumlffentlichte der Muumlnchener Piper Verlag Das Buch von der Riviera mit betont legeren Texten von Erika und

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Klaus Mann Das Riviera-Buch erschien in der Reihe Was nicht im Bae-deker steht war also eine Art Vorlaumlufer der raquoalternativen Reisefuumlhrerlaquo Die literarischen Geschwister nahmen das Projekt nicht sonderlich ernst entledigten sich ihrer Aufgabe aber mit Eleganz und im laumlssigen Kumpelstil des Weimarer Feuilletons In dem Buch werden die Grand Tour des 19 Jahrhunderts von Marseille bis zum Golf von La Spezia beschrieben eine Reihe angesagter Hotels und Tanzbars aufgefuumlhrt und die bis heute aktuelle Frage aller Fragen gestellt raquoWoher kommt der groszlige Ruhm dieser blauen Kuumlste Warum blieb die Cocircte drsquoAzur uumlber Jahrzehnte der Vergnuumlgungs- und Erholungsstrand des Konti-nents und der Weltlaquo Inzwischen kommt man schneller nach Bora-Bora Patagonien oder auf irgendeine exotische karibische Insel doch die Riviera hat ihren Statuswert als Reiseziel eher noch gemehrt

Bei aller Begeisterung uumlber das rot schimmernde Esterel-Gebirge die drei grandiosen Corniches zwischen Nizza und Menton putzige Kuumlnstlerdoumlrfer wie Mougins und Saint-Paul-de-Vence oder karibisch anmutende Inselparadiese wie Porquerolles und Port-Cros sollte nicht vergessen werden dass die Cocircte seit Jahrzehnten politisch rechts steht sogar weit rechts auszligen Es gibt einen engen Zusammenhang von lo-kalen Potentaten Mafia-Organisationen aller Spielarten Spekulanten und gewoumlhnlichen Schwerkriminellen Als Albert Spaggiari ein be-kennender Fan der deutschen SS nach dem raquoBankraub des Jahrhun-dertslaquo (1976) auf raumltselhafte Weise aus dem Justizpalast in Nizza ent-kam war sein Anwalt Jacques Peyrat der aus dem Milieu des Front National stammt und spaumlter uumlber Jahre Buumlrgermeister von Nizza war erkennbar nicht unfroh uumlber die spektakulaumlre Flucht seines Klienten nach Suumldamerika Dorthin war auch Peyrats Amtsvorgaumlnger Jacques Meacutedecin 1990 nach anhaltenden Korruptionsvorwuumlrfen Hals uumlber Kopf gefluumlchtet In Nizza ist raquoJacquotlaquo Meacutedecin heute noch sehr be-liebt Sein Buch uumlber die provenzalische Kuumlche mit der Anleitung wie die echte Salade niccediloise zubereitet wird gilt nach wie vor als Standard-werk Daruumlber hinaus war der unscheinbare Kaumlsehaumlndler neben dem Bahnhof von Juan in einen spektakulaumlren Mordfall ver wickelt bei dem 1999 einige Mafiosi enthauptet und zerteilt in Muumlllsaumlcken im Hinterland aufgefunden wurden Selbst im kleinen Juan-les-Pins gab es eine Zelle der brutalen italienischen rsquoNdrangheta7

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Uumlberdies ist die Franzoumlsische Riviera ein Tummelplatz fuumlr Dik-tatoren und Autokraten aller Art ndash von Ben Ali (Tunesien) uumlber Omar Bongo (Gabun) bis hin zu raquoBaby Doclaquo Duvalier (Haiti) der allerdings vor seiner kurzzeitigen Ruumlckkehr auf seine Heimatinsel in einem billigen Hotel in Mougins logieren musste Unrechtmaumlszligig er-worbenes Vermoumlgen wird hier in Villen und Jachten investiert denn uumlblicherweise recherchieren franzoumlsische Untersuchungsrichter zu-ruumlckhaltend wenn es um raquobiens mal acquislaquo ndash schlecht erworbene Guumlter ndash geht Der blutig regierenden saudischen Koumlnigsfamilie die missliebige Journalisten schon einmal foltern oder gar zerstuumlckeln laumlsst gehoumlren ausgedehnte Laumlndereien in Golfe-Juan rund um das Chacircteau de lrsquoHorizon das 1932 von Barry Dierks fuumlr die US-Schau-spielerin Maxine Elliott erbaut wurde ebenso das neomaurische Chacircteau Robert heute eine gigantische Ruine und einst von Emil Jel-linek bewohnt dem Namensgeber der Daimler-Marke raquoMercedeslaquo

Der kriminelle Hintergrund der Cocircte muss den gewoumlhnlichen Touristen nicht kuumlmmern und Hollywood-Stars werden waumlhrend der Filmfestspiele von Cannes gewoumlhnlich verschont Dennoch loumlsen die vermehrten Raubuumlberfaumllle auf Ferienappartements bei denen die Bewohner schon einmal mit Betaumlubungsgas auszliger Gefecht gesetzt werden Beunruhigung aus Nachdem die Tochter seiner Geliebten Yvonne Cloetta einen Mann aus dem raquoMilieulaquo geheiratet hatte der sie offenbar drangsalierte hat Graham Greene der Amateurspion und feinsinnige Autor von Bestsellern wie Unser Mann in Havanna oder Der stille Amerikaner in dem 1982 verfassten Pamphlet Jrsquoaccuse gewarnt raquoVermeiden Sie die Gegend um Nizza ndash sie ist das Revier einiger der kriminellsten Organisationen im Suumlden Frankreichslaquo Greene verursachte damit zunaumlchst einigen Wirbel bis hinauf zum franzoumlsischen Justizminister schlieszliglich war der damals bereits 77-Jaumlhrige nicht irgendwer aber Nizzas Buumlrgermeister Meacutedecin kehrte den Spieszlig einfach um und beschimpfte ndash mit dem Nice Matin im Ruumlcken ndash den ewigen Kandidaten fuumlr den Literaturnobelpreis als raquoalten Spinnerlaquo und weltfremden Auslaumlnder der sich nie in die spezifische Atmosphaumlre der Cocircte habe einfinden koumlnnen

Die Nobelpreise erhielten was die Cocircte drsquoAzur anlangt dann zwei eher zuruumlckhaltende Charaktere zunaumlchst im Jahr 2008 Jean-Marie

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Gustave Le Cleacutezio aus Nizza bekannt als J M G Le Cleacutezio und 2014 Patrick Modiano dessen Romane Sonntage im August und Hochzeits-reise unter anderem durch ausgezeichnete Recherchen glaumlnzen und einen bemerkenswerten Einblick in das Vichy-Regime an der Cocircte und die deutsch-italienische Besatzungszeit gewaumlhren Modianos Hochzeitsreise spielt in einem kardinalen Kapitel im raquoProvenccedilallaquo das auch in zahlreichen weiteren Romanen und Spionagestorys von Georges Simenon bis zu Jean-Paul Sartre oder Irwin Shaw vorkommt

Die klassische Riviera gibt es kulturhistorisch seit dem 18 Jahr-hundert kolonisiert zunaumlchst von reichen Englaumlndern und russischen Adligen die Cocircte drsquoAzur gibt es erst seit 1887 jedenfalls begrifflich8 Das wissen wir ziemlich genau denn Steacutephen Lieacutegeard ein Regional-politiker mit literarischen Neigungen hat in jenem Jahr ein blumiges 630-Seiten-Werk mit dem Titel La Cocircte drsquoAzur publiziert und damit eine bis heute guumlltige landschaftliche Weltmarke erfunden Originell war der Titel nicht denn das Azurblau unter den Blautoumlnen findet man schon in Theacuteodore de Banvilles Buch La mer de Nice (1865)

Lieacutegeard schwer begeistert von der Sommerfrische der Adligen und dem sanften Klima der Provence und ihrer langen griechisch-roumlmischen Kolonisationsgeschichte vermischte fuumlr seine Cocircte- Geschichte munter Zeithistorie Landschaftsekstase und Legenden wobei er es mit den Fakten nicht so genau nahm aber eine fuumlr die Belle Eacutepoque attraktive Lektuumlre schuf Allein dreiszligig Seiten schrieb er uumlber die Lerinischen Inseln vor Cannes uumlber die moumlnchische Kul-tur auf der Insel Saint-Honorat und das Staatsgefaumlngnis auf der Insel Sainte-Marguerite wo der raquoMann mit der eisernen Maskelaquo gefangen gehalten wurde und aus dem 1874 der Marschall Bazaine der raquoVer-lierer von Metzlaquo im Deutsch-Franzoumlsischen Krieg unter suspekten Umstaumlnden entkam Neben den ausschweifenden Beschreibungen von Villenarchitektur und Botanik fehlte das Politische in Lieacutegeards Werk durchaus nicht Napoleon III hatte zwar bedauerlicherweise den Krieg von 187071 gegen die Bismarck-Koalition verloren aber 1860 erreicht dass Nizza als Hauptort des Deacutepartement Alpes-Ma-ritimes franzoumlsisch wurde ndash bis dahin war es Teil des Koumlnigreichs von Savoyen und Sardinien Im Gegenzug hatte der franzoumlsische Kaiser die Entstehung des neuen italienischen Nationalstaats unterstuumltzt

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Wer wuumlrde von der Schoumlnheit der neu entdeckten Kuumlstenregion der Cocircte drsquoAzur oumlkonomisch profitieren nachdem sie durch den Bau schneller Eisenbahnverbindungen noch an Attraktivitaumlt gewonnen hatte Die Hotellerie und das Gastgewerbe machten nun jedenfalls auch jenseits des Hochadels Angebote an das vermoumlgende Buumlrgertum und expandierten in dieser von der raquoindustriellen Revolutionlaquo noch unberuumlhrten Gegend gewaltig Und auch Lieacutegeard hatte begriffen worum es ging Uumlber Juan-les-Pins das kurz vor Erscheinen seines Buches uumlberhaupt erst als Name auf der Landkarte erschienen war schrieb er in der zweiten Auflage seines Werkes

Eine Viertelstunde von dem kleinen Hafen entfernt wo die Tar-tanen die Toumlpferwaren aus Vallauris an Bord nehmen zweigt eine neue Straszlige ab nach Juan-les-Pins Auf feinem Sand verlaumluft sie entlang des schaumbekroumlnten Saums mit dem das Meer sie lieb-kost waumlhrend das Zwitschern der Voumlgel und der Schirm der aus-ladenden Pinien ihr Schatten und Froumlhlichkeit spenden (hellip) Eine Aktiengesellschaft wurde gegruumlndet die das Land aufkauft und parzelliert Schon sind Straszligen und Boulevards trassiert ein Bahn-hof hemmt den Reisenden in seiner Fahrt ein Hotel umwirbt ihn Doch wird sich der Reisende auch verfuumlhren lassen

Mit dem Hotel meinte Lieacutegeard das erste Grandhotel in Juan-les-Pins wo es zuvor nur die Kuumlnstlerpension Chacircteau de la Pinegravede mit ihrem markanten oktogonalen Turm gegeben hatte Diese aumllteste Villa auf dem Terrain des Staumldtchens steht wundersamerweise noch heute ndash neben einem pyramidal anmutenden Komplex aus den 1970er Jahren ndash ist aber inzwischen in teure Einzelwohnungen auf-geteilt worden Claude Monet wohnte hier 1888 als er seine beruumlhm-ten impressionistischen Bilder vom Cap drsquoAntibes und dem men-schenleeren Strand von Juan-les-Pins schuf Empfohlen hatte ihm die Unterkunft sein Kuumlnstlerfreund der Flaubert-Schuumller Guy de Mau-passant damals ein ungeheuer populaumlrer Literat Wie Monet steht Maupassant fuumlr die kuumlnstlerische Drift von der Normandie in die waumlrmeren Gefilde der Cocircte drsquoAzur Jeder Lokalpatriot kennt heute Maupassants prophetische Saumltze

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Von weitem sehen die Panzerschiffe wie Felsen aus wie kleine Inseln wie von abgestorbenen Baumlumen bedeckte Klippen Am Ufer entlang fliegt der Rauch eines Zuges der von Cannes nach Juan-les-Pins faumlhrt das vielleicht spaumlter der huumlbscheste Badeort der ganzen Kuumlste sein wird Drei Tartaren liegen mit ihren ro-mantischen Segeln von denen eines rot und die anderen beiden weiszlig sind im Fahrwasser zwischen Sainte-Marguerite und dem Festland vor Anker Das ist die Stille die suumlszlige und heiszlige Stille eines Fruumlhlingsmorgens im Suumlden und schon kommt es mir so vor als haumltte ich die Leute die reden und umherhetzen seit Wo-chen seit Monaten seit Jahren verlassen ich spuumlre wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt der suumlszlige Rausch der Ruhe die nichts stoumlren wird kein weiszliger Brief kein blaues Tele-gramm nicht die Klingel meiner Tuumlr noch das Bellen meines Hundes

Maupassant war mit seiner Jacht Bel Ami die er 1885 gekauft hatte an der Franzoumlsischen Riviera entlanggesegelt und hatte sich auch eine Zeitlang in Antibes in der Villa Muterse und im Chalet des Alpes an der Route de la Badine niedergelassen Viel schoumlpferische Zeit blieb ihm nicht mehr er starb schon 1894 mit 44 Jahren an den Folgen der Syphilis Und Juan-les-Pins wurde nie raquoder huumlbscheste Badeortlaquo wie er es prophezeit hatte

Huumlbsch und lieblich war es dort vielleicht noch bis 1914 als der Weltkrieg zunaumlchst einmal alle Spekulationsanstrengungen unter-brach Als dann Mitte der 1920er Jahre mit Frank Jay Gould und Konsorten der wirkliche Boom einsetzte und die neuen Straszligenzuumlge agrave la Miami Beach nur noch aus Hotels und Pensionen bestanden ndash innerhalb von zwei drei Jahren waren es an die hundert ndash spottete Jean Cocteau aus Juan-les-Pins sei genau die Karikatur geworden die es schon immer gewesen sei 1939 ging er dann noch weiter In einem Brief an seine Mutter bezeichnete er es als eine raquoville atrocelaquo eine scheuszligliche Stadt Dabei waren damals die meisten alten Villen noch nicht abgerissen die den zeittypischen Appartementkomplexen der 1950er und 1960er Jahre Platz machen mussten weil diese houmlhere Renditen fuumlr die Besitzer versprachen9

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1960 war das absurde architektonische Gesamtkunstwerk Juan-les-Pins mit seinen Art-deacuteco-Bauten den vereinzelt uumlbrig gebliebe-nen Villen aus der Gruumlnderphase und den vielen skurrilen Beton-kloumltzen allerdings schon so musealisiert dass dieser Wirrwarr neue Bewunderer fand Der Fotograf Brassaiuml erinnerte sich an ein Ge-spraumlch unter den riesigen Pinien von Juan-les-Pins mit Henry Miller der damals ndash wie uumlbrigens auch Georges Simenon ndash Jurymitglied beim Filmfestival von Cannes war

MILLER raquoIch mag diesen Ort Ich verlasse mich stets auf meinen Instinkt meine Gewohnheiten Wenn ich in die Auszligenbezirke einer Stadt komme erschnuumlffele ich ob sie mir gefaumlllt oder nicht ob ich dort gluumlcklich sein werde oder ungluumlcklich Ich habe das Gefuumlhl Juan-les-Pins wird mir guttunlaquoBrassaiuml raquoPicasso hatte das gleiche Gefuumlhl In Paris hat er diese Stadt einmal gemalt ohne sie je zuvor gesehen zu haben Und als er 1920 zum ersten Mal herkam sah er dass Juan-les-Pins genau so war wie er es sich vorgestellt hatte Uumlberwaumlltigt rief er rsaquoKein Zweifel diese Stadt gehoumlrt mirlsaquolaquo

Andrew Loog Oldham in den 1960er Jahren Manager der Rolling Stones erinnerte sich an die Zeit als er am Strand von Juan-les-Pins als Aushilfskellner in raquoButlerrsquos Tea Roomlaquo ndash heute das zentrale Cafeacute de la Plage ndash gearbeitet hatte

Juan war eine riesige Filmkulisse Das Licht war unglaublich Sie hatten da eine Art Licht von dem England bis dahin nicht einmal wusste dass es uumlberhaupt existiert Die Rock-rsquonrsquo-Roll-Clubs waren fantastisch Sie lagen alle unter freiem Himmel versteckt hinter einer langen Hecke Man konnte die Musik von der Straszlige aus houmlren Nach Juan-les-Pins fuhren die franzoumlsischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars im Sommer weil das Publikum dort juumlnger war Die franzouml-sischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars waren groszligartig Im Winter flogen sie zum Shoppen nach Amerika und behaupteten sie gingen dort auf Tour

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

Page 9: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

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hung 1927 als die modernste und aufregendste Herberge der Cocircte drsquoAzur galt 280 Zimmer in denen Groumlszligen wie Winston Churchill Charlie Chaplin Lilian Harvey und Jack Warner logierten Mit rund 350 Angestellten war das Haus der mit Abstand groumlszligte Arbeitgeber in Juan-les-Pins Unvergessliche Galas schrille Misswahlen und Mu-sikwettbewerbe fanden hier statt In den 1960er Jahren beherbergte das raquoProvenccedilallaquo dann Jazzgroumlszligen wie Dizzy Gillespie Sidney Bechet und Miles Davis nachdem 1960 in Juan-les-Pins das erste europauml-ische Jazzfestival ins Leben gerufen worden war ndash Reminiszenz an das Jazz Age der 1920er Jahre als Pablo Picasso Cole Porter F Scott Fitzgerald Ernest Hemingway Sara und Gerald Murphy und Dut-zende andere Kuumlnstler und Intellektuelle den Ort und das benach-barte Cap drsquoAntibes zu einer Art Montparnasse-sur-Mer gemacht hatten 1977 sei das raquoProvenccedilallaquo dann von seinem neuen Besitzer dem reichen Pariser Juwelier Alexandre Reza von einem Tag auf den anderen geschlossen worden Ein Skandal Die Hinrichtung von Juan-les-Pins Eine Schande

Bei meinem ersten Besuch war das raquoProvenccedilallaquo von dessen Ro-tunde aus man bei klarem Wetter die vorgelagerten Lerinischen In-seln Sainte-Marguerite und Saint-Honorat und sogar Korsika sehen kann seit dreizehn Jahren geschlossen Das war schon deshalb reich-lich merkwuumlrdig weil das Hotel an der uumlbergangslosen Grenze zwi-schen Juan-les-Pins und dem von zahlreichen Milliardaumlren Oligar-chen Waffenhaumlndlern und Edelganoven bewohnten Cap drsquoAntibes an einem der teuersten Kuumlstenabschnitte der Welt liegt Es ging bei dieser Investmentaffaumlre offenbar nicht nur um das Hotel selbst son-dern um das immense Areal drumherum zwei vorgelagerte Villen direkt am Meer auch verfallen das alte Chacircteau Saint-Georges fuumlr besondere Gaumlste Gesindehaumluser eine Art-deacuteco-Garage mit Appar-tements daruumlber ndash ein ganzes Stadtviertel an der Grenze zum Cap drsquoAntibes

Entwickelt hatte dieses Viertel Frank J Gould (1877ndash1956) US-Multimillionaumlr und juumlngster Sohn des beruumlchtigten ultravermoumlgen-den raquoRaubritterslaquo Jason Gould des seinerzeit meistgehassten Unter-nehmers der USA Vater Gould hatte ein Vermoumlgen mit dem Bau von Eisenbahnen und Telegrafie-Einrichtungen Presse-Organen und

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Wall-Street-Manipulationen gemacht Sein Sohn Frank Jay ein hoch-gewachsener hagerer Mann mit markanter Nase der gern und oft in den Gazetten karikiert wurde baute das bis 1918 vor sich hin daumlm-mernde Juan-les-Pins mit anderen Investoren zum raquoResortlaquo mit Spielcasino Nobelrestaurants Tennisplaumltzen und eben dem zentra-len Hotel aus Schon 1913 verlegte er seinen Wohnsitz von New York nach Frankreich investierte in die Pferdezucht von Maisons-Laffitte bei Paris uumlberdies in Papier- und Schokoladenfabriken besaszlig bald ein Chacircteau in der Normandie eine Villa in Vichy war Eigentuumlmer von Hotels und Restaurants in Houlgate Bagnoles de lrsquoOrne und Eacutevreux und versuchte aus Granville am Aumlrmelkanal ndash vergeblich ndash das raquoMonaco des Nordenslaquo zu machen Die Cocircte drsquoAzur entdeckte Frank J Gould 1923 auf der Hochzeitsreise mit seiner dritten Ehefrau Florence geborene La Caze einer fantastisch gutaussehenden feier-wuumltigen und in jeder Hinsicht freigiebigen gelernten Opernsaumlngerin Salonniegravere und Literaturmaumlzenin

Inzwischen steht das raquoProvenccedilallaquo seit 44 Jahren leer Die Ruine und der sie umgebende Ort sind zu einer Attraktion des Dark Tou-rism geworden dessen Anhaumlnger den raquoghosts of placeslaquo so der So-ziologe Michael Mayerfeld Bell nachspuumlren ndash dem subtilen Einfluss der anwesend Abwesenden Dass die Cocircte drsquoAzur eine lebensphiloso-phische Projektion ist ndash im Sinne einer uumlber das urspruumlnglich Land-schaftliche hinausweisenden kulturell-soziologischen Persona ndash hat schon der deutsche Publizist Alexander Moszkowski in seiner Auto-biografie Das Panorama meines Lebens die 1925 in Berlin erschien gut beschrieben

Der landschaftliche Reiz ist hier nicht das Wesentliche Der ver-traumlgt bis zu gewissem Grade eine Analyse er laumlszligt sich auf Bekann-tes zuruumlckfuumlhren mit anderem Landschaftlichen vergleichen und ein Globetrotter duumlrfte mir leicht beweisen daszlig der Ri-vierareiz nach malerischen und pflanzlichen Momenten be urteilt keine besondere Vorrangstellung in der Welt zu beanspruchen hat Aber die sichtbare Landschaft ist hier nicht die Grundursache sondern nur eine begleitende Bedingung des Effektes deren wahre Ursaumlchlichkeit gaumlnzlich unerforschlich bleibt Das Kantische

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raquoDing an sichlaquo findet sein Gegenstuumlck in einem raquoZauber an sichlaquo der als das Letzte und Wesentliche sich hinter den Erscheinungen verbirgt und sich nur erahnen laumlszligt wenn man von diesen alles sinnlich Erfaszligbare fortdenkt

Bei allen erkenntnistheoretischen Reflexionen uumlber den raquoZauber an sichlaquo verdankt sich die Entwicklung von Juan-les-Pins doch der Kombination aus einem relativ unberuumlhrten tourismusoumlkonomisch ausbaufaumlhigen Landstrich zwischen Antibes und Golfe-Juan mit dem Amerikanisierungsschub in den 1920er Jahren angelehnt an die Re-sorts in Florida und Kalifornien mit Flapper Girls Dancings Gamb-ling und fruumlhen Automobilrallyes Juan-les-Pins wurde ein doppeltes Gegenmodell an der Cocircte ndash gegen die existierenden Adelsrefugien wie Nizza und Cannes aber auch gegen den lieblich-friedvollen Midi im Allgemeinen Alles war aufregend und neu und ein Verfallsdatum fuumlr diesen Hotspot schien bis in die 1980er Jahre nicht absehbar 1989 waren die Fenster des raquoProvenccedilallaquo noch intakt wurde das Ganze bewacht von einem Mann mit einem kleinen Sohn und einem Do-bermann Nun gibt es nur noch das halbwegs intakte Stahlbeton-gerippe Das alte Hotelgebaumlude darf nicht abgerissen werden die Fassade steht unter Denkmalschutz

Zehn Jahre nach meinem ersten Besuch habe ich die Geschichte dieses Luxushotels in einem Film dokumentiert Der Eigentuumlmer Alexandre Reza beruumlhmt geworden als der angeblich raquoletzte Juwelier von Lady Dilaquo kam damals zu meinem Erstaunen fuumlr ein Interview extra aus Paris angereist und praumlsentierte mit Verve seine umfang-reichen ausgefeilten Umbauplaumlne die aus seiner Sicht von ruumlck-staumlndigen lokalen Buumlrgerinitiativen sabotiert wurden In weiteren Interviews aumluszligerten sich Jean Leonetti der Buumlrgermeister der Ge-meinde Antibes ndash das ist er noch heute ndash und kurzzeitig franzoumlsischer Europaminister unter Nicolas Sarkozy sowie einige Besitzer und Direktoren umliegender Luxushotels wie dem raquoBelles Riveslaquo dem raquoJuanalaquo und dem Grand Hocirctel du Cap Letzteres im Luxusportfolio der deutschen Oetker-Gruppe4 Dort steigen waumlhrend der Filmfest-spiele von Cannes Stars wie Robert De Niro Lars von Trier oder Sha-ron Stone ab Ferner kamen ehemalige Hotelangestellte und raquoMamolaquo

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der quirlige Pro minentenrestaurateur von Antibes der alle und jeden kennt sowie Lokalhistoriker und andere Spezialisten zu Wort

2007 folgte ein weiterer Film uumlber das Cap drsquoAntibes und seine vermoumlgenden Bewohner Boris Beresowski der Mann der Wladimir Putin ins Amt gebracht hatte und spaumlter sein erbittertster Gegner wurde konnte nur in London interviewt werden und nicht in seinem Chacircteau de la Garoupe am Cap drsquoAntibes da er von Interpol verfolgt wurde Er war einer der Finanziers der Orangen Revolution in der Ukraine und damals noch quicklebendig 2016 wurde er in seinem britischen Exil erhaumlngt aufgefunden ndash Selbstmord oder eine perfide Aktion von Putins Geheimdiensten das konnte bis heute nicht aufge-klaumlrt werden

Inzwischen war ich beruflich oder aus rein privatem Interesse wahrscheinlich mehr als hundertmal in Juan-les-Pins Cannes er-reicht man von dort in neun Minuten mit dem Zug nach Nizza dauert es eine halbe Stunde Man kann sich an einem der privat be-wirtschafteten Straumlnde des kleinen Ortes ndash etwa im raquoLes Pirateslaquo mit seinen tuumlrkisen Sonnenschirmen ndash in aller Ruhe mit den Geistern der intellektuellen und kuumlnstlerischen Prominenz beschaumlftigen die sich hier einst erholte ndash neben Hemingway Fitzgerald und Picasso auch Marlene Dietrich Bert Brecht Klaus Mann Walter Benjamin Joseph Roth Stefan Zweig Lee Miller Walker Evans Man Ray ndash oder auch mit den vielleicht noch spannenderen geisteshistorischen Konstellationen heute unbekannterer Zeitgenossen ndash Morphinisten Transvestiten Suffragetten

Die kulturelle und finanzielle Kolonisierung der Franzoumlsischen Riviera kann anhand der Geschichte von Juan-les-Pins sehr praumlzise beschrieben werden zumal der Ort wie kein anderer fuumlr den schnel-len Wechsel von der adligen Winterkultur mit vornehmer Blaumlsse und den Promenaden mit Sonnenschirm am Strand zur Coco-Chanel-Braumlune zur Bikinischau zur Koumlrperexzentrik steht ndash und zu Sexis-mus und Aumluszligerlichkeiten aller Art Sieht man von der unmittelbaren Gruumlndungsphase ab hat es nie irgendeine Art von Architektur-planung fuumlr Juan-les-Pins gegeben und so ist der Ort stets eine Bau-stelle fuumlr die Geschichte der Franzoumlsischen Riviera geblieben die raquozu-gleich eine Gegend und ein soziologisches Phaumlnomenlaquo ist wie Agnegraves

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Varda es im Begleitbuch ihres mittellangen Filmessays Du cocircteacute de la cocircte formulierte den das Office National du Tourisme 1958 finanzierte

Das Schicksal des raquoProvenccedilallaquo die Geschichte von Juan-les-Pins und die des Cap drsquoAntibes stellen so etwas wie spezielle Sonden fuumlr die Cocircte drsquoAzur dar mit Einblicken die uumlber die konventionellen Reise fuumlhrer mit ihrer traditionellen Tour von Marseille nach Men-ton hinausgehen Juan-les-Pins wurde nach dem Ersten Weltkrieg das Emblem fuumlr die kulturelle kuumlnstlerische und architektonische Mo-dernitaumlt an der Cocircte die nach 1945 eine Zeitlang nicht mehr en vogue war weil die neuen Block- und Riegelbauten entlang der Kuumlste eher eine nostalgische Wendung zur Belle Eacutepoque bewirkten ndash von Kunst-markt und Diskokultur einmal abgesehen Erst 1997 veranstaltete das Departement Provence-Alpes-Cocircte drsquoAzur jene zentrale und uumlber-greifende Ausstellung La Cocircte drsquoAzur et la Moderniteacute in der Malerei Design Film Fotografie Gartenbaukunst und Tanz Beachtung fan-den Signifikante Bauwerke wie Robert Mallet-Stevensrsquo Villa Noailles in Hyegraveres das raquoGloria Mansonlaquo in Nizza oder Eileen Grays Wohn-haus E1027 in Roquebrune-Cap-Martin wurden restauriert und in den letzten Jahren entstand sogar eine ndash privat organisierte ndash Besich-tigungstour zu den Art-deacuteco-Bauten in Juan-les-Pins und am Cap5 Die moderne Cocircte drsquoAzur bildet einen scharfen Gegensatz zu den bekannten Provence-Klischees mit den Lavendelfeldern Bastides Toumlpferarbeiten und Bauern mit gelben Gitanes im Mundwinkel6 auch wenn die Uumlbergaumlnge flieszligend erscheinen An der Cocircte domi-niert das Flair des Halbkriminellen Demi-Mondaumlnen ostentativ Luxurierenden raquoDie franzoumlsische Riviera ist Matisse und Picasso nicht Ceacutezanne und van Goghlaquo so hat es bereits 2009 Julian Hale in seiner Kulturgeschichte der Cocircte formuliert (erschienen in der Oxford-Reihe Landscapes of the Imagination) raquoes gibt Jachten und Speedboote keine Barken und Jollen (hellip) Es gibt Filmstars und Rockmusiker keine Stierkaumlmpfer und tote Paumlpstelaquo

1931 als Juan-les-Pins von der damals fuumlhrenden franzoumlsischen Glamourzeitschrift LrsquoIllustration zur Kapitale der neuen Unisex- Pyjama-Mode ausgerufen und hier gerade das Wasserskifahren in Europa populaumlr wurde veroumlffentlichte der Muumlnchener Piper Verlag Das Buch von der Riviera mit betont legeren Texten von Erika und

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Klaus Mann Das Riviera-Buch erschien in der Reihe Was nicht im Bae-deker steht war also eine Art Vorlaumlufer der raquoalternativen Reisefuumlhrerlaquo Die literarischen Geschwister nahmen das Projekt nicht sonderlich ernst entledigten sich ihrer Aufgabe aber mit Eleganz und im laumlssigen Kumpelstil des Weimarer Feuilletons In dem Buch werden die Grand Tour des 19 Jahrhunderts von Marseille bis zum Golf von La Spezia beschrieben eine Reihe angesagter Hotels und Tanzbars aufgefuumlhrt und die bis heute aktuelle Frage aller Fragen gestellt raquoWoher kommt der groszlige Ruhm dieser blauen Kuumlste Warum blieb die Cocircte drsquoAzur uumlber Jahrzehnte der Vergnuumlgungs- und Erholungsstrand des Konti-nents und der Weltlaquo Inzwischen kommt man schneller nach Bora-Bora Patagonien oder auf irgendeine exotische karibische Insel doch die Riviera hat ihren Statuswert als Reiseziel eher noch gemehrt

Bei aller Begeisterung uumlber das rot schimmernde Esterel-Gebirge die drei grandiosen Corniches zwischen Nizza und Menton putzige Kuumlnstlerdoumlrfer wie Mougins und Saint-Paul-de-Vence oder karibisch anmutende Inselparadiese wie Porquerolles und Port-Cros sollte nicht vergessen werden dass die Cocircte seit Jahrzehnten politisch rechts steht sogar weit rechts auszligen Es gibt einen engen Zusammenhang von lo-kalen Potentaten Mafia-Organisationen aller Spielarten Spekulanten und gewoumlhnlichen Schwerkriminellen Als Albert Spaggiari ein be-kennender Fan der deutschen SS nach dem raquoBankraub des Jahrhun-dertslaquo (1976) auf raumltselhafte Weise aus dem Justizpalast in Nizza ent-kam war sein Anwalt Jacques Peyrat der aus dem Milieu des Front National stammt und spaumlter uumlber Jahre Buumlrgermeister von Nizza war erkennbar nicht unfroh uumlber die spektakulaumlre Flucht seines Klienten nach Suumldamerika Dorthin war auch Peyrats Amtsvorgaumlnger Jacques Meacutedecin 1990 nach anhaltenden Korruptionsvorwuumlrfen Hals uumlber Kopf gefluumlchtet In Nizza ist raquoJacquotlaquo Meacutedecin heute noch sehr be-liebt Sein Buch uumlber die provenzalische Kuumlche mit der Anleitung wie die echte Salade niccediloise zubereitet wird gilt nach wie vor als Standard-werk Daruumlber hinaus war der unscheinbare Kaumlsehaumlndler neben dem Bahnhof von Juan in einen spektakulaumlren Mordfall ver wickelt bei dem 1999 einige Mafiosi enthauptet und zerteilt in Muumlllsaumlcken im Hinterland aufgefunden wurden Selbst im kleinen Juan-les-Pins gab es eine Zelle der brutalen italienischen rsquoNdrangheta7

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Uumlberdies ist die Franzoumlsische Riviera ein Tummelplatz fuumlr Dik-tatoren und Autokraten aller Art ndash von Ben Ali (Tunesien) uumlber Omar Bongo (Gabun) bis hin zu raquoBaby Doclaquo Duvalier (Haiti) der allerdings vor seiner kurzzeitigen Ruumlckkehr auf seine Heimatinsel in einem billigen Hotel in Mougins logieren musste Unrechtmaumlszligig er-worbenes Vermoumlgen wird hier in Villen und Jachten investiert denn uumlblicherweise recherchieren franzoumlsische Untersuchungsrichter zu-ruumlckhaltend wenn es um raquobiens mal acquislaquo ndash schlecht erworbene Guumlter ndash geht Der blutig regierenden saudischen Koumlnigsfamilie die missliebige Journalisten schon einmal foltern oder gar zerstuumlckeln laumlsst gehoumlren ausgedehnte Laumlndereien in Golfe-Juan rund um das Chacircteau de lrsquoHorizon das 1932 von Barry Dierks fuumlr die US-Schau-spielerin Maxine Elliott erbaut wurde ebenso das neomaurische Chacircteau Robert heute eine gigantische Ruine und einst von Emil Jel-linek bewohnt dem Namensgeber der Daimler-Marke raquoMercedeslaquo

Der kriminelle Hintergrund der Cocircte muss den gewoumlhnlichen Touristen nicht kuumlmmern und Hollywood-Stars werden waumlhrend der Filmfestspiele von Cannes gewoumlhnlich verschont Dennoch loumlsen die vermehrten Raubuumlberfaumllle auf Ferienappartements bei denen die Bewohner schon einmal mit Betaumlubungsgas auszliger Gefecht gesetzt werden Beunruhigung aus Nachdem die Tochter seiner Geliebten Yvonne Cloetta einen Mann aus dem raquoMilieulaquo geheiratet hatte der sie offenbar drangsalierte hat Graham Greene der Amateurspion und feinsinnige Autor von Bestsellern wie Unser Mann in Havanna oder Der stille Amerikaner in dem 1982 verfassten Pamphlet Jrsquoaccuse gewarnt raquoVermeiden Sie die Gegend um Nizza ndash sie ist das Revier einiger der kriminellsten Organisationen im Suumlden Frankreichslaquo Greene verursachte damit zunaumlchst einigen Wirbel bis hinauf zum franzoumlsischen Justizminister schlieszliglich war der damals bereits 77-Jaumlhrige nicht irgendwer aber Nizzas Buumlrgermeister Meacutedecin kehrte den Spieszlig einfach um und beschimpfte ndash mit dem Nice Matin im Ruumlcken ndash den ewigen Kandidaten fuumlr den Literaturnobelpreis als raquoalten Spinnerlaquo und weltfremden Auslaumlnder der sich nie in die spezifische Atmosphaumlre der Cocircte habe einfinden koumlnnen

Die Nobelpreise erhielten was die Cocircte drsquoAzur anlangt dann zwei eher zuruumlckhaltende Charaktere zunaumlchst im Jahr 2008 Jean-Marie

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Gustave Le Cleacutezio aus Nizza bekannt als J M G Le Cleacutezio und 2014 Patrick Modiano dessen Romane Sonntage im August und Hochzeits-reise unter anderem durch ausgezeichnete Recherchen glaumlnzen und einen bemerkenswerten Einblick in das Vichy-Regime an der Cocircte und die deutsch-italienische Besatzungszeit gewaumlhren Modianos Hochzeitsreise spielt in einem kardinalen Kapitel im raquoProvenccedilallaquo das auch in zahlreichen weiteren Romanen und Spionagestorys von Georges Simenon bis zu Jean-Paul Sartre oder Irwin Shaw vorkommt

Die klassische Riviera gibt es kulturhistorisch seit dem 18 Jahr-hundert kolonisiert zunaumlchst von reichen Englaumlndern und russischen Adligen die Cocircte drsquoAzur gibt es erst seit 1887 jedenfalls begrifflich8 Das wissen wir ziemlich genau denn Steacutephen Lieacutegeard ein Regional-politiker mit literarischen Neigungen hat in jenem Jahr ein blumiges 630-Seiten-Werk mit dem Titel La Cocircte drsquoAzur publiziert und damit eine bis heute guumlltige landschaftliche Weltmarke erfunden Originell war der Titel nicht denn das Azurblau unter den Blautoumlnen findet man schon in Theacuteodore de Banvilles Buch La mer de Nice (1865)

Lieacutegeard schwer begeistert von der Sommerfrische der Adligen und dem sanften Klima der Provence und ihrer langen griechisch-roumlmischen Kolonisationsgeschichte vermischte fuumlr seine Cocircte- Geschichte munter Zeithistorie Landschaftsekstase und Legenden wobei er es mit den Fakten nicht so genau nahm aber eine fuumlr die Belle Eacutepoque attraktive Lektuumlre schuf Allein dreiszligig Seiten schrieb er uumlber die Lerinischen Inseln vor Cannes uumlber die moumlnchische Kul-tur auf der Insel Saint-Honorat und das Staatsgefaumlngnis auf der Insel Sainte-Marguerite wo der raquoMann mit der eisernen Maskelaquo gefangen gehalten wurde und aus dem 1874 der Marschall Bazaine der raquoVer-lierer von Metzlaquo im Deutsch-Franzoumlsischen Krieg unter suspekten Umstaumlnden entkam Neben den ausschweifenden Beschreibungen von Villenarchitektur und Botanik fehlte das Politische in Lieacutegeards Werk durchaus nicht Napoleon III hatte zwar bedauerlicherweise den Krieg von 187071 gegen die Bismarck-Koalition verloren aber 1860 erreicht dass Nizza als Hauptort des Deacutepartement Alpes-Ma-ritimes franzoumlsisch wurde ndash bis dahin war es Teil des Koumlnigreichs von Savoyen und Sardinien Im Gegenzug hatte der franzoumlsische Kaiser die Entstehung des neuen italienischen Nationalstaats unterstuumltzt

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Wer wuumlrde von der Schoumlnheit der neu entdeckten Kuumlstenregion der Cocircte drsquoAzur oumlkonomisch profitieren nachdem sie durch den Bau schneller Eisenbahnverbindungen noch an Attraktivitaumlt gewonnen hatte Die Hotellerie und das Gastgewerbe machten nun jedenfalls auch jenseits des Hochadels Angebote an das vermoumlgende Buumlrgertum und expandierten in dieser von der raquoindustriellen Revolutionlaquo noch unberuumlhrten Gegend gewaltig Und auch Lieacutegeard hatte begriffen worum es ging Uumlber Juan-les-Pins das kurz vor Erscheinen seines Buches uumlberhaupt erst als Name auf der Landkarte erschienen war schrieb er in der zweiten Auflage seines Werkes

Eine Viertelstunde von dem kleinen Hafen entfernt wo die Tar-tanen die Toumlpferwaren aus Vallauris an Bord nehmen zweigt eine neue Straszlige ab nach Juan-les-Pins Auf feinem Sand verlaumluft sie entlang des schaumbekroumlnten Saums mit dem das Meer sie lieb-kost waumlhrend das Zwitschern der Voumlgel und der Schirm der aus-ladenden Pinien ihr Schatten und Froumlhlichkeit spenden (hellip) Eine Aktiengesellschaft wurde gegruumlndet die das Land aufkauft und parzelliert Schon sind Straszligen und Boulevards trassiert ein Bahn-hof hemmt den Reisenden in seiner Fahrt ein Hotel umwirbt ihn Doch wird sich der Reisende auch verfuumlhren lassen

Mit dem Hotel meinte Lieacutegeard das erste Grandhotel in Juan-les-Pins wo es zuvor nur die Kuumlnstlerpension Chacircteau de la Pinegravede mit ihrem markanten oktogonalen Turm gegeben hatte Diese aumllteste Villa auf dem Terrain des Staumldtchens steht wundersamerweise noch heute ndash neben einem pyramidal anmutenden Komplex aus den 1970er Jahren ndash ist aber inzwischen in teure Einzelwohnungen auf-geteilt worden Claude Monet wohnte hier 1888 als er seine beruumlhm-ten impressionistischen Bilder vom Cap drsquoAntibes und dem men-schenleeren Strand von Juan-les-Pins schuf Empfohlen hatte ihm die Unterkunft sein Kuumlnstlerfreund der Flaubert-Schuumller Guy de Mau-passant damals ein ungeheuer populaumlrer Literat Wie Monet steht Maupassant fuumlr die kuumlnstlerische Drift von der Normandie in die waumlrmeren Gefilde der Cocircte drsquoAzur Jeder Lokalpatriot kennt heute Maupassants prophetische Saumltze

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Von weitem sehen die Panzerschiffe wie Felsen aus wie kleine Inseln wie von abgestorbenen Baumlumen bedeckte Klippen Am Ufer entlang fliegt der Rauch eines Zuges der von Cannes nach Juan-les-Pins faumlhrt das vielleicht spaumlter der huumlbscheste Badeort der ganzen Kuumlste sein wird Drei Tartaren liegen mit ihren ro-mantischen Segeln von denen eines rot und die anderen beiden weiszlig sind im Fahrwasser zwischen Sainte-Marguerite und dem Festland vor Anker Das ist die Stille die suumlszlige und heiszlige Stille eines Fruumlhlingsmorgens im Suumlden und schon kommt es mir so vor als haumltte ich die Leute die reden und umherhetzen seit Wo-chen seit Monaten seit Jahren verlassen ich spuumlre wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt der suumlszlige Rausch der Ruhe die nichts stoumlren wird kein weiszliger Brief kein blaues Tele-gramm nicht die Klingel meiner Tuumlr noch das Bellen meines Hundes

Maupassant war mit seiner Jacht Bel Ami die er 1885 gekauft hatte an der Franzoumlsischen Riviera entlanggesegelt und hatte sich auch eine Zeitlang in Antibes in der Villa Muterse und im Chalet des Alpes an der Route de la Badine niedergelassen Viel schoumlpferische Zeit blieb ihm nicht mehr er starb schon 1894 mit 44 Jahren an den Folgen der Syphilis Und Juan-les-Pins wurde nie raquoder huumlbscheste Badeortlaquo wie er es prophezeit hatte

Huumlbsch und lieblich war es dort vielleicht noch bis 1914 als der Weltkrieg zunaumlchst einmal alle Spekulationsanstrengungen unter-brach Als dann Mitte der 1920er Jahre mit Frank Jay Gould und Konsorten der wirkliche Boom einsetzte und die neuen Straszligenzuumlge agrave la Miami Beach nur noch aus Hotels und Pensionen bestanden ndash innerhalb von zwei drei Jahren waren es an die hundert ndash spottete Jean Cocteau aus Juan-les-Pins sei genau die Karikatur geworden die es schon immer gewesen sei 1939 ging er dann noch weiter In einem Brief an seine Mutter bezeichnete er es als eine raquoville atrocelaquo eine scheuszligliche Stadt Dabei waren damals die meisten alten Villen noch nicht abgerissen die den zeittypischen Appartementkomplexen der 1950er und 1960er Jahre Platz machen mussten weil diese houmlhere Renditen fuumlr die Besitzer versprachen9

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1960 war das absurde architektonische Gesamtkunstwerk Juan-les-Pins mit seinen Art-deacuteco-Bauten den vereinzelt uumlbrig gebliebe-nen Villen aus der Gruumlnderphase und den vielen skurrilen Beton-kloumltzen allerdings schon so musealisiert dass dieser Wirrwarr neue Bewunderer fand Der Fotograf Brassaiuml erinnerte sich an ein Ge-spraumlch unter den riesigen Pinien von Juan-les-Pins mit Henry Miller der damals ndash wie uumlbrigens auch Georges Simenon ndash Jurymitglied beim Filmfestival von Cannes war

MILLER raquoIch mag diesen Ort Ich verlasse mich stets auf meinen Instinkt meine Gewohnheiten Wenn ich in die Auszligenbezirke einer Stadt komme erschnuumlffele ich ob sie mir gefaumlllt oder nicht ob ich dort gluumlcklich sein werde oder ungluumlcklich Ich habe das Gefuumlhl Juan-les-Pins wird mir guttunlaquoBrassaiuml raquoPicasso hatte das gleiche Gefuumlhl In Paris hat er diese Stadt einmal gemalt ohne sie je zuvor gesehen zu haben Und als er 1920 zum ersten Mal herkam sah er dass Juan-les-Pins genau so war wie er es sich vorgestellt hatte Uumlberwaumlltigt rief er rsaquoKein Zweifel diese Stadt gehoumlrt mirlsaquolaquo

Andrew Loog Oldham in den 1960er Jahren Manager der Rolling Stones erinnerte sich an die Zeit als er am Strand von Juan-les-Pins als Aushilfskellner in raquoButlerrsquos Tea Roomlaquo ndash heute das zentrale Cafeacute de la Plage ndash gearbeitet hatte

Juan war eine riesige Filmkulisse Das Licht war unglaublich Sie hatten da eine Art Licht von dem England bis dahin nicht einmal wusste dass es uumlberhaupt existiert Die Rock-rsquonrsquo-Roll-Clubs waren fantastisch Sie lagen alle unter freiem Himmel versteckt hinter einer langen Hecke Man konnte die Musik von der Straszlige aus houmlren Nach Juan-les-Pins fuhren die franzoumlsischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars im Sommer weil das Publikum dort juumlnger war Die franzouml-sischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars waren groszligartig Im Winter flogen sie zum Shoppen nach Amerika und behaupteten sie gingen dort auf Tour

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

Page 10: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

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Wall-Street-Manipulationen gemacht Sein Sohn Frank Jay ein hoch-gewachsener hagerer Mann mit markanter Nase der gern und oft in den Gazetten karikiert wurde baute das bis 1918 vor sich hin daumlm-mernde Juan-les-Pins mit anderen Investoren zum raquoResortlaquo mit Spielcasino Nobelrestaurants Tennisplaumltzen und eben dem zentra-len Hotel aus Schon 1913 verlegte er seinen Wohnsitz von New York nach Frankreich investierte in die Pferdezucht von Maisons-Laffitte bei Paris uumlberdies in Papier- und Schokoladenfabriken besaszlig bald ein Chacircteau in der Normandie eine Villa in Vichy war Eigentuumlmer von Hotels und Restaurants in Houlgate Bagnoles de lrsquoOrne und Eacutevreux und versuchte aus Granville am Aumlrmelkanal ndash vergeblich ndash das raquoMonaco des Nordenslaquo zu machen Die Cocircte drsquoAzur entdeckte Frank J Gould 1923 auf der Hochzeitsreise mit seiner dritten Ehefrau Florence geborene La Caze einer fantastisch gutaussehenden feier-wuumltigen und in jeder Hinsicht freigiebigen gelernten Opernsaumlngerin Salonniegravere und Literaturmaumlzenin

Inzwischen steht das raquoProvenccedilallaquo seit 44 Jahren leer Die Ruine und der sie umgebende Ort sind zu einer Attraktion des Dark Tou-rism geworden dessen Anhaumlnger den raquoghosts of placeslaquo so der So-ziologe Michael Mayerfeld Bell nachspuumlren ndash dem subtilen Einfluss der anwesend Abwesenden Dass die Cocircte drsquoAzur eine lebensphiloso-phische Projektion ist ndash im Sinne einer uumlber das urspruumlnglich Land-schaftliche hinausweisenden kulturell-soziologischen Persona ndash hat schon der deutsche Publizist Alexander Moszkowski in seiner Auto-biografie Das Panorama meines Lebens die 1925 in Berlin erschien gut beschrieben

Der landschaftliche Reiz ist hier nicht das Wesentliche Der ver-traumlgt bis zu gewissem Grade eine Analyse er laumlszligt sich auf Bekann-tes zuruumlckfuumlhren mit anderem Landschaftlichen vergleichen und ein Globetrotter duumlrfte mir leicht beweisen daszlig der Ri-vierareiz nach malerischen und pflanzlichen Momenten be urteilt keine besondere Vorrangstellung in der Welt zu beanspruchen hat Aber die sichtbare Landschaft ist hier nicht die Grundursache sondern nur eine begleitende Bedingung des Effektes deren wahre Ursaumlchlichkeit gaumlnzlich unerforschlich bleibt Das Kantische

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raquoDing an sichlaquo findet sein Gegenstuumlck in einem raquoZauber an sichlaquo der als das Letzte und Wesentliche sich hinter den Erscheinungen verbirgt und sich nur erahnen laumlszligt wenn man von diesen alles sinnlich Erfaszligbare fortdenkt

Bei allen erkenntnistheoretischen Reflexionen uumlber den raquoZauber an sichlaquo verdankt sich die Entwicklung von Juan-les-Pins doch der Kombination aus einem relativ unberuumlhrten tourismusoumlkonomisch ausbaufaumlhigen Landstrich zwischen Antibes und Golfe-Juan mit dem Amerikanisierungsschub in den 1920er Jahren angelehnt an die Re-sorts in Florida und Kalifornien mit Flapper Girls Dancings Gamb-ling und fruumlhen Automobilrallyes Juan-les-Pins wurde ein doppeltes Gegenmodell an der Cocircte ndash gegen die existierenden Adelsrefugien wie Nizza und Cannes aber auch gegen den lieblich-friedvollen Midi im Allgemeinen Alles war aufregend und neu und ein Verfallsdatum fuumlr diesen Hotspot schien bis in die 1980er Jahre nicht absehbar 1989 waren die Fenster des raquoProvenccedilallaquo noch intakt wurde das Ganze bewacht von einem Mann mit einem kleinen Sohn und einem Do-bermann Nun gibt es nur noch das halbwegs intakte Stahlbeton-gerippe Das alte Hotelgebaumlude darf nicht abgerissen werden die Fassade steht unter Denkmalschutz

Zehn Jahre nach meinem ersten Besuch habe ich die Geschichte dieses Luxushotels in einem Film dokumentiert Der Eigentuumlmer Alexandre Reza beruumlhmt geworden als der angeblich raquoletzte Juwelier von Lady Dilaquo kam damals zu meinem Erstaunen fuumlr ein Interview extra aus Paris angereist und praumlsentierte mit Verve seine umfang-reichen ausgefeilten Umbauplaumlne die aus seiner Sicht von ruumlck-staumlndigen lokalen Buumlrgerinitiativen sabotiert wurden In weiteren Interviews aumluszligerten sich Jean Leonetti der Buumlrgermeister der Ge-meinde Antibes ndash das ist er noch heute ndash und kurzzeitig franzoumlsischer Europaminister unter Nicolas Sarkozy sowie einige Besitzer und Direktoren umliegender Luxushotels wie dem raquoBelles Riveslaquo dem raquoJuanalaquo und dem Grand Hocirctel du Cap Letzteres im Luxusportfolio der deutschen Oetker-Gruppe4 Dort steigen waumlhrend der Filmfest-spiele von Cannes Stars wie Robert De Niro Lars von Trier oder Sha-ron Stone ab Ferner kamen ehemalige Hotelangestellte und raquoMamolaquo

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der quirlige Pro minentenrestaurateur von Antibes der alle und jeden kennt sowie Lokalhistoriker und andere Spezialisten zu Wort

2007 folgte ein weiterer Film uumlber das Cap drsquoAntibes und seine vermoumlgenden Bewohner Boris Beresowski der Mann der Wladimir Putin ins Amt gebracht hatte und spaumlter sein erbittertster Gegner wurde konnte nur in London interviewt werden und nicht in seinem Chacircteau de la Garoupe am Cap drsquoAntibes da er von Interpol verfolgt wurde Er war einer der Finanziers der Orangen Revolution in der Ukraine und damals noch quicklebendig 2016 wurde er in seinem britischen Exil erhaumlngt aufgefunden ndash Selbstmord oder eine perfide Aktion von Putins Geheimdiensten das konnte bis heute nicht aufge-klaumlrt werden

Inzwischen war ich beruflich oder aus rein privatem Interesse wahrscheinlich mehr als hundertmal in Juan-les-Pins Cannes er-reicht man von dort in neun Minuten mit dem Zug nach Nizza dauert es eine halbe Stunde Man kann sich an einem der privat be-wirtschafteten Straumlnde des kleinen Ortes ndash etwa im raquoLes Pirateslaquo mit seinen tuumlrkisen Sonnenschirmen ndash in aller Ruhe mit den Geistern der intellektuellen und kuumlnstlerischen Prominenz beschaumlftigen die sich hier einst erholte ndash neben Hemingway Fitzgerald und Picasso auch Marlene Dietrich Bert Brecht Klaus Mann Walter Benjamin Joseph Roth Stefan Zweig Lee Miller Walker Evans Man Ray ndash oder auch mit den vielleicht noch spannenderen geisteshistorischen Konstellationen heute unbekannterer Zeitgenossen ndash Morphinisten Transvestiten Suffragetten

Die kulturelle und finanzielle Kolonisierung der Franzoumlsischen Riviera kann anhand der Geschichte von Juan-les-Pins sehr praumlzise beschrieben werden zumal der Ort wie kein anderer fuumlr den schnel-len Wechsel von der adligen Winterkultur mit vornehmer Blaumlsse und den Promenaden mit Sonnenschirm am Strand zur Coco-Chanel-Braumlune zur Bikinischau zur Koumlrperexzentrik steht ndash und zu Sexis-mus und Aumluszligerlichkeiten aller Art Sieht man von der unmittelbaren Gruumlndungsphase ab hat es nie irgendeine Art von Architektur-planung fuumlr Juan-les-Pins gegeben und so ist der Ort stets eine Bau-stelle fuumlr die Geschichte der Franzoumlsischen Riviera geblieben die raquozu-gleich eine Gegend und ein soziologisches Phaumlnomenlaquo ist wie Agnegraves

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Varda es im Begleitbuch ihres mittellangen Filmessays Du cocircteacute de la cocircte formulierte den das Office National du Tourisme 1958 finanzierte

Das Schicksal des raquoProvenccedilallaquo die Geschichte von Juan-les-Pins und die des Cap drsquoAntibes stellen so etwas wie spezielle Sonden fuumlr die Cocircte drsquoAzur dar mit Einblicken die uumlber die konventionellen Reise fuumlhrer mit ihrer traditionellen Tour von Marseille nach Men-ton hinausgehen Juan-les-Pins wurde nach dem Ersten Weltkrieg das Emblem fuumlr die kulturelle kuumlnstlerische und architektonische Mo-dernitaumlt an der Cocircte die nach 1945 eine Zeitlang nicht mehr en vogue war weil die neuen Block- und Riegelbauten entlang der Kuumlste eher eine nostalgische Wendung zur Belle Eacutepoque bewirkten ndash von Kunst-markt und Diskokultur einmal abgesehen Erst 1997 veranstaltete das Departement Provence-Alpes-Cocircte drsquoAzur jene zentrale und uumlber-greifende Ausstellung La Cocircte drsquoAzur et la Moderniteacute in der Malerei Design Film Fotografie Gartenbaukunst und Tanz Beachtung fan-den Signifikante Bauwerke wie Robert Mallet-Stevensrsquo Villa Noailles in Hyegraveres das raquoGloria Mansonlaquo in Nizza oder Eileen Grays Wohn-haus E1027 in Roquebrune-Cap-Martin wurden restauriert und in den letzten Jahren entstand sogar eine ndash privat organisierte ndash Besich-tigungstour zu den Art-deacuteco-Bauten in Juan-les-Pins und am Cap5 Die moderne Cocircte drsquoAzur bildet einen scharfen Gegensatz zu den bekannten Provence-Klischees mit den Lavendelfeldern Bastides Toumlpferarbeiten und Bauern mit gelben Gitanes im Mundwinkel6 auch wenn die Uumlbergaumlnge flieszligend erscheinen An der Cocircte domi-niert das Flair des Halbkriminellen Demi-Mondaumlnen ostentativ Luxurierenden raquoDie franzoumlsische Riviera ist Matisse und Picasso nicht Ceacutezanne und van Goghlaquo so hat es bereits 2009 Julian Hale in seiner Kulturgeschichte der Cocircte formuliert (erschienen in der Oxford-Reihe Landscapes of the Imagination) raquoes gibt Jachten und Speedboote keine Barken und Jollen (hellip) Es gibt Filmstars und Rockmusiker keine Stierkaumlmpfer und tote Paumlpstelaquo

1931 als Juan-les-Pins von der damals fuumlhrenden franzoumlsischen Glamourzeitschrift LrsquoIllustration zur Kapitale der neuen Unisex- Pyjama-Mode ausgerufen und hier gerade das Wasserskifahren in Europa populaumlr wurde veroumlffentlichte der Muumlnchener Piper Verlag Das Buch von der Riviera mit betont legeren Texten von Erika und

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Klaus Mann Das Riviera-Buch erschien in der Reihe Was nicht im Bae-deker steht war also eine Art Vorlaumlufer der raquoalternativen Reisefuumlhrerlaquo Die literarischen Geschwister nahmen das Projekt nicht sonderlich ernst entledigten sich ihrer Aufgabe aber mit Eleganz und im laumlssigen Kumpelstil des Weimarer Feuilletons In dem Buch werden die Grand Tour des 19 Jahrhunderts von Marseille bis zum Golf von La Spezia beschrieben eine Reihe angesagter Hotels und Tanzbars aufgefuumlhrt und die bis heute aktuelle Frage aller Fragen gestellt raquoWoher kommt der groszlige Ruhm dieser blauen Kuumlste Warum blieb die Cocircte drsquoAzur uumlber Jahrzehnte der Vergnuumlgungs- und Erholungsstrand des Konti-nents und der Weltlaquo Inzwischen kommt man schneller nach Bora-Bora Patagonien oder auf irgendeine exotische karibische Insel doch die Riviera hat ihren Statuswert als Reiseziel eher noch gemehrt

Bei aller Begeisterung uumlber das rot schimmernde Esterel-Gebirge die drei grandiosen Corniches zwischen Nizza und Menton putzige Kuumlnstlerdoumlrfer wie Mougins und Saint-Paul-de-Vence oder karibisch anmutende Inselparadiese wie Porquerolles und Port-Cros sollte nicht vergessen werden dass die Cocircte seit Jahrzehnten politisch rechts steht sogar weit rechts auszligen Es gibt einen engen Zusammenhang von lo-kalen Potentaten Mafia-Organisationen aller Spielarten Spekulanten und gewoumlhnlichen Schwerkriminellen Als Albert Spaggiari ein be-kennender Fan der deutschen SS nach dem raquoBankraub des Jahrhun-dertslaquo (1976) auf raumltselhafte Weise aus dem Justizpalast in Nizza ent-kam war sein Anwalt Jacques Peyrat der aus dem Milieu des Front National stammt und spaumlter uumlber Jahre Buumlrgermeister von Nizza war erkennbar nicht unfroh uumlber die spektakulaumlre Flucht seines Klienten nach Suumldamerika Dorthin war auch Peyrats Amtsvorgaumlnger Jacques Meacutedecin 1990 nach anhaltenden Korruptionsvorwuumlrfen Hals uumlber Kopf gefluumlchtet In Nizza ist raquoJacquotlaquo Meacutedecin heute noch sehr be-liebt Sein Buch uumlber die provenzalische Kuumlche mit der Anleitung wie die echte Salade niccediloise zubereitet wird gilt nach wie vor als Standard-werk Daruumlber hinaus war der unscheinbare Kaumlsehaumlndler neben dem Bahnhof von Juan in einen spektakulaumlren Mordfall ver wickelt bei dem 1999 einige Mafiosi enthauptet und zerteilt in Muumlllsaumlcken im Hinterland aufgefunden wurden Selbst im kleinen Juan-les-Pins gab es eine Zelle der brutalen italienischen rsquoNdrangheta7

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Uumlberdies ist die Franzoumlsische Riviera ein Tummelplatz fuumlr Dik-tatoren und Autokraten aller Art ndash von Ben Ali (Tunesien) uumlber Omar Bongo (Gabun) bis hin zu raquoBaby Doclaquo Duvalier (Haiti) der allerdings vor seiner kurzzeitigen Ruumlckkehr auf seine Heimatinsel in einem billigen Hotel in Mougins logieren musste Unrechtmaumlszligig er-worbenes Vermoumlgen wird hier in Villen und Jachten investiert denn uumlblicherweise recherchieren franzoumlsische Untersuchungsrichter zu-ruumlckhaltend wenn es um raquobiens mal acquislaquo ndash schlecht erworbene Guumlter ndash geht Der blutig regierenden saudischen Koumlnigsfamilie die missliebige Journalisten schon einmal foltern oder gar zerstuumlckeln laumlsst gehoumlren ausgedehnte Laumlndereien in Golfe-Juan rund um das Chacircteau de lrsquoHorizon das 1932 von Barry Dierks fuumlr die US-Schau-spielerin Maxine Elliott erbaut wurde ebenso das neomaurische Chacircteau Robert heute eine gigantische Ruine und einst von Emil Jel-linek bewohnt dem Namensgeber der Daimler-Marke raquoMercedeslaquo

Der kriminelle Hintergrund der Cocircte muss den gewoumlhnlichen Touristen nicht kuumlmmern und Hollywood-Stars werden waumlhrend der Filmfestspiele von Cannes gewoumlhnlich verschont Dennoch loumlsen die vermehrten Raubuumlberfaumllle auf Ferienappartements bei denen die Bewohner schon einmal mit Betaumlubungsgas auszliger Gefecht gesetzt werden Beunruhigung aus Nachdem die Tochter seiner Geliebten Yvonne Cloetta einen Mann aus dem raquoMilieulaquo geheiratet hatte der sie offenbar drangsalierte hat Graham Greene der Amateurspion und feinsinnige Autor von Bestsellern wie Unser Mann in Havanna oder Der stille Amerikaner in dem 1982 verfassten Pamphlet Jrsquoaccuse gewarnt raquoVermeiden Sie die Gegend um Nizza ndash sie ist das Revier einiger der kriminellsten Organisationen im Suumlden Frankreichslaquo Greene verursachte damit zunaumlchst einigen Wirbel bis hinauf zum franzoumlsischen Justizminister schlieszliglich war der damals bereits 77-Jaumlhrige nicht irgendwer aber Nizzas Buumlrgermeister Meacutedecin kehrte den Spieszlig einfach um und beschimpfte ndash mit dem Nice Matin im Ruumlcken ndash den ewigen Kandidaten fuumlr den Literaturnobelpreis als raquoalten Spinnerlaquo und weltfremden Auslaumlnder der sich nie in die spezifische Atmosphaumlre der Cocircte habe einfinden koumlnnen

Die Nobelpreise erhielten was die Cocircte drsquoAzur anlangt dann zwei eher zuruumlckhaltende Charaktere zunaumlchst im Jahr 2008 Jean-Marie

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Gustave Le Cleacutezio aus Nizza bekannt als J M G Le Cleacutezio und 2014 Patrick Modiano dessen Romane Sonntage im August und Hochzeits-reise unter anderem durch ausgezeichnete Recherchen glaumlnzen und einen bemerkenswerten Einblick in das Vichy-Regime an der Cocircte und die deutsch-italienische Besatzungszeit gewaumlhren Modianos Hochzeitsreise spielt in einem kardinalen Kapitel im raquoProvenccedilallaquo das auch in zahlreichen weiteren Romanen und Spionagestorys von Georges Simenon bis zu Jean-Paul Sartre oder Irwin Shaw vorkommt

Die klassische Riviera gibt es kulturhistorisch seit dem 18 Jahr-hundert kolonisiert zunaumlchst von reichen Englaumlndern und russischen Adligen die Cocircte drsquoAzur gibt es erst seit 1887 jedenfalls begrifflich8 Das wissen wir ziemlich genau denn Steacutephen Lieacutegeard ein Regional-politiker mit literarischen Neigungen hat in jenem Jahr ein blumiges 630-Seiten-Werk mit dem Titel La Cocircte drsquoAzur publiziert und damit eine bis heute guumlltige landschaftliche Weltmarke erfunden Originell war der Titel nicht denn das Azurblau unter den Blautoumlnen findet man schon in Theacuteodore de Banvilles Buch La mer de Nice (1865)

Lieacutegeard schwer begeistert von der Sommerfrische der Adligen und dem sanften Klima der Provence und ihrer langen griechisch-roumlmischen Kolonisationsgeschichte vermischte fuumlr seine Cocircte- Geschichte munter Zeithistorie Landschaftsekstase und Legenden wobei er es mit den Fakten nicht so genau nahm aber eine fuumlr die Belle Eacutepoque attraktive Lektuumlre schuf Allein dreiszligig Seiten schrieb er uumlber die Lerinischen Inseln vor Cannes uumlber die moumlnchische Kul-tur auf der Insel Saint-Honorat und das Staatsgefaumlngnis auf der Insel Sainte-Marguerite wo der raquoMann mit der eisernen Maskelaquo gefangen gehalten wurde und aus dem 1874 der Marschall Bazaine der raquoVer-lierer von Metzlaquo im Deutsch-Franzoumlsischen Krieg unter suspekten Umstaumlnden entkam Neben den ausschweifenden Beschreibungen von Villenarchitektur und Botanik fehlte das Politische in Lieacutegeards Werk durchaus nicht Napoleon III hatte zwar bedauerlicherweise den Krieg von 187071 gegen die Bismarck-Koalition verloren aber 1860 erreicht dass Nizza als Hauptort des Deacutepartement Alpes-Ma-ritimes franzoumlsisch wurde ndash bis dahin war es Teil des Koumlnigreichs von Savoyen und Sardinien Im Gegenzug hatte der franzoumlsische Kaiser die Entstehung des neuen italienischen Nationalstaats unterstuumltzt

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Wer wuumlrde von der Schoumlnheit der neu entdeckten Kuumlstenregion der Cocircte drsquoAzur oumlkonomisch profitieren nachdem sie durch den Bau schneller Eisenbahnverbindungen noch an Attraktivitaumlt gewonnen hatte Die Hotellerie und das Gastgewerbe machten nun jedenfalls auch jenseits des Hochadels Angebote an das vermoumlgende Buumlrgertum und expandierten in dieser von der raquoindustriellen Revolutionlaquo noch unberuumlhrten Gegend gewaltig Und auch Lieacutegeard hatte begriffen worum es ging Uumlber Juan-les-Pins das kurz vor Erscheinen seines Buches uumlberhaupt erst als Name auf der Landkarte erschienen war schrieb er in der zweiten Auflage seines Werkes

Eine Viertelstunde von dem kleinen Hafen entfernt wo die Tar-tanen die Toumlpferwaren aus Vallauris an Bord nehmen zweigt eine neue Straszlige ab nach Juan-les-Pins Auf feinem Sand verlaumluft sie entlang des schaumbekroumlnten Saums mit dem das Meer sie lieb-kost waumlhrend das Zwitschern der Voumlgel und der Schirm der aus-ladenden Pinien ihr Schatten und Froumlhlichkeit spenden (hellip) Eine Aktiengesellschaft wurde gegruumlndet die das Land aufkauft und parzelliert Schon sind Straszligen und Boulevards trassiert ein Bahn-hof hemmt den Reisenden in seiner Fahrt ein Hotel umwirbt ihn Doch wird sich der Reisende auch verfuumlhren lassen

Mit dem Hotel meinte Lieacutegeard das erste Grandhotel in Juan-les-Pins wo es zuvor nur die Kuumlnstlerpension Chacircteau de la Pinegravede mit ihrem markanten oktogonalen Turm gegeben hatte Diese aumllteste Villa auf dem Terrain des Staumldtchens steht wundersamerweise noch heute ndash neben einem pyramidal anmutenden Komplex aus den 1970er Jahren ndash ist aber inzwischen in teure Einzelwohnungen auf-geteilt worden Claude Monet wohnte hier 1888 als er seine beruumlhm-ten impressionistischen Bilder vom Cap drsquoAntibes und dem men-schenleeren Strand von Juan-les-Pins schuf Empfohlen hatte ihm die Unterkunft sein Kuumlnstlerfreund der Flaubert-Schuumller Guy de Mau-passant damals ein ungeheuer populaumlrer Literat Wie Monet steht Maupassant fuumlr die kuumlnstlerische Drift von der Normandie in die waumlrmeren Gefilde der Cocircte drsquoAzur Jeder Lokalpatriot kennt heute Maupassants prophetische Saumltze

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Von weitem sehen die Panzerschiffe wie Felsen aus wie kleine Inseln wie von abgestorbenen Baumlumen bedeckte Klippen Am Ufer entlang fliegt der Rauch eines Zuges der von Cannes nach Juan-les-Pins faumlhrt das vielleicht spaumlter der huumlbscheste Badeort der ganzen Kuumlste sein wird Drei Tartaren liegen mit ihren ro-mantischen Segeln von denen eines rot und die anderen beiden weiszlig sind im Fahrwasser zwischen Sainte-Marguerite und dem Festland vor Anker Das ist die Stille die suumlszlige und heiszlige Stille eines Fruumlhlingsmorgens im Suumlden und schon kommt es mir so vor als haumltte ich die Leute die reden und umherhetzen seit Wo-chen seit Monaten seit Jahren verlassen ich spuumlre wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt der suumlszlige Rausch der Ruhe die nichts stoumlren wird kein weiszliger Brief kein blaues Tele-gramm nicht die Klingel meiner Tuumlr noch das Bellen meines Hundes

Maupassant war mit seiner Jacht Bel Ami die er 1885 gekauft hatte an der Franzoumlsischen Riviera entlanggesegelt und hatte sich auch eine Zeitlang in Antibes in der Villa Muterse und im Chalet des Alpes an der Route de la Badine niedergelassen Viel schoumlpferische Zeit blieb ihm nicht mehr er starb schon 1894 mit 44 Jahren an den Folgen der Syphilis Und Juan-les-Pins wurde nie raquoder huumlbscheste Badeortlaquo wie er es prophezeit hatte

Huumlbsch und lieblich war es dort vielleicht noch bis 1914 als der Weltkrieg zunaumlchst einmal alle Spekulationsanstrengungen unter-brach Als dann Mitte der 1920er Jahre mit Frank Jay Gould und Konsorten der wirkliche Boom einsetzte und die neuen Straszligenzuumlge agrave la Miami Beach nur noch aus Hotels und Pensionen bestanden ndash innerhalb von zwei drei Jahren waren es an die hundert ndash spottete Jean Cocteau aus Juan-les-Pins sei genau die Karikatur geworden die es schon immer gewesen sei 1939 ging er dann noch weiter In einem Brief an seine Mutter bezeichnete er es als eine raquoville atrocelaquo eine scheuszligliche Stadt Dabei waren damals die meisten alten Villen noch nicht abgerissen die den zeittypischen Appartementkomplexen der 1950er und 1960er Jahre Platz machen mussten weil diese houmlhere Renditen fuumlr die Besitzer versprachen9

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1960 war das absurde architektonische Gesamtkunstwerk Juan-les-Pins mit seinen Art-deacuteco-Bauten den vereinzelt uumlbrig gebliebe-nen Villen aus der Gruumlnderphase und den vielen skurrilen Beton-kloumltzen allerdings schon so musealisiert dass dieser Wirrwarr neue Bewunderer fand Der Fotograf Brassaiuml erinnerte sich an ein Ge-spraumlch unter den riesigen Pinien von Juan-les-Pins mit Henry Miller der damals ndash wie uumlbrigens auch Georges Simenon ndash Jurymitglied beim Filmfestival von Cannes war

MILLER raquoIch mag diesen Ort Ich verlasse mich stets auf meinen Instinkt meine Gewohnheiten Wenn ich in die Auszligenbezirke einer Stadt komme erschnuumlffele ich ob sie mir gefaumlllt oder nicht ob ich dort gluumlcklich sein werde oder ungluumlcklich Ich habe das Gefuumlhl Juan-les-Pins wird mir guttunlaquoBrassaiuml raquoPicasso hatte das gleiche Gefuumlhl In Paris hat er diese Stadt einmal gemalt ohne sie je zuvor gesehen zu haben Und als er 1920 zum ersten Mal herkam sah er dass Juan-les-Pins genau so war wie er es sich vorgestellt hatte Uumlberwaumlltigt rief er rsaquoKein Zweifel diese Stadt gehoumlrt mirlsaquolaquo

Andrew Loog Oldham in den 1960er Jahren Manager der Rolling Stones erinnerte sich an die Zeit als er am Strand von Juan-les-Pins als Aushilfskellner in raquoButlerrsquos Tea Roomlaquo ndash heute das zentrale Cafeacute de la Plage ndash gearbeitet hatte

Juan war eine riesige Filmkulisse Das Licht war unglaublich Sie hatten da eine Art Licht von dem England bis dahin nicht einmal wusste dass es uumlberhaupt existiert Die Rock-rsquonrsquo-Roll-Clubs waren fantastisch Sie lagen alle unter freiem Himmel versteckt hinter einer langen Hecke Man konnte die Musik von der Straszlige aus houmlren Nach Juan-les-Pins fuhren die franzoumlsischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars im Sommer weil das Publikum dort juumlnger war Die franzouml-sischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars waren groszligartig Im Winter flogen sie zum Shoppen nach Amerika und behaupteten sie gingen dort auf Tour

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

Page 11: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

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raquoDing an sichlaquo findet sein Gegenstuumlck in einem raquoZauber an sichlaquo der als das Letzte und Wesentliche sich hinter den Erscheinungen verbirgt und sich nur erahnen laumlszligt wenn man von diesen alles sinnlich Erfaszligbare fortdenkt

Bei allen erkenntnistheoretischen Reflexionen uumlber den raquoZauber an sichlaquo verdankt sich die Entwicklung von Juan-les-Pins doch der Kombination aus einem relativ unberuumlhrten tourismusoumlkonomisch ausbaufaumlhigen Landstrich zwischen Antibes und Golfe-Juan mit dem Amerikanisierungsschub in den 1920er Jahren angelehnt an die Re-sorts in Florida und Kalifornien mit Flapper Girls Dancings Gamb-ling und fruumlhen Automobilrallyes Juan-les-Pins wurde ein doppeltes Gegenmodell an der Cocircte ndash gegen die existierenden Adelsrefugien wie Nizza und Cannes aber auch gegen den lieblich-friedvollen Midi im Allgemeinen Alles war aufregend und neu und ein Verfallsdatum fuumlr diesen Hotspot schien bis in die 1980er Jahre nicht absehbar 1989 waren die Fenster des raquoProvenccedilallaquo noch intakt wurde das Ganze bewacht von einem Mann mit einem kleinen Sohn und einem Do-bermann Nun gibt es nur noch das halbwegs intakte Stahlbeton-gerippe Das alte Hotelgebaumlude darf nicht abgerissen werden die Fassade steht unter Denkmalschutz

Zehn Jahre nach meinem ersten Besuch habe ich die Geschichte dieses Luxushotels in einem Film dokumentiert Der Eigentuumlmer Alexandre Reza beruumlhmt geworden als der angeblich raquoletzte Juwelier von Lady Dilaquo kam damals zu meinem Erstaunen fuumlr ein Interview extra aus Paris angereist und praumlsentierte mit Verve seine umfang-reichen ausgefeilten Umbauplaumlne die aus seiner Sicht von ruumlck-staumlndigen lokalen Buumlrgerinitiativen sabotiert wurden In weiteren Interviews aumluszligerten sich Jean Leonetti der Buumlrgermeister der Ge-meinde Antibes ndash das ist er noch heute ndash und kurzzeitig franzoumlsischer Europaminister unter Nicolas Sarkozy sowie einige Besitzer und Direktoren umliegender Luxushotels wie dem raquoBelles Riveslaquo dem raquoJuanalaquo und dem Grand Hocirctel du Cap Letzteres im Luxusportfolio der deutschen Oetker-Gruppe4 Dort steigen waumlhrend der Filmfest-spiele von Cannes Stars wie Robert De Niro Lars von Trier oder Sha-ron Stone ab Ferner kamen ehemalige Hotelangestellte und raquoMamolaquo

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der quirlige Pro minentenrestaurateur von Antibes der alle und jeden kennt sowie Lokalhistoriker und andere Spezialisten zu Wort

2007 folgte ein weiterer Film uumlber das Cap drsquoAntibes und seine vermoumlgenden Bewohner Boris Beresowski der Mann der Wladimir Putin ins Amt gebracht hatte und spaumlter sein erbittertster Gegner wurde konnte nur in London interviewt werden und nicht in seinem Chacircteau de la Garoupe am Cap drsquoAntibes da er von Interpol verfolgt wurde Er war einer der Finanziers der Orangen Revolution in der Ukraine und damals noch quicklebendig 2016 wurde er in seinem britischen Exil erhaumlngt aufgefunden ndash Selbstmord oder eine perfide Aktion von Putins Geheimdiensten das konnte bis heute nicht aufge-klaumlrt werden

Inzwischen war ich beruflich oder aus rein privatem Interesse wahrscheinlich mehr als hundertmal in Juan-les-Pins Cannes er-reicht man von dort in neun Minuten mit dem Zug nach Nizza dauert es eine halbe Stunde Man kann sich an einem der privat be-wirtschafteten Straumlnde des kleinen Ortes ndash etwa im raquoLes Pirateslaquo mit seinen tuumlrkisen Sonnenschirmen ndash in aller Ruhe mit den Geistern der intellektuellen und kuumlnstlerischen Prominenz beschaumlftigen die sich hier einst erholte ndash neben Hemingway Fitzgerald und Picasso auch Marlene Dietrich Bert Brecht Klaus Mann Walter Benjamin Joseph Roth Stefan Zweig Lee Miller Walker Evans Man Ray ndash oder auch mit den vielleicht noch spannenderen geisteshistorischen Konstellationen heute unbekannterer Zeitgenossen ndash Morphinisten Transvestiten Suffragetten

Die kulturelle und finanzielle Kolonisierung der Franzoumlsischen Riviera kann anhand der Geschichte von Juan-les-Pins sehr praumlzise beschrieben werden zumal der Ort wie kein anderer fuumlr den schnel-len Wechsel von der adligen Winterkultur mit vornehmer Blaumlsse und den Promenaden mit Sonnenschirm am Strand zur Coco-Chanel-Braumlune zur Bikinischau zur Koumlrperexzentrik steht ndash und zu Sexis-mus und Aumluszligerlichkeiten aller Art Sieht man von der unmittelbaren Gruumlndungsphase ab hat es nie irgendeine Art von Architektur-planung fuumlr Juan-les-Pins gegeben und so ist der Ort stets eine Bau-stelle fuumlr die Geschichte der Franzoumlsischen Riviera geblieben die raquozu-gleich eine Gegend und ein soziologisches Phaumlnomenlaquo ist wie Agnegraves

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Varda es im Begleitbuch ihres mittellangen Filmessays Du cocircteacute de la cocircte formulierte den das Office National du Tourisme 1958 finanzierte

Das Schicksal des raquoProvenccedilallaquo die Geschichte von Juan-les-Pins und die des Cap drsquoAntibes stellen so etwas wie spezielle Sonden fuumlr die Cocircte drsquoAzur dar mit Einblicken die uumlber die konventionellen Reise fuumlhrer mit ihrer traditionellen Tour von Marseille nach Men-ton hinausgehen Juan-les-Pins wurde nach dem Ersten Weltkrieg das Emblem fuumlr die kulturelle kuumlnstlerische und architektonische Mo-dernitaumlt an der Cocircte die nach 1945 eine Zeitlang nicht mehr en vogue war weil die neuen Block- und Riegelbauten entlang der Kuumlste eher eine nostalgische Wendung zur Belle Eacutepoque bewirkten ndash von Kunst-markt und Diskokultur einmal abgesehen Erst 1997 veranstaltete das Departement Provence-Alpes-Cocircte drsquoAzur jene zentrale und uumlber-greifende Ausstellung La Cocircte drsquoAzur et la Moderniteacute in der Malerei Design Film Fotografie Gartenbaukunst und Tanz Beachtung fan-den Signifikante Bauwerke wie Robert Mallet-Stevensrsquo Villa Noailles in Hyegraveres das raquoGloria Mansonlaquo in Nizza oder Eileen Grays Wohn-haus E1027 in Roquebrune-Cap-Martin wurden restauriert und in den letzten Jahren entstand sogar eine ndash privat organisierte ndash Besich-tigungstour zu den Art-deacuteco-Bauten in Juan-les-Pins und am Cap5 Die moderne Cocircte drsquoAzur bildet einen scharfen Gegensatz zu den bekannten Provence-Klischees mit den Lavendelfeldern Bastides Toumlpferarbeiten und Bauern mit gelben Gitanes im Mundwinkel6 auch wenn die Uumlbergaumlnge flieszligend erscheinen An der Cocircte domi-niert das Flair des Halbkriminellen Demi-Mondaumlnen ostentativ Luxurierenden raquoDie franzoumlsische Riviera ist Matisse und Picasso nicht Ceacutezanne und van Goghlaquo so hat es bereits 2009 Julian Hale in seiner Kulturgeschichte der Cocircte formuliert (erschienen in der Oxford-Reihe Landscapes of the Imagination) raquoes gibt Jachten und Speedboote keine Barken und Jollen (hellip) Es gibt Filmstars und Rockmusiker keine Stierkaumlmpfer und tote Paumlpstelaquo

1931 als Juan-les-Pins von der damals fuumlhrenden franzoumlsischen Glamourzeitschrift LrsquoIllustration zur Kapitale der neuen Unisex- Pyjama-Mode ausgerufen und hier gerade das Wasserskifahren in Europa populaumlr wurde veroumlffentlichte der Muumlnchener Piper Verlag Das Buch von der Riviera mit betont legeren Texten von Erika und

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Klaus Mann Das Riviera-Buch erschien in der Reihe Was nicht im Bae-deker steht war also eine Art Vorlaumlufer der raquoalternativen Reisefuumlhrerlaquo Die literarischen Geschwister nahmen das Projekt nicht sonderlich ernst entledigten sich ihrer Aufgabe aber mit Eleganz und im laumlssigen Kumpelstil des Weimarer Feuilletons In dem Buch werden die Grand Tour des 19 Jahrhunderts von Marseille bis zum Golf von La Spezia beschrieben eine Reihe angesagter Hotels und Tanzbars aufgefuumlhrt und die bis heute aktuelle Frage aller Fragen gestellt raquoWoher kommt der groszlige Ruhm dieser blauen Kuumlste Warum blieb die Cocircte drsquoAzur uumlber Jahrzehnte der Vergnuumlgungs- und Erholungsstrand des Konti-nents und der Weltlaquo Inzwischen kommt man schneller nach Bora-Bora Patagonien oder auf irgendeine exotische karibische Insel doch die Riviera hat ihren Statuswert als Reiseziel eher noch gemehrt

Bei aller Begeisterung uumlber das rot schimmernde Esterel-Gebirge die drei grandiosen Corniches zwischen Nizza und Menton putzige Kuumlnstlerdoumlrfer wie Mougins und Saint-Paul-de-Vence oder karibisch anmutende Inselparadiese wie Porquerolles und Port-Cros sollte nicht vergessen werden dass die Cocircte seit Jahrzehnten politisch rechts steht sogar weit rechts auszligen Es gibt einen engen Zusammenhang von lo-kalen Potentaten Mafia-Organisationen aller Spielarten Spekulanten und gewoumlhnlichen Schwerkriminellen Als Albert Spaggiari ein be-kennender Fan der deutschen SS nach dem raquoBankraub des Jahrhun-dertslaquo (1976) auf raumltselhafte Weise aus dem Justizpalast in Nizza ent-kam war sein Anwalt Jacques Peyrat der aus dem Milieu des Front National stammt und spaumlter uumlber Jahre Buumlrgermeister von Nizza war erkennbar nicht unfroh uumlber die spektakulaumlre Flucht seines Klienten nach Suumldamerika Dorthin war auch Peyrats Amtsvorgaumlnger Jacques Meacutedecin 1990 nach anhaltenden Korruptionsvorwuumlrfen Hals uumlber Kopf gefluumlchtet In Nizza ist raquoJacquotlaquo Meacutedecin heute noch sehr be-liebt Sein Buch uumlber die provenzalische Kuumlche mit der Anleitung wie die echte Salade niccediloise zubereitet wird gilt nach wie vor als Standard-werk Daruumlber hinaus war der unscheinbare Kaumlsehaumlndler neben dem Bahnhof von Juan in einen spektakulaumlren Mordfall ver wickelt bei dem 1999 einige Mafiosi enthauptet und zerteilt in Muumlllsaumlcken im Hinterland aufgefunden wurden Selbst im kleinen Juan-les-Pins gab es eine Zelle der brutalen italienischen rsquoNdrangheta7

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Uumlberdies ist die Franzoumlsische Riviera ein Tummelplatz fuumlr Dik-tatoren und Autokraten aller Art ndash von Ben Ali (Tunesien) uumlber Omar Bongo (Gabun) bis hin zu raquoBaby Doclaquo Duvalier (Haiti) der allerdings vor seiner kurzzeitigen Ruumlckkehr auf seine Heimatinsel in einem billigen Hotel in Mougins logieren musste Unrechtmaumlszligig er-worbenes Vermoumlgen wird hier in Villen und Jachten investiert denn uumlblicherweise recherchieren franzoumlsische Untersuchungsrichter zu-ruumlckhaltend wenn es um raquobiens mal acquislaquo ndash schlecht erworbene Guumlter ndash geht Der blutig regierenden saudischen Koumlnigsfamilie die missliebige Journalisten schon einmal foltern oder gar zerstuumlckeln laumlsst gehoumlren ausgedehnte Laumlndereien in Golfe-Juan rund um das Chacircteau de lrsquoHorizon das 1932 von Barry Dierks fuumlr die US-Schau-spielerin Maxine Elliott erbaut wurde ebenso das neomaurische Chacircteau Robert heute eine gigantische Ruine und einst von Emil Jel-linek bewohnt dem Namensgeber der Daimler-Marke raquoMercedeslaquo

Der kriminelle Hintergrund der Cocircte muss den gewoumlhnlichen Touristen nicht kuumlmmern und Hollywood-Stars werden waumlhrend der Filmfestspiele von Cannes gewoumlhnlich verschont Dennoch loumlsen die vermehrten Raubuumlberfaumllle auf Ferienappartements bei denen die Bewohner schon einmal mit Betaumlubungsgas auszliger Gefecht gesetzt werden Beunruhigung aus Nachdem die Tochter seiner Geliebten Yvonne Cloetta einen Mann aus dem raquoMilieulaquo geheiratet hatte der sie offenbar drangsalierte hat Graham Greene der Amateurspion und feinsinnige Autor von Bestsellern wie Unser Mann in Havanna oder Der stille Amerikaner in dem 1982 verfassten Pamphlet Jrsquoaccuse gewarnt raquoVermeiden Sie die Gegend um Nizza ndash sie ist das Revier einiger der kriminellsten Organisationen im Suumlden Frankreichslaquo Greene verursachte damit zunaumlchst einigen Wirbel bis hinauf zum franzoumlsischen Justizminister schlieszliglich war der damals bereits 77-Jaumlhrige nicht irgendwer aber Nizzas Buumlrgermeister Meacutedecin kehrte den Spieszlig einfach um und beschimpfte ndash mit dem Nice Matin im Ruumlcken ndash den ewigen Kandidaten fuumlr den Literaturnobelpreis als raquoalten Spinnerlaquo und weltfremden Auslaumlnder der sich nie in die spezifische Atmosphaumlre der Cocircte habe einfinden koumlnnen

Die Nobelpreise erhielten was die Cocircte drsquoAzur anlangt dann zwei eher zuruumlckhaltende Charaktere zunaumlchst im Jahr 2008 Jean-Marie

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Gustave Le Cleacutezio aus Nizza bekannt als J M G Le Cleacutezio und 2014 Patrick Modiano dessen Romane Sonntage im August und Hochzeits-reise unter anderem durch ausgezeichnete Recherchen glaumlnzen und einen bemerkenswerten Einblick in das Vichy-Regime an der Cocircte und die deutsch-italienische Besatzungszeit gewaumlhren Modianos Hochzeitsreise spielt in einem kardinalen Kapitel im raquoProvenccedilallaquo das auch in zahlreichen weiteren Romanen und Spionagestorys von Georges Simenon bis zu Jean-Paul Sartre oder Irwin Shaw vorkommt

Die klassische Riviera gibt es kulturhistorisch seit dem 18 Jahr-hundert kolonisiert zunaumlchst von reichen Englaumlndern und russischen Adligen die Cocircte drsquoAzur gibt es erst seit 1887 jedenfalls begrifflich8 Das wissen wir ziemlich genau denn Steacutephen Lieacutegeard ein Regional-politiker mit literarischen Neigungen hat in jenem Jahr ein blumiges 630-Seiten-Werk mit dem Titel La Cocircte drsquoAzur publiziert und damit eine bis heute guumlltige landschaftliche Weltmarke erfunden Originell war der Titel nicht denn das Azurblau unter den Blautoumlnen findet man schon in Theacuteodore de Banvilles Buch La mer de Nice (1865)

Lieacutegeard schwer begeistert von der Sommerfrische der Adligen und dem sanften Klima der Provence und ihrer langen griechisch-roumlmischen Kolonisationsgeschichte vermischte fuumlr seine Cocircte- Geschichte munter Zeithistorie Landschaftsekstase und Legenden wobei er es mit den Fakten nicht so genau nahm aber eine fuumlr die Belle Eacutepoque attraktive Lektuumlre schuf Allein dreiszligig Seiten schrieb er uumlber die Lerinischen Inseln vor Cannes uumlber die moumlnchische Kul-tur auf der Insel Saint-Honorat und das Staatsgefaumlngnis auf der Insel Sainte-Marguerite wo der raquoMann mit der eisernen Maskelaquo gefangen gehalten wurde und aus dem 1874 der Marschall Bazaine der raquoVer-lierer von Metzlaquo im Deutsch-Franzoumlsischen Krieg unter suspekten Umstaumlnden entkam Neben den ausschweifenden Beschreibungen von Villenarchitektur und Botanik fehlte das Politische in Lieacutegeards Werk durchaus nicht Napoleon III hatte zwar bedauerlicherweise den Krieg von 187071 gegen die Bismarck-Koalition verloren aber 1860 erreicht dass Nizza als Hauptort des Deacutepartement Alpes-Ma-ritimes franzoumlsisch wurde ndash bis dahin war es Teil des Koumlnigreichs von Savoyen und Sardinien Im Gegenzug hatte der franzoumlsische Kaiser die Entstehung des neuen italienischen Nationalstaats unterstuumltzt

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Wer wuumlrde von der Schoumlnheit der neu entdeckten Kuumlstenregion der Cocircte drsquoAzur oumlkonomisch profitieren nachdem sie durch den Bau schneller Eisenbahnverbindungen noch an Attraktivitaumlt gewonnen hatte Die Hotellerie und das Gastgewerbe machten nun jedenfalls auch jenseits des Hochadels Angebote an das vermoumlgende Buumlrgertum und expandierten in dieser von der raquoindustriellen Revolutionlaquo noch unberuumlhrten Gegend gewaltig Und auch Lieacutegeard hatte begriffen worum es ging Uumlber Juan-les-Pins das kurz vor Erscheinen seines Buches uumlberhaupt erst als Name auf der Landkarte erschienen war schrieb er in der zweiten Auflage seines Werkes

Eine Viertelstunde von dem kleinen Hafen entfernt wo die Tar-tanen die Toumlpferwaren aus Vallauris an Bord nehmen zweigt eine neue Straszlige ab nach Juan-les-Pins Auf feinem Sand verlaumluft sie entlang des schaumbekroumlnten Saums mit dem das Meer sie lieb-kost waumlhrend das Zwitschern der Voumlgel und der Schirm der aus-ladenden Pinien ihr Schatten und Froumlhlichkeit spenden (hellip) Eine Aktiengesellschaft wurde gegruumlndet die das Land aufkauft und parzelliert Schon sind Straszligen und Boulevards trassiert ein Bahn-hof hemmt den Reisenden in seiner Fahrt ein Hotel umwirbt ihn Doch wird sich der Reisende auch verfuumlhren lassen

Mit dem Hotel meinte Lieacutegeard das erste Grandhotel in Juan-les-Pins wo es zuvor nur die Kuumlnstlerpension Chacircteau de la Pinegravede mit ihrem markanten oktogonalen Turm gegeben hatte Diese aumllteste Villa auf dem Terrain des Staumldtchens steht wundersamerweise noch heute ndash neben einem pyramidal anmutenden Komplex aus den 1970er Jahren ndash ist aber inzwischen in teure Einzelwohnungen auf-geteilt worden Claude Monet wohnte hier 1888 als er seine beruumlhm-ten impressionistischen Bilder vom Cap drsquoAntibes und dem men-schenleeren Strand von Juan-les-Pins schuf Empfohlen hatte ihm die Unterkunft sein Kuumlnstlerfreund der Flaubert-Schuumller Guy de Mau-passant damals ein ungeheuer populaumlrer Literat Wie Monet steht Maupassant fuumlr die kuumlnstlerische Drift von der Normandie in die waumlrmeren Gefilde der Cocircte drsquoAzur Jeder Lokalpatriot kennt heute Maupassants prophetische Saumltze

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Von weitem sehen die Panzerschiffe wie Felsen aus wie kleine Inseln wie von abgestorbenen Baumlumen bedeckte Klippen Am Ufer entlang fliegt der Rauch eines Zuges der von Cannes nach Juan-les-Pins faumlhrt das vielleicht spaumlter der huumlbscheste Badeort der ganzen Kuumlste sein wird Drei Tartaren liegen mit ihren ro-mantischen Segeln von denen eines rot und die anderen beiden weiszlig sind im Fahrwasser zwischen Sainte-Marguerite und dem Festland vor Anker Das ist die Stille die suumlszlige und heiszlige Stille eines Fruumlhlingsmorgens im Suumlden und schon kommt es mir so vor als haumltte ich die Leute die reden und umherhetzen seit Wo-chen seit Monaten seit Jahren verlassen ich spuumlre wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt der suumlszlige Rausch der Ruhe die nichts stoumlren wird kein weiszliger Brief kein blaues Tele-gramm nicht die Klingel meiner Tuumlr noch das Bellen meines Hundes

Maupassant war mit seiner Jacht Bel Ami die er 1885 gekauft hatte an der Franzoumlsischen Riviera entlanggesegelt und hatte sich auch eine Zeitlang in Antibes in der Villa Muterse und im Chalet des Alpes an der Route de la Badine niedergelassen Viel schoumlpferische Zeit blieb ihm nicht mehr er starb schon 1894 mit 44 Jahren an den Folgen der Syphilis Und Juan-les-Pins wurde nie raquoder huumlbscheste Badeortlaquo wie er es prophezeit hatte

Huumlbsch und lieblich war es dort vielleicht noch bis 1914 als der Weltkrieg zunaumlchst einmal alle Spekulationsanstrengungen unter-brach Als dann Mitte der 1920er Jahre mit Frank Jay Gould und Konsorten der wirkliche Boom einsetzte und die neuen Straszligenzuumlge agrave la Miami Beach nur noch aus Hotels und Pensionen bestanden ndash innerhalb von zwei drei Jahren waren es an die hundert ndash spottete Jean Cocteau aus Juan-les-Pins sei genau die Karikatur geworden die es schon immer gewesen sei 1939 ging er dann noch weiter In einem Brief an seine Mutter bezeichnete er es als eine raquoville atrocelaquo eine scheuszligliche Stadt Dabei waren damals die meisten alten Villen noch nicht abgerissen die den zeittypischen Appartementkomplexen der 1950er und 1960er Jahre Platz machen mussten weil diese houmlhere Renditen fuumlr die Besitzer versprachen9

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1960 war das absurde architektonische Gesamtkunstwerk Juan-les-Pins mit seinen Art-deacuteco-Bauten den vereinzelt uumlbrig gebliebe-nen Villen aus der Gruumlnderphase und den vielen skurrilen Beton-kloumltzen allerdings schon so musealisiert dass dieser Wirrwarr neue Bewunderer fand Der Fotograf Brassaiuml erinnerte sich an ein Ge-spraumlch unter den riesigen Pinien von Juan-les-Pins mit Henry Miller der damals ndash wie uumlbrigens auch Georges Simenon ndash Jurymitglied beim Filmfestival von Cannes war

MILLER raquoIch mag diesen Ort Ich verlasse mich stets auf meinen Instinkt meine Gewohnheiten Wenn ich in die Auszligenbezirke einer Stadt komme erschnuumlffele ich ob sie mir gefaumlllt oder nicht ob ich dort gluumlcklich sein werde oder ungluumlcklich Ich habe das Gefuumlhl Juan-les-Pins wird mir guttunlaquoBrassaiuml raquoPicasso hatte das gleiche Gefuumlhl In Paris hat er diese Stadt einmal gemalt ohne sie je zuvor gesehen zu haben Und als er 1920 zum ersten Mal herkam sah er dass Juan-les-Pins genau so war wie er es sich vorgestellt hatte Uumlberwaumlltigt rief er rsaquoKein Zweifel diese Stadt gehoumlrt mirlsaquolaquo

Andrew Loog Oldham in den 1960er Jahren Manager der Rolling Stones erinnerte sich an die Zeit als er am Strand von Juan-les-Pins als Aushilfskellner in raquoButlerrsquos Tea Roomlaquo ndash heute das zentrale Cafeacute de la Plage ndash gearbeitet hatte

Juan war eine riesige Filmkulisse Das Licht war unglaublich Sie hatten da eine Art Licht von dem England bis dahin nicht einmal wusste dass es uumlberhaupt existiert Die Rock-rsquonrsquo-Roll-Clubs waren fantastisch Sie lagen alle unter freiem Himmel versteckt hinter einer langen Hecke Man konnte die Musik von der Straszlige aus houmlren Nach Juan-les-Pins fuhren die franzoumlsischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars im Sommer weil das Publikum dort juumlnger war Die franzouml-sischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars waren groszligartig Im Winter flogen sie zum Shoppen nach Amerika und behaupteten sie gingen dort auf Tour

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

Page 12: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

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der quirlige Pro minentenrestaurateur von Antibes der alle und jeden kennt sowie Lokalhistoriker und andere Spezialisten zu Wort

2007 folgte ein weiterer Film uumlber das Cap drsquoAntibes und seine vermoumlgenden Bewohner Boris Beresowski der Mann der Wladimir Putin ins Amt gebracht hatte und spaumlter sein erbittertster Gegner wurde konnte nur in London interviewt werden und nicht in seinem Chacircteau de la Garoupe am Cap drsquoAntibes da er von Interpol verfolgt wurde Er war einer der Finanziers der Orangen Revolution in der Ukraine und damals noch quicklebendig 2016 wurde er in seinem britischen Exil erhaumlngt aufgefunden ndash Selbstmord oder eine perfide Aktion von Putins Geheimdiensten das konnte bis heute nicht aufge-klaumlrt werden

Inzwischen war ich beruflich oder aus rein privatem Interesse wahrscheinlich mehr als hundertmal in Juan-les-Pins Cannes er-reicht man von dort in neun Minuten mit dem Zug nach Nizza dauert es eine halbe Stunde Man kann sich an einem der privat be-wirtschafteten Straumlnde des kleinen Ortes ndash etwa im raquoLes Pirateslaquo mit seinen tuumlrkisen Sonnenschirmen ndash in aller Ruhe mit den Geistern der intellektuellen und kuumlnstlerischen Prominenz beschaumlftigen die sich hier einst erholte ndash neben Hemingway Fitzgerald und Picasso auch Marlene Dietrich Bert Brecht Klaus Mann Walter Benjamin Joseph Roth Stefan Zweig Lee Miller Walker Evans Man Ray ndash oder auch mit den vielleicht noch spannenderen geisteshistorischen Konstellationen heute unbekannterer Zeitgenossen ndash Morphinisten Transvestiten Suffragetten

Die kulturelle und finanzielle Kolonisierung der Franzoumlsischen Riviera kann anhand der Geschichte von Juan-les-Pins sehr praumlzise beschrieben werden zumal der Ort wie kein anderer fuumlr den schnel-len Wechsel von der adligen Winterkultur mit vornehmer Blaumlsse und den Promenaden mit Sonnenschirm am Strand zur Coco-Chanel-Braumlune zur Bikinischau zur Koumlrperexzentrik steht ndash und zu Sexis-mus und Aumluszligerlichkeiten aller Art Sieht man von der unmittelbaren Gruumlndungsphase ab hat es nie irgendeine Art von Architektur-planung fuumlr Juan-les-Pins gegeben und so ist der Ort stets eine Bau-stelle fuumlr die Geschichte der Franzoumlsischen Riviera geblieben die raquozu-gleich eine Gegend und ein soziologisches Phaumlnomenlaquo ist wie Agnegraves

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Varda es im Begleitbuch ihres mittellangen Filmessays Du cocircteacute de la cocircte formulierte den das Office National du Tourisme 1958 finanzierte

Das Schicksal des raquoProvenccedilallaquo die Geschichte von Juan-les-Pins und die des Cap drsquoAntibes stellen so etwas wie spezielle Sonden fuumlr die Cocircte drsquoAzur dar mit Einblicken die uumlber die konventionellen Reise fuumlhrer mit ihrer traditionellen Tour von Marseille nach Men-ton hinausgehen Juan-les-Pins wurde nach dem Ersten Weltkrieg das Emblem fuumlr die kulturelle kuumlnstlerische und architektonische Mo-dernitaumlt an der Cocircte die nach 1945 eine Zeitlang nicht mehr en vogue war weil die neuen Block- und Riegelbauten entlang der Kuumlste eher eine nostalgische Wendung zur Belle Eacutepoque bewirkten ndash von Kunst-markt und Diskokultur einmal abgesehen Erst 1997 veranstaltete das Departement Provence-Alpes-Cocircte drsquoAzur jene zentrale und uumlber-greifende Ausstellung La Cocircte drsquoAzur et la Moderniteacute in der Malerei Design Film Fotografie Gartenbaukunst und Tanz Beachtung fan-den Signifikante Bauwerke wie Robert Mallet-Stevensrsquo Villa Noailles in Hyegraveres das raquoGloria Mansonlaquo in Nizza oder Eileen Grays Wohn-haus E1027 in Roquebrune-Cap-Martin wurden restauriert und in den letzten Jahren entstand sogar eine ndash privat organisierte ndash Besich-tigungstour zu den Art-deacuteco-Bauten in Juan-les-Pins und am Cap5 Die moderne Cocircte drsquoAzur bildet einen scharfen Gegensatz zu den bekannten Provence-Klischees mit den Lavendelfeldern Bastides Toumlpferarbeiten und Bauern mit gelben Gitanes im Mundwinkel6 auch wenn die Uumlbergaumlnge flieszligend erscheinen An der Cocircte domi-niert das Flair des Halbkriminellen Demi-Mondaumlnen ostentativ Luxurierenden raquoDie franzoumlsische Riviera ist Matisse und Picasso nicht Ceacutezanne und van Goghlaquo so hat es bereits 2009 Julian Hale in seiner Kulturgeschichte der Cocircte formuliert (erschienen in der Oxford-Reihe Landscapes of the Imagination) raquoes gibt Jachten und Speedboote keine Barken und Jollen (hellip) Es gibt Filmstars und Rockmusiker keine Stierkaumlmpfer und tote Paumlpstelaquo

1931 als Juan-les-Pins von der damals fuumlhrenden franzoumlsischen Glamourzeitschrift LrsquoIllustration zur Kapitale der neuen Unisex- Pyjama-Mode ausgerufen und hier gerade das Wasserskifahren in Europa populaumlr wurde veroumlffentlichte der Muumlnchener Piper Verlag Das Buch von der Riviera mit betont legeren Texten von Erika und

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Klaus Mann Das Riviera-Buch erschien in der Reihe Was nicht im Bae-deker steht war also eine Art Vorlaumlufer der raquoalternativen Reisefuumlhrerlaquo Die literarischen Geschwister nahmen das Projekt nicht sonderlich ernst entledigten sich ihrer Aufgabe aber mit Eleganz und im laumlssigen Kumpelstil des Weimarer Feuilletons In dem Buch werden die Grand Tour des 19 Jahrhunderts von Marseille bis zum Golf von La Spezia beschrieben eine Reihe angesagter Hotels und Tanzbars aufgefuumlhrt und die bis heute aktuelle Frage aller Fragen gestellt raquoWoher kommt der groszlige Ruhm dieser blauen Kuumlste Warum blieb die Cocircte drsquoAzur uumlber Jahrzehnte der Vergnuumlgungs- und Erholungsstrand des Konti-nents und der Weltlaquo Inzwischen kommt man schneller nach Bora-Bora Patagonien oder auf irgendeine exotische karibische Insel doch die Riviera hat ihren Statuswert als Reiseziel eher noch gemehrt

Bei aller Begeisterung uumlber das rot schimmernde Esterel-Gebirge die drei grandiosen Corniches zwischen Nizza und Menton putzige Kuumlnstlerdoumlrfer wie Mougins und Saint-Paul-de-Vence oder karibisch anmutende Inselparadiese wie Porquerolles und Port-Cros sollte nicht vergessen werden dass die Cocircte seit Jahrzehnten politisch rechts steht sogar weit rechts auszligen Es gibt einen engen Zusammenhang von lo-kalen Potentaten Mafia-Organisationen aller Spielarten Spekulanten und gewoumlhnlichen Schwerkriminellen Als Albert Spaggiari ein be-kennender Fan der deutschen SS nach dem raquoBankraub des Jahrhun-dertslaquo (1976) auf raumltselhafte Weise aus dem Justizpalast in Nizza ent-kam war sein Anwalt Jacques Peyrat der aus dem Milieu des Front National stammt und spaumlter uumlber Jahre Buumlrgermeister von Nizza war erkennbar nicht unfroh uumlber die spektakulaumlre Flucht seines Klienten nach Suumldamerika Dorthin war auch Peyrats Amtsvorgaumlnger Jacques Meacutedecin 1990 nach anhaltenden Korruptionsvorwuumlrfen Hals uumlber Kopf gefluumlchtet In Nizza ist raquoJacquotlaquo Meacutedecin heute noch sehr be-liebt Sein Buch uumlber die provenzalische Kuumlche mit der Anleitung wie die echte Salade niccediloise zubereitet wird gilt nach wie vor als Standard-werk Daruumlber hinaus war der unscheinbare Kaumlsehaumlndler neben dem Bahnhof von Juan in einen spektakulaumlren Mordfall ver wickelt bei dem 1999 einige Mafiosi enthauptet und zerteilt in Muumlllsaumlcken im Hinterland aufgefunden wurden Selbst im kleinen Juan-les-Pins gab es eine Zelle der brutalen italienischen rsquoNdrangheta7

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Uumlberdies ist die Franzoumlsische Riviera ein Tummelplatz fuumlr Dik-tatoren und Autokraten aller Art ndash von Ben Ali (Tunesien) uumlber Omar Bongo (Gabun) bis hin zu raquoBaby Doclaquo Duvalier (Haiti) der allerdings vor seiner kurzzeitigen Ruumlckkehr auf seine Heimatinsel in einem billigen Hotel in Mougins logieren musste Unrechtmaumlszligig er-worbenes Vermoumlgen wird hier in Villen und Jachten investiert denn uumlblicherweise recherchieren franzoumlsische Untersuchungsrichter zu-ruumlckhaltend wenn es um raquobiens mal acquislaquo ndash schlecht erworbene Guumlter ndash geht Der blutig regierenden saudischen Koumlnigsfamilie die missliebige Journalisten schon einmal foltern oder gar zerstuumlckeln laumlsst gehoumlren ausgedehnte Laumlndereien in Golfe-Juan rund um das Chacircteau de lrsquoHorizon das 1932 von Barry Dierks fuumlr die US-Schau-spielerin Maxine Elliott erbaut wurde ebenso das neomaurische Chacircteau Robert heute eine gigantische Ruine und einst von Emil Jel-linek bewohnt dem Namensgeber der Daimler-Marke raquoMercedeslaquo

Der kriminelle Hintergrund der Cocircte muss den gewoumlhnlichen Touristen nicht kuumlmmern und Hollywood-Stars werden waumlhrend der Filmfestspiele von Cannes gewoumlhnlich verschont Dennoch loumlsen die vermehrten Raubuumlberfaumllle auf Ferienappartements bei denen die Bewohner schon einmal mit Betaumlubungsgas auszliger Gefecht gesetzt werden Beunruhigung aus Nachdem die Tochter seiner Geliebten Yvonne Cloetta einen Mann aus dem raquoMilieulaquo geheiratet hatte der sie offenbar drangsalierte hat Graham Greene der Amateurspion und feinsinnige Autor von Bestsellern wie Unser Mann in Havanna oder Der stille Amerikaner in dem 1982 verfassten Pamphlet Jrsquoaccuse gewarnt raquoVermeiden Sie die Gegend um Nizza ndash sie ist das Revier einiger der kriminellsten Organisationen im Suumlden Frankreichslaquo Greene verursachte damit zunaumlchst einigen Wirbel bis hinauf zum franzoumlsischen Justizminister schlieszliglich war der damals bereits 77-Jaumlhrige nicht irgendwer aber Nizzas Buumlrgermeister Meacutedecin kehrte den Spieszlig einfach um und beschimpfte ndash mit dem Nice Matin im Ruumlcken ndash den ewigen Kandidaten fuumlr den Literaturnobelpreis als raquoalten Spinnerlaquo und weltfremden Auslaumlnder der sich nie in die spezifische Atmosphaumlre der Cocircte habe einfinden koumlnnen

Die Nobelpreise erhielten was die Cocircte drsquoAzur anlangt dann zwei eher zuruumlckhaltende Charaktere zunaumlchst im Jahr 2008 Jean-Marie

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Gustave Le Cleacutezio aus Nizza bekannt als J M G Le Cleacutezio und 2014 Patrick Modiano dessen Romane Sonntage im August und Hochzeits-reise unter anderem durch ausgezeichnete Recherchen glaumlnzen und einen bemerkenswerten Einblick in das Vichy-Regime an der Cocircte und die deutsch-italienische Besatzungszeit gewaumlhren Modianos Hochzeitsreise spielt in einem kardinalen Kapitel im raquoProvenccedilallaquo das auch in zahlreichen weiteren Romanen und Spionagestorys von Georges Simenon bis zu Jean-Paul Sartre oder Irwin Shaw vorkommt

Die klassische Riviera gibt es kulturhistorisch seit dem 18 Jahr-hundert kolonisiert zunaumlchst von reichen Englaumlndern und russischen Adligen die Cocircte drsquoAzur gibt es erst seit 1887 jedenfalls begrifflich8 Das wissen wir ziemlich genau denn Steacutephen Lieacutegeard ein Regional-politiker mit literarischen Neigungen hat in jenem Jahr ein blumiges 630-Seiten-Werk mit dem Titel La Cocircte drsquoAzur publiziert und damit eine bis heute guumlltige landschaftliche Weltmarke erfunden Originell war der Titel nicht denn das Azurblau unter den Blautoumlnen findet man schon in Theacuteodore de Banvilles Buch La mer de Nice (1865)

Lieacutegeard schwer begeistert von der Sommerfrische der Adligen und dem sanften Klima der Provence und ihrer langen griechisch-roumlmischen Kolonisationsgeschichte vermischte fuumlr seine Cocircte- Geschichte munter Zeithistorie Landschaftsekstase und Legenden wobei er es mit den Fakten nicht so genau nahm aber eine fuumlr die Belle Eacutepoque attraktive Lektuumlre schuf Allein dreiszligig Seiten schrieb er uumlber die Lerinischen Inseln vor Cannes uumlber die moumlnchische Kul-tur auf der Insel Saint-Honorat und das Staatsgefaumlngnis auf der Insel Sainte-Marguerite wo der raquoMann mit der eisernen Maskelaquo gefangen gehalten wurde und aus dem 1874 der Marschall Bazaine der raquoVer-lierer von Metzlaquo im Deutsch-Franzoumlsischen Krieg unter suspekten Umstaumlnden entkam Neben den ausschweifenden Beschreibungen von Villenarchitektur und Botanik fehlte das Politische in Lieacutegeards Werk durchaus nicht Napoleon III hatte zwar bedauerlicherweise den Krieg von 187071 gegen die Bismarck-Koalition verloren aber 1860 erreicht dass Nizza als Hauptort des Deacutepartement Alpes-Ma-ritimes franzoumlsisch wurde ndash bis dahin war es Teil des Koumlnigreichs von Savoyen und Sardinien Im Gegenzug hatte der franzoumlsische Kaiser die Entstehung des neuen italienischen Nationalstaats unterstuumltzt

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Wer wuumlrde von der Schoumlnheit der neu entdeckten Kuumlstenregion der Cocircte drsquoAzur oumlkonomisch profitieren nachdem sie durch den Bau schneller Eisenbahnverbindungen noch an Attraktivitaumlt gewonnen hatte Die Hotellerie und das Gastgewerbe machten nun jedenfalls auch jenseits des Hochadels Angebote an das vermoumlgende Buumlrgertum und expandierten in dieser von der raquoindustriellen Revolutionlaquo noch unberuumlhrten Gegend gewaltig Und auch Lieacutegeard hatte begriffen worum es ging Uumlber Juan-les-Pins das kurz vor Erscheinen seines Buches uumlberhaupt erst als Name auf der Landkarte erschienen war schrieb er in der zweiten Auflage seines Werkes

Eine Viertelstunde von dem kleinen Hafen entfernt wo die Tar-tanen die Toumlpferwaren aus Vallauris an Bord nehmen zweigt eine neue Straszlige ab nach Juan-les-Pins Auf feinem Sand verlaumluft sie entlang des schaumbekroumlnten Saums mit dem das Meer sie lieb-kost waumlhrend das Zwitschern der Voumlgel und der Schirm der aus-ladenden Pinien ihr Schatten und Froumlhlichkeit spenden (hellip) Eine Aktiengesellschaft wurde gegruumlndet die das Land aufkauft und parzelliert Schon sind Straszligen und Boulevards trassiert ein Bahn-hof hemmt den Reisenden in seiner Fahrt ein Hotel umwirbt ihn Doch wird sich der Reisende auch verfuumlhren lassen

Mit dem Hotel meinte Lieacutegeard das erste Grandhotel in Juan-les-Pins wo es zuvor nur die Kuumlnstlerpension Chacircteau de la Pinegravede mit ihrem markanten oktogonalen Turm gegeben hatte Diese aumllteste Villa auf dem Terrain des Staumldtchens steht wundersamerweise noch heute ndash neben einem pyramidal anmutenden Komplex aus den 1970er Jahren ndash ist aber inzwischen in teure Einzelwohnungen auf-geteilt worden Claude Monet wohnte hier 1888 als er seine beruumlhm-ten impressionistischen Bilder vom Cap drsquoAntibes und dem men-schenleeren Strand von Juan-les-Pins schuf Empfohlen hatte ihm die Unterkunft sein Kuumlnstlerfreund der Flaubert-Schuumller Guy de Mau-passant damals ein ungeheuer populaumlrer Literat Wie Monet steht Maupassant fuumlr die kuumlnstlerische Drift von der Normandie in die waumlrmeren Gefilde der Cocircte drsquoAzur Jeder Lokalpatriot kennt heute Maupassants prophetische Saumltze

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Von weitem sehen die Panzerschiffe wie Felsen aus wie kleine Inseln wie von abgestorbenen Baumlumen bedeckte Klippen Am Ufer entlang fliegt der Rauch eines Zuges der von Cannes nach Juan-les-Pins faumlhrt das vielleicht spaumlter der huumlbscheste Badeort der ganzen Kuumlste sein wird Drei Tartaren liegen mit ihren ro-mantischen Segeln von denen eines rot und die anderen beiden weiszlig sind im Fahrwasser zwischen Sainte-Marguerite und dem Festland vor Anker Das ist die Stille die suumlszlige und heiszlige Stille eines Fruumlhlingsmorgens im Suumlden und schon kommt es mir so vor als haumltte ich die Leute die reden und umherhetzen seit Wo-chen seit Monaten seit Jahren verlassen ich spuumlre wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt der suumlszlige Rausch der Ruhe die nichts stoumlren wird kein weiszliger Brief kein blaues Tele-gramm nicht die Klingel meiner Tuumlr noch das Bellen meines Hundes

Maupassant war mit seiner Jacht Bel Ami die er 1885 gekauft hatte an der Franzoumlsischen Riviera entlanggesegelt und hatte sich auch eine Zeitlang in Antibes in der Villa Muterse und im Chalet des Alpes an der Route de la Badine niedergelassen Viel schoumlpferische Zeit blieb ihm nicht mehr er starb schon 1894 mit 44 Jahren an den Folgen der Syphilis Und Juan-les-Pins wurde nie raquoder huumlbscheste Badeortlaquo wie er es prophezeit hatte

Huumlbsch und lieblich war es dort vielleicht noch bis 1914 als der Weltkrieg zunaumlchst einmal alle Spekulationsanstrengungen unter-brach Als dann Mitte der 1920er Jahre mit Frank Jay Gould und Konsorten der wirkliche Boom einsetzte und die neuen Straszligenzuumlge agrave la Miami Beach nur noch aus Hotels und Pensionen bestanden ndash innerhalb von zwei drei Jahren waren es an die hundert ndash spottete Jean Cocteau aus Juan-les-Pins sei genau die Karikatur geworden die es schon immer gewesen sei 1939 ging er dann noch weiter In einem Brief an seine Mutter bezeichnete er es als eine raquoville atrocelaquo eine scheuszligliche Stadt Dabei waren damals die meisten alten Villen noch nicht abgerissen die den zeittypischen Appartementkomplexen der 1950er und 1960er Jahre Platz machen mussten weil diese houmlhere Renditen fuumlr die Besitzer versprachen9

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1960 war das absurde architektonische Gesamtkunstwerk Juan-les-Pins mit seinen Art-deacuteco-Bauten den vereinzelt uumlbrig gebliebe-nen Villen aus der Gruumlnderphase und den vielen skurrilen Beton-kloumltzen allerdings schon so musealisiert dass dieser Wirrwarr neue Bewunderer fand Der Fotograf Brassaiuml erinnerte sich an ein Ge-spraumlch unter den riesigen Pinien von Juan-les-Pins mit Henry Miller der damals ndash wie uumlbrigens auch Georges Simenon ndash Jurymitglied beim Filmfestival von Cannes war

MILLER raquoIch mag diesen Ort Ich verlasse mich stets auf meinen Instinkt meine Gewohnheiten Wenn ich in die Auszligenbezirke einer Stadt komme erschnuumlffele ich ob sie mir gefaumlllt oder nicht ob ich dort gluumlcklich sein werde oder ungluumlcklich Ich habe das Gefuumlhl Juan-les-Pins wird mir guttunlaquoBrassaiuml raquoPicasso hatte das gleiche Gefuumlhl In Paris hat er diese Stadt einmal gemalt ohne sie je zuvor gesehen zu haben Und als er 1920 zum ersten Mal herkam sah er dass Juan-les-Pins genau so war wie er es sich vorgestellt hatte Uumlberwaumlltigt rief er rsaquoKein Zweifel diese Stadt gehoumlrt mirlsaquolaquo

Andrew Loog Oldham in den 1960er Jahren Manager der Rolling Stones erinnerte sich an die Zeit als er am Strand von Juan-les-Pins als Aushilfskellner in raquoButlerrsquos Tea Roomlaquo ndash heute das zentrale Cafeacute de la Plage ndash gearbeitet hatte

Juan war eine riesige Filmkulisse Das Licht war unglaublich Sie hatten da eine Art Licht von dem England bis dahin nicht einmal wusste dass es uumlberhaupt existiert Die Rock-rsquonrsquo-Roll-Clubs waren fantastisch Sie lagen alle unter freiem Himmel versteckt hinter einer langen Hecke Man konnte die Musik von der Straszlige aus houmlren Nach Juan-les-Pins fuhren die franzoumlsischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars im Sommer weil das Publikum dort juumlnger war Die franzouml-sischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars waren groszligartig Im Winter flogen sie zum Shoppen nach Amerika und behaupteten sie gingen dort auf Tour

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

Page 13: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

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Varda es im Begleitbuch ihres mittellangen Filmessays Du cocircteacute de la cocircte formulierte den das Office National du Tourisme 1958 finanzierte

Das Schicksal des raquoProvenccedilallaquo die Geschichte von Juan-les-Pins und die des Cap drsquoAntibes stellen so etwas wie spezielle Sonden fuumlr die Cocircte drsquoAzur dar mit Einblicken die uumlber die konventionellen Reise fuumlhrer mit ihrer traditionellen Tour von Marseille nach Men-ton hinausgehen Juan-les-Pins wurde nach dem Ersten Weltkrieg das Emblem fuumlr die kulturelle kuumlnstlerische und architektonische Mo-dernitaumlt an der Cocircte die nach 1945 eine Zeitlang nicht mehr en vogue war weil die neuen Block- und Riegelbauten entlang der Kuumlste eher eine nostalgische Wendung zur Belle Eacutepoque bewirkten ndash von Kunst-markt und Diskokultur einmal abgesehen Erst 1997 veranstaltete das Departement Provence-Alpes-Cocircte drsquoAzur jene zentrale und uumlber-greifende Ausstellung La Cocircte drsquoAzur et la Moderniteacute in der Malerei Design Film Fotografie Gartenbaukunst und Tanz Beachtung fan-den Signifikante Bauwerke wie Robert Mallet-Stevensrsquo Villa Noailles in Hyegraveres das raquoGloria Mansonlaquo in Nizza oder Eileen Grays Wohn-haus E1027 in Roquebrune-Cap-Martin wurden restauriert und in den letzten Jahren entstand sogar eine ndash privat organisierte ndash Besich-tigungstour zu den Art-deacuteco-Bauten in Juan-les-Pins und am Cap5 Die moderne Cocircte drsquoAzur bildet einen scharfen Gegensatz zu den bekannten Provence-Klischees mit den Lavendelfeldern Bastides Toumlpferarbeiten und Bauern mit gelben Gitanes im Mundwinkel6 auch wenn die Uumlbergaumlnge flieszligend erscheinen An der Cocircte domi-niert das Flair des Halbkriminellen Demi-Mondaumlnen ostentativ Luxurierenden raquoDie franzoumlsische Riviera ist Matisse und Picasso nicht Ceacutezanne und van Goghlaquo so hat es bereits 2009 Julian Hale in seiner Kulturgeschichte der Cocircte formuliert (erschienen in der Oxford-Reihe Landscapes of the Imagination) raquoes gibt Jachten und Speedboote keine Barken und Jollen (hellip) Es gibt Filmstars und Rockmusiker keine Stierkaumlmpfer und tote Paumlpstelaquo

1931 als Juan-les-Pins von der damals fuumlhrenden franzoumlsischen Glamourzeitschrift LrsquoIllustration zur Kapitale der neuen Unisex- Pyjama-Mode ausgerufen und hier gerade das Wasserskifahren in Europa populaumlr wurde veroumlffentlichte der Muumlnchener Piper Verlag Das Buch von der Riviera mit betont legeren Texten von Erika und

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Klaus Mann Das Riviera-Buch erschien in der Reihe Was nicht im Bae-deker steht war also eine Art Vorlaumlufer der raquoalternativen Reisefuumlhrerlaquo Die literarischen Geschwister nahmen das Projekt nicht sonderlich ernst entledigten sich ihrer Aufgabe aber mit Eleganz und im laumlssigen Kumpelstil des Weimarer Feuilletons In dem Buch werden die Grand Tour des 19 Jahrhunderts von Marseille bis zum Golf von La Spezia beschrieben eine Reihe angesagter Hotels und Tanzbars aufgefuumlhrt und die bis heute aktuelle Frage aller Fragen gestellt raquoWoher kommt der groszlige Ruhm dieser blauen Kuumlste Warum blieb die Cocircte drsquoAzur uumlber Jahrzehnte der Vergnuumlgungs- und Erholungsstrand des Konti-nents und der Weltlaquo Inzwischen kommt man schneller nach Bora-Bora Patagonien oder auf irgendeine exotische karibische Insel doch die Riviera hat ihren Statuswert als Reiseziel eher noch gemehrt

Bei aller Begeisterung uumlber das rot schimmernde Esterel-Gebirge die drei grandiosen Corniches zwischen Nizza und Menton putzige Kuumlnstlerdoumlrfer wie Mougins und Saint-Paul-de-Vence oder karibisch anmutende Inselparadiese wie Porquerolles und Port-Cros sollte nicht vergessen werden dass die Cocircte seit Jahrzehnten politisch rechts steht sogar weit rechts auszligen Es gibt einen engen Zusammenhang von lo-kalen Potentaten Mafia-Organisationen aller Spielarten Spekulanten und gewoumlhnlichen Schwerkriminellen Als Albert Spaggiari ein be-kennender Fan der deutschen SS nach dem raquoBankraub des Jahrhun-dertslaquo (1976) auf raumltselhafte Weise aus dem Justizpalast in Nizza ent-kam war sein Anwalt Jacques Peyrat der aus dem Milieu des Front National stammt und spaumlter uumlber Jahre Buumlrgermeister von Nizza war erkennbar nicht unfroh uumlber die spektakulaumlre Flucht seines Klienten nach Suumldamerika Dorthin war auch Peyrats Amtsvorgaumlnger Jacques Meacutedecin 1990 nach anhaltenden Korruptionsvorwuumlrfen Hals uumlber Kopf gefluumlchtet In Nizza ist raquoJacquotlaquo Meacutedecin heute noch sehr be-liebt Sein Buch uumlber die provenzalische Kuumlche mit der Anleitung wie die echte Salade niccediloise zubereitet wird gilt nach wie vor als Standard-werk Daruumlber hinaus war der unscheinbare Kaumlsehaumlndler neben dem Bahnhof von Juan in einen spektakulaumlren Mordfall ver wickelt bei dem 1999 einige Mafiosi enthauptet und zerteilt in Muumlllsaumlcken im Hinterland aufgefunden wurden Selbst im kleinen Juan-les-Pins gab es eine Zelle der brutalen italienischen rsquoNdrangheta7

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Uumlberdies ist die Franzoumlsische Riviera ein Tummelplatz fuumlr Dik-tatoren und Autokraten aller Art ndash von Ben Ali (Tunesien) uumlber Omar Bongo (Gabun) bis hin zu raquoBaby Doclaquo Duvalier (Haiti) der allerdings vor seiner kurzzeitigen Ruumlckkehr auf seine Heimatinsel in einem billigen Hotel in Mougins logieren musste Unrechtmaumlszligig er-worbenes Vermoumlgen wird hier in Villen und Jachten investiert denn uumlblicherweise recherchieren franzoumlsische Untersuchungsrichter zu-ruumlckhaltend wenn es um raquobiens mal acquislaquo ndash schlecht erworbene Guumlter ndash geht Der blutig regierenden saudischen Koumlnigsfamilie die missliebige Journalisten schon einmal foltern oder gar zerstuumlckeln laumlsst gehoumlren ausgedehnte Laumlndereien in Golfe-Juan rund um das Chacircteau de lrsquoHorizon das 1932 von Barry Dierks fuumlr die US-Schau-spielerin Maxine Elliott erbaut wurde ebenso das neomaurische Chacircteau Robert heute eine gigantische Ruine und einst von Emil Jel-linek bewohnt dem Namensgeber der Daimler-Marke raquoMercedeslaquo

Der kriminelle Hintergrund der Cocircte muss den gewoumlhnlichen Touristen nicht kuumlmmern und Hollywood-Stars werden waumlhrend der Filmfestspiele von Cannes gewoumlhnlich verschont Dennoch loumlsen die vermehrten Raubuumlberfaumllle auf Ferienappartements bei denen die Bewohner schon einmal mit Betaumlubungsgas auszliger Gefecht gesetzt werden Beunruhigung aus Nachdem die Tochter seiner Geliebten Yvonne Cloetta einen Mann aus dem raquoMilieulaquo geheiratet hatte der sie offenbar drangsalierte hat Graham Greene der Amateurspion und feinsinnige Autor von Bestsellern wie Unser Mann in Havanna oder Der stille Amerikaner in dem 1982 verfassten Pamphlet Jrsquoaccuse gewarnt raquoVermeiden Sie die Gegend um Nizza ndash sie ist das Revier einiger der kriminellsten Organisationen im Suumlden Frankreichslaquo Greene verursachte damit zunaumlchst einigen Wirbel bis hinauf zum franzoumlsischen Justizminister schlieszliglich war der damals bereits 77-Jaumlhrige nicht irgendwer aber Nizzas Buumlrgermeister Meacutedecin kehrte den Spieszlig einfach um und beschimpfte ndash mit dem Nice Matin im Ruumlcken ndash den ewigen Kandidaten fuumlr den Literaturnobelpreis als raquoalten Spinnerlaquo und weltfremden Auslaumlnder der sich nie in die spezifische Atmosphaumlre der Cocircte habe einfinden koumlnnen

Die Nobelpreise erhielten was die Cocircte drsquoAzur anlangt dann zwei eher zuruumlckhaltende Charaktere zunaumlchst im Jahr 2008 Jean-Marie

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Gustave Le Cleacutezio aus Nizza bekannt als J M G Le Cleacutezio und 2014 Patrick Modiano dessen Romane Sonntage im August und Hochzeits-reise unter anderem durch ausgezeichnete Recherchen glaumlnzen und einen bemerkenswerten Einblick in das Vichy-Regime an der Cocircte und die deutsch-italienische Besatzungszeit gewaumlhren Modianos Hochzeitsreise spielt in einem kardinalen Kapitel im raquoProvenccedilallaquo das auch in zahlreichen weiteren Romanen und Spionagestorys von Georges Simenon bis zu Jean-Paul Sartre oder Irwin Shaw vorkommt

Die klassische Riviera gibt es kulturhistorisch seit dem 18 Jahr-hundert kolonisiert zunaumlchst von reichen Englaumlndern und russischen Adligen die Cocircte drsquoAzur gibt es erst seit 1887 jedenfalls begrifflich8 Das wissen wir ziemlich genau denn Steacutephen Lieacutegeard ein Regional-politiker mit literarischen Neigungen hat in jenem Jahr ein blumiges 630-Seiten-Werk mit dem Titel La Cocircte drsquoAzur publiziert und damit eine bis heute guumlltige landschaftliche Weltmarke erfunden Originell war der Titel nicht denn das Azurblau unter den Blautoumlnen findet man schon in Theacuteodore de Banvilles Buch La mer de Nice (1865)

Lieacutegeard schwer begeistert von der Sommerfrische der Adligen und dem sanften Klima der Provence und ihrer langen griechisch-roumlmischen Kolonisationsgeschichte vermischte fuumlr seine Cocircte- Geschichte munter Zeithistorie Landschaftsekstase und Legenden wobei er es mit den Fakten nicht so genau nahm aber eine fuumlr die Belle Eacutepoque attraktive Lektuumlre schuf Allein dreiszligig Seiten schrieb er uumlber die Lerinischen Inseln vor Cannes uumlber die moumlnchische Kul-tur auf der Insel Saint-Honorat und das Staatsgefaumlngnis auf der Insel Sainte-Marguerite wo der raquoMann mit der eisernen Maskelaquo gefangen gehalten wurde und aus dem 1874 der Marschall Bazaine der raquoVer-lierer von Metzlaquo im Deutsch-Franzoumlsischen Krieg unter suspekten Umstaumlnden entkam Neben den ausschweifenden Beschreibungen von Villenarchitektur und Botanik fehlte das Politische in Lieacutegeards Werk durchaus nicht Napoleon III hatte zwar bedauerlicherweise den Krieg von 187071 gegen die Bismarck-Koalition verloren aber 1860 erreicht dass Nizza als Hauptort des Deacutepartement Alpes-Ma-ritimes franzoumlsisch wurde ndash bis dahin war es Teil des Koumlnigreichs von Savoyen und Sardinien Im Gegenzug hatte der franzoumlsische Kaiser die Entstehung des neuen italienischen Nationalstaats unterstuumltzt

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Wer wuumlrde von der Schoumlnheit der neu entdeckten Kuumlstenregion der Cocircte drsquoAzur oumlkonomisch profitieren nachdem sie durch den Bau schneller Eisenbahnverbindungen noch an Attraktivitaumlt gewonnen hatte Die Hotellerie und das Gastgewerbe machten nun jedenfalls auch jenseits des Hochadels Angebote an das vermoumlgende Buumlrgertum und expandierten in dieser von der raquoindustriellen Revolutionlaquo noch unberuumlhrten Gegend gewaltig Und auch Lieacutegeard hatte begriffen worum es ging Uumlber Juan-les-Pins das kurz vor Erscheinen seines Buches uumlberhaupt erst als Name auf der Landkarte erschienen war schrieb er in der zweiten Auflage seines Werkes

Eine Viertelstunde von dem kleinen Hafen entfernt wo die Tar-tanen die Toumlpferwaren aus Vallauris an Bord nehmen zweigt eine neue Straszlige ab nach Juan-les-Pins Auf feinem Sand verlaumluft sie entlang des schaumbekroumlnten Saums mit dem das Meer sie lieb-kost waumlhrend das Zwitschern der Voumlgel und der Schirm der aus-ladenden Pinien ihr Schatten und Froumlhlichkeit spenden (hellip) Eine Aktiengesellschaft wurde gegruumlndet die das Land aufkauft und parzelliert Schon sind Straszligen und Boulevards trassiert ein Bahn-hof hemmt den Reisenden in seiner Fahrt ein Hotel umwirbt ihn Doch wird sich der Reisende auch verfuumlhren lassen

Mit dem Hotel meinte Lieacutegeard das erste Grandhotel in Juan-les-Pins wo es zuvor nur die Kuumlnstlerpension Chacircteau de la Pinegravede mit ihrem markanten oktogonalen Turm gegeben hatte Diese aumllteste Villa auf dem Terrain des Staumldtchens steht wundersamerweise noch heute ndash neben einem pyramidal anmutenden Komplex aus den 1970er Jahren ndash ist aber inzwischen in teure Einzelwohnungen auf-geteilt worden Claude Monet wohnte hier 1888 als er seine beruumlhm-ten impressionistischen Bilder vom Cap drsquoAntibes und dem men-schenleeren Strand von Juan-les-Pins schuf Empfohlen hatte ihm die Unterkunft sein Kuumlnstlerfreund der Flaubert-Schuumller Guy de Mau-passant damals ein ungeheuer populaumlrer Literat Wie Monet steht Maupassant fuumlr die kuumlnstlerische Drift von der Normandie in die waumlrmeren Gefilde der Cocircte drsquoAzur Jeder Lokalpatriot kennt heute Maupassants prophetische Saumltze

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Von weitem sehen die Panzerschiffe wie Felsen aus wie kleine Inseln wie von abgestorbenen Baumlumen bedeckte Klippen Am Ufer entlang fliegt der Rauch eines Zuges der von Cannes nach Juan-les-Pins faumlhrt das vielleicht spaumlter der huumlbscheste Badeort der ganzen Kuumlste sein wird Drei Tartaren liegen mit ihren ro-mantischen Segeln von denen eines rot und die anderen beiden weiszlig sind im Fahrwasser zwischen Sainte-Marguerite und dem Festland vor Anker Das ist die Stille die suumlszlige und heiszlige Stille eines Fruumlhlingsmorgens im Suumlden und schon kommt es mir so vor als haumltte ich die Leute die reden und umherhetzen seit Wo-chen seit Monaten seit Jahren verlassen ich spuumlre wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt der suumlszlige Rausch der Ruhe die nichts stoumlren wird kein weiszliger Brief kein blaues Tele-gramm nicht die Klingel meiner Tuumlr noch das Bellen meines Hundes

Maupassant war mit seiner Jacht Bel Ami die er 1885 gekauft hatte an der Franzoumlsischen Riviera entlanggesegelt und hatte sich auch eine Zeitlang in Antibes in der Villa Muterse und im Chalet des Alpes an der Route de la Badine niedergelassen Viel schoumlpferische Zeit blieb ihm nicht mehr er starb schon 1894 mit 44 Jahren an den Folgen der Syphilis Und Juan-les-Pins wurde nie raquoder huumlbscheste Badeortlaquo wie er es prophezeit hatte

Huumlbsch und lieblich war es dort vielleicht noch bis 1914 als der Weltkrieg zunaumlchst einmal alle Spekulationsanstrengungen unter-brach Als dann Mitte der 1920er Jahre mit Frank Jay Gould und Konsorten der wirkliche Boom einsetzte und die neuen Straszligenzuumlge agrave la Miami Beach nur noch aus Hotels und Pensionen bestanden ndash innerhalb von zwei drei Jahren waren es an die hundert ndash spottete Jean Cocteau aus Juan-les-Pins sei genau die Karikatur geworden die es schon immer gewesen sei 1939 ging er dann noch weiter In einem Brief an seine Mutter bezeichnete er es als eine raquoville atrocelaquo eine scheuszligliche Stadt Dabei waren damals die meisten alten Villen noch nicht abgerissen die den zeittypischen Appartementkomplexen der 1950er und 1960er Jahre Platz machen mussten weil diese houmlhere Renditen fuumlr die Besitzer versprachen9

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1960 war das absurde architektonische Gesamtkunstwerk Juan-les-Pins mit seinen Art-deacuteco-Bauten den vereinzelt uumlbrig gebliebe-nen Villen aus der Gruumlnderphase und den vielen skurrilen Beton-kloumltzen allerdings schon so musealisiert dass dieser Wirrwarr neue Bewunderer fand Der Fotograf Brassaiuml erinnerte sich an ein Ge-spraumlch unter den riesigen Pinien von Juan-les-Pins mit Henry Miller der damals ndash wie uumlbrigens auch Georges Simenon ndash Jurymitglied beim Filmfestival von Cannes war

MILLER raquoIch mag diesen Ort Ich verlasse mich stets auf meinen Instinkt meine Gewohnheiten Wenn ich in die Auszligenbezirke einer Stadt komme erschnuumlffele ich ob sie mir gefaumlllt oder nicht ob ich dort gluumlcklich sein werde oder ungluumlcklich Ich habe das Gefuumlhl Juan-les-Pins wird mir guttunlaquoBrassaiuml raquoPicasso hatte das gleiche Gefuumlhl In Paris hat er diese Stadt einmal gemalt ohne sie je zuvor gesehen zu haben Und als er 1920 zum ersten Mal herkam sah er dass Juan-les-Pins genau so war wie er es sich vorgestellt hatte Uumlberwaumlltigt rief er rsaquoKein Zweifel diese Stadt gehoumlrt mirlsaquolaquo

Andrew Loog Oldham in den 1960er Jahren Manager der Rolling Stones erinnerte sich an die Zeit als er am Strand von Juan-les-Pins als Aushilfskellner in raquoButlerrsquos Tea Roomlaquo ndash heute das zentrale Cafeacute de la Plage ndash gearbeitet hatte

Juan war eine riesige Filmkulisse Das Licht war unglaublich Sie hatten da eine Art Licht von dem England bis dahin nicht einmal wusste dass es uumlberhaupt existiert Die Rock-rsquonrsquo-Roll-Clubs waren fantastisch Sie lagen alle unter freiem Himmel versteckt hinter einer langen Hecke Man konnte die Musik von der Straszlige aus houmlren Nach Juan-les-Pins fuhren die franzoumlsischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars im Sommer weil das Publikum dort juumlnger war Die franzouml-sischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars waren groszligartig Im Winter flogen sie zum Shoppen nach Amerika und behaupteten sie gingen dort auf Tour

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

Page 14: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

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Klaus Mann Das Riviera-Buch erschien in der Reihe Was nicht im Bae-deker steht war also eine Art Vorlaumlufer der raquoalternativen Reisefuumlhrerlaquo Die literarischen Geschwister nahmen das Projekt nicht sonderlich ernst entledigten sich ihrer Aufgabe aber mit Eleganz und im laumlssigen Kumpelstil des Weimarer Feuilletons In dem Buch werden die Grand Tour des 19 Jahrhunderts von Marseille bis zum Golf von La Spezia beschrieben eine Reihe angesagter Hotels und Tanzbars aufgefuumlhrt und die bis heute aktuelle Frage aller Fragen gestellt raquoWoher kommt der groszlige Ruhm dieser blauen Kuumlste Warum blieb die Cocircte drsquoAzur uumlber Jahrzehnte der Vergnuumlgungs- und Erholungsstrand des Konti-nents und der Weltlaquo Inzwischen kommt man schneller nach Bora-Bora Patagonien oder auf irgendeine exotische karibische Insel doch die Riviera hat ihren Statuswert als Reiseziel eher noch gemehrt

Bei aller Begeisterung uumlber das rot schimmernde Esterel-Gebirge die drei grandiosen Corniches zwischen Nizza und Menton putzige Kuumlnstlerdoumlrfer wie Mougins und Saint-Paul-de-Vence oder karibisch anmutende Inselparadiese wie Porquerolles und Port-Cros sollte nicht vergessen werden dass die Cocircte seit Jahrzehnten politisch rechts steht sogar weit rechts auszligen Es gibt einen engen Zusammenhang von lo-kalen Potentaten Mafia-Organisationen aller Spielarten Spekulanten und gewoumlhnlichen Schwerkriminellen Als Albert Spaggiari ein be-kennender Fan der deutschen SS nach dem raquoBankraub des Jahrhun-dertslaquo (1976) auf raumltselhafte Weise aus dem Justizpalast in Nizza ent-kam war sein Anwalt Jacques Peyrat der aus dem Milieu des Front National stammt und spaumlter uumlber Jahre Buumlrgermeister von Nizza war erkennbar nicht unfroh uumlber die spektakulaumlre Flucht seines Klienten nach Suumldamerika Dorthin war auch Peyrats Amtsvorgaumlnger Jacques Meacutedecin 1990 nach anhaltenden Korruptionsvorwuumlrfen Hals uumlber Kopf gefluumlchtet In Nizza ist raquoJacquotlaquo Meacutedecin heute noch sehr be-liebt Sein Buch uumlber die provenzalische Kuumlche mit der Anleitung wie die echte Salade niccediloise zubereitet wird gilt nach wie vor als Standard-werk Daruumlber hinaus war der unscheinbare Kaumlsehaumlndler neben dem Bahnhof von Juan in einen spektakulaumlren Mordfall ver wickelt bei dem 1999 einige Mafiosi enthauptet und zerteilt in Muumlllsaumlcken im Hinterland aufgefunden wurden Selbst im kleinen Juan-les-Pins gab es eine Zelle der brutalen italienischen rsquoNdrangheta7

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Uumlberdies ist die Franzoumlsische Riviera ein Tummelplatz fuumlr Dik-tatoren und Autokraten aller Art ndash von Ben Ali (Tunesien) uumlber Omar Bongo (Gabun) bis hin zu raquoBaby Doclaquo Duvalier (Haiti) der allerdings vor seiner kurzzeitigen Ruumlckkehr auf seine Heimatinsel in einem billigen Hotel in Mougins logieren musste Unrechtmaumlszligig er-worbenes Vermoumlgen wird hier in Villen und Jachten investiert denn uumlblicherweise recherchieren franzoumlsische Untersuchungsrichter zu-ruumlckhaltend wenn es um raquobiens mal acquislaquo ndash schlecht erworbene Guumlter ndash geht Der blutig regierenden saudischen Koumlnigsfamilie die missliebige Journalisten schon einmal foltern oder gar zerstuumlckeln laumlsst gehoumlren ausgedehnte Laumlndereien in Golfe-Juan rund um das Chacircteau de lrsquoHorizon das 1932 von Barry Dierks fuumlr die US-Schau-spielerin Maxine Elliott erbaut wurde ebenso das neomaurische Chacircteau Robert heute eine gigantische Ruine und einst von Emil Jel-linek bewohnt dem Namensgeber der Daimler-Marke raquoMercedeslaquo

Der kriminelle Hintergrund der Cocircte muss den gewoumlhnlichen Touristen nicht kuumlmmern und Hollywood-Stars werden waumlhrend der Filmfestspiele von Cannes gewoumlhnlich verschont Dennoch loumlsen die vermehrten Raubuumlberfaumllle auf Ferienappartements bei denen die Bewohner schon einmal mit Betaumlubungsgas auszliger Gefecht gesetzt werden Beunruhigung aus Nachdem die Tochter seiner Geliebten Yvonne Cloetta einen Mann aus dem raquoMilieulaquo geheiratet hatte der sie offenbar drangsalierte hat Graham Greene der Amateurspion und feinsinnige Autor von Bestsellern wie Unser Mann in Havanna oder Der stille Amerikaner in dem 1982 verfassten Pamphlet Jrsquoaccuse gewarnt raquoVermeiden Sie die Gegend um Nizza ndash sie ist das Revier einiger der kriminellsten Organisationen im Suumlden Frankreichslaquo Greene verursachte damit zunaumlchst einigen Wirbel bis hinauf zum franzoumlsischen Justizminister schlieszliglich war der damals bereits 77-Jaumlhrige nicht irgendwer aber Nizzas Buumlrgermeister Meacutedecin kehrte den Spieszlig einfach um und beschimpfte ndash mit dem Nice Matin im Ruumlcken ndash den ewigen Kandidaten fuumlr den Literaturnobelpreis als raquoalten Spinnerlaquo und weltfremden Auslaumlnder der sich nie in die spezifische Atmosphaumlre der Cocircte habe einfinden koumlnnen

Die Nobelpreise erhielten was die Cocircte drsquoAzur anlangt dann zwei eher zuruumlckhaltende Charaktere zunaumlchst im Jahr 2008 Jean-Marie

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Gustave Le Cleacutezio aus Nizza bekannt als J M G Le Cleacutezio und 2014 Patrick Modiano dessen Romane Sonntage im August und Hochzeits-reise unter anderem durch ausgezeichnete Recherchen glaumlnzen und einen bemerkenswerten Einblick in das Vichy-Regime an der Cocircte und die deutsch-italienische Besatzungszeit gewaumlhren Modianos Hochzeitsreise spielt in einem kardinalen Kapitel im raquoProvenccedilallaquo das auch in zahlreichen weiteren Romanen und Spionagestorys von Georges Simenon bis zu Jean-Paul Sartre oder Irwin Shaw vorkommt

Die klassische Riviera gibt es kulturhistorisch seit dem 18 Jahr-hundert kolonisiert zunaumlchst von reichen Englaumlndern und russischen Adligen die Cocircte drsquoAzur gibt es erst seit 1887 jedenfalls begrifflich8 Das wissen wir ziemlich genau denn Steacutephen Lieacutegeard ein Regional-politiker mit literarischen Neigungen hat in jenem Jahr ein blumiges 630-Seiten-Werk mit dem Titel La Cocircte drsquoAzur publiziert und damit eine bis heute guumlltige landschaftliche Weltmarke erfunden Originell war der Titel nicht denn das Azurblau unter den Blautoumlnen findet man schon in Theacuteodore de Banvilles Buch La mer de Nice (1865)

Lieacutegeard schwer begeistert von der Sommerfrische der Adligen und dem sanften Klima der Provence und ihrer langen griechisch-roumlmischen Kolonisationsgeschichte vermischte fuumlr seine Cocircte- Geschichte munter Zeithistorie Landschaftsekstase und Legenden wobei er es mit den Fakten nicht so genau nahm aber eine fuumlr die Belle Eacutepoque attraktive Lektuumlre schuf Allein dreiszligig Seiten schrieb er uumlber die Lerinischen Inseln vor Cannes uumlber die moumlnchische Kul-tur auf der Insel Saint-Honorat und das Staatsgefaumlngnis auf der Insel Sainte-Marguerite wo der raquoMann mit der eisernen Maskelaquo gefangen gehalten wurde und aus dem 1874 der Marschall Bazaine der raquoVer-lierer von Metzlaquo im Deutsch-Franzoumlsischen Krieg unter suspekten Umstaumlnden entkam Neben den ausschweifenden Beschreibungen von Villenarchitektur und Botanik fehlte das Politische in Lieacutegeards Werk durchaus nicht Napoleon III hatte zwar bedauerlicherweise den Krieg von 187071 gegen die Bismarck-Koalition verloren aber 1860 erreicht dass Nizza als Hauptort des Deacutepartement Alpes-Ma-ritimes franzoumlsisch wurde ndash bis dahin war es Teil des Koumlnigreichs von Savoyen und Sardinien Im Gegenzug hatte der franzoumlsische Kaiser die Entstehung des neuen italienischen Nationalstaats unterstuumltzt

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Wer wuumlrde von der Schoumlnheit der neu entdeckten Kuumlstenregion der Cocircte drsquoAzur oumlkonomisch profitieren nachdem sie durch den Bau schneller Eisenbahnverbindungen noch an Attraktivitaumlt gewonnen hatte Die Hotellerie und das Gastgewerbe machten nun jedenfalls auch jenseits des Hochadels Angebote an das vermoumlgende Buumlrgertum und expandierten in dieser von der raquoindustriellen Revolutionlaquo noch unberuumlhrten Gegend gewaltig Und auch Lieacutegeard hatte begriffen worum es ging Uumlber Juan-les-Pins das kurz vor Erscheinen seines Buches uumlberhaupt erst als Name auf der Landkarte erschienen war schrieb er in der zweiten Auflage seines Werkes

Eine Viertelstunde von dem kleinen Hafen entfernt wo die Tar-tanen die Toumlpferwaren aus Vallauris an Bord nehmen zweigt eine neue Straszlige ab nach Juan-les-Pins Auf feinem Sand verlaumluft sie entlang des schaumbekroumlnten Saums mit dem das Meer sie lieb-kost waumlhrend das Zwitschern der Voumlgel und der Schirm der aus-ladenden Pinien ihr Schatten und Froumlhlichkeit spenden (hellip) Eine Aktiengesellschaft wurde gegruumlndet die das Land aufkauft und parzelliert Schon sind Straszligen und Boulevards trassiert ein Bahn-hof hemmt den Reisenden in seiner Fahrt ein Hotel umwirbt ihn Doch wird sich der Reisende auch verfuumlhren lassen

Mit dem Hotel meinte Lieacutegeard das erste Grandhotel in Juan-les-Pins wo es zuvor nur die Kuumlnstlerpension Chacircteau de la Pinegravede mit ihrem markanten oktogonalen Turm gegeben hatte Diese aumllteste Villa auf dem Terrain des Staumldtchens steht wundersamerweise noch heute ndash neben einem pyramidal anmutenden Komplex aus den 1970er Jahren ndash ist aber inzwischen in teure Einzelwohnungen auf-geteilt worden Claude Monet wohnte hier 1888 als er seine beruumlhm-ten impressionistischen Bilder vom Cap drsquoAntibes und dem men-schenleeren Strand von Juan-les-Pins schuf Empfohlen hatte ihm die Unterkunft sein Kuumlnstlerfreund der Flaubert-Schuumller Guy de Mau-passant damals ein ungeheuer populaumlrer Literat Wie Monet steht Maupassant fuumlr die kuumlnstlerische Drift von der Normandie in die waumlrmeren Gefilde der Cocircte drsquoAzur Jeder Lokalpatriot kennt heute Maupassants prophetische Saumltze

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Von weitem sehen die Panzerschiffe wie Felsen aus wie kleine Inseln wie von abgestorbenen Baumlumen bedeckte Klippen Am Ufer entlang fliegt der Rauch eines Zuges der von Cannes nach Juan-les-Pins faumlhrt das vielleicht spaumlter der huumlbscheste Badeort der ganzen Kuumlste sein wird Drei Tartaren liegen mit ihren ro-mantischen Segeln von denen eines rot und die anderen beiden weiszlig sind im Fahrwasser zwischen Sainte-Marguerite und dem Festland vor Anker Das ist die Stille die suumlszlige und heiszlige Stille eines Fruumlhlingsmorgens im Suumlden und schon kommt es mir so vor als haumltte ich die Leute die reden und umherhetzen seit Wo-chen seit Monaten seit Jahren verlassen ich spuumlre wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt der suumlszlige Rausch der Ruhe die nichts stoumlren wird kein weiszliger Brief kein blaues Tele-gramm nicht die Klingel meiner Tuumlr noch das Bellen meines Hundes

Maupassant war mit seiner Jacht Bel Ami die er 1885 gekauft hatte an der Franzoumlsischen Riviera entlanggesegelt und hatte sich auch eine Zeitlang in Antibes in der Villa Muterse und im Chalet des Alpes an der Route de la Badine niedergelassen Viel schoumlpferische Zeit blieb ihm nicht mehr er starb schon 1894 mit 44 Jahren an den Folgen der Syphilis Und Juan-les-Pins wurde nie raquoder huumlbscheste Badeortlaquo wie er es prophezeit hatte

Huumlbsch und lieblich war es dort vielleicht noch bis 1914 als der Weltkrieg zunaumlchst einmal alle Spekulationsanstrengungen unter-brach Als dann Mitte der 1920er Jahre mit Frank Jay Gould und Konsorten der wirkliche Boom einsetzte und die neuen Straszligenzuumlge agrave la Miami Beach nur noch aus Hotels und Pensionen bestanden ndash innerhalb von zwei drei Jahren waren es an die hundert ndash spottete Jean Cocteau aus Juan-les-Pins sei genau die Karikatur geworden die es schon immer gewesen sei 1939 ging er dann noch weiter In einem Brief an seine Mutter bezeichnete er es als eine raquoville atrocelaquo eine scheuszligliche Stadt Dabei waren damals die meisten alten Villen noch nicht abgerissen die den zeittypischen Appartementkomplexen der 1950er und 1960er Jahre Platz machen mussten weil diese houmlhere Renditen fuumlr die Besitzer versprachen9

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1960 war das absurde architektonische Gesamtkunstwerk Juan-les-Pins mit seinen Art-deacuteco-Bauten den vereinzelt uumlbrig gebliebe-nen Villen aus der Gruumlnderphase und den vielen skurrilen Beton-kloumltzen allerdings schon so musealisiert dass dieser Wirrwarr neue Bewunderer fand Der Fotograf Brassaiuml erinnerte sich an ein Ge-spraumlch unter den riesigen Pinien von Juan-les-Pins mit Henry Miller der damals ndash wie uumlbrigens auch Georges Simenon ndash Jurymitglied beim Filmfestival von Cannes war

MILLER raquoIch mag diesen Ort Ich verlasse mich stets auf meinen Instinkt meine Gewohnheiten Wenn ich in die Auszligenbezirke einer Stadt komme erschnuumlffele ich ob sie mir gefaumlllt oder nicht ob ich dort gluumlcklich sein werde oder ungluumlcklich Ich habe das Gefuumlhl Juan-les-Pins wird mir guttunlaquoBrassaiuml raquoPicasso hatte das gleiche Gefuumlhl In Paris hat er diese Stadt einmal gemalt ohne sie je zuvor gesehen zu haben Und als er 1920 zum ersten Mal herkam sah er dass Juan-les-Pins genau so war wie er es sich vorgestellt hatte Uumlberwaumlltigt rief er rsaquoKein Zweifel diese Stadt gehoumlrt mirlsaquolaquo

Andrew Loog Oldham in den 1960er Jahren Manager der Rolling Stones erinnerte sich an die Zeit als er am Strand von Juan-les-Pins als Aushilfskellner in raquoButlerrsquos Tea Roomlaquo ndash heute das zentrale Cafeacute de la Plage ndash gearbeitet hatte

Juan war eine riesige Filmkulisse Das Licht war unglaublich Sie hatten da eine Art Licht von dem England bis dahin nicht einmal wusste dass es uumlberhaupt existiert Die Rock-rsquonrsquo-Roll-Clubs waren fantastisch Sie lagen alle unter freiem Himmel versteckt hinter einer langen Hecke Man konnte die Musik von der Straszlige aus houmlren Nach Juan-les-Pins fuhren die franzoumlsischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars im Sommer weil das Publikum dort juumlnger war Die franzouml-sischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars waren groszligartig Im Winter flogen sie zum Shoppen nach Amerika und behaupteten sie gingen dort auf Tour

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

Page 15: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

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Uumlberdies ist die Franzoumlsische Riviera ein Tummelplatz fuumlr Dik-tatoren und Autokraten aller Art ndash von Ben Ali (Tunesien) uumlber Omar Bongo (Gabun) bis hin zu raquoBaby Doclaquo Duvalier (Haiti) der allerdings vor seiner kurzzeitigen Ruumlckkehr auf seine Heimatinsel in einem billigen Hotel in Mougins logieren musste Unrechtmaumlszligig er-worbenes Vermoumlgen wird hier in Villen und Jachten investiert denn uumlblicherweise recherchieren franzoumlsische Untersuchungsrichter zu-ruumlckhaltend wenn es um raquobiens mal acquislaquo ndash schlecht erworbene Guumlter ndash geht Der blutig regierenden saudischen Koumlnigsfamilie die missliebige Journalisten schon einmal foltern oder gar zerstuumlckeln laumlsst gehoumlren ausgedehnte Laumlndereien in Golfe-Juan rund um das Chacircteau de lrsquoHorizon das 1932 von Barry Dierks fuumlr die US-Schau-spielerin Maxine Elliott erbaut wurde ebenso das neomaurische Chacircteau Robert heute eine gigantische Ruine und einst von Emil Jel-linek bewohnt dem Namensgeber der Daimler-Marke raquoMercedeslaquo

Der kriminelle Hintergrund der Cocircte muss den gewoumlhnlichen Touristen nicht kuumlmmern und Hollywood-Stars werden waumlhrend der Filmfestspiele von Cannes gewoumlhnlich verschont Dennoch loumlsen die vermehrten Raubuumlberfaumllle auf Ferienappartements bei denen die Bewohner schon einmal mit Betaumlubungsgas auszliger Gefecht gesetzt werden Beunruhigung aus Nachdem die Tochter seiner Geliebten Yvonne Cloetta einen Mann aus dem raquoMilieulaquo geheiratet hatte der sie offenbar drangsalierte hat Graham Greene der Amateurspion und feinsinnige Autor von Bestsellern wie Unser Mann in Havanna oder Der stille Amerikaner in dem 1982 verfassten Pamphlet Jrsquoaccuse gewarnt raquoVermeiden Sie die Gegend um Nizza ndash sie ist das Revier einiger der kriminellsten Organisationen im Suumlden Frankreichslaquo Greene verursachte damit zunaumlchst einigen Wirbel bis hinauf zum franzoumlsischen Justizminister schlieszliglich war der damals bereits 77-Jaumlhrige nicht irgendwer aber Nizzas Buumlrgermeister Meacutedecin kehrte den Spieszlig einfach um und beschimpfte ndash mit dem Nice Matin im Ruumlcken ndash den ewigen Kandidaten fuumlr den Literaturnobelpreis als raquoalten Spinnerlaquo und weltfremden Auslaumlnder der sich nie in die spezifische Atmosphaumlre der Cocircte habe einfinden koumlnnen

Die Nobelpreise erhielten was die Cocircte drsquoAzur anlangt dann zwei eher zuruumlckhaltende Charaktere zunaumlchst im Jahr 2008 Jean-Marie

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Gustave Le Cleacutezio aus Nizza bekannt als J M G Le Cleacutezio und 2014 Patrick Modiano dessen Romane Sonntage im August und Hochzeits-reise unter anderem durch ausgezeichnete Recherchen glaumlnzen und einen bemerkenswerten Einblick in das Vichy-Regime an der Cocircte und die deutsch-italienische Besatzungszeit gewaumlhren Modianos Hochzeitsreise spielt in einem kardinalen Kapitel im raquoProvenccedilallaquo das auch in zahlreichen weiteren Romanen und Spionagestorys von Georges Simenon bis zu Jean-Paul Sartre oder Irwin Shaw vorkommt

Die klassische Riviera gibt es kulturhistorisch seit dem 18 Jahr-hundert kolonisiert zunaumlchst von reichen Englaumlndern und russischen Adligen die Cocircte drsquoAzur gibt es erst seit 1887 jedenfalls begrifflich8 Das wissen wir ziemlich genau denn Steacutephen Lieacutegeard ein Regional-politiker mit literarischen Neigungen hat in jenem Jahr ein blumiges 630-Seiten-Werk mit dem Titel La Cocircte drsquoAzur publiziert und damit eine bis heute guumlltige landschaftliche Weltmarke erfunden Originell war der Titel nicht denn das Azurblau unter den Blautoumlnen findet man schon in Theacuteodore de Banvilles Buch La mer de Nice (1865)

Lieacutegeard schwer begeistert von der Sommerfrische der Adligen und dem sanften Klima der Provence und ihrer langen griechisch-roumlmischen Kolonisationsgeschichte vermischte fuumlr seine Cocircte- Geschichte munter Zeithistorie Landschaftsekstase und Legenden wobei er es mit den Fakten nicht so genau nahm aber eine fuumlr die Belle Eacutepoque attraktive Lektuumlre schuf Allein dreiszligig Seiten schrieb er uumlber die Lerinischen Inseln vor Cannes uumlber die moumlnchische Kul-tur auf der Insel Saint-Honorat und das Staatsgefaumlngnis auf der Insel Sainte-Marguerite wo der raquoMann mit der eisernen Maskelaquo gefangen gehalten wurde und aus dem 1874 der Marschall Bazaine der raquoVer-lierer von Metzlaquo im Deutsch-Franzoumlsischen Krieg unter suspekten Umstaumlnden entkam Neben den ausschweifenden Beschreibungen von Villenarchitektur und Botanik fehlte das Politische in Lieacutegeards Werk durchaus nicht Napoleon III hatte zwar bedauerlicherweise den Krieg von 187071 gegen die Bismarck-Koalition verloren aber 1860 erreicht dass Nizza als Hauptort des Deacutepartement Alpes-Ma-ritimes franzoumlsisch wurde ndash bis dahin war es Teil des Koumlnigreichs von Savoyen und Sardinien Im Gegenzug hatte der franzoumlsische Kaiser die Entstehung des neuen italienischen Nationalstaats unterstuumltzt

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Wer wuumlrde von der Schoumlnheit der neu entdeckten Kuumlstenregion der Cocircte drsquoAzur oumlkonomisch profitieren nachdem sie durch den Bau schneller Eisenbahnverbindungen noch an Attraktivitaumlt gewonnen hatte Die Hotellerie und das Gastgewerbe machten nun jedenfalls auch jenseits des Hochadels Angebote an das vermoumlgende Buumlrgertum und expandierten in dieser von der raquoindustriellen Revolutionlaquo noch unberuumlhrten Gegend gewaltig Und auch Lieacutegeard hatte begriffen worum es ging Uumlber Juan-les-Pins das kurz vor Erscheinen seines Buches uumlberhaupt erst als Name auf der Landkarte erschienen war schrieb er in der zweiten Auflage seines Werkes

Eine Viertelstunde von dem kleinen Hafen entfernt wo die Tar-tanen die Toumlpferwaren aus Vallauris an Bord nehmen zweigt eine neue Straszlige ab nach Juan-les-Pins Auf feinem Sand verlaumluft sie entlang des schaumbekroumlnten Saums mit dem das Meer sie lieb-kost waumlhrend das Zwitschern der Voumlgel und der Schirm der aus-ladenden Pinien ihr Schatten und Froumlhlichkeit spenden (hellip) Eine Aktiengesellschaft wurde gegruumlndet die das Land aufkauft und parzelliert Schon sind Straszligen und Boulevards trassiert ein Bahn-hof hemmt den Reisenden in seiner Fahrt ein Hotel umwirbt ihn Doch wird sich der Reisende auch verfuumlhren lassen

Mit dem Hotel meinte Lieacutegeard das erste Grandhotel in Juan-les-Pins wo es zuvor nur die Kuumlnstlerpension Chacircteau de la Pinegravede mit ihrem markanten oktogonalen Turm gegeben hatte Diese aumllteste Villa auf dem Terrain des Staumldtchens steht wundersamerweise noch heute ndash neben einem pyramidal anmutenden Komplex aus den 1970er Jahren ndash ist aber inzwischen in teure Einzelwohnungen auf-geteilt worden Claude Monet wohnte hier 1888 als er seine beruumlhm-ten impressionistischen Bilder vom Cap drsquoAntibes und dem men-schenleeren Strand von Juan-les-Pins schuf Empfohlen hatte ihm die Unterkunft sein Kuumlnstlerfreund der Flaubert-Schuumller Guy de Mau-passant damals ein ungeheuer populaumlrer Literat Wie Monet steht Maupassant fuumlr die kuumlnstlerische Drift von der Normandie in die waumlrmeren Gefilde der Cocircte drsquoAzur Jeder Lokalpatriot kennt heute Maupassants prophetische Saumltze

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Von weitem sehen die Panzerschiffe wie Felsen aus wie kleine Inseln wie von abgestorbenen Baumlumen bedeckte Klippen Am Ufer entlang fliegt der Rauch eines Zuges der von Cannes nach Juan-les-Pins faumlhrt das vielleicht spaumlter der huumlbscheste Badeort der ganzen Kuumlste sein wird Drei Tartaren liegen mit ihren ro-mantischen Segeln von denen eines rot und die anderen beiden weiszlig sind im Fahrwasser zwischen Sainte-Marguerite und dem Festland vor Anker Das ist die Stille die suumlszlige und heiszlige Stille eines Fruumlhlingsmorgens im Suumlden und schon kommt es mir so vor als haumltte ich die Leute die reden und umherhetzen seit Wo-chen seit Monaten seit Jahren verlassen ich spuumlre wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt der suumlszlige Rausch der Ruhe die nichts stoumlren wird kein weiszliger Brief kein blaues Tele-gramm nicht die Klingel meiner Tuumlr noch das Bellen meines Hundes

Maupassant war mit seiner Jacht Bel Ami die er 1885 gekauft hatte an der Franzoumlsischen Riviera entlanggesegelt und hatte sich auch eine Zeitlang in Antibes in der Villa Muterse und im Chalet des Alpes an der Route de la Badine niedergelassen Viel schoumlpferische Zeit blieb ihm nicht mehr er starb schon 1894 mit 44 Jahren an den Folgen der Syphilis Und Juan-les-Pins wurde nie raquoder huumlbscheste Badeortlaquo wie er es prophezeit hatte

Huumlbsch und lieblich war es dort vielleicht noch bis 1914 als der Weltkrieg zunaumlchst einmal alle Spekulationsanstrengungen unter-brach Als dann Mitte der 1920er Jahre mit Frank Jay Gould und Konsorten der wirkliche Boom einsetzte und die neuen Straszligenzuumlge agrave la Miami Beach nur noch aus Hotels und Pensionen bestanden ndash innerhalb von zwei drei Jahren waren es an die hundert ndash spottete Jean Cocteau aus Juan-les-Pins sei genau die Karikatur geworden die es schon immer gewesen sei 1939 ging er dann noch weiter In einem Brief an seine Mutter bezeichnete er es als eine raquoville atrocelaquo eine scheuszligliche Stadt Dabei waren damals die meisten alten Villen noch nicht abgerissen die den zeittypischen Appartementkomplexen der 1950er und 1960er Jahre Platz machen mussten weil diese houmlhere Renditen fuumlr die Besitzer versprachen9

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1960 war das absurde architektonische Gesamtkunstwerk Juan-les-Pins mit seinen Art-deacuteco-Bauten den vereinzelt uumlbrig gebliebe-nen Villen aus der Gruumlnderphase und den vielen skurrilen Beton-kloumltzen allerdings schon so musealisiert dass dieser Wirrwarr neue Bewunderer fand Der Fotograf Brassaiuml erinnerte sich an ein Ge-spraumlch unter den riesigen Pinien von Juan-les-Pins mit Henry Miller der damals ndash wie uumlbrigens auch Georges Simenon ndash Jurymitglied beim Filmfestival von Cannes war

MILLER raquoIch mag diesen Ort Ich verlasse mich stets auf meinen Instinkt meine Gewohnheiten Wenn ich in die Auszligenbezirke einer Stadt komme erschnuumlffele ich ob sie mir gefaumlllt oder nicht ob ich dort gluumlcklich sein werde oder ungluumlcklich Ich habe das Gefuumlhl Juan-les-Pins wird mir guttunlaquoBrassaiuml raquoPicasso hatte das gleiche Gefuumlhl In Paris hat er diese Stadt einmal gemalt ohne sie je zuvor gesehen zu haben Und als er 1920 zum ersten Mal herkam sah er dass Juan-les-Pins genau so war wie er es sich vorgestellt hatte Uumlberwaumlltigt rief er rsaquoKein Zweifel diese Stadt gehoumlrt mirlsaquolaquo

Andrew Loog Oldham in den 1960er Jahren Manager der Rolling Stones erinnerte sich an die Zeit als er am Strand von Juan-les-Pins als Aushilfskellner in raquoButlerrsquos Tea Roomlaquo ndash heute das zentrale Cafeacute de la Plage ndash gearbeitet hatte

Juan war eine riesige Filmkulisse Das Licht war unglaublich Sie hatten da eine Art Licht von dem England bis dahin nicht einmal wusste dass es uumlberhaupt existiert Die Rock-rsquonrsquo-Roll-Clubs waren fantastisch Sie lagen alle unter freiem Himmel versteckt hinter einer langen Hecke Man konnte die Musik von der Straszlige aus houmlren Nach Juan-les-Pins fuhren die franzoumlsischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars im Sommer weil das Publikum dort juumlnger war Die franzouml-sischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars waren groszligartig Im Winter flogen sie zum Shoppen nach Amerika und behaupteten sie gingen dort auf Tour

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

Page 16: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

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Gustave Le Cleacutezio aus Nizza bekannt als J M G Le Cleacutezio und 2014 Patrick Modiano dessen Romane Sonntage im August und Hochzeits-reise unter anderem durch ausgezeichnete Recherchen glaumlnzen und einen bemerkenswerten Einblick in das Vichy-Regime an der Cocircte und die deutsch-italienische Besatzungszeit gewaumlhren Modianos Hochzeitsreise spielt in einem kardinalen Kapitel im raquoProvenccedilallaquo das auch in zahlreichen weiteren Romanen und Spionagestorys von Georges Simenon bis zu Jean-Paul Sartre oder Irwin Shaw vorkommt

Die klassische Riviera gibt es kulturhistorisch seit dem 18 Jahr-hundert kolonisiert zunaumlchst von reichen Englaumlndern und russischen Adligen die Cocircte drsquoAzur gibt es erst seit 1887 jedenfalls begrifflich8 Das wissen wir ziemlich genau denn Steacutephen Lieacutegeard ein Regional-politiker mit literarischen Neigungen hat in jenem Jahr ein blumiges 630-Seiten-Werk mit dem Titel La Cocircte drsquoAzur publiziert und damit eine bis heute guumlltige landschaftliche Weltmarke erfunden Originell war der Titel nicht denn das Azurblau unter den Blautoumlnen findet man schon in Theacuteodore de Banvilles Buch La mer de Nice (1865)

Lieacutegeard schwer begeistert von der Sommerfrische der Adligen und dem sanften Klima der Provence und ihrer langen griechisch-roumlmischen Kolonisationsgeschichte vermischte fuumlr seine Cocircte- Geschichte munter Zeithistorie Landschaftsekstase und Legenden wobei er es mit den Fakten nicht so genau nahm aber eine fuumlr die Belle Eacutepoque attraktive Lektuumlre schuf Allein dreiszligig Seiten schrieb er uumlber die Lerinischen Inseln vor Cannes uumlber die moumlnchische Kul-tur auf der Insel Saint-Honorat und das Staatsgefaumlngnis auf der Insel Sainte-Marguerite wo der raquoMann mit der eisernen Maskelaquo gefangen gehalten wurde und aus dem 1874 der Marschall Bazaine der raquoVer-lierer von Metzlaquo im Deutsch-Franzoumlsischen Krieg unter suspekten Umstaumlnden entkam Neben den ausschweifenden Beschreibungen von Villenarchitektur und Botanik fehlte das Politische in Lieacutegeards Werk durchaus nicht Napoleon III hatte zwar bedauerlicherweise den Krieg von 187071 gegen die Bismarck-Koalition verloren aber 1860 erreicht dass Nizza als Hauptort des Deacutepartement Alpes-Ma-ritimes franzoumlsisch wurde ndash bis dahin war es Teil des Koumlnigreichs von Savoyen und Sardinien Im Gegenzug hatte der franzoumlsische Kaiser die Entstehung des neuen italienischen Nationalstaats unterstuumltzt

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Wer wuumlrde von der Schoumlnheit der neu entdeckten Kuumlstenregion der Cocircte drsquoAzur oumlkonomisch profitieren nachdem sie durch den Bau schneller Eisenbahnverbindungen noch an Attraktivitaumlt gewonnen hatte Die Hotellerie und das Gastgewerbe machten nun jedenfalls auch jenseits des Hochadels Angebote an das vermoumlgende Buumlrgertum und expandierten in dieser von der raquoindustriellen Revolutionlaquo noch unberuumlhrten Gegend gewaltig Und auch Lieacutegeard hatte begriffen worum es ging Uumlber Juan-les-Pins das kurz vor Erscheinen seines Buches uumlberhaupt erst als Name auf der Landkarte erschienen war schrieb er in der zweiten Auflage seines Werkes

Eine Viertelstunde von dem kleinen Hafen entfernt wo die Tar-tanen die Toumlpferwaren aus Vallauris an Bord nehmen zweigt eine neue Straszlige ab nach Juan-les-Pins Auf feinem Sand verlaumluft sie entlang des schaumbekroumlnten Saums mit dem das Meer sie lieb-kost waumlhrend das Zwitschern der Voumlgel und der Schirm der aus-ladenden Pinien ihr Schatten und Froumlhlichkeit spenden (hellip) Eine Aktiengesellschaft wurde gegruumlndet die das Land aufkauft und parzelliert Schon sind Straszligen und Boulevards trassiert ein Bahn-hof hemmt den Reisenden in seiner Fahrt ein Hotel umwirbt ihn Doch wird sich der Reisende auch verfuumlhren lassen

Mit dem Hotel meinte Lieacutegeard das erste Grandhotel in Juan-les-Pins wo es zuvor nur die Kuumlnstlerpension Chacircteau de la Pinegravede mit ihrem markanten oktogonalen Turm gegeben hatte Diese aumllteste Villa auf dem Terrain des Staumldtchens steht wundersamerweise noch heute ndash neben einem pyramidal anmutenden Komplex aus den 1970er Jahren ndash ist aber inzwischen in teure Einzelwohnungen auf-geteilt worden Claude Monet wohnte hier 1888 als er seine beruumlhm-ten impressionistischen Bilder vom Cap drsquoAntibes und dem men-schenleeren Strand von Juan-les-Pins schuf Empfohlen hatte ihm die Unterkunft sein Kuumlnstlerfreund der Flaubert-Schuumller Guy de Mau-passant damals ein ungeheuer populaumlrer Literat Wie Monet steht Maupassant fuumlr die kuumlnstlerische Drift von der Normandie in die waumlrmeren Gefilde der Cocircte drsquoAzur Jeder Lokalpatriot kennt heute Maupassants prophetische Saumltze

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Von weitem sehen die Panzerschiffe wie Felsen aus wie kleine Inseln wie von abgestorbenen Baumlumen bedeckte Klippen Am Ufer entlang fliegt der Rauch eines Zuges der von Cannes nach Juan-les-Pins faumlhrt das vielleicht spaumlter der huumlbscheste Badeort der ganzen Kuumlste sein wird Drei Tartaren liegen mit ihren ro-mantischen Segeln von denen eines rot und die anderen beiden weiszlig sind im Fahrwasser zwischen Sainte-Marguerite und dem Festland vor Anker Das ist die Stille die suumlszlige und heiszlige Stille eines Fruumlhlingsmorgens im Suumlden und schon kommt es mir so vor als haumltte ich die Leute die reden und umherhetzen seit Wo-chen seit Monaten seit Jahren verlassen ich spuumlre wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt der suumlszlige Rausch der Ruhe die nichts stoumlren wird kein weiszliger Brief kein blaues Tele-gramm nicht die Klingel meiner Tuumlr noch das Bellen meines Hundes

Maupassant war mit seiner Jacht Bel Ami die er 1885 gekauft hatte an der Franzoumlsischen Riviera entlanggesegelt und hatte sich auch eine Zeitlang in Antibes in der Villa Muterse und im Chalet des Alpes an der Route de la Badine niedergelassen Viel schoumlpferische Zeit blieb ihm nicht mehr er starb schon 1894 mit 44 Jahren an den Folgen der Syphilis Und Juan-les-Pins wurde nie raquoder huumlbscheste Badeortlaquo wie er es prophezeit hatte

Huumlbsch und lieblich war es dort vielleicht noch bis 1914 als der Weltkrieg zunaumlchst einmal alle Spekulationsanstrengungen unter-brach Als dann Mitte der 1920er Jahre mit Frank Jay Gould und Konsorten der wirkliche Boom einsetzte und die neuen Straszligenzuumlge agrave la Miami Beach nur noch aus Hotels und Pensionen bestanden ndash innerhalb von zwei drei Jahren waren es an die hundert ndash spottete Jean Cocteau aus Juan-les-Pins sei genau die Karikatur geworden die es schon immer gewesen sei 1939 ging er dann noch weiter In einem Brief an seine Mutter bezeichnete er es als eine raquoville atrocelaquo eine scheuszligliche Stadt Dabei waren damals die meisten alten Villen noch nicht abgerissen die den zeittypischen Appartementkomplexen der 1950er und 1960er Jahre Platz machen mussten weil diese houmlhere Renditen fuumlr die Besitzer versprachen9

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1960 war das absurde architektonische Gesamtkunstwerk Juan-les-Pins mit seinen Art-deacuteco-Bauten den vereinzelt uumlbrig gebliebe-nen Villen aus der Gruumlnderphase und den vielen skurrilen Beton-kloumltzen allerdings schon so musealisiert dass dieser Wirrwarr neue Bewunderer fand Der Fotograf Brassaiuml erinnerte sich an ein Ge-spraumlch unter den riesigen Pinien von Juan-les-Pins mit Henry Miller der damals ndash wie uumlbrigens auch Georges Simenon ndash Jurymitglied beim Filmfestival von Cannes war

MILLER raquoIch mag diesen Ort Ich verlasse mich stets auf meinen Instinkt meine Gewohnheiten Wenn ich in die Auszligenbezirke einer Stadt komme erschnuumlffele ich ob sie mir gefaumlllt oder nicht ob ich dort gluumlcklich sein werde oder ungluumlcklich Ich habe das Gefuumlhl Juan-les-Pins wird mir guttunlaquoBrassaiuml raquoPicasso hatte das gleiche Gefuumlhl In Paris hat er diese Stadt einmal gemalt ohne sie je zuvor gesehen zu haben Und als er 1920 zum ersten Mal herkam sah er dass Juan-les-Pins genau so war wie er es sich vorgestellt hatte Uumlberwaumlltigt rief er rsaquoKein Zweifel diese Stadt gehoumlrt mirlsaquolaquo

Andrew Loog Oldham in den 1960er Jahren Manager der Rolling Stones erinnerte sich an die Zeit als er am Strand von Juan-les-Pins als Aushilfskellner in raquoButlerrsquos Tea Roomlaquo ndash heute das zentrale Cafeacute de la Plage ndash gearbeitet hatte

Juan war eine riesige Filmkulisse Das Licht war unglaublich Sie hatten da eine Art Licht von dem England bis dahin nicht einmal wusste dass es uumlberhaupt existiert Die Rock-rsquonrsquo-Roll-Clubs waren fantastisch Sie lagen alle unter freiem Himmel versteckt hinter einer langen Hecke Man konnte die Musik von der Straszlige aus houmlren Nach Juan-les-Pins fuhren die franzoumlsischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars im Sommer weil das Publikum dort juumlnger war Die franzouml-sischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars waren groszligartig Im Winter flogen sie zum Shoppen nach Amerika und behaupteten sie gingen dort auf Tour

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

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Wer wuumlrde von der Schoumlnheit der neu entdeckten Kuumlstenregion der Cocircte drsquoAzur oumlkonomisch profitieren nachdem sie durch den Bau schneller Eisenbahnverbindungen noch an Attraktivitaumlt gewonnen hatte Die Hotellerie und das Gastgewerbe machten nun jedenfalls auch jenseits des Hochadels Angebote an das vermoumlgende Buumlrgertum und expandierten in dieser von der raquoindustriellen Revolutionlaquo noch unberuumlhrten Gegend gewaltig Und auch Lieacutegeard hatte begriffen worum es ging Uumlber Juan-les-Pins das kurz vor Erscheinen seines Buches uumlberhaupt erst als Name auf der Landkarte erschienen war schrieb er in der zweiten Auflage seines Werkes

Eine Viertelstunde von dem kleinen Hafen entfernt wo die Tar-tanen die Toumlpferwaren aus Vallauris an Bord nehmen zweigt eine neue Straszlige ab nach Juan-les-Pins Auf feinem Sand verlaumluft sie entlang des schaumbekroumlnten Saums mit dem das Meer sie lieb-kost waumlhrend das Zwitschern der Voumlgel und der Schirm der aus-ladenden Pinien ihr Schatten und Froumlhlichkeit spenden (hellip) Eine Aktiengesellschaft wurde gegruumlndet die das Land aufkauft und parzelliert Schon sind Straszligen und Boulevards trassiert ein Bahn-hof hemmt den Reisenden in seiner Fahrt ein Hotel umwirbt ihn Doch wird sich der Reisende auch verfuumlhren lassen

Mit dem Hotel meinte Lieacutegeard das erste Grandhotel in Juan-les-Pins wo es zuvor nur die Kuumlnstlerpension Chacircteau de la Pinegravede mit ihrem markanten oktogonalen Turm gegeben hatte Diese aumllteste Villa auf dem Terrain des Staumldtchens steht wundersamerweise noch heute ndash neben einem pyramidal anmutenden Komplex aus den 1970er Jahren ndash ist aber inzwischen in teure Einzelwohnungen auf-geteilt worden Claude Monet wohnte hier 1888 als er seine beruumlhm-ten impressionistischen Bilder vom Cap drsquoAntibes und dem men-schenleeren Strand von Juan-les-Pins schuf Empfohlen hatte ihm die Unterkunft sein Kuumlnstlerfreund der Flaubert-Schuumller Guy de Mau-passant damals ein ungeheuer populaumlrer Literat Wie Monet steht Maupassant fuumlr die kuumlnstlerische Drift von der Normandie in die waumlrmeren Gefilde der Cocircte drsquoAzur Jeder Lokalpatriot kennt heute Maupassants prophetische Saumltze

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Von weitem sehen die Panzerschiffe wie Felsen aus wie kleine Inseln wie von abgestorbenen Baumlumen bedeckte Klippen Am Ufer entlang fliegt der Rauch eines Zuges der von Cannes nach Juan-les-Pins faumlhrt das vielleicht spaumlter der huumlbscheste Badeort der ganzen Kuumlste sein wird Drei Tartaren liegen mit ihren ro-mantischen Segeln von denen eines rot und die anderen beiden weiszlig sind im Fahrwasser zwischen Sainte-Marguerite und dem Festland vor Anker Das ist die Stille die suumlszlige und heiszlige Stille eines Fruumlhlingsmorgens im Suumlden und schon kommt es mir so vor als haumltte ich die Leute die reden und umherhetzen seit Wo-chen seit Monaten seit Jahren verlassen ich spuumlre wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt der suumlszlige Rausch der Ruhe die nichts stoumlren wird kein weiszliger Brief kein blaues Tele-gramm nicht die Klingel meiner Tuumlr noch das Bellen meines Hundes

Maupassant war mit seiner Jacht Bel Ami die er 1885 gekauft hatte an der Franzoumlsischen Riviera entlanggesegelt und hatte sich auch eine Zeitlang in Antibes in der Villa Muterse und im Chalet des Alpes an der Route de la Badine niedergelassen Viel schoumlpferische Zeit blieb ihm nicht mehr er starb schon 1894 mit 44 Jahren an den Folgen der Syphilis Und Juan-les-Pins wurde nie raquoder huumlbscheste Badeortlaquo wie er es prophezeit hatte

Huumlbsch und lieblich war es dort vielleicht noch bis 1914 als der Weltkrieg zunaumlchst einmal alle Spekulationsanstrengungen unter-brach Als dann Mitte der 1920er Jahre mit Frank Jay Gould und Konsorten der wirkliche Boom einsetzte und die neuen Straszligenzuumlge agrave la Miami Beach nur noch aus Hotels und Pensionen bestanden ndash innerhalb von zwei drei Jahren waren es an die hundert ndash spottete Jean Cocteau aus Juan-les-Pins sei genau die Karikatur geworden die es schon immer gewesen sei 1939 ging er dann noch weiter In einem Brief an seine Mutter bezeichnete er es als eine raquoville atrocelaquo eine scheuszligliche Stadt Dabei waren damals die meisten alten Villen noch nicht abgerissen die den zeittypischen Appartementkomplexen der 1950er und 1960er Jahre Platz machen mussten weil diese houmlhere Renditen fuumlr die Besitzer versprachen9

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1960 war das absurde architektonische Gesamtkunstwerk Juan-les-Pins mit seinen Art-deacuteco-Bauten den vereinzelt uumlbrig gebliebe-nen Villen aus der Gruumlnderphase und den vielen skurrilen Beton-kloumltzen allerdings schon so musealisiert dass dieser Wirrwarr neue Bewunderer fand Der Fotograf Brassaiuml erinnerte sich an ein Ge-spraumlch unter den riesigen Pinien von Juan-les-Pins mit Henry Miller der damals ndash wie uumlbrigens auch Georges Simenon ndash Jurymitglied beim Filmfestival von Cannes war

MILLER raquoIch mag diesen Ort Ich verlasse mich stets auf meinen Instinkt meine Gewohnheiten Wenn ich in die Auszligenbezirke einer Stadt komme erschnuumlffele ich ob sie mir gefaumlllt oder nicht ob ich dort gluumlcklich sein werde oder ungluumlcklich Ich habe das Gefuumlhl Juan-les-Pins wird mir guttunlaquoBrassaiuml raquoPicasso hatte das gleiche Gefuumlhl In Paris hat er diese Stadt einmal gemalt ohne sie je zuvor gesehen zu haben Und als er 1920 zum ersten Mal herkam sah er dass Juan-les-Pins genau so war wie er es sich vorgestellt hatte Uumlberwaumlltigt rief er rsaquoKein Zweifel diese Stadt gehoumlrt mirlsaquolaquo

Andrew Loog Oldham in den 1960er Jahren Manager der Rolling Stones erinnerte sich an die Zeit als er am Strand von Juan-les-Pins als Aushilfskellner in raquoButlerrsquos Tea Roomlaquo ndash heute das zentrale Cafeacute de la Plage ndash gearbeitet hatte

Juan war eine riesige Filmkulisse Das Licht war unglaublich Sie hatten da eine Art Licht von dem England bis dahin nicht einmal wusste dass es uumlberhaupt existiert Die Rock-rsquonrsquo-Roll-Clubs waren fantastisch Sie lagen alle unter freiem Himmel versteckt hinter einer langen Hecke Man konnte die Musik von der Straszlige aus houmlren Nach Juan-les-Pins fuhren die franzoumlsischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars im Sommer weil das Publikum dort juumlnger war Die franzouml-sischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars waren groszligartig Im Winter flogen sie zum Shoppen nach Amerika und behaupteten sie gingen dort auf Tour

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

Page 18: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

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Von weitem sehen die Panzerschiffe wie Felsen aus wie kleine Inseln wie von abgestorbenen Baumlumen bedeckte Klippen Am Ufer entlang fliegt der Rauch eines Zuges der von Cannes nach Juan-les-Pins faumlhrt das vielleicht spaumlter der huumlbscheste Badeort der ganzen Kuumlste sein wird Drei Tartaren liegen mit ihren ro-mantischen Segeln von denen eines rot und die anderen beiden weiszlig sind im Fahrwasser zwischen Sainte-Marguerite und dem Festland vor Anker Das ist die Stille die suumlszlige und heiszlige Stille eines Fruumlhlingsmorgens im Suumlden und schon kommt es mir so vor als haumltte ich die Leute die reden und umherhetzen seit Wo-chen seit Monaten seit Jahren verlassen ich spuumlre wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt der suumlszlige Rausch der Ruhe die nichts stoumlren wird kein weiszliger Brief kein blaues Tele-gramm nicht die Klingel meiner Tuumlr noch das Bellen meines Hundes

Maupassant war mit seiner Jacht Bel Ami die er 1885 gekauft hatte an der Franzoumlsischen Riviera entlanggesegelt und hatte sich auch eine Zeitlang in Antibes in der Villa Muterse und im Chalet des Alpes an der Route de la Badine niedergelassen Viel schoumlpferische Zeit blieb ihm nicht mehr er starb schon 1894 mit 44 Jahren an den Folgen der Syphilis Und Juan-les-Pins wurde nie raquoder huumlbscheste Badeortlaquo wie er es prophezeit hatte

Huumlbsch und lieblich war es dort vielleicht noch bis 1914 als der Weltkrieg zunaumlchst einmal alle Spekulationsanstrengungen unter-brach Als dann Mitte der 1920er Jahre mit Frank Jay Gould und Konsorten der wirkliche Boom einsetzte und die neuen Straszligenzuumlge agrave la Miami Beach nur noch aus Hotels und Pensionen bestanden ndash innerhalb von zwei drei Jahren waren es an die hundert ndash spottete Jean Cocteau aus Juan-les-Pins sei genau die Karikatur geworden die es schon immer gewesen sei 1939 ging er dann noch weiter In einem Brief an seine Mutter bezeichnete er es als eine raquoville atrocelaquo eine scheuszligliche Stadt Dabei waren damals die meisten alten Villen noch nicht abgerissen die den zeittypischen Appartementkomplexen der 1950er und 1960er Jahre Platz machen mussten weil diese houmlhere Renditen fuumlr die Besitzer versprachen9

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1960 war das absurde architektonische Gesamtkunstwerk Juan-les-Pins mit seinen Art-deacuteco-Bauten den vereinzelt uumlbrig gebliebe-nen Villen aus der Gruumlnderphase und den vielen skurrilen Beton-kloumltzen allerdings schon so musealisiert dass dieser Wirrwarr neue Bewunderer fand Der Fotograf Brassaiuml erinnerte sich an ein Ge-spraumlch unter den riesigen Pinien von Juan-les-Pins mit Henry Miller der damals ndash wie uumlbrigens auch Georges Simenon ndash Jurymitglied beim Filmfestival von Cannes war

MILLER raquoIch mag diesen Ort Ich verlasse mich stets auf meinen Instinkt meine Gewohnheiten Wenn ich in die Auszligenbezirke einer Stadt komme erschnuumlffele ich ob sie mir gefaumlllt oder nicht ob ich dort gluumlcklich sein werde oder ungluumlcklich Ich habe das Gefuumlhl Juan-les-Pins wird mir guttunlaquoBrassaiuml raquoPicasso hatte das gleiche Gefuumlhl In Paris hat er diese Stadt einmal gemalt ohne sie je zuvor gesehen zu haben Und als er 1920 zum ersten Mal herkam sah er dass Juan-les-Pins genau so war wie er es sich vorgestellt hatte Uumlberwaumlltigt rief er rsaquoKein Zweifel diese Stadt gehoumlrt mirlsaquolaquo

Andrew Loog Oldham in den 1960er Jahren Manager der Rolling Stones erinnerte sich an die Zeit als er am Strand von Juan-les-Pins als Aushilfskellner in raquoButlerrsquos Tea Roomlaquo ndash heute das zentrale Cafeacute de la Plage ndash gearbeitet hatte

Juan war eine riesige Filmkulisse Das Licht war unglaublich Sie hatten da eine Art Licht von dem England bis dahin nicht einmal wusste dass es uumlberhaupt existiert Die Rock-rsquonrsquo-Roll-Clubs waren fantastisch Sie lagen alle unter freiem Himmel versteckt hinter einer langen Hecke Man konnte die Musik von der Straszlige aus houmlren Nach Juan-les-Pins fuhren die franzoumlsischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars im Sommer weil das Publikum dort juumlnger war Die franzouml-sischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars waren groszligartig Im Winter flogen sie zum Shoppen nach Amerika und behaupteten sie gingen dort auf Tour

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

Page 19: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

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1960 war das absurde architektonische Gesamtkunstwerk Juan-les-Pins mit seinen Art-deacuteco-Bauten den vereinzelt uumlbrig gebliebe-nen Villen aus der Gruumlnderphase und den vielen skurrilen Beton-kloumltzen allerdings schon so musealisiert dass dieser Wirrwarr neue Bewunderer fand Der Fotograf Brassaiuml erinnerte sich an ein Ge-spraumlch unter den riesigen Pinien von Juan-les-Pins mit Henry Miller der damals ndash wie uumlbrigens auch Georges Simenon ndash Jurymitglied beim Filmfestival von Cannes war

MILLER raquoIch mag diesen Ort Ich verlasse mich stets auf meinen Instinkt meine Gewohnheiten Wenn ich in die Auszligenbezirke einer Stadt komme erschnuumlffele ich ob sie mir gefaumlllt oder nicht ob ich dort gluumlcklich sein werde oder ungluumlcklich Ich habe das Gefuumlhl Juan-les-Pins wird mir guttunlaquoBrassaiuml raquoPicasso hatte das gleiche Gefuumlhl In Paris hat er diese Stadt einmal gemalt ohne sie je zuvor gesehen zu haben Und als er 1920 zum ersten Mal herkam sah er dass Juan-les-Pins genau so war wie er es sich vorgestellt hatte Uumlberwaumlltigt rief er rsaquoKein Zweifel diese Stadt gehoumlrt mirlsaquolaquo

Andrew Loog Oldham in den 1960er Jahren Manager der Rolling Stones erinnerte sich an die Zeit als er am Strand von Juan-les-Pins als Aushilfskellner in raquoButlerrsquos Tea Roomlaquo ndash heute das zentrale Cafeacute de la Plage ndash gearbeitet hatte

Juan war eine riesige Filmkulisse Das Licht war unglaublich Sie hatten da eine Art Licht von dem England bis dahin nicht einmal wusste dass es uumlberhaupt existiert Die Rock-rsquonrsquo-Roll-Clubs waren fantastisch Sie lagen alle unter freiem Himmel versteckt hinter einer langen Hecke Man konnte die Musik von der Straszlige aus houmlren Nach Juan-les-Pins fuhren die franzoumlsischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars im Sommer weil das Publikum dort juumlnger war Die franzouml-sischen Rock-rsquonrsquo-Roll-Stars waren groszligartig Im Winter flogen sie zum Shoppen nach Amerika und behaupteten sie gingen dort auf Tour

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

Page 20: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

Das ist Juan-les-Pins bis heute geblieben raquoeine einzige Filmkulisselaquo auch wenn dort keine Intellektuellen und Kuumlnstler mehr tanzen son-dern vor allem im Juli und August die Soumlhne arabischer und afrika-nischer Potentaten ihre hochgetunten Lamborghinis und Bugattis roumlhren lassen Zehn Monate im Jahr ist es allerdings sehr ruhig und angenehm dort der eine oder andere Mafioso oder russische Olig-arch schaut vorbei auch Lady Gaga oder Pink beim modernisierten Jazzfestival im Schatten der Ruine des raquoProvenccedilallaquo

Nicht nur das raquoProvenccedilallaquo ist heute verlassen sondern auch ein Dutzend anderer Hotels das Hocirctel du Parc ehemals raquoLa Girellelaquo das raquoLe Tropiquelaquo das raquoCyranolaquo das Hocirctel de France und andere mehr Aus Juan-les-Pins ist eine leicht morbide Stadt der toten Hotels gewor-den waumlhrend auf der anderen Seite Richtung Cap drsquoAntibes die mon-daumlneren Haumluser wie das raquoJuanalaquo das raquoBelles Riveslaquo oder das raquoCap drsquoAntibes Beachlaquo einst das legendaumlre Barrestaurant Les Pecirccheurs des Jachthafen-Moguls Camille Rayon mehr denn je florieren Oetkers Grand Hocirctel du Cap ohnehin Dorthin bringen Limousinenstaffeln mit dunkel getoumlnten Scheiben Ehrengaumlste wie Jessica Chastain Milu-tin Gatsby Diane Kruger Harvey Weinstein Carine Roitfeld oder Nicole Kidman waumlhrend des Filmfestivals von Cannes Eine houmlhere Showbiz-Dichte als in Cannes gibt es ndash jedenfalls in Europa ndash kein zweites Mal Alljaumlhrlich zum Filmfestival veroumlffentlicht das US-Wirt-schaftsmagazin Forbes eine Liste der Gigajachten die in der Bucht von Juan-les-Pins ankern (raquobillionaire superyacht showdownlaquo) Abra-mowitschs raquoEclipselaquo die raquoDilbarlaquo von Alischer Usmanow General-direktor von Gazprom die raquoSailing Yacht Alaquo von Andrei Melni-tschenko der an diversen Industrieunternehmen Beteiligungen haumllt und dessen persoumlnliches Vermoumlgen rund 155 Milliarden Dollar be-traumlgt oder die raquoOdessa IIlaquo von Leonard Blavatnik der zuletzt in den Sport-Streamingdienst DAZN einstieg und uumlber ein persoumlnliches Vermoumlgen von 204 Milliarden Dollar verfuumlgt

Wie es zu dem raumltselhaften Nebeneinander von architektoni-schem Verfall und Superluxus an der Cocircte drsquoAzur kam davon handelt dieses Buch

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

Page 21: Hôtel Provençal Eine Geschichte der Côte d'Azur

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Die UnerzogeneDie Anfaumlnge von Juan-les-Pins und die Konkurrenzen

an der Cocircte drsquoAzur

Der Commandant Camille Rayon hielt mit viel Champagner bewun-dernswert durch vom Mittagessen bis zum spaumlten Nachmittag Wir trafen uns bei raquoMamolaquo Peppino Mammoliti dem Prominentenwirt von Antibes der den Kontakt angebahnt hatte raquoMamolaquo und der Commandant zeigten sich an diesem Tag zutiefst empoumlrt weil gerade ein franzoumlsischer Untersuchungsrichter Knall auf Fall die Villa des Waffenhaumlndlers Arcadi Gaydamak der mit raquoAngolagatelaquo in die Schlagzeilen geriet am Cap drsquoAntibes hatte abreiszligen lassen Gayda-mak hatte auf seinem Anwesen direkt neben den Quandts wider-rechtlich einige unterirdische Etagen ausbaggern lassen ndash angeblich nebst raquochambre du preacutesidentlaquo das fuumlr keinen anderen als Franccedilois Mitterrand reserviert war Vor ihm hatten Aumlhnliches auch schon an-dere getan Als die Quandts die Villa Aigue Marine 1962 erwarben soll dort ein atombombensicherer Keller eingebaut worden sein Kanzler Helmut Kohl und Koumlnig Hassan II von Marokko waren in der Villa zu Gast Als Harald Quandt 1967 beim Absturz des firmen-eigenen Jets auf dem Weg nach Antibes den Tod fand beschlossen seine fuumlnf Toumlchter das Haus im Gedenken an den Vater nicht zu ver-kaufen

Camille Rayon hat seine Kindheits- und Jugendjahre am Cap drsquoAntibes und in Juan-les-Pins verbracht als es dort noch nicht ein-mal elektrischen Strom gab Antibes war uumlber Jahrhunderte eine kleine solide und gut eingemauerte Festungsstadt an der Grenze zum Koumlnigreich Savoyen-Sardinien aus dem spaumlter die italienischen Regenten bis 1945 hervorgehen sollten Die Einwohnerzahl kam bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts nicht uumlber 5000 Seelen hinaus die schmale Oberschicht der Guides Muterses Reibauds war miteinan-der verwandt oder verschwaumlgert und die beruumlhmtesten Soumlhne der Festungsstadt waren Admiraumlle und napoleonische Generaumlle In den wenigen Landvillen auszligerhalb der Festungsmauern fuumlhrte man ein

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

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durchaus angenehmes Leben aber anders als in Cannes Monaco oder Nizza machte kaum ein gekroumlntes Haupt mitsamt Entourage in dem Ort Station Dabei hatte man nicht nur das unvergleichliche Cap sondern auch den einzigartigen Pinienwald zu bieten der da-mals noch Pinegravede Agard hieszlig benannt nach dem einzigen Groszlig-grundbesitzer Investoren Notare und Spekulanten stroumlmten erst herbei nachdem die Festungsgrenze zu Nizza unter Napoleon III mit dem Vertrag von Turin (1860) hinfaumlllig geworden war und sie sollten dem stolzen Antibes den Platz an der Sonne sichern der ihm gebuumlhrte

Der Feuilletonist Maurice Prax erinnerte sich einmal daran dass ihm ein altes Amateurfoto raquodatiert auf 1909 oder 1910laquo in die Haumlnde fiel und er sich darauf als kleiner Junge im Badekostuumlm entdeckte Das Foto war am Strand von Juan-les-Pins aufgenommen worden der damals raquoabsolut verlassenlaquo aussah ndash raquovier miserable Kabinen kein Spielcasino nur ein kleines Bistro fuumlr die wenigen und zoumlgernden Kunden der Vermouth-Cassis kostete sieben Souslaquo Ein paar Bade-kabi nen mehr duumlrften es schon gewesen sein schlieszliglich war das durchaus respektable Grandhotel bereits 1894 eroumlffnet im Jahr 1900 die Oratorianerkirche Notre-Dame de la Pinegravede eingesegnet worden wenig spaumlter ein Waisenhaus (Orphelinat) hinzugekommen und seit 1905 gab es sogar eine Apotheke gegenuumlber der im Mai 1895 einge-weihten kleinen Bahnstation vor der gewoumlhnlich ein paar Pferde-kutschen auf die Ankunft der vermoumlgenden Villenbesitzer warteten Der erste Apotheker Leacuteon Fournet war ndash wie damals durchaus uumlb-lich ndash auch Lichtbildner und Fotolaborant Seine Fotos vom fruumlhen Juan-les-Pins sind ein wichtiges Zeugnis zur Entwicklung der neuen Winter- und Sommerfrische der raquostation hivernale et balneacuteairelaquo

Der Ortsname Juan-les-Pins eine Kombination aus Golfe-Juan und Pinienwald war allerdings recht seltsam zustande gekommen Nicht der Stadtrat von Antibes hatte daruumlber entschieden sondern der Verwaltungsrat der privaten Aktiengesellschaft Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral (SFCL) auf seiner Sitzung am 12 Maumlrz 1882 in Cannes Das ist der Grund dafuumlr dass sich die Akten zur Gruumln-dung von Juan-les-Pins heute nicht im Stadtarchiv von Antibes sondern im Departementsarchiv von Nizza befinden10

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

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Die SFCL war 1881 von der Cannoiser Bank Rigal mit einigen Notabeln aus Antibes und den umliegenden Orten im Deacutepartement Alpes-Maritimes gegruumlndet worden zu dem Zweck moumlglichst guumlns-tig Laumlndereien zwischen Cannes und Nizza anzukaufen die Ent-wicklung der Infrastruktur und die Parzellierung des Landbesitzes voranzutreiben und die Parzellen dann mit Gewinn zu veraumluszligern Aktionaumlre waren neben den Bankiers Rigal Pegravere et Fils und ihrem Prokuristen Signoret unter anderen der Duc de Vallombrosa und der Prince drsquoEssling vermoumlgende Antibois wie die Familien Rou tan Ardisson Roubaud die Pflanzenzuumlchterdynastie Vilmorin-Andrieux und vor allem der Architekt und Planer Claude Vidal der 188283 kurzzeitig Buumlrgermeister von Antibes wurde nachdem die SFCL den Amtsinhaber Eacutedouard Olivier durch ihre Uumlberrumpelungstaktik ziemlich gegen sich aufgebracht hatte Olivier hatte im Maumlrz 1882 aus der Zeitung erfahren muumlssen dass auch die geplante neue Bahn-station den Namen raquoJuan les Pinslaquo tragen sollte Er haumltte Bezeich-nungen wie raquoLa Pinegravede drsquoAntibeslaquo oder raquoLes Pins drsquoAntibeslaquo vor-gezogen

Der Pinienwald am Strand war fuumlr die Entwicklungsgesellschaft das zentrale Objekt der Begierde Er gehoumlrte dem vermoumlgenden Antoine Agard aus Bar-sur-Loup der im September 1849 im Alter von 44 Jahren die 19-jaumlhrige Alexandrine Emond drsquoEsclevin geheira-tet hatte Die Emond drsquoEsclevins waren eine jener Patriziersippen von Antibes in deren Familienstamm sich mehrere Generaumlle und Admiraumlle finden lieszligen Der beruumlhmteste war Brigadegeneral Baltha-zar Joseph Emond drsquoEsclevin Baron de lrsquoEmpire toumldlich verwundet in der Schlacht von Kulm 1813 Charles der erste Sohn aus der Ehe von Antoine Agard und Alexandrine Emond drsquoEsclevin war im Mai 1850 in New York in der Kirche St Vincent de Paul zu Manhattan getauft worden ndash offenbar waumlhrend einer USA-Reise seiner Eltern Er wird spaumlter im Rahmen der Aktivitaumlten der Socieacuteteacute fonciegravere de Cannes et du Littoral Aktionaumlr und zugleich Landverkaumlufer bei der Investmentgesellschaft

Das im Volksmund Chacircteau Agard genannte Gutshaus der Agards war die einzige Villa auf dem heutigen Gebiet von Juan-les-Pins der umliegende Pinienwald ein Ausflugsziel der Antibois wo

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