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Was für Kinder? Vortrag von Hans- Jakob Weinz zum 20-jährigenJubiläum der Katholischen Erziehungsberatungsstelle Neuss In dem Titel, den ich für meinen Vortrag gewählt habe, klingen mehrere Stimmen mit: Einmal der seufzend-begeisterte Ausruf, den alle gelegentlich tun, die mit Kindern zu tun haben: Was für Kinder! Es schwingen aber auch zwei Fragen mit. Einmal die Frage: Was sind das für Kinder, die heute unter uns leben; wie leben sie? Die zweite Frage lautet: Ist unsere Welt, unsere Gesellschaft, unsere Erde, so wie sie heute ist, (überhaupt) etwas für Kinder? Beiden Fragen möchte ich nachgehen. Was für Kinder...? Sie machen krach, sie lachen und weinen hemmungslos, zeigen ihre Lust oder Unlust, wie es kommt; artikulieren ihre Bedürfnisse unverschämt; sind neugierig, störrisch, eigensinnig; sind mal ganz groß und stark und manchmal ganz klein und trostbedürftig. Sie fordern und fordern und fragen, sind ungebremst zärtlich, weinen über einen toten Vogel, sind brutal-egoistisch und total altruistisch; sie lassen uns nicht kalt, fordern uns heraus... die Eltern, die Gesellschaft, die Kirchen: Welchen Raum gebt ihr uns zum Leben? Die Antwort, die unsere Gesellschaft heute gibt, klingt ambivalent: Einerseits sei unsere Gesell- schaft heute kinderfeindüch, heißt es; andererseits sind Kinder wohl noch nie so vergöttert worden wie heutzutage... Kinderfeindlich? Unsere Gesellschaft ist nicht unbedingt - zumindest in ihrer öffentlichen Artikulation - ausdrücklich kinder-feindlich, aber sie ist in ihrer Struktur und in ihrem faktischen Verhalten strukturell rücksichtslos gegenüber Kindern und Familien, so sagt u.a. der Familienforscher Franz-Xaver Kaufmann. Diese Rücksichtslosigkeit ist oft direkt, oft auch indirekt eine Form von "Gewalt", insofern sie Kindern Schaden zufügt oder Kinder (unnötig) belastet: * Jährlich kommen ca. 400 Kinder im Straßen verkehr um; ca. 50.000 werden verletzt. * 60-80 % aller Kinder werden mit Schlägen "erzogen". * Kinder leiden unter der Vergiftung und schädigende Umwelt. * Kinder werden massenhaft vors Fernsehen ab geschoben und dort alleingelassen. * In vielen öffentlichen Einrichtungen, Ge Schäften, Restaurants usw. sind Kinder nicht gerne gesehen. * Nach Schätzungen des Bundeskriminalamtes wird etwa jedes vierte Mädchen sexuell miß braucht; zwischen 10 und 20% der sexuell mißbrauchten Kinder sind Jungen. * 1990 sind 30% der Empfänger von Sozial hilfeleistungen Kinder, d.h. sie sind arm! * Mehr als 500.000 Kinder leisten verbotene Arbeit. * Jährlich sind über 100.000 Kinder von der Scheidung ihrer Eltern betroffen.... Diese Liste ließe sich beliebig verlängern und jeder von den Zuhörern könnte aufgrund seiner Erfahrungen dazu beitragen. Vergöttert? Dieser "Rücksichtslosigkeit", diesem geplanten oder ungehalten Übersehen des Kinder und ihrer besonderen Bedürfnisse steht - wie ich schon sagte - eine Art "Vergötterung" des Kindes gegenüber:

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Was für Kinder?

Vortrag von Hans- Jakob Weinz

zum 20-jährigenJubiläum derKatholischen Erziehungsberatungsstelle Neuss

In dem Titel, den ich für meinen Vortrag gewählthabe, klingen mehrere Stimmen mit: Einmal derseufzend-begeisterte Ausruf, den alle gelegentlichtun, die mit Kindern zu tun haben: Was für Kinder!Es schwingen aber auch zwei Fragen mit. Einmaldie Frage: Was sind das für Kinder, die heute unteruns leben; wie leben sie? Die zweite Frage lautet:Ist unsere Welt, unsere Gesellschaft, unsere Erde,so wie sie heute ist, (überhaupt) etwas für Kinder?Beiden Fragen möchte ich nachgehen.

Was für Kinder...?Sie machen krach, sie lachen und weinenhemmungslos, zeigen ihre Lust oder Unlust, wie eskommt; artikulieren ihre Bedürfnisse unverschämt;sind neugierig, störrisch, eigensinnig; sind malganz groß und stark und manchmal ganz klein undtrostbedürftig. Sie fordern und fordern und fragen,sind ungebremst zärtlich, weinen über einen totenVogel, sind brutal-egoistisch und total altruistisch;sie lassen uns nicht kalt, fordern uns heraus... dieEltern, die Gesellschaft, die Kirchen: WelchenRaum gebt ihr uns zum Leben?Die Antwort, die unsere Gesellschaft heute gibt,klingt ambivalent: Einerseits sei unsere Gesell-schaft heute kinderfeindüch, heißt es; andererseitssind Kinder wohl noch nie so vergöttert wordenwie heutzutage...

Kinderfeindlich?Unsere Gesellschaft ist nicht unbedingt - zumindestin ihrer öffentlichen Artikulation - ausdrücklichkinder-feindlich, aber sie ist in ihrer Struktur und inihrem faktischen Verhalten strukturell

rücksichtslos gegenüber Kindern und Familien, so sagt u.a. der Familienforscher Franz-Xaver Kaufmann.Diese Rücksichtslosigkeit ist oft direkt, oft auchindirekt eine Form von "Gewalt", insofern sieKindern Schaden zufügt oder Kinder (unnötig)belastet:* Jährlich kommen ca. 400 Kinder im Straßen

verkehr um; ca. 50.000 werden verletzt.* 60-80 % aller Kinder werden mit Schlägen

"erzogen".* Kinder leiden unter der Vergiftung und

schädigende Umwelt.* Kinder werden massenhaft vors Fernsehen ab

geschoben und dort alleingelassen.* In vielen öffentlichen Einrichtungen, Ge

Schäften, Restaurants usw. sind Kinder nichtgerne gesehen.

* Nach Schätzungen des Bundeskriminalamteswird etwa jedes vierte Mädchen sexuell mißbraucht; zwischen 10 und 20% der sexuellmißbrauchten Kinder sind Jungen.

* 1990 sind 30% der Empfänger von Sozialhilfeleistungen Kinder, d.h. sie sind arm!

* Mehr als 500.000 Kinder leisten verboteneArbeit.

* Jährlich sind über 100.000 Kinder von derScheidung ihrer Eltern betroffen....

Diese Liste ließe sich beliebig verlängern und jedervon den Zuhörern könnte aufgrund seinerErfahrungen dazu beitragen.

Vergöttert?Dieser "Rücksichtslosigkeit", diesem geplantenoder ungehalten Übersehen des Kinder und ihrerbesonderen Bedürfnisse steht - wie ich schon sagte- eine Art "Vergötterung" des Kindes gegenüber:

Kinder sind das Ein und Alles ihrer Eltern.Während in der vor-neuzeitlichen Gesellschaft Kinderals "Schicksal" hingenommen, angenommen,manchmal gewollt und akzeptiert wurden alsArbeitskraft, als Erbe und Fortführer familiärerTraditionen, als Ausweis von Lebenskraft oder alsAlterssicherung, werden heute Kinder geplant,gewollt, ersehnt als Glücksbringer, alsFreudenspender, als Sinn des Lebens. DerSozialwissenschaftler Ulrich Beck faßt die heutigeEinstellung zum Kind so zusammen: "Das Kindwird zur letzten verbliebenen, unaufkündbaren,unaustauschbaren Primärbeziehung. Partnerkommen und gehen. Das Kind bleibt. Auf esrichtet sich all das, was in die Partnerschafthineingesehnt, aber in ihr unauslebbar wird... Inihm wird eine anakronistische Sozialerfahrungkultiviert und zelebriert, die mit demIndividualisierungsprozeß gerade unwahrscheinlichwird. Die Verzärtelung der Kinder, die"Inszenierung der Kindheit, die man ihnenangedeihen läßt - den übergeliebten, armen Wesen-, und das böse Ringen um die Kinder in und nachder Scheidung sind einige Anzeichen dafür". Sowird das Kind zur "letzten Gegeneinsamkeit"(Ulrich Beck).In dieser Einstellung zum Kind ist etwas sehrSchönes und Menschenfreundliches: Kinder zusehen als wertvolle, liebevolle und lebenswerteSubjekte, die um ihrer selbst willen geschätzt undgeliebt sind. "Es ist wunderbar, daß du da bist!"Darin schwingt eine Ehrfurcht vor dem Leben mitund für mich als Theologen hat diese Ehrfurchtauch etwas vom Religiösen, vom Staunen an sich,und das Staunen ist bekanntlich der Anfang allerPhilosopie und eigentlich auch aller Religion.Zugleich aber steht ein Kind als "Lebens-Sinn" voreinem hohen Anspruch: Es soll seinen Eltern Sinn

spenden, ihr Ein und Alles sein, soll in einer Zeit,die von Gott vielfach Abschied genommen hat einbißchen "Lieber Gott" spielen, indem esgewissermaßen die Vergötterung durch die Elternauf sich nimmt, und die Zuschreibung durchentsprechendes Verhalten annimmt. Das sind hoheErwartungen und Ansprüche, vor den Eltern undKinder stehen!

Das hohe Lied der ElternschaftDer Idealisierung des Kindes, dem hohenAnspruch an das "Kinder-Glück" entspricht in derNeuzeit ein hoher Anspruch an Elternschaft alsSelbstanspruch und als Anspruch durch dieGesellschaft: Eltern sind ganz und garunbeschränkt für das Wohl ihres Kindesverantwortlich! Welchen Umfang dieser Anspruchhat, vermag ein kleiner historischer Überblick überden Zuwachs an Elternpflichten und Eltern-verantwortung zeigen. In der vorneuzeitlichenGesellschaft waren Kinder Schicksal, sie kamen,ob gewollt oder ungewollt; viele starben früh,einige überlebten. Sie lebten so mit im Haus, mitden Erwachsenen, lebten mit deren Lebens- undArbeitsräumen, mußten mitarbeiten, bekamen, wasman zum (Über-)Leben so brauchte, wurden oftals Kinder schon aus dem Haus "in Brot undLohn" gegeben...In der Neuzeit - vor allem infolge der Aufklärung -taucht nun verstärkt die Idee der Erziehung alsbesonderes, als planvolles und organisiertesGeschehen auf, und dies geschieht etwagleichzeitig mit der Entstehung der bürgerlichenGesellschaft. Zur Entstehung des "neuenFamilientyps", vor allem der bürgerlichen Familie,gehört die Trennung vom Arbeitsplatz undHaus/Haushalt. Durch diese Abgrenzung desFamiliensystems nach außen, wird nach innen hin

mehr Intimität möglich und erwartet, es entstehtdie "gefühls-selige" Familie, in der die Ehefrauimmer mehr zur Hausfrau, Familienfrau undMutter wird und zur Erzieherin der Kinder. Im .Kontext einer offeneren Gesellschaft, in derbessere soziale Positionen durch Ausbildung undLeistung möglich sind und im Kontext einesBildungs- und Fortschrittglaubens, der Kinder alsentwicklungsfähig und bildungsbedürftig sieht undzugleich die Chance von Bildung erkennt, wirdEltern auf vielen Ebenen Verantwortung für dasHeran-Wachsen des Kindes zugeschrieben. Im 18.Jahrhundert wird den Eltern die Aufgabe derBildung und der Erziehung zugewiesen nach demKantschen Auftrag: "Der Mensch kann nur werdendurch die Erziehung. Er ist nichts, als was dieErziehung aus ihm macht!" Dieser Erziehungs-auftrag hat sich bis heute so weit entwickelt, daßes mittlerweile Lernprogramme für ungeboreneBabys gibt.Im 19. Jahrhundert kommt das Thema"Gesundheit" hinzu. Die Bedeutung von richtigerErnährung und Hygiene für das Aufwachsen desKleinkindes (im Kampf gegen dieSäuglingssterblichkeit) wird erkannt. Gesundheitund Krankheit sind nicht mehr Schicksal, sondernliegen in den planvollen Händen der Eltern. DieseVerantwortung geht heute bis in dieSchwangerschaft hinein, z.B. im Verzicht derSchwangeren auf Alkohol, Rauchen, Streß...In diesem Jahrhundert nun werden Eltern auchverantwortlich gemacht für die seelischeEntwicklung ihrer Kinder. Im Rahmen derschwarzen Pädagogik .wird die Seelenlage einesMenschen, werden seine Neurosen und Problememonokausal zurückgeführt auf die "Fehler" derEltern, auf zu wenig oder zu viel Liebe, auf falscheErziehung, auf Mißachtung der Bedürfnisse des

Kindes usw. Die Eltern, wenn sie es nicht richtigmachen, werden zu Produzenten lebenslangerTraumata ihrer Kinder.Und schließlich wird mit der Zunahme desUmweltbewußseins auch die "Chemie imKinderzimmer" entdeckt, Eltern fühlen sichverantwortlich oder werden in die Verantwortunggenommen, ihre Kinder vor umweltbedingtenBeeinträchtigungen und Vergiftungen zu schützenund die Welt der Kinder "sauber" zu halten. Sowird Elternschaft zu einer höchst ansprüchlichenund umfänglichen Aufgabe, und mit dem hohenDruck und den hohen Erwartungen entstehenUnsicherheit und Angst, und großeHilfsbedürftigkeit, die ein reiches Betätigungsfeldbietet für ein weites Spektrum von sogenanntenExperten."Das Kind darf immer weniger hingenommenwerden, so wie es ist, mit seinen körperlichen undgeistigen Eigenheiten, vielleicht auch Mängeln. Eswird vielmehr zum Zeitpunkt vielfältigerBemühungen. Möglichst alle Mängel sollenkorrigiert werden. "Nur kein Schielen, Stottern,Bettnässen mehr), möglichst alle Anlagen sollengestärkt werden (Konjunktur für Klavierstunde,Sprachferien, Tennis im Sommer und Ski-Kurs imWinter). In Büchern, Zeitschriften, Erziehungs-Ratgebern, überall lautet der Auftrag ähnlich:Eltern sollen alles tun, um dem Kind "optimaleStartchancen" zu geben.Zusammenfassend ergibt sich daraus das Fazit, wiees eine aktuelle Studie zur Familienentwicklungformuliert: Die Norm "verantwortete Elternschaft"setzt sich immer weiter durch, ja "die ethische undsoziale Verantwortung der Eltern... (hat) einhistorisch ungeahntes Ausmaß angenommen".(Elisabeth Beck-Gernsheim) Bei dieser Erwartungan Elternschaft, und bei diesem leistenden hohen

materiellen (pro Kind ca. 400.000 DM) undideellen Aufwand, ist es eigentlich nicht ver-wunderlich, wenn immer mehr Paare ihreRessourcen gewissermaßen auf wenige Kinderkonzentrieren, oder aus Respekt vor dieserAufgabe ganz auf Kinder verzichten. Erschwerendkommt dabei hinzu, die die Gesellschaft dasKinder-Haben zunehmend zur Privatsache erklärt,und somit Eltern und Kinder mit diesen hohengegenseitigen Ansprüchen und Selbstansprüchenalleine läßt.

Kindheit wird privatisiert!Die Privatisierung der Kindheit hat sichgewissermaßen in zwei Schritten vollzogen,zunächst in der Entdeckung der Kindheit.Wie schon angedeutet lebten die Kinder in dervorneuzeitlichen Gesellschaft einfach in der Weltder Erwachsenen mit; die Kindheit als eigenergeschützter Raum - abgetrennt von der rauhenWelt der Großen -, als Schonraum in dem Kinderfür sich sein, spielen und lernen können, mitKinderzimmer und eigener Kinderkultur ist einespäte "Erfindung", die Kindheit als eigene Kinder-Welt wird eine Art sozialer Uterus, in dem die"Kleinen" geschützt heranwachsen und aus demheraus die Kinder nach und nach in die komplexe,komplizierte und rauhe Welt der Erwachsenenhineinwachsen können. Dieser geschützteKinderraum hatte aber durchaus seinen Platz in der Welt draußen, auf den Straßen, in den Höfen, auf den Plätzen, an Flüssen und in Wäldern... Kindheit und Haushalt sind nicht koextensiv. Sobald aber die außerhäusliche Welt draußen als ursprünglicher Lebensort der Kinderwelt für Kinder mehr und mehr bedrohlich wird, und umgekehrt Kinder dort draußen den reibungslosen Ablauf von Arbeit und

Verkehr usw. stören, die Plätze, Gärten undWälder für Bauten, Straßen und Parkplätzebeansprucht werden, desto mehr wird dieKinderwelt verhäuslicht und verinselt. So schreibtder (neue) fünfte Familienbericht: "Im Zusammen-hang mit den strukturellen Veränderungen vonKindheit und Jugend wird häufig auf die gestiegeneVerhäuslichung des Kinderspiels hingewiesen, wo-bei sich diese Beziehung nicht nur auf dieAktivitäten im häuslichen Bereich und auf dieVerlagerung der Spieltätigkeit von der Straße, demHof und Garten in die privaten Kinderzimmerbezieht, sondern auch in die öffentlicheninstitutionellen Räume, z.B. in die Sporthallen,Schwimmbäder, die kommerziellen Sport-, Musik-,Bastei- oder Balletträume".Kinderleben findet also häuslich statt oder in derfür Kinder speziell eingerichteten Institutionen.Kinder bewohnen immer weniger ihre Außenwelt,sondern werden von ihren Müttern von Kinderinselzu Kinderinsel durch die kinderfreie Weltchauffiert. So spricht eine Kinderforscherin vonder "Verinselung der Kindheit": "Durch diezunehmende Pädagogisierung und die damit ver-bundene Institutionalisierung von Kindheit werdenferner die Mütter... immer stärker zu "Transpor-teurinnen" ihrer Kinder, die sie von einer "Insel"zur anderen bringen...".Auch können sich immer weniger Kinder spontandraußen treffen - ungeplant -, sie müssen ihre"dates" planen und verabreden und auch hier treten oft Mütter oder Väter als Transporteure auf.So wird die Welt der Kinder und ihrer Eltern, dieKinderwelt, die Familienwelt immer enger, manrückt auch drinnen immer näher, man ist mitseinem Glück und seinen Nöten allein(gelassen)...Keine Störung, aber auch keine Entlastung kommtvon außen. Wer kann soviel Intimität, oder

Erwartung an Intimität an Wärme, Nähe undGeborgenheit verkraften, ohne daß es zum"Platzen" kommt; und wohin mit all denunvermeidlichen Frustrationen, Begrenztheiten undStörungen der Familienharmonie?Die Privatisierung und Verhäuslichung des Kinder-lebens schafft für Kinder und Eltern einen eigenenabgegrenzten Lebensraum, zugleich aber bietet die Privatisierung der Kindheit ("Das soll ganz und gar eure Sache sein, in eurer Freiheit liegen!") einAlibi, die Kinder (und ihre Familien) aus demRaum der Öffentlichkeit auszugrenzen und ihreAusgrenzungen zu legitimieren.

Eigene Welt?Zugleich aber ist die Freiheit der Kinder- undFamilienwelt, die gesellschaftlich zugestandene, jazugewiesene Autonomie der kleinen LebensweltFamilie im letzten eine Scheinautonomie, weil dieWelt draußen massiv in die private und kleineLebenswelt einbricht und das Leben und Fühlenvon Eltern und Kindern berührt:* Die Arbeitswelt bestimmt den Rhythmus des

Familienlebens. Viele Konflikte in derfamiliären Abstimmung zwischen Eltern undKindern, zwischen Mann und Frau entstehen,weil die Welt draußen in ihrer SelbstOrganisation keine Rücksicht nimmt auffamiliäre Belange und weil sie selbst zu wenigHilfen anbietet, die von ihr selbst verursachtenKonflikte zu lösen (z.B. über flexiblereArbeitszeiten, Teilzeitarbeit, Kinderbetreuungs-möglichkeiten, Öffnungszeiten für Kinder-garten, Schule usw.).

* Die Schule bestimmt das Leben von Familien,indem sie zum Beispiel von Eltern oft Hilfslehrerfunktionen erwartet und die Familie zur"Nachschule" macht.

* Die Medien bringen die Welt in all ihrenBedrohlichkeiten ins Wohnzimmer... Kindersind der Welt, der Bilder oft hilflos ausgesetzt. Der geschützte kleine Lebensraum istkein Schonraum und Schutzraum mehr, dieaufbrechenden Ängste und Sorgen und diehineindrängenden Bedrohlichkeiten könnennicht mehr gefiltert, aufgefangen oder verarbeitet werden, die Kinder sind oft alleingelassen mit der eingedrungenen Bedrohung.Der Raum in dieser Gesellschaft für Kinderund Familien wird eng und die Frage ist, wasmuß geschehen, was können wir tun, daßKinder in dieser Gesellschaft, in dieser Weltwieder Raum bekommen, Schutzraum undLebensraum und Handlungsspielraum, denKinder und ihre Familie zum Leben brauchen?

Raum gebenIch möchte im folgenden nur einen Aspektaufgreifen, nämlich die Frage nach dem Zukunfts-Raum und nach der Zukunftsfähigkeit unsererKinder.1. Ein Grundprinzip!!

Wir dürfen von Kindern, von unseren Kindernlernen, müssen lernen wahrzunehmen, was sie uns durch ihr Dasein sagen, also was sie uns dadurch sagen, daß sie unter uns da sind, und wir müssen aufnehmen, was sie uns konkret zu sagen haben.

2. Kinder zeigen, daß das Leben weitergeht, daßnach uns das Leben weitergeht. Kinderverweisen auf die Zunkunft und holen uns ausunserer Fixierung auf das Hier und Jetzt. Siefragen: "Bist Du bereit, uns eine Zukunft zugeben oder willst Du Dich mit Dir begnügenund alle Ressourcen der Erde für Dich

aufbrauchen?" Kinder fordern eine Zukunft fürsich.

3. Wir Erwachsenen haben viel gesehen, sindabgeklärt und aufgeklärt und abgebrüht, undschauen auf die Dinge mit milder Resignation.Wir haben oft das Bedürfnis uns aus denUnwägbarkeiten der Zukunft und aus der"Kälte" der Welt zurückzuziehen in dieBehaglichkeit der kleinen Lebenswelt. Kinderaber wollen nach draußen, sie wollen in dieWelt, wollen sich draußen erproben undauseinandersetzen, und wollen nicht ein Lebenlang im sozialen Uterus der Familie hockenbleiben.Unsere Kinder weisen uns so hin auf die Welt,die in vielem so bedrohlich und ängstigend ist,aber auch faszinierend und erregend. Kindererwarten von uns Begleitung in diese Welt,Auseinandersetzung mit dem, was draußenpassiert, und sie erwarten von unsUnterstützung bei ihrer Auseinandersetzungmit dem, was draußen droht und lockt.

4. Kinder machen sich Sorgen und sie machenuns Dampf:"Ich habe Angst.Ich habe Angst davor, wie unsere Zukunftaussieht.Ich habe Angst vor dem Unbekannten, Angstvor Armut und Leid, Angst vor Krieg undAtomwaffen.Ich habe Angst vor verkommenen Häusern,den vielen Autos und dem Müll, Angst vorjeder Verschmutzung.Ich weiß nicht, wie die Welt in 100 Jahrenaussehen wird, wenn es die Welt dann nochgibt.Ich glaube, daß alle Kinder solche Angst wieich haben.

Ich habe Angst." (Karin Norlander)Kinder machen sich Sorgen um die Zukunft; siesind besorgt über die Umweltvergiftung, dasOzonloch, haben Angst vor Kriegen und Gewalt.Kinder sind empfindsamer als wir Erwachsene, siesind durchlässiger und weniger verdrängungsfähig(so Horst Eberhard Richter); sie fühlen sich undihre Umwelt real bedroht und sie haben wirklicheSorgen. Und darum äußern sich auch Kinderwütend und verärgert über die (scheinbare)Apathie ihrer Eltern: "Die kommen abends müdevon der Arbeit nach Hause. Denken gar nichtdaran, Wasser und Energie zu sparen. Ich muß der Mutter beibringen, daß sie ein unschädlichesWaschmittel verwendet... Meinen Eltern ist esegal, was sie essen oder ob darin irgendwelcheSchadstoffe oder Chemikalien sind.""Uns wird gesagt: Was wißt ihr schon davon?Verstand kommt mit dem Alter. Wir müssen denErwachsenen auf den Wecker fallen, bis siebegreifen, daß wir keine schmutzige, kranke Weltwollen.""Es ist unsere Zukunft, die heute entschieden wird.Die Erwachsenen sollen uns deshalb anhören.Vielleicht verstehen wir mehr davon, als ihrglaubt!"Kinder fordern uns heraus, ihre Ängsteernstzunehmen und zwingen uns so auch unsereÄngste und Sorgen, die wir unter allemVerdrängen und Abwiegeln versteckt halten, ernst-und wahrzunehmen.Der Psychoanalytiker Horst Petri hat gezeigt, wasdas Überhören der realen Kinderängste und dasAbwiegeln oder Verschweigen auslöst. WennKinder nicht ankommen mit ihren Ängsten undSorgen, wenn Eltern so tun als ob sie nichts sähen, was doch für die Kinder offensichtlich auf der Hand liegt, werden die Ohnmachtsgefühle der

Kinder noch verstärkt, und diese Ohnmacht, nichtgehört zu werden und deshalb auch nichts tun zukönnen, kann umschlagen in Apathie oder wütendeAggression. Petri schreibt in seinem Buch"Umweltzerstörung und seelische Entwicklungunserer Kinder": "Wenn das Ich in seinerVermittlungsaufgabe zwischen Innen- undAußenwelt durch Hilflosigkeit und Ohnmachtgeschwächt wird, gerät es in die Gefahr, von derWillkür seiner Trieb- und Gefühlswelt überwältigtzu werden. Zu allererst sind es aggressive Trieb-kräfte, die im Zustand der Hilflosigkeit undOhnmacht freigesetzt werden und die sich um soungehemmter nach außen entladen können, jemehr das Ich die Kontrolle über sie verloren hat.Die Aggression ist mit Gefühlen von Zorn, Wut,Rache und Haß gekoppelt. Sie bilden gemeinsameine explosive Mischung, die sich als blinde Gewaltgegen Personen und Sachen richten kann... In derÖffentlichkeit wird heute viel über die eska-lierenden Gewaltphänomene in der jungen Generation diskutiert. Die zunehmenden Ausschreitungenjugendlicher Gruppen gegen gleichaltrige oderjüngere Kinder, gegen Ausländer, speziellAsylanten, gegen Homosexuelle, Obdachlose oderin anderer Weise hilflose und unbeteiligteErwachsene sind ebenso entsetzliche wie extremeBeispiele einer Logik, die den Gesetzen eigenerOhnmachtserfahrungen gehorcht." (124)Dabei ist es erstaunlich, - das hat z. B. der Natur-Kindergipfel 1991 als großangelegte Kinder-bewegung bewiesen - wie sehr und wiedifferenziert sich Kinder engagieren, wenn sie vonErwachsenen ernstgenommen und unterstütztwerden, wenn sie sich artikulieren können, wennErwachsene antworten, mit ihnen nachdenken, ihreeigenen Ängste artikulieren, ihre eigenenOhnmachtserfahrungen wahrnehmen und nach

kleinen und kleinsten Veränderungs- undHandlungsmöglichkeiten suchen. Kinder könnenutopisches Denken und praktisches Handelnmiteinander verbinden und uns Erwachsene dazubringen, aus unserer aufgeklärt milden Resignationherauszutreten, mit unseren Kindern über unsereeigenen Ängste bezüglich ihrer Zukunft und derZukunft unseres Planeten zu sprechen und mitihnen zusammen etwas zu verändern, ohne dieKinder dabei zu überfordern. Die Kinder könnensehr viel! So sagt in einem Interview dieAmerikanische Sozialwissenschaftlerin SaraneBoocock "Wir haben uns ja viel zu lange nur mitder Sozialisation von Kindern aufgehalten, d.h. mitder Unterstellung, daß Kinder als weißes Blatt zurWelt kommen und wir sie zu Erwachsenensozialisieren müssen. Inzwischen wissen wir längst,daß auch kleine Kinder schon die Erwachsenenbeeinflussen, sozialisieren. Wenn Kinder sich aufandere in Gruppen beziehen, schaffen sie eineeigene Kultur, über die wir noch nicht vielwissen... In dieser Woche haben meineStudentinnen Kinder interviewt, manche warenerst 4 Jahre alt, aber es war erstaunlich, was siealles über den Krieg wußten. So kannten sieFronten, und welche Gedanken sie sich überirakische Kinder machten, welche Vorschläge sieformulierten für Präsident Bush und SadamHussein, um den Krieg zu beenden. Kinder machensich viel mehr Gedanken, als wir wissen."Kinder wollen und suchen einen Platz in dieserWelt und sie wollen eine Zukunft für sich und ihreKinder!Weil sie wissen, daß sie nicht im sozialen Uterusder Familie bleiben können, sind sie daraninteressiert, daß die Welt draußen bewohnbarbleibt, daß ihnen ein Raum zu Leben bleibt.

Darum müssen wir Familien und alle, die mit Familien und Kindern leben und arbeiten politisch werden, um einen Raum für unsere Kinder einzufordern. Politisch werden nicht nur, um die eigene Situation zu verbessern, sondern um neu Solidarität zu lernen, die wir und unseren Kindern leben müssen, damit wir und die Menschen auf dieser Erde und unsere Kindeskinder gemeinsam überleben können, denn es gibt nur einegemeinsame Zukunft oder keine.Politisch werden meint auch:Es reicht nicht, wenn Beratung Menschen hilft mitKrisen umzugehen, wenn nichts am Umfeld getanwird, das die Krisen erzeugt; es reicht nicht, wennBildung Menschen aufklärt und Lebenswissen ver-mittelt, aber nicht hilft, die Lebensumstände zuverändern; es reicht nicht, wenn Kirche ihr Idealvon Familie als "Schule der Humanität" verkündet,ohne etwas gegen die Kontexte zu unternehmen,welche die Realisierung des Ideals behindern,welche die Familie am Leben hindern!Politisch werden, heißt sich zu vernetzen:Familien, Beratung, Bildung, Kirche..., um gemeinsam etwas zu verändern, weil sich nur gemeinsam etwas ändern läßt.Vielleicht ist es gerade das, was die Beratungsstelle Neuss im Blick auf seine 20jährige Arbeit feiern kann, nämlich, es geschafft zu haben, viele Kräfte und Institutionen in Neuss zu vernetzen und so über die konkrete Beratungsarbeit hinaus etwas dafür zu tun, daß Familien und Kinder in der Öffentlichkeit gesehen werden, ihren Raum bekommen.

Als Glückwunsch und Gruß möchte ich Ihnen zumSchluß ein Gedicht von Rudolf Otto Wiemervorstellen:

Das Kind sagt:Ich will groß sein,ich will mir ein Haus bauenaus Luftund einen Garten machenaus Löwenzahn,Lieder sollen darin wachsen,die ich jeden Tag essen,und ich will reich seinwie ein Kuckuck,dem der ganze Wald gehört,und ich will viele Kinder haben,die schicke ich in die Schule,damit sie den Krieg verlernenund wissen, wie manein Gewehr aus Lachen machtund eine Kugel aus Windund einen Vater, der nie fortgeht.

September 1994 Hans-Jakob Weinz