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Hugo von Hof manns thal, Rudolf Kass ner€¦ · viereinhalb Jahrzehnte hin auslösen wird und die zu einem verlegeri-schen Erfolg führen, der sich bis 1944 in dreißig Auflagen

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  • Hugo von Hof manns thal, Rudolf Kass nerund Rainer Maria Rilke

    im Briefwechsel mit Elsa und Hugo Bruckmann1893–1941

  • Hugo von Hof manns thal,Rudolf Kass ner

    und Rainer Maria Rilkeim Briefwechsel mit

    Elsa und Hugo Bruckmann1893–1941

    Herausgegeben und kommentiert vonKlaus E. Bohnenkamp

  • Einleitung

    Zwischen Hof manns thal und Hitler.1

    Elsa Bruckmann-Cantacuzène 1865-1946

    Elsa Bruckmann-Cantacuzène zählt zu den faszinierendsten und zu-gleich schillerndsten Gestalten der Münchner Gesellschaft in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.2 Vielseitig begabt und durch ihre fürstliche Geburt von Kindheit an mit dem deutschen und österreichi-schen Adel verbunden, erschließt sie sich, anders als die meisten ihrer jungen Standesgenossinnen, beharrlich, selbstbewußt und unabhängig den Zugang zur Welt der Literatur, der Musik und Bildenden Kunst, aber auch – und darin ganz ›modern‹ – zum eigenen Brotberuf. Mit ihrem offenen, temperamentvollen Wesen, ihren weitgesteckten Inter-essen, ihrem Esprit und Gespür für das Neue und Ungewohnte vermag sie Maler, Dichter und Musiker, Wissenschaftler und Gelehrte, Diplo-maten und Theaterleute für sich zu gewinnen und bezaubert, obwohl wirtschaftlich keine ›gute Partie‹, Männer wie den Polyhistor Friedrich Eckstein3 oder den Kunsthistoriker Richard Muther,4 die um sie werben. Auch der Maler Wilhelm von Trübner macht ihr 1894 einen von der Familie gebilligten Heiratsantrag, den sie jedoch, wie alle anderen, we-gen ihrer Liebe zu Hugo Bruckmann (1863-1941) abweist. Der zwanzig-jährige Hof manns thal – er hatte sie im Winter 1893 /94 in Wien kennen-gelernt5 – schildert sie als zwar »hässlich«, »aber sehr nett, natürlich, und läuft, wenigstens äußerlich betrachtet, genau denselben Menschen, Büchern und Ateliers nach wie wir, kennt alle Leute, auch solche die merkwürdig und dabei nicht en vogue sind und versteht oder erräth, was man sucht und was einem überflüssig ist.« 6 Und lapidar fügt er hinzu: »Ein netter, lebendiger Mensch ist der Kunstverleger Hugo Bruck-mann.«7 Ihn wird sie nach mancherlei Wirren im November 1898 heira-ten; und fortan führt sie, als Ehefrau und Hausherrin, zunächst im Neubau des Bruckmann-Verlags an der Nymphenburgerstraße 86,8 dann ab 1909 im später so benannten Prinz-Georg-Palais am Karolinen-platz 59 und seit 1930 in der Leopoldstraße 10 einen Salon,10 der sich zum »einzigartigen geistigen Mittelpunkt« der bayerischen Hauptstadt entwickelt.11 Als Muster mag sie den Salon ihrer Schwägerin Eugenie Schäuffelen, einziger Schwester Hugo Bruckmanns und Ehefrau des Papierfabrikanten Dr. Alfred Schäuffelen,12 vor Augen gehabt haben.

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    Die Opernsängerin Hanna Borchers, spätere Gattin Alphons Bruck-manns, charakterisiert Eugenie als »eine Dame der ›großen Welt‹, hoch-gebildet«; und indem sie ergänzt: »sie stand gesellschaftlich in München mit an erster Stelle – die berühmtesten Leute von internationalem Ruf verkehrten in ihrem Salon: Künstler jeder Disziplin, Sängerinnen, Sän-ger, Dirigenten, Maler, Zeichner, Gelehrte, Wissenschaftler, Diploma-ten«,13 mutet dieser Bericht an wie ein vorweggenommenes Spiegelbild Elsa Bruckmanns und ihres Salons. Der wird am 26. Januar 1899 eröff-net – dem Vortag des vierzigsten Geburtstags Kaiser Wilhelms II. –, als die Bruckmanns zum erstenmal im neuen Heim in der Nymphenburger-straße Verwandte und Freunde14 zu einem Leseabend mit Houston Stewart Chamberlain empfangen. Der aus Wien angereiste Autor, den Bruckmann dort im Juli 1894 kennengelernt hatte,15 liest aus seinen eben im Manuskript abgeschlossenen »Grundlagen des XIX. Jahrhun-derts«,16 jenem nicht nur in Deutschland epochemachenden Schlüssel-werk in zwei voluminösen Bänden, das Bruckmann angeregt hatte17 und dessen Entstehung er fördernd begleitet, bis es 1899 in seinem Verlag erscheint.18 Die Gastgeberin notiert zufrieden im Tagebuch »Allgem. Interesse u. Beifall«, und wenn sie überdies lebhafte Diskussionen zwischen Chamberlain und Adolf von Hildebrand meldet,19 so sind da-mit Reaktionen vorgezeichnet, welche dieses Buch über die nächsten viereinhalb Jahrzehnte hin auslösen wird und die zu einem verlegeri-schen Erfolg führen, der sich bis 1944 in dreißig Auflagen20 und diversen Übersetzungen ins Englische, Französische, Tschechische, Russische und andere Sprachen niederschlägt.

    Nach dieser ›Premiere‹ betreten bald weitere illustre Gäste den Salon – freilich nicht, wie immer wieder behauptet, der seit 1889 unter der Ob-hut seiner Schwester in Weimar dahindämmernde Nietzsche, welcher sein Krankenlager bis zum Tod am 25. August 1900 nicht mehr ver-läßt.21 Wohl aber Hugo von Hof manns thal, Rudolf Kass ner und viele andere Gestalten aus Kunst, Geist und Kultur, deren sich der Literatur-wissenschaftler Friedrich von der Leyen22 noch aus der Rückschau des Jahres 1959 lebhaft erinnert: »In dem Hause« habe sich »eine Auslese der Gesellschaft« getroffen, »wie sie wohl nicht wiederkehrt. Da saß dann der Graf Keyserling vor dem Kamin, ein Glas Sekt in der Hand und erzählte von allen seinen Begegnungen mit den bedeutenden Philosophen seiner Zeit, den englischen, den französischen, den deutschen. Da kehrte Walther Rathenau von Berlin ein, der Komponist Max von Schillings ließ sich sehen, Max Reinhardt machte während seiner Münchener Gastspiele seine Aufwartung. Der Direktor der Pinakothek, Hugo von Tschudi, suchte hier Fühlung mit München. Eberhard von Bodenhausen, damals Vorsitzender des Aufsichtsrates von Krupp, zugleich Kunsthisto-riker und Kunstkenner von hohen Graden, war mit Hugo und Elsa Bruckmann befreundet, Heinrich Wölfflin gehörte zu den Intimen des Hauses und zu den Heiligen des Verlags. Stefan George und Rainer Ma-

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    ria Rilke erschienen, aber nicht gleichzeitig.23 Karl Wolfskehl versprühte auch hier seinen Geist, und die Kunst des jungen Emil Preetorius wurde anerkannt. Dazwischen bewegten sich Angehörige des österreichischen Adels und Hochadels und der bayerischen Hofgesellschaft – welch ein Leben!«24 Zu den Gästen zählen überdies Eduard von Keyserling, Harry Graf Kessler, Friedrich Gundolf, Ludwig Klages, Alfred Schuler,25 Ge-org Simmel, Isolde Kurz, Rudolf Alexander Schröder, der Architekt Richard Riemerschmid, Adolphe Appia,26 Bernard Berenson,27 Charles Du Bos, aber auch schon künftige Gesinnungsfreunde des National-sozialismus wie Hjalmar Schacht28 oder Paul Schultze-Naumburg.29 Sie und andere30 erscheinen regelmäßig oder gelegentlich am Donnerstag-abend, dann – nach dem Umzug an den Karolinenplatz – am Freitag zum »Jour fixe« oder sprechen auf der Durchreise vor. Ihr Urteil ist einhellig: Auf die Atmosphäre in der Nymphenburgerstraße der Jahre 1903 und 190431 spielt Oscar A. H. Schmitz an: »In dem Hause Bruckmann besaß die Gastgeberin […] die bei uns so überaus seltene Gabe, nicht nur Leute einzuladen und zu füttern, sondern aus ihnen Gesellschaft zu bilden. Indem sie in der Aristokratie und der offiziellen Welt die Menschen mit Geist und in der geistigen Welt die mit hinreichender Erziehung heraus-fand und in Berührung brachte, entstand ein Salon, der so fern war von offiziellem Kastenwesen wie von formloser Bohème. Der Verlegerberuf des Gatten wie die Herkunft der Hausherrin boten die günstigsten Vor-aussetzungen. Dazu kam, daß sie selbst vom ernstesten geistigen Streben erfüllt war.«32 Der »herrliche〈n〉 Wohnung am Karolinenplatz«33 hin-gegen gedenkt der Historiker Karl Alexander von Müller34 und verklärt sie als »eine Art fürstliche Kaufmannsresidenz« mit »weite〈n〉 kunst-erfüllte〈n〉 Räume〈n〉«, »deren Luft noch widerklang von Hof manns-thal, Rilke und George. Durch die langen Fensterreihen leuchtet hinter einem wunderbaren antiken Torso35 der Obelisk36 herein vor einem goldfarbenen Abendhimmel und stillen Baumwipfeln.« Verschiedene Szenen und Gespräche zu einem idealen Genrebild zusammenfassend, fährt er fort: »Der lange, schweigsame Heinrich Wölfflin steht großartig und etwas steif hinter dem Stuhl des Hausherrn […]. Gegenüber in einem niederen braunen Lehnsessel liegt lang und lässig, halb Deutscher halb Engländer, auch im Aussehen und Gehaben, der Verfasser der ›Grund-lagen des 19. Jahrhunderts‹ Houston Stewart Chamberlain. […] Und Ludwig Klages lehnt daneben am Flügel, sehr jung noch, eine blonde Locke über der schönen Stirn, prophetenhaft über die feine Handschrift Rudolf Kaßners gebeugt.«37 Friedrich von der Leyen rühmt als »Seele« des Salons ebenfalls die Hausherrin, welche »bekannte Größen und schöne Frauen um sich haben wollte und begabte Jugend dazu«. »Der bayerische und österreichische Adel und Hochadel war vertreten […]. Der Saal, in dem die Gäste empfangen wurden, lud allerdings zu guten und anregenden Gesprächen ein, auf schöne, bequeme Ledersessel durfte man sich niederlassen oder man saß sich an kleinen Tischen gegenüber,

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    oder ein kleiner Kreis umgab die Hausfrau. An den Wänden reihten sich Bücherschränke, die ausgewählte Bücher zeigten, darüber hingen schöne Bilder oder schöne Reproduktionen, auf einem kleinen Postament thronte ein antiker Torso, auch auf Tischen lagen besonders schöne Bü-cher. Man durfte sich die Gäste aussuchen, mit denen man gerne spre-chen wollte«, und »von den Gästen mußte jeder etwas von seinem Geist und von seinen Gedanken mitbringen«.38 Ähnliche Eindrücke gewinnt die Pianistin Magda von Hattingberg, als sie hier 191439 mit Rilke zu Gast ist: »Hugo Bruckmann, der bedeutende Verleger, vereinigte in sei-nem Wesen den Weltmann und Gelehrten. Bei ihm und seiner für Kunst und Musik empfänglichen, verständnisvollen Frau […] versammelte sich die geistige Elite Münchens. […] Man sah auch häufig Gäste von aus-wärts«; denn »die herrlichen Räume des Bruckmannschen Hauses am Carolinenplatz waren geschaffen für große Geselligkeit; in der geräumi-gen Bibliothek fanden sich Gruppen zusammen, die über Literatur und Tagesfragen diskutierten, im großen Salon wurde musiziert. Man be-wegte sich frei und ungezwungen in einer vornehmen Atmosphäre geisti-ger Interessen, durch welche sich Künstler und Kunstbegeisterte zuein-ander hingezogen fühlten.«40 Auf die ausgehenden zwanziger Jahre blickt Baldur von Schirach, wenn er schreibt: »Der Salon in einem der schönsten Häuser Münchens – Karolinenplatz Nr. 5, am Obelisk – faßte solche Gesellschaften« von »achtzig oder hundertzwanzig« Gästen, »ohne daß ein Stuhl oder Sessel gerückt werden mußte. Mit seinen edlen Möbeln, Bildern und Gobelins, seinen antiken Statuen und kostbaren Vasen gab er einen einzigartigen Rahmen ab für angeregte Unterhaltun-gen. Außer einer Tasse Tee und einem Imbiß wurde nichts serviert. Wichtig waren hier nur die Gespräche. Frau Elsa Bruckmann interes-sierte sich für Menschen ebenso wie für Kunst, Philosophie, Geschichte und Politik. Es war ihre Leidenschaft, Menschen zusammenzubringen, von denen sie glaubte, daß sie einander etwas zu sagen hätten.«41

    Elsa Bruckmann wird solche Schilderungen am Beginn jener Auf-zeichnungen wiederholen, in denen sie sich am 14. Januar 1933, zwei Wochen vor der ›Machtergreifung‹ vom 30. Januar, Hitlers ersten Be-such am Karolinenplatz – inzwischen wohnte man seit zweieinhalb Jah-ren in der Leopoldstraße42 – in Erinnerung ruft: »Am 23. Dezember 1924, zwei Tage nach seiner Entlassung aus der Festung Landsberg war es, dass der Führer uns zum ersten Male aufsuchte. Wir bewohnten da-mals die schönen Räume im Hause Karolinenplatz 5, die durch Grösse und Ebenmass ausgezeichnet waren. Schöne alte Bilder und Möbel, Skulpturen und Vasen und überall Bücher verbreiteten in ihrer Harmo-nie jene leicht beschwingte Atmosphäre geistiger Geselligkeit, die wir aus besseren Zeitläuften hatten herüberretten können.« Mit Blick auf Hitler setzt sie hinzu: »Er war sofort davon eingefangen, und sein erstes Wort, – noch unter der Türe stehend, die von der dämmerigen Halle in den grossen, sonnendurchleuchteten Wohnraum führte, – war – ›wie

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    schön ist’s hier!‹ – Und es lag in dem Wort und der unmittelbaren Art wie er es noch vor jeder Begrüssung sprach, das leidenschaftliche künst-lerische Empfinden von Einem, den in der monatelangen kalten Oede der Festung der seelische Hunger nach Schönheit doppelt empfänglich gemacht hatte.« 43

    Wer also war diese Frau? War sie »hässlich«44 oder »schön«,45 »klein und graziös, mit einem unbeschreiblichen Temperament, der man keine Bitte abschlagen konnte«?46 War sie »von zarter Gestalt mit einem etwas herben47 Gesichtsausdruck, sehr intelligent und energisch«,48 oder wirkte sie, folgt man späteren Photographien, »eher maskulin«,49 mit einer »unvergessliche〈n〉 Stimme, tief und rau [..] mit einem klagenden Ton« wie die der Schauspielerin Adele Sandrock«?50 Schon im Sommer 1913 hatte Hanna Wolfskehl sie und den Gatten in liebevoller Genauigkeit beim holländischen Dichter Albert Verwey eingeführt: »Also Herr Direk-tor Bruckmann ist einer der ersten Verleger Deutschlands […] aus einer ächten alten Münchner Patrizier-Familie!51 seine Frau ist aber die Seele des Unternehmens! sie ist eine geborene Prinzessin Cantaguzeno […] hat den größten officiellen Salon für Kunst! sie war die Egeria von Hof-manns thal,52 sie ist eine Freundin von Klages! Karl und ich lieben sie sehr weil sie so eine richtige Frau und Dame ist und lieb dabei – sogar Stefan George53 hat sie gern. Gundolf verehrt sie sehr u.s.w. und ihr Neffe der junge Hel ling rath ist der, der den Hölderlin neu herausgiebt. […] Also wenn Sie wollen dann lassen Sie sie bitten! Ja so – den Mann auch! der versteht seine Sache wohl sehr aber alle Menschen reden nur von ihr.«54

    Diese Frau, die bis zum Beginn der zwanziger Jahre des letzten Jahr-hunderts Vertreter der geistigen und kulturellen Elite an sich zu ziehen wußte; die in Franziska zu Reventlows Schwabinger Schlüsselroman »Herrn Dames Aufzeichnungen« als »kappadokische Dame« in karikie-render Zuspitzung zur literarischen Gestalt wird;55 die dann, ab 1924,56 nach ihrer enthusiastischen Hinwendung zu Adolf Hitler57 und dem Nationalsozialismus, ihren Salon den aufkommenden Machthabern öff-nete,58 um diese mit einflußreichen Kreisen der national-konservativen Gesellschaft zusammenzubringen;59 die ideell und materiell für die ›Be-wegung‹ eintrat und sich als – auch von der Partei so bezeichnete – »müt-terliche Freundin« und »Kampf-Gefährtin« des Führers verstand, den sie »geradezu« zu ihrem »Hauskinde« gemacht hatte60 und den sie, eifer-süchtig gegenüber vermeintlichen oder tatsächlichen Rivalinnen,61 um-sorgte, mit Möbeln, Geschenken62 und Geldzuwendungen63 überhäufte, bis sie – in ihrer zu spät erkannten »Verblendung« eine letztlich tragische Gestalt – allmählich entfremdet, ernüchtert und entsetzt, im Frühjahr 1945 den Zusammenbruch ihrer inneren wie äußeren Welt erleben mußte?

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    Elsa64 Fürstin – oder Prinzessin – Cantacuzène wurde am 23. Februar 1865 in Gmunden-Traundorf am Traunsee im Salzkammergut als älteste Tochter des Theodor Fürst Cantacuzène (1841-1895) und der Caroline Gräfin Deym v. Střitež (1842-1921) geboren. Beide hatten am 9. Januar 1864 in Prag geheiratet und befanden sich nun auf der Rückreise aus Rumänien, wohin sie nach der Trauung »in zwei schönen Viererzügen« aufgebrochen waren – samt der »ganzen Aussteuer« Carolines im zwei-ten Wagen –, um sich dort auf Bitten von Theodors Vater, Fürst Dimitri Cantacuzène (1817-1877), »für immer« niederzulassen. Doch Fürst Theodor, so berichtet seine 1866 geborene zweite Tochter Marie,65 hatte »Sehnsucht nach Deutschland«, und es gefiel ihm »so schlecht«, daß das Paar sich bald schon »mit Sack und Pack wieder deutschwärts« wandte: »Hatten sie auch noch keinen Besitz und kein eigenes Daheim – sie wa-ren doch endlich wieder auf deutschem Boden«, wo sie Aufnahme bei Theodors Mutter Sophie auf Schloß Egg bei Bernried im Bayerischen Wald finden. Schon diese frühe Lebensentscheidung offenbart Theodor Cantacuzènes tiefe emotionale Bindung an Deutschland. »Obwohl im bayerischen Kadettenkorps erzogen«, hatte er in Österreich »bei den Edelsheimer Husaren66 gedient«, dann aber 1866 zu Beginn des preu-ßisch-österreichischen Krieges seinen Abschied genommen, »um nicht gegen Deutschverwandte, die Preussen, kämpfen zu müssen«. Die gleiche Haltung bezeugt er im Juli 1870 bei Ausbruch des deutsch-französischen Krieges. Als die Nachricht jäh in das sommerliche Ferienidyll auf Schloß Bezdekau in Böhmen bei Schwager und Schwägerin Karl und Elisabeth Korb von Weidenheim67 einbricht, zögert er, der »Deutsche«, keinen Augenblick, »sich sofort zu stellen«. Bei der bayerischen Armee, im aus der österreichischen Dienstzeit überkommenen Rang eines Leutnants, tritt er in Dillingen, der alten Garnisonsstadt an der Donau, seinen Dienst an. Frau und Töchter bleiben auf Schloß Egg zurück. Diese »sehr deutsche und sehr vaterländische« Gesinnung überträgt sich auf beide Kinder, vor allem auf die ältere Elsa, die, vom Krieg begeistert, das Be-sondere der Situation annähernd begreift und mit ihren fünfeinhalb Jahren in patriotischem Überschwang alle Strophen des 1840 von Max Schneckenburger gedichteten, 1854 von Carl Wilhelm vertonten und ab 1871 im Kaiserreich als inoffizielle Nationalhymne geltenden Kampf-lieds »Die Wacht am Rhein« auswendig zu singen weiß. Als dann – so Marie von Hel ling rath – »Bismarck das Reich gründete, da gab es des Jubelns kein Ende und wir liefen singend mit schwarz-weiss-roten Fah-nen herum und versuchten zu verstehn, was Vater so glücklich machte«. Er erklärte den Kindern, was »ein einiges Deutschland« bedeute, nach all den Auseinandersetzungen und Kämpfen der »vielen Bundesstaaten und kleinen Fürsten«: Nun werde »alles gut und recht, weil nur ein Mann, der Deutsche Kaiser, an der Spitze stehe und alles ordnen werde – und er sagte: gemacht hat es der kluge Bismarck und er konnte es ma-chen, weil die Deutschen tapfer waren und die Franzosen geschlagen

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    haben.«68 Diese Darstellung hat die junge Elsa stark beeindruckt, so daß, wenn zwischen den Schwestern kindlicher Streit drohte, das Wort »Wir sind aber doch im einigen Deutschland!« genügte, um jeden Zwist beizulegen. Und als sie einmal einer Unart wegen im Zimmer einge-schlossen wurde, »brüllte« sie, »es wäre erniedrigend für ein deutsches Mädchen, eingesperrt zu werden«. In der Schule gründete sie mit ihren Freundinnen »eine vaterländische Vereinigung«, schmückte sich mit »schwarz-weiss-roten Schleifen und noch schwarz-weiss-roteren Gefüh-len«, während die Gegenpartei, »vom Abkömmling einer bayerischen Adelsfamilie geführt, die Wittelsbacher Interessen mit weissblauen Far-ben69 vertrat«. In solchen frühen Erlebnissen und Erfahrungen wurzelt ihre tief verinnerlichte deutschnationale Denkweise. Noch fast sechzig Jahre später, am 9. Juli 1929, wird sie im Schreiben an Carl Eduard Her-zog von Sachsen-Coburg-Gotha, den letzten regierenden Herzog von Sachsen-Coburg und damaligen Obergruppenführer der SA,70 beteuern, »dass ich trotz der Fremdheit meines Mädchennamens durch und durch Deutsche bin: mein Vater war Deutscher (bayerischer Ulanenoffizier) hatte eine deutsche Frau und hat uns so deutsch erzogen, dass wir als Kinder die Wacht am Rhein und das Deutschlandlied71 sangen, noch ehe wir recht sprechen konnten«.72

    Väterlicherseits entstammt Elsa der rumänisch-bayerischen Linie eines griechisch-byzantinischen Adelsgeschlechts, das »ohne Zweifel das be-deutendste aller großen Häuser des christlichen Orients war«.73 Die Fa-milie, seit 1104 urkundlich belegt, kam ursprünglich aus Griechenland, wo sie drei Jahrhunderte in Makedonien und Morea74 herrschte, bis sich der Feldherr und Staatsmann Johannes Kantakuzenos (um 1295-1383) nach mehrjährigem Bürgerkrieg 1341 als Johannes VI. zum Kaiser von Byzanz hatte ausrufen lassen.75 Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Mai 1453 ging die Familie nach Griechenland zurück, verteidigte Morea gegen die Türken, mußte sich aber endlich als regierende Fürsten in die Donaufürstentümer zurückziehen. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts unterstützte sie begeistert den Freiheitskampf der Griechen und setzte, ohne zu zögern, ihr Vermögen ein. Elsas Großmut-ter Sophie erzählte ihren Kindern gern, »dass Besitz um Besitz verkauft wurde für den Krieg«.76 Sie, die blutjunge und bildschöne Gräfin Ar-mansperg,77 »a person as lovely as she is amiable«,78 hatte den 1817 in der Ukraine geborenen Dimitri Cantacuzène, Flügeladjutanten König Ottos von Griechenland, Senator in Rumänien und Stammvater der bay-erischen Linie,79 im Juni 1835 in Athen nach griechisch-orthodoxem Ritus geheiratet.80 Dort war ihr Vater Joseph Ludwig Graf von Armans-perg (1787-1853) – nach höchsten politischen Ämtern in Bayern81 – 1832 von der Londoner Konferenz als Präsident des Regentschaftsrats für den noch minderjährigen König Otto I. (1815-1867) aus dem Hause Wittels-bach eingesetzt worden und amtierte von 1832 bis 1837 als griechischer

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    Erzkanzler. Allerdings entwickelte sich die Verbindung seiner Tochter Sophie mit Dimitri Cantacuzène nicht eben glücklich. »Ehezerwürf-nisse« hatten zur räumlichen Trennung geführt: Sophie lebte auf dem väterlichen Schloß Egg, während sich Dimitri weiter »in den Donau-fürstentümern« aufhielt, »wo er ein einsames Leben führte, sein Ver-mögen dreimal auf grosse Höhe brachte, es aber dreimal wieder verlor. Gebrochen von dem letzten Verluste, alt geworden und mit schwerem Augenleiden behaftet, kehrte er 1877 zu seinen Kindern nach Bayern zurück um bei ihnen zu sterben. Der Tod trat auch nach kurzen Mona-ten ein.«82 Er starb, erst sechzigjährig, am 16. September 1877 auf Schloß Guttenburg nahe Kraiburg am Inn bei Victoria, der Witwe seines zwei Jahre zuvor begrabenen jüngsten Sohnes Constantin (1844-1875). Die Kinder Elsa und Marie hatten den Großvater »kaum gekannt«.

    Neben den nahen Verwandten bleibt jedoch vor allem der »Rebellen-kaiser« Johannes VI. in der Familientradition als historisches Idol gegen-wärtig.83 Ihn wird Elsa im August 1924, einem entscheidenden Wende-punkt ihres Lebens,84 zusammen mit dem vergötterten Vater am Beginn ihres programmatischen »Trutzlieds« heraufbeschwören:

    Und da mein Ahn’ ein Kaiser war,Ein Freiheitsheld sein Sproß,85

    Mein junger Vater ein Husar,Der Kühnste seiner Reiterschar,Ein Führer hoch zu Roß …86

    Die heroische Verklärung des Vaters im Ahnenstamm ändert nichts an der Tatsache, daß er seine militärische Laufbahn 1870 als königlich-bayerischer »Premier Lieutenant« (Oberleutnant)87 hatte abbrechen müssen: »Knapp vor dem Ausmarsch« der Truppe aus Dillingen erlitt er einen schweren Reitunfall, als sein Pferd, durch einen Fuhrknecht »in kindischem Übermut« gereizt, plötzlich gescheut hatte, und Pferd und Reiter »an einen Baumstamm geschleudert« worden waren. Ihn fand man bewußtlos. Im Lazarett wurde ein komplizierter Schenkelbruch festgestellt. Der zugezogene Generalarzt Dr. Johann Nepomuk Nuss-baum (1829-1890), »der erste Chirurg« seiner Zeit, riet dringend zur Abnahme des Beines. Dem aber widersetzte sich Theodor Cantacuzène mit aller Macht und erreichte, daß er zur Familie nach Schloß Egg ge-bracht wurde, wo er monatelang »im steifen Gipsverband« liegen mußte. Die Genesung zog sich über Jahre hin, »bis er von zwei Krücken zu zwei Stöcken und schliesslich zu einem Stock und verstärkten dicken Schuh-sohlen und hohen Absätzen kam«, stets in der mit äußerem Gleichmut ertragenen bitteren Gewißheit, daß der einst so geliebte Militärdienst und eine weitere Karriere unwiderruflich ihr Ende gefunden hatten.

    Doch nicht nur von Vaters Seite kann sich Elsa auf große Ahnen be-rufen. Auch Mutter Caroline entstammt dem uradeligen Geschlecht der Deym von Střitež, das, urkundlich erstmals 1385 erwähnt, 1708 in

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    den Freiherrn- und 1730 in den Grafenstand erhoben worden war.88 Ihr Großvater Graf Joseph Deym von Střítež (1752-1804) gehörte der Dritten (böhmischen) Linie des Hauses an und besaß in Böhmen die Herrschaft Lieblitz (Liblice) und die Güter Bossin (Bošin), Schemano-witz (Šemanovice) im Bezirk Melik und Nemischl (Nemysl).89 1799 hatte er die fast drei Jahrzehnte jüngere ungarische Gräfin Josephine Brunswick von Korompa (1779-1821) geheiratet,90 Schwester der The-rese Brunswick (1775-1861), jener vertrauten Freundin Ludwig van Beethovens, die den Komponisten als Klavierlehrer in die Familie ein-geführt hatte91 und später als Anhängerin Johann Heinrich Pestalozzis die ersten Kindergärten in Ungarn gründete.92 Joseph, der nach einer unglücklichen Duellaffäre zeitweise unter dem Namen Müller lebte, wurde bekannt durch seine von der adeligen wie bürgerlichen Gesell-schaft gleichermaßen begehrten Wachsportraits – er soll auch Mozart die Totenmaske abgenommen haben – sowie durch die gelungenen Wachsabgüsse antiker Statuen und Büsten aus Neapel, die er in Wien in der »Müllerschen Kunstgallerie am rothen Thurmthore«, dem später sogenannten Palais Deym, mit großem Erfolg ausstellte.93 Josephs Sohn Friedrich (1801-1853), Vater der Fürstin Caroline, k.k. Kämmerer und Rittmeister der österreichisch-ungarischen Armee, heiratete, nach dem frühen Tod seiner ersten Gattin Pauline Seignan Vicomtesse de Casteras (1804-1825), 1829 in Prag Caroline de Longueval Gräfin von Buquoy (1811-1898), Tochter des vermögenden böhmischen Mathematikers, Phi-losophen und Unternehmers Georg Franz August von Buquoy (1781-1851), der sich neben richtungweisenden Neuerungen in der Textil-, Eisen- und Glasindustrie philosophischen und naturwissenschaftlichen Studien widmete, die ihn mit zahlreichen Gelehrten in Berührung brach-ten. Mit seinem Schwiegersohn Friedrich schloß er sich 1848 dem Prager Aufstand an und mußte sich, nach der Übergabe der Stadt kurzzeitig auf dem Hradschin inhaftiert, auf seine böhmischen Ländereien zurückzie-hen. Schon vor Ausbruch der Märzrevolution hatte sich Friedrich Deym als Führer der ständischen Opposition für Gemeindefreiheit sowie eine Reform des böhmischen Landtags eingesetzt und neben Gedanken zur Neuordnung des Bank- und Sparkassenwesens seine übergreifenden politischen Ideen in »Drei Denkschriften« niedergelegt (»Ueber die Kon-solidierung des österreichischen Kaiserstaats. Geschrieben im Septem-ber 1847«, »Was soll Oesterreich geschehen? Geschrieben 6. März 1848« und »Die Revolution und die Reformen. Geschrieben im Juni 1848«), die, als sie 1848 gesammelt erschienen, einiges Aufsehen erregten. Aus seiner Ehe mit Caroline von Buquoy gingen vier Söhne und sieben Töch-ter hervor,94 unter ihnen, als »eine der kleinsten«, Elsas Mutter Caro-line, die am 29. September 1842 auf Lieblitz in Böhmen zur Welt kommt. Ihre Heirat mit Fürst Theodor stiftet die engen verwandtschaftlichen Bande der rumänisch-bayerischen Cantacuzènes mit dem böhmisch-österreichischen Uradel.95

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    Fürst Theodor Cantacuzène, Elsas Vater, ist die prägende Gestalt ihres jungen Lebens. Mit dem Satz: Sie war »von ihm beseelt« hat Schwester Marie das innige Verhältnis zu fassen gesucht. Nicht nur seine ›vaterlän-dische Gesinnung‹ hatte sie in sich eingesogen, sondern auch seine Liebe zur Natur und sein untrügliches Gefühl für Gerechtigkeit und strenge Disziplin. Er war »zum Pädagogen geschaffen, der beste Spielkamerad, der anregendste Lehrer«, schwärmt Marie in einer anrührend über-höhten »Charakterskizze« aus späterer Zeit, und sie denkt darüber nach, ob er, wenn er sich dieser »Kraft mehr bewusst geworden wäre«, nicht »als Bildner junger Seelen« »Grosses« hätten »leisten« können.96 Ein Grandseigneur der alten Schule, stets – ohne Überheblichkeit – auf den Abstand zur bürgerlichen Welt bedacht, hatte er sich mit seinen »klaren braunen Augen« – Marie nennt sie die »sonnigen« – ein jugend-lich egmontisches Wesen bewahrt. Als ungemein fesselndem Redner und Erzähler – nicht nur für seine Kinder – »entrollten sich, wenn er die einfachste Begebenheit erzählte, […] greifbare Bilder, Gestalten erwuch-sen, alles war plastisch geformt, eine lebendige Welt tat sich auf. Was ihm von aussen zukam, ward in ihm lebendig, denn alles lebte für ihn. Es war ihm eine so innige Fühlung mit der Natur gegeben, er war ihr ganz verwachsen und vertraut. Jedes Blatt, jeder Käfer lebte für ihn mit demselben Leben, das er so stark in sich fühlte. Unbewusst wie die Na-tur empfand er dies Leben – es genügte ihm mitzuatmen in dem grossen Atem des Alls.« Ihm war es nicht nötig, »an den Pforten der Wahrheit zu rütteln, um sie zu sprengen […] Wahrheit und Wissen trug er in sich, in seinem Gesetz des Lebens. […] Er hatte seine Welt in sich und weil diese Welt in ihm war, darum liebte er sie und genoss sie in all ihrer Schönheit; er war überzeugt, es könne keine bessere geben.« Ein faszinierender Mann, ein ›Lebenskünstler‹, der, obschon ihm »Bücherkram, philo-sophische Theorien und Systeme verhasst« waren, sein erstaunlich um-fassendes Wissen »auf allen Gebieten des Lebens« mit unbekümmerter Leichtigkeit zu nutzen wußte. Auch nach der verhängnisvollen Zäsur des alles Äußere verändernden Reitunfalls behält er seinen und der Familie Lebensstil bei, der sich freilich von Beginn an in vergleichsweise schma-lem Rahmen zu bewegen hatte. Denn die finanziellen Mittel sind be-grenzt. Größere geregelte Einkünfte aus Ländereien oder anderem Besitz fehlen,97 nachdem Vater Dimitri sein Vermögen und den Grundbesitz in der Region Moldau mit den Gütern Grozesti und Bisighesti Bezirk Putna und der Stadt Baia98 verloren hatte. Gleichwohl gelingt es in erstaun-licher Selbstverständlichkeit, standesgemäß zu leben: Man beschäftigt Dienstboten wie die »Stöckle Marie« als Köchin, die böhmische Kinder-frau »Dada« und eine norddeutsche Erzieherin. In den Sommermonaten reist man nach Meran oder zur Großmutter Deym ins damals noch preußische Kosten (Provinz Posen), zu den Onkeln und Tanten in Bay-ern, Böhmen und Ungarn, nach Egg, Wackerstein und Guttenburg, nach Bezdekau, Nemysl und Lieblitz, nach Martonvásár ins »schöne Schloss«

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    Brunswick, das, etwa 30 Kilometer südwestlich von Budapest »in einem Riesenpark gelegen«,99 die Kinder ebenso beeindruckt wie das dort »glänzend geführte Haus«. Marie zeigt sich als wahre Vatertochter, wenn sie in diesem Zusammenhang gesteht: »Die grossen Verhältnisse lagen mir sehr – ich fand sie so natürlich trotz unsrer einfachen Lebens-weise.«

    Über allem, über den Reisen wie dem heimischen Alttag, leuchtet, so wenigstens im Rückblick der Kinder, der »unbezwingbare Sonnenschein«, der dem Vater »entstrahlt«. Ein »Sonnenschein«, mit dem er »vielleicht den Seinen mehr gegeben« hat, »als wenn er durch sorgende Arbeit und äusseres Eingreifen bessere Lebensbedingungen für sie geschaffen hätte. Wenn einer, so hatte er den Stein der Weisen gefunden, der alles zu Gold machte. Mit dem Geringsten konnte er vorlieb nehmen und sich dabei reich wie ein König fühlen. Er tat es dann mit lächelnder Grösse […] ein Kind der sorgenlosen Natur – sorglos wie sie.« Denn die Sorgen überließ er seiner Frau, »die er über alles liebte und der er das Leben gern so leicht und froh gemacht hätte, wie er es selbst fühlte«. Doch ihr »war es versagt, sich leicht über die Forderungen des Alltags zu heben und es war gut so, wohin wäre sonst der Hausstand gekommen? Sie sorgte und arbeitete und stand mit all ihrem Tun voll im äusseren Leben, das sie ihm nach Möglichkeit behaglich zu gestalten suchte. […] ihr war das Sorgen Bedürfnis«, und sie »wußte gar nicht, wie sehr sie die ganze Last des äusseren Lebens für den Gatten trug«. Nach seinem Tod bekennt Elsa im Brief an Hugo von Hof manns thal: »Sie ahnen nicht, was ich an meinem Vater verloren hab. Meine ganze Kindheit war von ihm durchweht, hat ihre Bedeutung durch ihn bekommen. So voll, so wenig schattenhaft wie er sind Wenige im Leben gestanden.«100 Und seine Tochter Marie zieht die Lebenssumme: »Er hatte nie ein Gedicht gemacht – und doch war er ein Dichter! Den Pinsel hat er nie geführt – und doch war er ein Maler! Er musste gestalten – alles gestaltete sich in ihm.«

    Nach dem ersten Zwischenaufenthalt in Egg lebt die kleine Familie – das Nesthäkchen Paula wird erst 1873 zur Welt kommen – in Schloß Straß bei Passau, das Theodor im September 1865 gekauft hatte:101 »Ein Her-renhaus in französischem Styl erbaut, breit, behäbig mit großen Räu-men, inmitten eines ausgedehnten Parks«, den Fürst Theodor selbst an-legt.102 Zusammen mit der Familie des Bruders Alexander (1838-1905) und dessen Kindern Carl-Ludwig (1864-1949) und Olga (1868-1949) verbringen Elsa und Marie glücklich behütete Jahre in unbeschwerter Freiheit, wobei die ältere, frühreif und selbstbewußt, sich stets gegen die Schwester zu behaupten versteht, auch wenn sie unter deren »Unbändig-keit und Wildheit« nicht selten zu leiden hat. Eine bald ins Haus gerufene Kindergärtnerin, die geliebte Clara Dose aus Hamburg, folgt den da-mals noch jungen Grundsätzen Friedrich Fröbels zur Erziehung vor-schulpflichtiger Kinder und bereichert so mit spielerischem Ernst und

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    täglicher »Arbeit« das kindlich offene Leben. Als dann im Jahre 1868103 Großmutter Sophie stirbt und Schloß Egg – ihr Vater hatte die Burg um 1840 im Stil des romantischen Historismus umbauen lassen – an Alex-ander Cantacuzène fällt, ziehen beide Familien von Straß in dieses »schöne gotische Familienschloss mit Erkern und Türmen und einge-schlossenem Hof. Eine Ritterburg mit Wachturm und Wehrgang, wie sie ein Kind nicht schöner träumen könnte.« Hier war der Vater aufgewach-sen und kann nun den Töchtern von der eigenen Kindheit und seinen früh bestandenen Abenteuern als »Theodorl von Egg« erzählen, zugleich aber ihren Sinn für Flora und Fauna schärfen.104 Nach dem Reitunfall hatte er sein Leben neu ausrichten müssen und eine erfüllende Aufgabe in der ungeteilten Hinwendung zu den Kindern gefunden, deren Erzie-hung und schulische Ausbildung er zunächst selbst übernimmt. Lesen, Schreiben, Rechnen, aber auch Geographie, Exkursionen und Wande-rungen, Schwimmen und Schlittschuhlaufen stehen auf dem väterlichen Lehrplan. Als die Familie am 1. November 1871 nach München über-siedelt – wegen »Erziehung der Kinder«, vermerkt der amtliche Melde-bogen105 – »staunten die Lehrer über unser vorzeitiges Wissen und wie geweckt wir waren. Sie staunten freilich auch über die kleinen Land-pomeranzen, die in ungebrochener Wildheit und Natürlichkeit ohne die städtische Kultur auftraten.«106

    In München logiert man in wechselnden Mietwohnungen in der Ma-ximilian-, Amalien-, Schelling-, Widenmayer- und Karlstraße, ehe man am 15. April 1888 nach Starnberg in das bescheidene Handwerker- und Fischerhaus in der Possenhofener Straße 175 (heute: Achheimstraße 1) übersiedelt, eines der ältesten Gebäude am Ort, das Fürst Theodor 1891 erwirbt und zur »Villa Cantacuzène« ausbauen läßt.107 Hier werden in späteren Jahren auch Hof manns thal, Kass ner und Rilke gern zu Gast sein.

    Elsa und ihre Schwester Marie werden, gegen die Familientradition und den hartnäckigen Widerstand der Großmutter Deym und anderer katholischer Verwandten, protestantisch erzogen, »damit wir«, wie Ma-rie von Hel ling rath betont, »nicht katholisch werden«. Denn die Eltern »glaubten kirchlich schlimme Erfahrungen gemacht zu haben«, die sie den Kindern ersparen wollten. Zudem spielte der »Kulturkampf« des verherrlichten Bismarck eine entscheidende Rolle. Dessen Auswirkungen auf das Schulwesen verfolgt Fürst Theodor ebenso aufmerksam wie die aktuellen Schulreformen. Und so faßt er, nach gründlicher Beratung mit Fachleuten, den Entschluß, die Töchter nicht in eine private, sondern eine staatliche Schule zu schicken, womit er die Familientradition zum zweiten Male bricht, diesmal mit dem Ziel, den Kindern eine möglichst gute und gediegene Schulbildung zukommen zu lassen, gleichsam als ideelle Mitgift im Ausgleich für das fehlende materielle Vermögen.

    Ab Herbst 1871 besucht Elsa – mit ihrer Schwester Marie – in Mün-chen das Lehr- und Erziehungs-Institut von Louise Siebert, sodann, ab

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    dem 1. Oktober 1876, von der III. bis zur VI. Klasse, die Städtischen Höheren Töchterschulen an der Luisenstraße und am Anger. Die beiden »Austritts-Zeugnisse« vom 30. Mai 1879 (Luisenstraße) und 6. August 1880 (am Anger) bescheinigen ihr »gute« bis »sehr gute« »Kenntnisse«, »sehr großen Fleiß« und »ein sehr lobenswertes Betragen«, mit der Be-merkung: »Diese Schülerin hat das Lehrziel der Töchterschule um ein Jahr früher erreicht, als dies normativmäßig zu geschehen pflegt, und es ist dies ebensowohl ihrem sehr lobenswerten Fleiße als auch ihrer glück-lichen Beanlagung zuzuschreiben. Besonderes Geschick zeigte sie für Lösung von Denkrechnungen. Sie besitzt gefällige Umgangsformen und ihr sittliches Verhalten war stets musterhaft.«108

    Von September 1880 bis Februar 1882 studiert sie an der »École secondaire et supérieure des jeunes filles« in Genf.109 Die väterliche Mel-deakte protokolliert unter ihrem Namen am 13. September 1881 voraus-greifend: »2 Jahre Schweiz« und faßt am 13. Oktober 1882 ergänzend zusammen: »3 Jahre Frankreich & Schweiz«. Über den Aufenthalt in Frankreich ist ebensowenig bekannt geworden wie über die Ereignisse der folgenden Zeit. Immerhin darf als sicher gelten, daß sie ihre Bega-bungen auf dem Gebiet der Literatur, der Musik, der Malerei und des Kunsthandwerks weiter entwickelt: Sie singt und schreibt Gedichte, verfaßt dramatische Szenen und »Festspiele« zu familiären oder zeithi-storischen Anlässen, kleine Prosatexte und Sachartikel. Die frühesten datierten Manuskripte im Nachlaß stammen aus dem Jahr 1884, darun-ter ein Beitrag vom »Sommer 1884« über »Das Maaßnehmen und Schnittzeichnen« oder das mit »München, 26/IX. 1884« bezeichnete Polterabendspiel »Im Rosenduft«. Anderes ist noch früher entstanden, so das Gedicht »Lenzeswehen« von 1882, das sie 1940 der Aufnahme in ihre Lyrik-Sammlung »Im Garten der Seele«110 für wert hält.

    In diese Zeit mag »das Nervenfieber« fallen, von dem sie Hof manns-thal am 7. Januar 1894 erzählt, vor allem aber »das Jahr am Altenburger Hof«,111 das durch Akten des Herzoglichen Hausministeriums in Alten-burg hinreichend gesichert ist. Sie belegen, trotz fehlender Anstellungs- und Entlassungsschreiben, daß »Fürstin Cantacuzène« von Oktober 1889 bis Anfang Dezember 1890 zu einem Jahresgehalt von »1200 M〈ark〉« bei »freier Station« am Hof des Prinzen Moritz von Sachsen-Altenburg (1829-1907) und dessen Gattin, Prinzessin Auguste, geb. Prinzessin von Sachsen-Meiningen (1843-1919), beschäftigt ist. Sie war mit ihrem Vater am 6. Oktober 1889 angereist und hatte ihr Amt als »Erzieherin« der Prinzessin Luise (1873-1953), jüngster Tochter des Prin-zen, angetreten und deren »Confirmation« am 7. April 1890 begleitet. Mit der Familie des Prinzen wohnt sie im Prinzenpalais zu Altenburg oder in der herzoglichen Sommerresidenz in Hummelshain. Dort »ge-ruht« Moritz’ Bruder, »Seine Hoheit der Herzog« Ernst I. (1824-1908), sie per »Decret« am 9. Oktober 1890 »zum Hoffräulein Ihrer Hoheit der Frau Prinzessin Auguste von Sachen-Altenburg, Herzogin zu Sachsen«

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    zu ernennen. Am 14. Dezember verläßt sie Altenburg und fährt, »da außer Diensten«, zurück »nach Starnberg zu ihren Eltern«.112

    Im folgenden Jahr hält sie sich in London auf, wo sie, wie ihr Brief an Hof manns thal vom 30. Juni 1894 bestätigt, im Hause Walter Paters verkehrt,113 ohne daß wir über ihre dortige berufliche Tätigkeit Genaue-res wüßten. In ihrem ersten selbständigen Münchner Meldebogen, »an-gelegt am 9. XI. 93«, wird sie in die Rubrik »Stand« »Gesellschafts-dame« eintragen lassen. Diese Aufgabe hatte sie zu Jahresbeginn in München bei Baronin Franziska, genannt Fanny, de Worms (1846-1922) übernommen,114 die als Tochter von Sophie und Eduard von Todesco einer der bedeutendsten Familien des assimilierten Wiener Judentums angehört. Sie hatte am 5. Mai 1864 den Juristen, Schriftsteller und kon-servativen Politiker Henry de Worms (1840-1903) geheiratet, der als Unterstaatsekretär und Mitglied des englischen Parlaments 1895 mit dem Titel des Ersten (und letzten) Baron Pirbright of Pirbright zum Pair of the United Kingdom erhoben wird.115 Zur »Verlobung« hatte Franz Grillparzer das launige Epigramm gedichtet:

    Wer freute sich nicht solcher Kunde?Auch gibt sie holder Deutung Platz:Liegt nicht bei Worms im sichern Grunde Der Nibelungenschatz?116

    1886 wird die Ehe geschieden, und Baronin Worms war mit ihrer Tochter Constanze in das Palais Hornstein in der Münchner Arcis-straße 17117 gezogen.118

    Constanze, genannt Conny, die 1875 in London geborene »äußerlich ungemein anziehende, wahrhaft aristokratisch aussehende […] Tochter der schönen Baronin Fanny Worms«,119 war nach Alice120 und der 1869 geborenen Dora Sophie die jüngste der drei Schwestern. Friedrich Eck-stein wird sie einmal »das Bild des decadenten jungen Mädchens« nen-nen,121 dessen sprunghafte Egozentrik auch Elsa Cantacuzène nicht zu bändigen vermag. Wiederholt schildert sie »endlose kleine u. größere Scenen« zwischen Conny und der Baronin oder »allen Menschen«, und klagt am 7. Dezember 1893: »Conny ist die letzten Tage schrecklich. Von einer Laune wie ich’s nie an irgend Jemand erlebt habe.«

    In ihrer Freizeit schreibt und dichtet Elsa weiter oder nimmt Mal- und Zeichenunterricht bei dem Bildnis- und Landschaftsmaler Ernst Noether (1864-1939),122 dem späteren Schöpfer eines eindrucksvollen Kreideporträts Rudolf Kass ners,123 sowie bei Anton Joseph Pepino (1863-1921),124 dem Hof manns thal im Herbst 1910 auf Schloß Neu-beuern als Freund Ottonie von Degenfelds und Julie von Wendelstadts begegnen wird.125

    Eine entscheidende Wendung nimmt ihr Leben, als sie, immerhin schon achtundzwanzigjährig, im Januar 1893 in München den eineinhalb

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    Jahre älteren Verleger Hugo Bruckmann kennenlernt, jüngsten Sohn des Buch- und Kunstverlegers Friedrich Bruckmann (1814-1898). Der hatte nach einer Ausbildung in der Manufacture de porcelaine de Sèvres nach deren Vorbild in seinem Geburtsort Deutz am Rhein 1835 eine »Manu-faktur in bemaltem und vergoldetem Porzellan« gegründet, die »nächst der Königl. Porzellanfabrik in Berlin zweite derartige Anstalt unseres Staates 〈Preußen〉«.126 Sie brannte zu Beginn der vierziger Jahre ab und wurde von Bruckmann aufgegeben. Nach ausgedehnten Reisen und einer Zwischenstation in Düsseldorf, wo er Julie Weyler (1819-1901), Tochter eines dort ansässigen Juristen, heiratet, gründet er 1858 in Frankfurt a. M. den »Verlag für Kunst und Wissenschaft«, den er 1860 als »Friedrich Bruckmann’s Verlag« nach Stuttgart und 1863 nach Mün-chen verlegt.127 Hier wird der 1815 ›preußisch‹ gewordene Rheinländer am 7. Dezember 1865 urkundlich »als Buch- und Kunsthändler und Bürger« aufgenommen128 und versteht es, einen Kreis von Gelehrten und Künstlern um sich zu sammeln, zu dem Justus von Liebig, der katholi-sche Theologe Ignaz von Döllinger, der Historiker Wilhelm von Giese-brecht, der Philosoph Moritz Carrière sowie die Maler Karl Stieler, Hans Makart und Moritz von Schwind gehören. Ihnen hat er wichtige An-regungen für seine Buchprojekte zu danken. Am 1. Mai 1883 wird das Unternehmen in eine fast ausschließlich auf die Familie beschränkte Privat-Aktiengesellschaft mit dem Namen »Verlagsanstalt für Kunst und Wissenschaft« umgewandelt. Den Vorsitz im Aufsichtsrat führt Fried-rich Bruckmann selbst, der freilich wegen eines Bronchialleidens alljähr-lich viele Monate in Italien verbringt. Als »alleiniger Direktor« wird der älteste Sohn Alphons bestellt,129 der vom Vater bereits »im Sommer 1878« »von Studium weg in die Firma F. Bruckmanns Verlag« berufen worden war und, »eben 23 Jahre alt!«, die Leitung des Unternehmens« übernommen hatte.130 Ihm war im Januar 1881 sein jüngster Bruder Hugo gefolgt,131 ohne daß sich klären ließe, ob er »ein oder zwei Jahre zuvor bereits eine Art Lehre im väterlichen Betrieb auf sich nehmen mußte«.132 Nach der Mittleren Reife am Münchner Wilhelms-Gymna-sium und dem Besuch der städtischen Handelsschule »kam er bei einem Dresdner Kunsthändler in die Lehre« – gemeint ist das bekannte Kunst-haus Ernst Arnold133 – »und trat später in das väterliche Unternehmen ein. Daraufhin betätigte er sich bei einer Kölner Bank und im Dienste der Berliner Handels-Gesellschaft.«134 Andernorts ist von »einer gedie-genen beruflichen Ausbildung im väterlichen Verlag« die Rede, in deren Verlauf er »sich aufs gründlichste auf seinen künftigen Beruf vor-〈bereitet〉« habe.135 Jedenfalls wird er 1886 als Zweiundzwanzigjähriger in den Vorstand berufen und ist ab 1898, nach dem Tod des Vaters, ge-meinsam mit seinem Bruder Alphons Inhaber und Geschäftsleiter des-Unternehmens, wobei er die Entwicklung des Buchprogramms zu seiner Aufgabe macht, wohingegen Alphons sich auf die technischen Neue-rungen und Möglichkeiten des Drucks und der Photographie verlegt.136

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    Als Alphons – nach Unstimmigkeiten mit Hugo – 1891 »als Direktor aus- und in den Aufsichtsrat der Firma eintritt«,137 liegt die Leitung des Un-ternehmens, das ab 15. Oktober 1896 als »Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G.« firmiert, allein in der Hand von »Direktor« Hugo Bruckmann.138

    Rasch sind sich Hugo und Elsa ihrer Liebe gewiß, die von gemeinsamen kulturellen Interessen getragen wird. Denn auch Hugo Bruckmann war, wie der befreundete Karl Alexander von Müller zu berichten weiß, »künstlerisch in den Kreisen um Marées und Hildebrand139 aufgewach-sen;140 er hatte als junger Mann in Berlin schon mit Menzel141 und Moltke142 geschäftlich verhandelt, als Zweiundzwanzigjähriger die foto-grafischen Aufnahmen der Ausgrabungen in Olympia geleitet, in Florenz mit Böcklin gelebt«143 und konnte sich von daher mit Elsas kulturellen Ansprüchen und Neigungen durchaus messen. Ihr erster Liebesbrief ist auf den 27. Januar 1893 datiert; ihm folgt am 15. Februar das Geständ-nis: »Mein Hugo, – seit heute früh, als Du mich heimgebracht, seit dem unsagbar wundersamen, fast traumhaften Gang, den wir durch die be-rauschende Sternennacht gethan, – brennt mir Sehnsucht im Herzen, zehrend u. heiss. Du hast sie in mir entflammt mit Deinem glühenden überwältigenden Kuss.«144 Beide betrachten sich als Verlobte, was sie den Familien jedoch verheimlichen, wohl aus Sorge, Fürst Theodor werde die Verbindung seiner ältesten Tochter mit einem ›Bürgerlichen‹ nicht billigen, nachdem die jüngere Marie bereits seit 1887 standes-gemäß mit Maximilian von Hel ling rath vermählt ist. Indes gehen zwi-schen der Kaulbachstraße 22, wo Hugo Bruckmann im Verlagshaus wohnt,145 und der Arcisstraße 17 – hier ist Elsa bei Baronin de Worms gemeldet – fast täglich Briefe und Nachrichten hin und her. Sie handeln vom Alltag, von gesellschaftlichen Begegnungen, Lektüren und Kunster-lebnissen, aber auch von Reisen, auf denen Elsa Mutter und Tochter de Worms zu begleiten hat. Die erste hatte im Frühling 1893 für längere Zeit nach Meran geführt; und als dann im Spätherbst desselben Jahres die Baronin und Conny nach Wien aufbrechen, um dort ihre Verwand-ten zu besuchen und das Kultur- und Gesellschaftsleben der k. u. k. Metropole auszukosten, folgt Elsa ihnen Ende Oktober nach. In aus-führlichen Tagebuchbriefen146 erzählt sie Hugo Bruckmann von den Ein-drücken und Ereignissen aus dieser für sie neuen, großen Welt, von Bällen, Diners und Empfängen, von Tees und Abendgesellschaften, Opernbe-suchen und Theaterstücken, und zeichnet so ein von genauen Charakter-skizzen durchzogenes Panorama der höheren – meist jüdischen – Gesell-schaft im Wien des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts.147

    Sie trifft, von Starnberg über München kommend, am Mittwoch, dem 25. Oktober 1893, »Abends 9.10« mit dem Zug in Wien ein, nach-dem Hugo Bruckmann »Blumen und das Brieferl an die Bahn« hatte schicken lassen. Der erste ihrer Berichte, am 30. Oktober abgesandt, faßt die vorangegangen Tage zusammen und meldet unter dem 26: »Hier

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    in Wien steh’ ich wenigstens mitten im Reichtum d’rin u. kann ihn durchkosten u. mich verwöhnen – was gar nicht unangenehm ist. Ich habe ein sehr hübsches Zimmer in dem wirklich großartigen Palais.«

    Das Palais Todesco in der Kärntnerstraße 51 ist Fanny de Worms’ Elternhaus. Als eines der herausragenden Bauwerke der sogenannten Ringstraßenepoche wurde es zwischen 1861 und 1864 für Eduard von Todesco (1814-1887) nach Plänen der Architekten Ludwig Ritter von Förster (1797-1863) und Theophil von Hansen (1813-1891) erbaut.148 Die kostbar im Sinne eines Gesamtkunstwerks gestalteten Räume und der Festsaal in der Beletage waren am 4. Mai 1864 anläßlich der bevor-stehenden Vermählung Fannys mit Henry de Worms im Beisein von 500 Gästen aus Gesellschaft, Kunst und Politik eröffnet worden.149 Hier führt ihre Mutter Sophie, geb. Gomperz (1825-1895), nach dem Tod des Gatten den »letzte〈n〉 Salon großen Stils in Wien«,150 unterstützt von Tochter Gabriele, genannt Yella (Jella) (1854-1943), die 1883 – nach der Scheidung von Baron Ludwig von Oppenheimer (1843-1919) – mit dem Sohn Felix (1874-1938) in das Haus eingezogen war, in dem auch Hof-manns thal häufig und gern verkehrt.151 In den drei herrschaftlichen Stockwerken leben, wie Elsa am 24. November Hugo Bruckmann erläu-tert, die »Oppenheimers im III., wir 〈d. h. Todescos〉 im II., Gomperz im I. Stock«; damit ist Max Ritter von Gomperz (1822-1913) gemeint, ein Bruder Sophie von Todescos, Großindustrieller, Mitglied des Verwal-tungsrates und späterer Präsident der Österreichischen Kreditanstalt, mit seiner Gattin Louise, geb. Auspitz (1832-1917), und den Kindern Philipp (1860-1944), Cornelie (Nelly) (1865-1944) und Marie (1870-1940).152 Hier, im Salon Gomperz, begegnet sie während einer »gemüt-lichen, sehr hübschen Soiree« am 6. November 1893 Hugo von Hof-manns thal, den sie Bruckmann zwei Tage später als »jungen außer-ordentlich begabten Dichter« vorstellt: »Hast Du schon etwas von ihm gelesen? Er schreibt unter dem Namen ›Loris‹ – wenigstens seine letzten Dichtungen. Im ›Modernen Musen-Almanach 1894‹ (bei Albert in Mün-chen) findest du von ihm ›Der Thor u. der Tod‹153 – was mir ungeheuer gefallen hat. Stellenweise ist es tief ergreifend u. ich möchte gerne, daß Du es kennst.«154 Am 13. November notiert sie: »›Gestern‹ vom jungen Hof manns thal hab’ ich gelesen; eine ›Studie in einem Akt‹ nennt er’s, – wohl eine gute für einen Zwanzigjährigen als Erstlingsgabe!155 Ihr Held, Andrea, den hätte er freilich ›Hugo‹ taufen sollen, – er hat was von Dir!« – eine Feststellung, die sie mit passenden Zitaten belegt. Am 20. November erlebt sie, eingeladen von Yella und Felix Oppenheimer, den spektakulären Auftritt Eleonora Duses,156 die als Santuzza in Gio-vanni Vergas »Cavalleria Rusticana«157 und als Wirtin Mirandolina in Carlo Goldonis »La Locandiera« im Carl-Theater gastiert: »Die Duse hat wunderbar gespielt […]; wir Alle haben die herrl. Vorstellung so ge-nossen«, lautet ihr Urteil, dem sie, wie beiläufig, hinzufügt: »Hof manns-thal war auch mit.« Ihn trifft sie am folgenden Abend aus Anlaß eines

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    »dîners bei Oppenheimers« wieder, zu dem sie am 22. November an-merkt: »Gestern ist’s reizend gewesen […]. So hübsch u. festlich, so ele-gant u. gemüthlich zugleich; freilich ein bischen viel Juden, aber ganz angenehme d’runter u. sonst auch nette anregende ›Christenmenschen‹.« Sie selbst singt »Steyrerlieder u. Chopin« und sitzt »beim souper« neben Hof manns thal, der »für seine 20 Jahre unglaublich reif ist u. mit dem ich mich in Kunst-Anschauungen etc. am besten verstehe«. Das wird ihr am 23. November im Verlauf eines »dîners bei Gomperz« klar, als sie mit ihm eine »sehr interess. Conversat.« führt. »Zum Thee um 9 Uhr gingen wir noch zu Oppenheimers hinauf.« Nach diesem Abend setzt der Brief-wechsel ein; und damit ist der Grund gelegt für ein immer engeres Ver-hältnis, das sich über die Geistesverwandtschaft hinaus zu einer Liebelei entwickelt, die Hof manns thal später als »Flirtation« abtun wird,158 während er im Rückblick des Jahres 1900 Elsa zu jenen Frauen zählt, die er zwischen seinem 18. und 23. Lebensjahr bewundert und begehrt habe.159 Mit verdeckten Nachrichten, verschwörerhaften Rendezvous und heimlichen Spaziergängen, »die von der hergebrachten Form ab-gehn«,160 versuchen beide, die herrschenden gesellschaftlichen Grenzen zu überspielen. Hof manns thal erkennt in der »lieben Fürstin« eine der seltenen ernstzunehmenden »jungen Damen«, mit der er »sprechen« kann, die er mit seinen Gedichten und Essays, mit seinen geistreichen Unterhaltungen über künstlerische und ästhetische Fragen zu gewinnen vermag, während sie fasziniert ist von dem frühreifen, bisweilen emp-findlichen und launisch unberechenbaren Studenten der Rechte, in den sie sich einfühlt, verstehend und bewundernd zugleich, und dem sie mit sanfter Nachgiebigkeit gegenübertritt. Am 11. Dezember vertraut sie Hugo Bruckmann an: »Felix161 kam auch noch mir ›gute Nacht sagen‹, wie er’s nennt. Diese jugendlichen Verehrer treiben’s sehr mit ihrem ›Prinzessin-Cultus‹ – Dein Elserl weiß gar nicht, wie’s dazu kommt. – D. h. mit Hof manns thal hat es seinen guten Grund darin, daß mit den meisten jungen Mädeln wirklich wenig zu reden ist, u. andererseits daß der Natur, Kunstwerken und den versch. Kategorien von Menschen ge-genüber ich sehr ihm gleichartig empfinde; dadurch hat man so viel ge-meinsames Terrain. – Oft frag’ ich mich verwundert, ob es denn möglich ist, daß dieser neunzehnjährige Bub (so sieht er auch aus!) schon so reif u. mit so bestimmtem Wollen mitten im schaffenden Leben steht. Ich freu mich, wenn Du ihn einmal kennen lernst; er will im Lauf des Win-ters auf kurze Zeit nach München kommen. Wie das schade ist, daß ich da nicht bei Dir zu einem kleinen netten souper ihn empfangen kann u. ein bisserl Frau vom Hause spielen. Das wär’ doch hübsch?«

    Nahezu täglich schreibt oder empfängt man Briefe, deren Ton bald vertrauter wird. Ebenso häufig trifft man allein oder in Gesellschaft zusammen und tauscht Manuskripte und Drucke aus. Die gemeinsamen Interessen und Themen sind unerschöpflich. Auch die persönliche Nähe findet sprachlichen Ausdruck, wenn Hof manns thal am 27. Dezember

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    kategorisch feststellt: »Bitte merken Sie sich, dass ich Sie sehr gern habe«, und Elsa Cantacuzène mit gleicher Bestimmtheit erwidert: »Ich hab’ Sie auch sehr gern«. Zugleich ersetzt sie die bisher übliche Anrede »Lieber Herr v. Hof manns thal« durch »Mein lieber Freund«.162 Selbst-verständlich bleibt man beim »Sie«.163

    Noch am Abend des Neujahrstags geleitet er die Prinzessin anläßlich eines »sehr hübschen, festlichen kleinen dîners« bei den Todescos zu Tisch – dann stockt die Korrespondenz. Auch in ihren Berichten an Bruckmann taucht Hof manns thal nicht mehr auf, bis man sich am 5. Ja-nuar »bei Gomperz unten zu einem kleinen dîner« wiedersieht.164 Hier führen seine »Launen«, seine »nervöse Stimmung« und zugespitzten Äußerungen zu ernsthafter Spannung, die sich fortsetzt, als er ihr vor-wirft, »es liege wie eine verborgene Unwahrheit zwischen mir u. Ihnen!« Falls damit ihre Bindung an Hugo Bruckmann gemeint wäre, die sie ihm in all diesen Wochen gesteigerter Intimität und Zuwendung verschwie-gen hätte, läge in der Tat ein Vertrauensbruch vor.165 Man ist auf Vermu-tungen angewiesen. Ihn freilich, so scheint es, verstört zunehmend eine quälend empfundene Parallele zum George-Erlebnis, das ihn genau zwei Jahre früher im Dezember 1891 und Januar 1892 so tief erschüttert hatte.166 Nach einem letzten Gespräch schreibt er am 8. Januar 1894 ins Tagebuch: »Warum erinnert mich irgend etwas an ihrem Wesen an Ste-fan George?167 Irgend etwas, das mir unheimlich ist, als ob es Gewalt über mich haben wollte.« Und konkreter fügt er hinzu: »Dann macht mich ihre Nachgiebigkeit, fast Unterwürfigkeit, tyrannisch, sprunghaft und affectiert. Ich sage ihr Adieu.«168 Bis zu Elsas Abreise am 15. Januar 1894 sehen sich beide nicht wieder.

    Doch ist damit das Ende ihrer Beziehung nicht besiegelt. Vielmehr gelingt es ihnen, den »wunderschönen Traum« in eine Realität zu über-führen, in der »das Verlangen nach Gedankenaustausch u. nach Verste-henlernen dessen was das Leben u. vor Allem die Kunst uns zu sagen haben«,169 in den Vordergrund rückt. Dabei erschließen sich Elsa Can-tacuzène schon früh bemerkenswert klare Einsichten in das Wesen und die Psyche des jungen Dichters. Am 12. Juli 1894, zwei Tage nach Hugo Bruckmanns erster Begegnung mit Hof manns thal in Wien, antwortet sie auf dessen Bericht: »Was Du über Hof manns thal’s ›Künstlerthum‹ schreibst, – ich glaub’, darin hast Du recht, – besonders in dem ›zu be-wußt‹. Während er schafft, analysiert er sich selbst u. dieses Schaffen, sein Wille gibt demselben mehr Ziel als das wahl-lose Muss des inneren Dranges. – Nur eins denk ich zuweilen: ob die ›angelernte‹ Sprache nicht nur ein Übergang für ihn ist u. unter all’ dem, was er gelernt, gelesen, von dem er beeinflußt war, ein Keim liegt zu eigenem, originellem Ge-stalten. Es überwuchert ihn vielleicht bisher die Masse der äußeren Ein-drücke u. ihr Verarbeiten in sich. – Übrigens kann ich darin kein freies Urteil haben. Ich kenne ihn so viel besser als Menschen wie als Künstler; das Persönliche stand bei der Art unseres geselligen Verkehrs so über-

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    wiegend im Vordergrund, daß mir als Haupt-Impression die einer leb-haften Anregung blieb u. wohlthuende Übereinstimmung in künstleri-schen Interessen.«170

    In diesem Sinne bereiten beide, fern von überspannten Erwartungen und Enttäuschungen, klug einer Freundschaft den Weg, die, getragen von anhaltender Wertschätzung, später die Ehepartner miteinbezieht und über die kommenden drei Jahrzehnte andauern wird, begleitet von einem bisweilen stockenden, nie aber ganz versiegenden Briefaustausch, der erst 1922 abbricht.

    Nach München zurückgekehrt, wird Elsa mit Hugo Bruckmanns Ent-scheidung konfrontiert, das Verlöbnis zu lösen. Einer der Gründe mag gewesen sein, daß er nach wie vor den Widerstand der Familien fürchtet, ohne daß Genaueres bekannt wäre. Vor allem aber hegt er offenkundig selbst gewichtige Zweifel, die dem Entschluß einer festen Bindung im Wege stehen. Indes bleibt man freundschaftlich verbunden, kommt wei-terhin bei Vorträgen, Konzerten oder gemeinsamen Empfängen zusam-men und erscheint der Öffentlichkeit nach wie vor als versprochenes Paar – zum Unwillen Bruckmanns, der am 15. März 1895 erklärt: »Lei-der habe ich in letzter Zeit wieder viel über uns reden hören. So schmei-chelhaft das an und für sich auch für mich ist so hasse ich es doch weil es dem thatsächlichen Verhältnis zwischen uns nicht entspricht und ich dabei in eine falsche Situation komme.« Elsa selbst läßt Hof manns thal in diesem Zusammenhang beiläufig wissen: »Bruckmann hab ich leider dies Jahr auch nicht so oft gesehn; wenn aber, – hab ich immer viel da-von gehabt; Alles in Allem; in den vielseitigen Beziehungen in denen wir, moderne Menschen, zum Leben, zur Natur, zur Kunst stehn in den In-teressen u. Sensationen, die uns bald aus intensiver geistiger Arbeit, bald aus träumendem Genuß, bald aus körperlichen Übungen erwachsen, – im Urtheil über Musik u. Bilder u. Bücher versteh’ ich mich doch am besten mit ihm von meinen hiesigen Spielereischachtel-Menschen.«171 Nicht allein diese Entwicklung dürfte sie belastet haben, auch ihre Lage im Hause de Worms empfindet sie als immer drückender und unerträg-licher. Sie fühlt sich »angebunden u. abhängig u. hilflos«,172 und obwohl sie weiß, daß sie mit ihrem Einkommen nicht nur den eigenen Lebens-unterhalt zu bestreiten hat, sondern in bescheidenem Maße auch die Eltern unterstützen kann, klagt sie im Februar 1894 über die »klein-lichen hohlen Interessen und Verpflichtungen«.173 Wie schwierig für sie als »Fürstin« das Dienstverhältnis gewesen sein mag, erhellt schlaglicht-artig aus einer maliziösen Bemerkung der in unmittelbarer Nachbar-schaft in der Arcisstraße 12 residierenden Hedwig Pringsheim, die noch nach fast fünfzehn Jahren Maximilian Harden in gespielter Entrüstung zuruft: »Elsa Bruckmann und ich – rein lächerlich. […] Sie ist überhaupt eine ganz arme Prinzessin gewesen, war Gesellschafterin bei der Baro-nin Worms und mußte mir die Gummischuhe anziehen. […] Sie hatte

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    auch sehr viel Pickel im Gesicht und redet ungemein schöngeistig und gebildet.«174 Die inneren wie äußeren Spannungen, gesteigert durch die sich häufenden Eskapaden Conny de Worms’, führen im Frühjahr 1894 und 1895 zu ernsthaften, langwierigen Erkrankungen. Auch ist immer wieder von »furchtbaren Kopfschmerzen« die Rede, unter denen sie le-benslang zu leiden hat. Sie schwankt zwischen der Suche nach einer neuen Anstellung und dem Plan, sich mit kunsthandwerklichen und lite-rarischen Arbeiten selbständig zu machen. Diesen Gedanken jedoch weist Bruckmann rigoros zurück. Es sei, so warnt er am 15. März 1895, »schwer« und »nichts sicheres«, seinen Lebensunterhalt »mit Sticken, Malen, Schreiben zu verdienen«. »Sei mir nicht bös, aber ich muß immer wiederholen was ich für das einzige und beste Auskunftsmittel halte: ›die Haube‹. Damit ist Dir und den Deinigen geholfen und wir zwei sind dabei auch nicht durch Welten getrennt.« Einen solchen Rat des kühl argumentierenden Freundes muß Elsa als Affront empfinden, zumal sie nach wie vor an die Heirat mit Hugo Bruckmann glaubt. Doch der Ent-schluß, sich vom Hause de Worms zu trennen, reift in den nächsten Wochen rasch zur Gewißheit. Hatte sie noch am 18. April 1895 besorgt gefragt: »Was soll ich thun, wenn Conny im nächsten Herbst heira-tet«,175 wird sie wenig später ihre »Stellung bei Worms« aufgeben176 und vorübergehend in die Akademiestraße zu ihrer Schwester Marie von Hel ling rath ziehen, deren »so frische aufgeweckte herzige Kinder« Nor-bert und Elisabeth ihre »größte Freud hier sind«. »An dem Buben hätt’st Du auch deine Freud, so geht er lebhaft u. voll Wißbegierde u. Fantasie auf Alles ein«, hatte sie Bruckmann am 17. April anvertraut.

    Dann trifft sie der Schicksalsschlag des qualvollen Sterbens ihres ge-liebten Vaters. Am 5. Juni 1895 hatte sie Bruckmann ihre »große Sorge« eröffnet: der Vater sei »an Rippenfellentzündung« erkrankt. Am 19. Juni folgt die verzweifelte Kunde: »das Furchtbare, was ich noch gar nicht fassen kann, mein Hugo, ist nun eingetroffen! Heute Mittwoch um 8 Uhr Abend ist mein armer guter geliebter Vater gestorben. Er hat noch schrecklich gelitten u. die ganze Zeit war entsetzlich! – ich werde ganz wirr, wenn ich zu denken versuche, daß ich ihn nicht mehr habe!« Am 26. Juni schreibt sie weiter: »An seinem Bett hab ich gewacht u. mein ganzes Wesen war eine einzige große gewaltige Bitte, daß er uns bleibe. Und nun ist er fort für immer! – Gelitten hat er entsetzlich; ich werd es nie vergessen wie seine Lippen schmerzlich zuckten die letzte Zeit u. wie unaussprechlich traurig sein Blick war – Wie er dann aber da lag im tiefen Todesschlummer, so wundersam schön u. mit einem Ausdruck von kindlichem Frieden vor dem alles Eigene klein ward – das hat mir ein Gefühl gegeben, das ich noch nie vorher gekannt.« Jahrzehnte später erinnert sich Marie von Hel ling rath, »am Schluss« hätten »die klaren braunen Augen noch fröhlich wie einst 〈gelacht〉 – in dem siechgewor-denen schwerleidenden alternden Manne gab es eine unberührte, unbe-rührbare Welt […], in die er flüchtete aus allen Leiden. Diese Leiden

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    konnten keine Macht über ihn gewinnen.«177 Elsa ihrerseits antwortet auf Hof manns thals – verlorenen – Kondolenzbrief mit dem Geständnis: »Die Sekunden von Glücks-Gefühl die während seines Lebens meinem Vater durch mich geworden, haben mir allein Bedeutung jetzt. Die wel-che er mir gegeben hat u. die mir nimmer wieder kommen, leben freilich in meiner Erinnerung ein unbeschreiblich lebendiges warmes Leben – Aber ein Leben voll Wehmut u. Sehnen. – Sie ahnen nicht, was ich an meinem Vater verloren hab. Meine ganze Kindheit war von ihm durch-weht, hat ihre Bedeutung durch ihn bekommen. So voll, so wenig schat-tenhaft wie er sind Wenige im Leben gestanden.178 – Auf jedem Schritt klafft mir jetzt eine gähnende Lücke entgegen. Und daß ich wieder Alles aufnehmen muß u. Alles wieder seinen Gang gehn wird ist ein grau-samer Gedanke. Nur meine Mutter die er so sehr geliebt hat, die braucht mich, u. Pflichten rufen nach mir u. verlangen von mir die Kraft sie zu erfüllen. Das wird wol für’s Erste der Weg sein, der mich zum Leben zurückführt.«179 Den Verlust wird sie nie verwinden; der Vater bleibt Idol und Vorbild, an dem sie sich zeitlebens orientiert und mißt.

    Fürs nächste aber steht sie, wie angekündigt, der Mutter und der jüngeren Schwester Paula in Starnberg zur Seite. Im Oktober 1895 be-gleitet sie beide nach Rovereto180 und anschließend bis Ende März 1896 nach Meran. Dieser fünfmonatige Aufenthalt in Südtirol gestaltet sich erneut zur Qual. Einmal, weil sich die Ausfälle der psychisch labilen »Tante Joe«, der Josephine Gräfin Brunswick,181 derart steigern, daß sie »unter Curatel gestellt werden soll«. Zum anderen häufen sich die »Unannehmlichkeiten« durch die »Hausleute« der zunächst gemieteten »Villa Bell’aria«, so daß man Anfang Dezember in die Pension »Euchta« wechseln muß.182 Außerdem hat Elsa zunehmend unter der anmaßenden Überheblichkeit zu leiden, welche die Deym’schen Familienangehörigen ihr gegenüber an den Tag legen. Und so zieht sie am 1. Januar 1896 Hugo Bruckmann gegenüber ungeschönt Bilanz und entwirft ihren künftigen Lebensplan:

    Dabei ist das Härteste in meiner materiellen Lage zu sein, die Einen mehr od. weniger abhängig macht von solchen verrückten, launischen heftigen Menschen! Aber was immer geschieht, – eine Existenz will ich mir erkämpfen, die keine Verwandtengnade ist, u. die von meiner Arbeit abhängt, nicht von Launen. Leicht wird’s nicht sein, das weiß ich, – aber mit viel treuem guten Willen u. frischer zielbewußter Thä-tigkeit wird’s schon gehen!

    Erste Schritte auf diesem Weg gelingen ihr, als sie sich von Meran am 7. oder 8. April 1896 für mehrere Wochen nach Berlin begibt. Sie wohnt in der Genthiner Straße 3183 bei der Malerin Luise Begas, geb. von Parmen-tier (1850-1920), Gattin des Malers Adalbert Begas (1836-1888), des jüngeren Bruders des Bildhauers Reinhold Begas (1831-1911). Die führt als stellvertretende Vorsitzende des Vereins der Künstlerinnen in Berlin

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    seit den 1880er Jahren einen Salon,184 in dessen Rahmen Elsa Persön-lichkeiten kennenlernt wie Erich Schmidt, den Berliner Ordinarius für Deutsche Philologie und gegenwärtigen akademischen Lehrer Rudolf Kass ners, den österreich-ungarischen Generalkonsul im Amtsbezirk Hamburg Emil von Filtsch185 und dessen Frau oder die Malerin Dora Hitz.186 Sie knüpft Kontakte zu Baronin Frieda (Friederike) von Lipper-heide (1840-1896),187 der Gattin Franz von Lipperheides (1838-1906), des Verlegers188 und Herausgebers der »Frauen-Zeitung«, die nicht nur am 17. April »3 meiner 〈Stickerei-〉Entwürfe« »zur Reproduction« in der Beilage »Musterblätter für künstlerische Handarbeiten« annimmt,189 sondern am 22. April auch »das Märchen vom Klee«.190 Am 16. April trifft sie den »sehr netten, hübschen jungen Grafen Kessler«: »auch einen für die »Freundesliste, aber viel lebendiger als Einige die gar so überfei-nert sind«, erklärt sie Hugo Bruckmann, während die Mutter unter dem 25. April erfährt: »Von den Herren gefällt mir am besten der junge Graf Kessler. Er ist im Vorstand vom Pan hat riesig künstlerische Interessen, schreibt auch selbst. Er ist sehr hübsch u. sehr reich; seine Mutter, eine Engländerin,191 lebt mit seiner Schwester192 in Paris. Er ist hier in Staats-dienst.193 Er gehört zu den sehr vielseitigen, Internationalen.« Am 7. Mai ist sie bei ihm »zum Thee«, zusammen mit Luise Begas und deren Schwester, der Malerin Caroline Löwenbrück-Parmentier; am 11. Mai trifft sie ihn »bei der Frau Begas«,194 der er sich im anschließenden Brief vom 15. Mai 1896 »bestens empfehlen zu wollen« bittet. Seine Hoff-nung, Elsa vor ihrer Abfahrt »noch zu sehen«, geht offenbar in Er-füllung, denn am 20. Mai wünscht er der »hochgeehrten Prinzeß« »eine recht glückliche Reise«. Bei den Begegnungen wird »über Dieses und Jenes, Litteratur, Kunst, Kunstgewerbe und Menschen« geplaudert, so jedenfalls formuliert es Kessler fünf Jahre später am 25. Januar 1901 in einem Brief aus »Constantinopel«,195 in dem er bedauert, wegen seiner »längeren Tour durch Kleinasien« Elsa Cantacuzènes Einladung zu einem Treffen in Berlin versäumt zu haben und damit die »so günstige Gelegenheit«, »〈an〉 unsere alten Gespräche, bei denen Sie mir so kluge Einblicke gegeben haben, wieder anzuknüpfen«.196 Er schätzt ihre Ar-beiten, ist von einem von ihr entworfenen »großen blauen Sammtkissen entzückt« und schlägt vor, »Rand- u. Kopfleisten für den Pan zu ent-werfen, worauf ich sehr stolz bin«,197 ein Angebot, das sie im Brief an Hugo Bruckmann dahingehend präzisiert, daß Kessler einige ihrer Ent-würfe in der nächsten »Pan-Sitzung« vorlegen wolle. Allerdings taucht ihr Name bei den signierten Leisten des »Pan« nicht auf; ob anonyme Zeichnungen ihr Werk sind, bleibt ungeklärt. Andererseits war Kessler als Mitglied des Aufsichtsrats und der »Pan«-Redaktion198 maßgeblich daran beteiligt, daß ihr Prosastück »Glück« in dieser exklusiven und kostbar ausgestatteten Zeitschrift – noch am 15. April 1897 erkundigt sie sich bei Kessler, »wie es unserem ›Pan‹ geht« – im November 1896 veröffentlicht wird.199

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    Elsa Bruckmann-Cantacuzène, um 1900 (DLA)

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    Zuvor jedoch verläßt sie nach dem 20. Mai Berlin, das ihr »schöne fünf Wochen« geschenkt hatte: »Schön, weil ich ein paar Menschen ge-funden hab, an denen man ›was hat‹«,200 vor allem aber, weil sie »die Basis, freilich erst die ganz erste, beginnende […] zu einer äußerlich freien unabhängigen Existenz« zu legen versucht hatte, die ihr »großer Wunsch« sei.201 Sie begibt sich nach Schloß Bezdekau bei Klattau in Böhmen zur Tante Elisabeth Baronin Korb von Weidenheim (1840-1899), einer älteren Schwester ihrer Mutter Caroline, die 1864 Karl Korb von Weidenheim (1836-1881) geheiratet hatte, den ehemaligen österreichischen Handelsminister (1879-1880) und späteren Statthalter von Mähren. Hier, in dem »schöne〈n〉, Gaisblatt- u. Rosen umwachse-ne〈n〉 Schloss«, bleibt sie, lesend und übersetzend, italienische Sprach-studien treibend, zeichnend und Stickereien entwerfend, bis zum No-vember 1896, getragen von dem Gefühl, »wieder so voll im Leben zu stehn; in dem Leben das mir trotz des eigenen oft fast erdrückenden Kampfes um’s Dasein, so reich u. gewaltig schön erscheint. Ich fühl’ mich oft so verwachsen mit diesem allbewegenden Werden u. Wechseln u. finde mich wieder in der Luft u. im Licht u. den Blüthen u. dem Schaf-fen der großen Künstler u. den tausend Tönen u. Formen der Natur.«202

    In solch gehobener Stimmung kommt sie im Dezember nach München zurück, wo sie, nach vorübergehendem Logis bei der Schwester Marie in der Akademiestraße und ab dem 12. Dezember beim Ehepaar Noether in der »Blüthenstraße 19«,203 am 10. Januar 1897 ihre erste eigene Woh-nung im Erdgeschoß der Türkenstraße 98 »bei Vincenti« bezieht.204 Im Hochgefühl endlich gewonnener Selbständigkeit trifft sie unvermutet und eben deshalb um so härter Hugo Bruckmanns wohl während der vielmonatigen Trennung gereifter Entschluß, die gemeinsame Beziehung endgültig zu beenden. Bis ins Mark erschüttert, sieht sie im Selbstmord den einzigen Ausweg. Am 19. Januar 1897 bringt sie unter dem Titel »Mein letzter Wunsch« ihren Abschied zu Papier: »Wenn ich tot bin gebt ihm Alles zurück was ich von ihm habe. Die Briefe lest nicht, sie sind das Stück Leben, das nur ihm und mir gehört. […] Schaut, wenn mir auch diese Liebe Leid gebracht – unsägliches unfassbares Leid, war’s weil Ich sie nimmer zu bannen vermocht’ hab u. – er mir nicht mehr, – er, der sie so wundersam geweckt. Ihm aber war sie erstorben, verweht. Was sollte er thun? Verzeiht ihm drum, lasst ihm nicht entgelten, was das Schicksal zerstört hat! Seid ihm gut! Lasst Euch meine letzte Bitte heilig sein!«

    Merkwürdig, daß sie dieses großmütige und zugleich theatralische Lebensdokument aufbewahrt hat. Denn sie scheidet nicht aus dem Le-ben, sondern stürzt sich in die Arbeit und verkündet schon knapp drei Wochen später, am 12. Februar 1897, in gespielter oder echter Selbstver-ständlichkeit im Brief an Hof manns thal: »Ich arbeite fleißig d. h. zeichne, sticke, u. was sonst zu ›applied art‹ gehört.«205 Am 15. April 1897 wird auch Harry Graf Kessler erfahren: »Ich bin frisch an der Arbeit: allerlei ›applied art‹. Ich wollte, ich könnte Ihnen Manches zeigen u. Sie um Ihr

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