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Hans-Dieter Klingemann/Richard Stöss/Bernhard Weßels
Politische Klasse und politische Institutionen
Mit dieser Publikation verfolgen die Herausgeber die Absicht - und nehmen den 60. Geburtstag von Dietrich Herzog zum Anlaß -, die Diskussion über Gegenstand und Nutzen dessen, was gemeinhin als "Elitenforschung" bezeichnet wird, zu stimulieren. Dieses Forschungsterrain, in dem sich Herzog seit über 25 Jahren bewegt, gilt in der politischen Wissenschaft der Bundesrepublik als - gelinde gesagt - schwierig. Schon die Bezeichnung "Elite" wird oft als degoutant empfunden. Und bei der demokratietheoretischen Verortung von Begriffen wie Führung, Karriere oder Selek'iion herrscht nicht selten erhebliche Irritation vor. Die Ursachen für die Randständigkeit der Elitenforschung liegen unseres Erachtens jedoch auch in ihrer unzureichenden theoretischen Fundierung und in der Unsicherheit über ihren Gegenstand. Anknüpfend an die Forschungen von Herzog, wird hier daher zunächst der Versuch unternommen, Perspektiven für dieses -wie wir glauben durchaus zukunftsträchtige - Forschungsfeld aufzuzeigen.
I.
Vor rund zehn Jahren schrieb Dietrich Herzog in der Einleitung zu seinem Buch "Politische Führungsgruppen", daß die deutsche Elitenforschung im Vergleich zu anderen sozialwissenschaftliehen Forschungsfeldern "weder im Bewußtsein der Öffentlichkeit noch an den Hochschulen hinreichend etabliert" seil. Dieser Befund gilt noch heute. Gewiß: Empirische Elitenuntersuchungen stellen mittlerweile auch in der Bundesrepublik ein "allgemein akzeptiertes Instrumentarium der politikwissenschaftlichen Forschung"2 dar. Von einer Kontinuität der Elitenforschung hierzulande wird man jedoch nicht sprechen wollen. Zwar verfügen wir über eine
1 Dietrich Herzog, Politische Führungsgruppen. Probleme und Ergebnisse der modernen Elitenforschung, Darmstadt Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982, S. 2.
2 Ursula Hoffmann-Lange, Eliten und Demokratie in der Bundesrepublik, in: Max Kaase (Hrsg.), Politische Wissenschaft und politische Ordnung. Analysen zu Theorie und Empirie demokratischer Regierungsweise. Festschrift zum 65. Geburtstag von RudolfWildenmann, Opladen: Westdeutscher Verlag 1986, S. 319.
10 Hans-Dieter Klingemann/Richard Stöss/Bemhard Weßels
Reihe von empirischen Studien zu Teilaspekten und speziellen Führungsgruppen (Parteien, Verbände, Parlamente, Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik, Verwaltung, Wirtschaft, Militär etc.). Umfassende Untersuchungen über Karrieremuster, Einstellungen oder Kommunikationsstrukturen bilden freilich die Ausnahme. An keiner deutschen Universität konnte sich ein Zentrum der Elitenforschung etablieren, nicht einmal ein Lehrstuhl wurde für diesen Bereich geschaffen. Anzumerken ist überdies, daß die Elitenforschung in der deutschen politologischen und soziologischen scientific community nicht organisiert ist und daß die wissenschaftliche Diskussion ihre Impulse weithin aus dem englischsprachigen Ausland bezieht. Immer noch scheint Putnams "Comparative Study of Political Elites" das Standardwerk der Elitenforschung zu sein3.
Dieser Zustand wird zumeist darauf zurückgeführt, daß der Begriff Elite vielfach negative Assoziationen (antidemokratisch, autoritär, exklusiv etc.) wecke4 und gerade in Deutschland durch historische Belastungen diskreditiert seis. Diese Erklärung bleibt freilich mit Blick auf die gegenwärtigen Sozialwissenschaften unbefriedigend, da hier doch insgesamt6 die Auffassung vorherrscht, daß Eliten und Demokratie nicht nur miteinander vereinbar seien, sondern sich sogar weithin gegenseitig bedingten?. Waschkuhn brachte das vor einiger Zeit auf folgende Formel: "Generell ist festzustellen, daß politische Eliten im funl'i.ionalen Sinn für hochdifferenzierte Gesellschaften unverzichtbar sind; sie bedürfen jedoch der Legitimation, und ihre Verselbständigung oder 'Selbstperpetuierung' ist zu verhindem."8 Der Gedanke an sich ist keineswegs neu. Bereits 1951 hatte sich Otto Stammer ausführlich in diesem Sinne geäußert.
Die Randständigkeit der bundesdeutschen Elitenforschung wird ersichtlich, zählt man ihre wichtigsten Stationen auf. Da ist zunächst die damalige Tübinger Gruppe um Ralf Dahrendorf und Wolfgang ZapfJ. 1956 hatten bereits Daniel
3 Robert D. Putnam, The Comparative Study of Po/itical Elites, Englewood Cliffs: Prentice-Hall 1976.
4 Darüber hat sich schon Michels beklagt: Die Demokraten, einerlei ob bürgerlich oder proletarisch, erwiesen sich der Untersuchung des Führerproblems gegenüber "argwöhnisch, kitzlieh und übelnehmerisch". Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, 4. Aufl., hrsg. v. Frank R. Pfetsch, Stuttgart: Kröner 1989, S. LI. -Das Zitat entstammt dem Vorwort zur 2. Auf!. von 1925.
5 Herzog, Politische Führungsgruppen (Anm. 1), S. 2. 6 Zur kritischen Position zusammenfassend: Elmar Wiesendahl, Neue Soziale Bewe
gungen und moderne Demokratietheorie. Demokratische Elitenherrschaft in der Krise, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M./New York: Campus 1987, S. 364 ff. (Neuaufl. 1991).
7 Siehe dazu Wolfgang Felber, Eliteforschung in der Bundesrepublik Deutschland. Analyse, Kritik, Alternativen, Stuttgart: Teubner 1986, S. 30 ff.
8 Arno \Vaschklthn, Sind Eliten (un)demokratisch, oder: V/ie gut "bemannt" sollten In= stitutionen sein?, in: Wolfgang Luthardt/Arno Waschkuhn (Hrsg.), Politik und Repräsentation. Beiträge zur Theorie und zum Wandel politischer und sozialer Institutionen, Marburg: SP-Verlag 1988, S. 29.
9 Wolfgang Zapf (Hrsg.), Beiträge zur Analyse der deutschen Oberschicht, Tübingen: Präzis 1964; ders., Wandlungen der deutschen Elite. Ein Zirkulationsmode/1 deutscher
Politische Klasse und politische Institutionen 11
Lerner und seine Mitarbeiter die umfragebasierte Elitenforschung in Deutschland
eingeführt, um Einstellungen und Verhaltensweisen von Eliten der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens zu ermittelnlO. Die in diese Studien eingebundenen deutschen Wissenschaftler, vor allem Renate Mayntz und Erwin K. Scheuch,
haben diesen Ansatz unter anderem mit ihren Studien 1961 und 1965 im Rahmen der "European Elite Panel Study" weiterverfolgt11. Sodann sind die drei
Mannheimer Befragungen des Kreises um Rudolf Wildenmann12 zu nennen und schließlich die von Dietrich Herzog geleiteten Arbeiten an der Freien Universität
Berlin. Es ist nicht zuletzt das Verdienst von Herzog, daß von einer Randständigkeil der Elitenforschung in Deutschland überhaupt die Rede sein kann.
Spiritus rector der Berliner Elitenforschung war Otto Stammer, der langjährige
Leiter des 1950 gegründeten Instituts für politische Wissenschaft (IpW), das 1970 mit dem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte zum Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung zusammengelegt wurde13. In seinem Tätigkeitsbe
richt zum zehnjährigen Bestehen des Instituts nannte er folgende
Führungsgruppen 1919-1961, München: Piper 1965; RalfDahrendorf, Gesell~chaft und Demokratie in Deutschland, München: Piper 1968.
10 Daniel Lemer/Morton Gordon, Euratlantica, Cambridge, Mass./London: MIT Press 1969.
11 Erwin K. Scheuch, Führungsgruppen und Demokratie in Deutschland, in: Die Neue Gesellschaft, 13. Jg.(1966), s. 356 ff.; s.a. ders., Continuity and Olange in German Social Structure, in: Historische Sozialforschung, Bd. 13 (1988), H. 2, S. 21 ff., insbes. der Abschnitt "The Elite in West Germany", S. 54 ff.
12 Aus der Vielzahl der Veröffentlichungen seien hier nur einige Beispiele genannt Studie 1968: Edo Enke, Oberschicht und politisches System der Bundesrepublik Deutschland. Soziale Mobilität und Karrieremuster von 800 Inhabern von Spitzenpositionen der westdeutschen Gesel~cluift, Frankfurt a.M.: Peter Lang 1974; Dieter Roth, Zum Demokratieverständnis von Eliten in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M.: Peter Lang 1976. Studie 1972: Ursula Hoffmann-Lange, Politische Einstellungsmuster in der westdeutschen Führungsschicht, Diss., Mannheim 1977; Ursula Hoffmann-Lange/Helga Neumann/Bärbel Steinkämper, Konsens und Konflikt zwischen Führungsgruppen in der Bundesrepublik Deutschland. Eine empirische Analyse, Frankfurt a.M.: Peter Lang 1980; Helga Neumann, Zur Machtstruktur in der Bundesrepublik Deutschland. Eine empirische Untersuchung über Artikulationschancen gesel~chaftlicher Interessen im politischen Entscheidungsprozeß, Meile: Knoth 1979. Studie 1981: Hoffmann-Lange, Eliten (Anm. 2); dies., Wer gehört zur Machtelite der Bundesrepublik?, in: Der Bürger im Staat, 40.Jg.(1990), H.1, S. 54ff. (Dieses Sonderheft "Eliten in der Bundesrepublik" ist auch als Kohlhammer-Taschenbuch erschienen: Stuttgart usw. 1990).
13 Stammer war zunächst Vorstandsmitglied und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats und dann von 1954 bis 1969 Wissenschaftlicher Leiter des von der Freien Universität und der Deutschen Hochschule für Politik als eingetragener Verein gegründeten Instituts. Siehe Hans-Helmut Lenke/Alf Mintzel, Otto Stammer 75 Jahre, sowie Tilman Fichter/Siegward Lönnendonker, Historisch-empirische Politikforschung in Berlin, beide in: Sozialwissenschaftliche Forschungen. Arbeitsbericht des Zentralinstituts 6 der Freien Universität Berlin 1972-1975. Im Auftrag des Institutsrates zusammengestellt und bearbeitet v. Ute Schmidt, München: Verlag Dokumentation 1975, S. XIII ff., 1 ff.; ausführliche biographische Anmerkungen auch in: Jürgen Fijalkowski, Otto Stamrner, in: ders. (Hrsg.), Politologie und Soziologie. Otto Stammer zum 65. Geburtstag, Köln u. Opladen: Westdeutscher Verlag 1965, S. 7 ff.
12 Hans-Dieter Klingemann/Richard Stöss/Bernhard Weßels
Forschungsschwerpunkte: "Auflösung der Weimarer Republik und Aufbau des nationalsozialistischen Herrschaftssystems", "Strömungen des Rechtsradikalismus im heutigen Deutschland", "Entstehung und Strukturzusammenhang des kommunistischen Machtsystems in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands", "Analyse von Wahlkämpfen und Wählerentscheidungen in Berlin und der Bundesrepublik", "Untersuchungen über die politische Funktion und das
innere Gefüge deutscher Parteien" sowie "Analyse der Einflußnahme von Interessenverbänden auf politische Institutionen und politische Entscheidungen" 14.
Obwohl Stammer bereits 1951 in seinem Aufsatz "Das Elitenproblem in der Demokratie" auf die Bedeutung von Eliten sowohl für demokratische Systeme als
auch für die Sozialwissenschaften hingewiesen hattelS und obwohl den politischen Führungsgruppen durchaus ein gewisser Stellenwert bei den Institutsforschungen zukam, fand die Elitenforschung in diesem Tätigkeitsbericht keine Erwähnung. Über die Ursachen dafür läßt sich nur spekulieren. Für Stammer stellte "die Erforschung der Machtprozesse, der politischen Institutionen und des politischen Handeins in modernen demokratischen und autokratischen Herrschaftssystemen eine der Hauptaufgaben der politischen Wissenschaft"16 dar, wobei er stets die übergreifenden politisch-gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse vor allem unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten im Blick hatte. Einzelne Forschungsvorhaben des Instituts sollten sich mit spezifischen politikwissenschaftlichen Fragenkomplexen befassen, ohne jedoch die gesellschaftlich-politischen Zusammenhänge aus den Augen zu verlieren. Das Elitenproblem sah er damals offenbar als einen durchaus bedeutsamen, jedoch nicht isolierbaren Aspekt der Machtbildung. So finden sich bereits im ersten Band der Schriftenreihe des Instituts über die Berliner Wahlen von 1950 ausführliche elitensoziologische Analysen über Kandidaten und Parlamentarier17. Auch die Institutsuntersuchungen über die DDR befaßten sich immer wieder mit Fragen der Elitenstruktur, Führungsauslese und Kaderpoli-
14 Otto Stammer, Zehn Jahre Institut für politische Wissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Politische Forschung. Beiträge zum zehnjährigen Bestehen des Instituts für politische Wissenschaft, Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag 1960, S. 194.
15 Otto Stammer, Das Elitenproblem in der Demokratie, in: Schmol/ers Jahrbuch für Gesetzgeb!fng, Verwaltung und Volkswirtschaft, 71Jg.(1951), H.S, S. lff. Stammer hat seine Uberlegungen später präzisiert: ders., Zum Elitenbegriff in der Demokratieforschung, in: Sozialökonomie in politischer Verantwortung. Festschrift für Joachim Tiburtius, Berlin: Duncker u. Humblot 1964, S. 67 ff.- Beide Artikel sind abgedr. in: ders., Politische Soziologie und Demokratieforschung. Ausgewählte Reden und Aufsätze zur Soziologie und Politik. Aus Anlaß seines 65. Geburtstages hrsg. v. Mitarbeitern und Schülern, Berlin 1965. (Nach dieser Ausgabe wird hier zitiert) -Vgl. auch das Kapitel "Elitenbildung und Bürokratisierung" in: ders./Peter Weingart unter Mitarbeit von Hans-Helmut Lenke, .~.0olitische Soziolog!.e, ~A.ünchen: J~.,.·venta
1972, s. 130ff. 16 Stammer, Zehn Jahre (Anm. 14), S. 193. 17 Vgl. Stephanie Münke, Wah/kampfundMachtverschiebung. Geschichte und Analyse
der Berliner Wahlen vom 3. Dezember 1950, Berlin: Duncker u. Humblot 1952, S. 59ff., 218ff.
Politische Klasse und politische Institutionen 13
tik18. Erst in den sechziger Jahren gewann die Elitenthematik mit den Forschungen von Dietrich Herzog über die Bundesrepublik und von Peter Christian Ludz über die DDR19 - dem allgemeinen Trend zur wissenschaftlichen Spezialisierung folgend - ein eigenständiges Gewicht in der Forschungsplanung des Instituts.
In seinem Aufsatz von 1951 begründete Stammer die Notwendigkeit von Eliten in demokratietheoretischer Hinsicht umfassend mit Argumenten, die mittlerweile zum Standardrepertoire der Politikwissenschaft zählen. Er räumte gründlich mit dem vermeintlichen Widerspruch von Eliten und Demokratie auf: In modernen Massengesellschaften bedeute Demokratie in erster Linie repräsentative Demokratie. Demokratie sei "unter den psychologischen Voraussetzungen der Menschennatur und unter den sozialen Voraussetzungen der Gruppenbildung nicht Volksherrschaft, sondern Herrschaft im Auftrage und unter Kontrolle des Volkes". Und weiter: "Angesichts der vorerst unüberwindlichen großen bürokratisch funktionierenden Apparaturen ist das Volk in seiner Gesamtheit überhaupt nicht in der Lage, den politischen Willen in der bei der zunehmenden Komplizierung der sozialen und politischen Entscheidungen erforderlichen Gründlichkeit und Präzision ohne die Hilfe sozial und politisch aktiver Minderheiten zu bilden."20 Stammer war fest davon überzeugt, daß Eliten für die Funktionsflihigkeit eines Systems "schlechthin entscheidend" seien, betonte zugleich aber auch die Notwendigkeit demokratischer Delegationsmechanismen und "ständige[r] Kontrolle der die Herrschaft ausübenden Eliten und ihrer Entscheidungen"21.
Stammer betrachtete das Elitenproblem jedoch nicht nur unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten (wenn diese zunächst auch eindeutig im Vordergrund standen), sondern auch als Gegenstand der empirischen Forschung. Begriffe wie Elitensoziologie oder Elitenforschung benutzte er damals freilich noch nicht. Er sprach lediglich von Forschungsproblemen bzw. Forschungsfragen der politischen Soziologie. Als Eliten in demokratischen Systemen bezeichnete er die "mehr oder weniger geschlossenen sozialen und politischen Einflußgruppen, welche sich aus den breiten Schichten der Gesellschaft und ihren größeren und kleineren Gruppen auf dem Weg der Delegation oder der Konkurrenz herauslösen, um in der sozialen oder der politischen Organisation des Systems eine bestimmte Funktion zu übernehmen"22. Diese Definition der Funktionselite ist heute keineswegs überholt. Und auch sein Forschungsprogramm ist noch längst nicht eingelöst. Er benannte unter anderem folgende Aufgaben: - Identifizierung der Eliten in den verschiedenen gesellschaftlich-politischen Be
reichen (Politik, Wirtschaft, Justiz etc.);
18 Vgl. z.B. Joachim Schultz, Der Funktionär in der Einheitspartei. Kaderpolitik und Bürokratisierung in der SED, Villingen: Ring-Verlag 1956; Ernst Richert, Macht ohne Mandat. Der Staatsapparat irt der Sowjetisclu:n Besatzungszone Deutschlands, Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag 1958 (2. Aufl. 1963).
19 Siehe dazu weiter unten. 20 Stammer, Das Elitenproblem, zit. nach Politische Soziologie (Anm. 15), S. 75, 73f. 21 Ebd., S. 76. 22 Ebd., S. 71.
14 Hans-Dieter Klingemann/Richa:rd Stöss/Bernhard Weße/s
- Beziehungen der Eliten zu ihren "Muttergruppen", aus denen heraus sie wirksam werden und auf die sie bezogen sind, und zu den hinter ihnen stehenden und sie umgebenden sozialen Großgruppen;
- Binnenstruktur der Eliten, Integrationsmechanismen und Gruppenbewußtsein; - Auswahl der Eliten (Selektion, Kooptation, Wechsel); - Elitenkonkurrenz (Leistungskonkurrenz, Kooperation, Konsens) und Opposi-
tion innerhalb der Teileliten. Abschließend sei noch erwähnt, daß Stammer der vergleichenden Analyse einen
hohen Stellenwert eimäumte, und dies in zweifacher Hinsicht: Zum einen forderte er längsschnittorientierte Betrachtungen der deutschen Eliten, insbesondere den Vergleich zwischen der NS-Elite und den Nachkriegseliten. Zum anderen lag ihm der Vergleich zwischen "totalitär-autokratischen" (dabei dachte er offenbar sowohl an das faschistische als auch an stalinistische Regime) und demokratischen Systemen besonders am Herzen. Totalitäre Systeme, egal welcher Provenienz, zeichnen sich nachStammerunter anderem dadurch aus, daß die Eliten weniger Funktionseliten, sondern eher Werteliten darstellen, daß sie im Prozeß der politischen Willensbildung ausschließlich von oben nach unten agieren und daß sie nicht die "enge politische Verbindung zwischen den Volksmassen, den einzelnen Gruppen der Gesellschaft und der Führung des Staates" dar- bzw. herstellen23• Wenn ein politisches System überhaupt auf Grund seines Aufbaus scheitern könne, so Starnmer, dann sei die Weimarer Demokratie "an den Fehlern ihrer Elitenbildung zugrunde gegangen"24. Heute würde er vermutlich in diesem Zusammenhang auch die DDR und andere osteuropäische Staaten erwähnen.
Der von Stammer so nachdrücklich herausgearbeitete funktionale Zusammenhang von Eliten und Demokratie legt es nahe, die immer wieder konstatierte Randständigkeil der Elitenforschung nicht nur auf die ideologischen Konnotationen des Elitebegriffs und auch nicht nur auf die altbekannten Kontroversen zwischen Demokratietheoretikern und Elitentheoretikern zurückzuführen, sondern die Ursachen dafür auch in der Elitenforschung selbst zu suchen. Wir werden die Frage, wie dieser Forschungszweig aus seinem Schattendasein herausgeführt werden könnte, später wieder aufgreifen.
n.
Dietrich Herzog war Schüler von Otto Stammer und Ernst FraenkeL Dies ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil sich der eher konservative Schüler zwei akademische Lehrer auserwählt hatte, die stark vom sozialistischen Denken geprägt und der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, und hier wiederum besonders den
23 Ebd., S. 80. 24 Ebd., S. 79.
Politische Klasse und politische Institutionen 15
Gewerkschaften, verpflichtet waren. Herzog vermochte es auch als einer der weni
gen Doktoranden, beide gemeinsam für ein Promotionsverfahren zu gewinnen. Denn zwischen Stammer und Fraenkel herrschten bekanntlich erhebliche Animositäten.
Beide haben den Aufbau der Politikwissenschaft im Nachkriegsdeutschland entscheidend und nachhaltig geprägt, mit allerdings oft unterschiedlichen institutionellen Präferenzen und inhaltlichen Perspektiven. Der 1938 in die USA emigrierte Arbeits- und Staatsrechtier Fraenkel wurde 1953, einige Jahre nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik, Ordinarius für Theorie und vergleichende Geschichte politischer Herrschaftssysteme an der Philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin und lehrte zunächst an der Deutschen Hochschule für Politik (DHfP) und dann an dem 1959 daraus entstandenen Otto-Suhr-Institut. Stammer überwinterte im Nationalsozialismus (nach längerer, politisch bedingter Arbeitslosigkeit) als Angestellter in der pharmazeutischen Industrie. Von Leipzig nach Berlin übergesiedelt, fand er 1949 mit seiner Habilitation für das Fach Soziologie den Weg an
die Freie Universität, wo er an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät 1951 zunächst zum außerordentlichen Professor und 1955 dann zum Ordinarius für Soziologie und politische Wissenschaft berufen und ·zugleich Mitdirek.1:or des von ihm mitbegründeten Instituts für Soziologie an dieser Fakultät wurde25.
In wissenschaftstheoretischer und wissenschaftspolitischer Hinsicht waren beide jedoch keineswegs so weit auseinander, wie es ihr gespanntes persönliches Verhältnis vermuten ließ. Der Ökonom und Soziologe Stammer hatte einen ausgeprägten Sinn für politische Institutionen und den Staat, stellte die politische So
ziologe doch sein hauptsächliches Arbeitsgebiet dar. Und der Politologe Fraenkel, der Begründer und führende Theoretiker des Neo-Pluralismus, übersah keineswegs die gesellschaftlichen Bedingungen von Politik. Beide waren besonders stark an demokratietheoretischen Fragestellungen interessiert und auch institutionell einander immer wieder auf vielf<iltige Weise verbunden: So war Stammer durch seinen Lehrstuhl ebenfalls an der DHfP und am Otto-Suhr-Institut engagiert, und Fraenkel war längere Zeit Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des von Starnmer geleiteten Instituts für politische Wissenschaft.
Herzog verstand es mit der Thematik seiner Dissertation, die sich mit der Klas
sen- und Sozialstrukturanalyse beschäftigte, das Interesse beider Politikwissenschaftler zu wecken. Vor seiner Flucht aus der DDR hatte er Pädagogik, Geschichte und Soziologie in Halle studiert26 und war dabei zunehmend in politische
und wissenschaftliche Opposition zum Marxismus-Leninismus geraten. Als die
25 Zur Biographie Stammers s. Anm. 13. Zu Fraenkel vgl. die biographischen Anmerkungen in: Günther Doeker/Winfried Steffani (Hrsg.), Klassenjustiz und Pluralismus. Festschrift für Emst Fraenkel zum 75. Geburtstag, Hamburg: Hoffmann u. Campe 1973; Ernst Fraenkel, ReformiS11UlS und Pluralismus. Materialien zu einer ungeschriebenen politischen Autobiographie, zusammengestellt und herausgegeben v. Falk Esche u. Frank Grube, Hamburg: Hoffmann u. Campe 1973.
26 Die biographischen Angaben beruhen auf einem ausführlichen Interview mit Dietrich Herzog am 13.3.1991.
16 Hans-Dieter Klingemann/Richard Stöss/Bernhard Weßels
Fortsetzung seines Studiums gefährdet erschien, wechselte er nach Berlin, um seine gesellschaftswissenschaftliehen Studien in einem freien Klima zu beenden. Herzog war (und ist) kein Empiriker im behavioralistischen Sinne, wohl aber stark an der empirischen Realität orientiert und interessiert. Der in der DDR gepflegte Dogmatismus hatte ihm keinen Spielraum gelassen, seine wissenschaftlichen Interessen zu entfalten, und so war es sicherlich kein Zufall, daß er sich in seiner Dissertation mit neueren Methoden der Klassen- und Schichtungsanalyse beschäftigte. Indem er sich dabei auf die amerikanische Stratifikationsforschung am Beispiel der Arbeiten von William Lloyd Wamer konzentrierte, folgte er zwar nicht einer unmittelbaren Anregung von Stammer oder Fraenkel (Stammer mußte er das Thema regelrecht "unterschieben"), war aber von der politischen Soziologie Stammers und den Vorlesungen und Seminaren Fraenkels stark beeindruckt. Gerade Fraenkel hatte sich intensiv mit der Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft beschäftigt und war immer auch der Frage nachgegangen, warum sich in den USA als Folge der Industrialisierung keine Klassengesellschaft nach westeuropäischem Muster und keine nennenswerten sozialistischen Traditionen herausgebildet hatten27.
Mit seiner Dissertation "Klassengesellschaft ohne Klassenkonflikt"28 brachte Herzog das wissenschaftliche Werk des in der Bundesrepublik weithin unbekannten und mithin kaum rezipierten Wamer, der eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der neueren amerikanischen Soziologie spielte, dem deutschen akademischen Publikum nahe. Wamer hatte seit Anfang der dreißiger Jahre empirische Untersuchungen über Struktur und Funktion von sozialen Klassen auf Gemeindeebene durchgeführt, wobei er die Gemeinde als Forschungslaboratorium, als mehr oder weniger geschlossenen Interaktionsraum von Individuen, Gruppen Klassen und Institutionen betrachtete.
Im Vorwort zum Warner-Buch erläutert Herzog unter anderem auch sein persönliches Erkenntnisinteresse und deutet ein Problem an, das ihn in seinen späteren Arbeiten immer wieder beschäftigen sollte: Konsensbildung als eine Funktionsbedingung für Demokratie in differenzierten Industriegesellschaften. "Während die soziologische Forschung und das gesellschaftspolitische Denken allgemein gewohnt waren, die Existenz sozialer Klassen als eine der wichtigsten Ursachen gesellschaftlicher Konflikte, nach der marxistischeQ Theorie überdies als Ursache fundamentalen Gesellschaftswandels zu betrachten, warf Wamer die Frage nach der integrativen, eine gesellschaftliche Ordnung stabilisierenden Funktion der Klassenstruktur auf."29 Das Spannungsverhältnis von Konflikt und Konsens stellte auch ein zentrales Thema der Pluralismustheorie von Fraenkel dar, der sich - allerdings aus politikwissenschaftlicher Sicht und stark normativ orientiert -
27 Siehe dazu auch die Beiträge von Seymor Martin Lipset und Heinz Eulau in diesem Band.
28 Dietrich Herzog, Klassengesellschaft ohne Klassenkonflikt. Eine Studie über William Lloyd W arner und die Entwicklung der neuen amerikanischen Stratifikationsforschung, Berlin: Duncker u. Humblot 1965.
29 Ebd., S. 5.
Politische Klasse und politische Institutionen 17
mit der Vermittlung von konfliktorischen und konsenshaften Elementen einer Gesellschaft befaßte30.
Warner tat dies aus soziologischer Perspektive. Indem er die Klassengesell
schaft nicht nach sozialstruktureilen Merkmalen (Besitz, Einkommen, Berut), son
dern nach sozialem Prestige, sozialem Verhalten und sozialen Einstellungen gliederte, er also die sozialen Klassen (auf der Grundlage von Selbsteinschätzungen und Fremdzuweisungen) als Statusgruppen definierte, vollzog er nicht nur einen radikalen Bruch mit ökonomischen Klassentheorien, sondern eröffnete sich
zugleich die Möglichkeit empirischer Stratifikations- und Mobilitätsana!ysen. Für die Hafenstadt Newburyport in Massachusetts ("Yankee City") ermittelte er bei
spielsweise ein System von sechs hierarchisch geordneten sozialen Klassen, deren
Größe er mit seiner Methode exakt bestimmen konnte. Um die sehr unterschiedlichen Verhaltensmuster innerhalb der Klassen zu erklären, entwickelte er ein Posi
tionstableau aus der Zugehörigkeit zu einer Klasse und zu spezifischen sozialen Gruppen (Familien, Freundeskreise, Betriebe, Vereine, politische Organisationen
etc.) und analysierte daraufhin die Bedeutung der sozialen Gruppen für die Klas
senstruktur. Es zeigte sich, daß die sozialen Gruppen im wesentlichen zwei Funktionen hatten: Sie dienten entweder der Abkapselung von Klassen gegeneinander
oder stellten Verbindungsglieder zwischen den Klassen dar. Daß eine Klassengesellschaft nicht infolge von Inflexibilität und Polarisierung erstarrt, verdankt sie
nach Warner dem Doppelcharakter dieser Gruppen, die soziale Mobilität zugleich behindern und ermöglichen.
Nach Beendigung seines Promotionsverfahrens (1964) hat Herzog die Sozial
strukturanalyse nicht weiter verfolgt. Gleichwohl blieben Schichtung, funktionale Differenzierung sozialer Systeme und spezifische Formen der beruflichen Mobili
tät nicht ohne Einfluß auf seine elitensoziologischen Forschungen. Er wandte sich nunmehr vor allem der Parlamentarismus- und Parteienforschung, hauptsächlich
jedoch - auf Anregung von Stammer - der Elitenproblematik zu. Starkes Interesse
zeigte er für Max Weber, den er ausführlich studierte und mit dem ihn nicht nur die "Zurückhaltung vor voreiligen Generalisierungen"31 verbarid (und noch immer
verbindet). Im Dezember 1965 referierte er auf einer Konferenz der International
Sociological Association (ISA) über "Max Weber als Klassiker der
Parteiensoziologie" und präsentierte erstmalig eine zusarllllenfassende Darstellung
30 Vgl. z.B. Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 7. Aufl., Stuttgart usw.: Kohlhammer 1979, S. 173ff., insbes. S. 184ff. Mit dem Aufsatz "Strukturanalyse der modernen Demokratie" (APUZ 49/69, S. 3ff.) hinterließ Fraenkel eine ebenso präzise wie kompakte Version seiner Pluralismustheorie, in der er das Nebeneinander eines "kontroversen Sektor[s] ohne einen generellen Konsens" und eines "nichtkontroversen Sektor[s] mit einem generellen Konsens" in modernen IndustriegesellschaJ."ten als "offenkundige Selbst'ierständlichkeit" bezeichnet, die dann nicht zur Desintegration führe, wenn die Interessengegensätze offen ausgetragen werden könnten und der Staat nicht gehindert sei, an ihrer Schlichtung mitzuwirken (S. 23).
31 Dietrich Herzog, Max Weber als Klassiker der Parteiensoziologie, in: Soziale Welt, 19.Jg.(1966), H.3, S. 232.
18 Hans-Dieter Klingemann/Richard Stöss/Bemhard Weße/s
der Auffassungen Webers über politischen Parteien32. Unverständlicherweise war dieser Aspekt seiner Soziologie zuvor kaum zur Kenntnis genommen worden, obwohl Weber selbst den Parteien große Bedeutung beimaß und ihnen offenbar eine besondere Schrift widmen wollte.
Aber zurück zur Elitenforschung. 1967 beauftragte Stammer Herzog mit der Vorbereitung und Durchführung der ersten großen Elitenstudie des Instituts für die Bundesrepublik33. Ursprünglich war eine enge methodische und inhaltliche Verknüpfung mit dem von Nils Diederich geleiteten Forschungsprojekt "Das Parteimitglied in der deutschen Politik"34 vorgesehen. Die vergleichende Betrachtung von Parteimitgliedern und -führungsgruppen wurde dann jedoch nicht realisiert, weil bei der Konzeptualisierung der Elitenstudie die Rolle der politischen Parteien (als unbestritten maßgebliche Agenturen der Rekrutierung und Selektion von politischen und administrativen Mandatsträgem und Amtsinhabern) zugunsten eines karrieretheoretischen Ansatzes zurücktrat35. Denn die empirische Elitenforschung hatte sich damals bereits ausführlich mit dem sozialen Hintergrund, der Repräsentativität und der Zirkulation von politischen Führungsgruppen, aber kaum mit der systematischen Analyse von Karrieremustern befaßt. Darin sah Herzog ein gravierendes Forschungsdefizit, das er zum Gegenstand seines Forschungsprojekts "Politische Karrieren" machte. Es ging ihm darum, "politische Führungsauswahl nicht nur als Summe individueller Aufstiegserfolge oder als bloßes Substrat gesellschaftlicher Bedingungen, sondern als einen Prozeß des Handeins von Personen im Kontext Sozialstruktureller und organisatorischer Möglichkeiten zu verstehen und zu analysieren"36. Die Leitfragen der Untersuchung (Wie vollzieht sich die Auswahl des politischen Führungspersonals? Welches sind die wesentlichen Bedingungen des Selektionsprozesses?) und ihr Design (Analyse longitudinaler Entwicklungsverläufe der individuellen Karrieren von Spitzenpolitikern) führten zwangsläufig weg von den politischen Parteien (ohne allerdings ihre maßgebliche Bedeutung für politische Karrieren auszublenden) und hin zum Parlament, denn die Spitzenpolitiker in der Bundesrepublik Deutschland waren und sind in der Regel Mitglieder des Deutschen Bundestages. Überhaupt bewegen sich die Forschungen Dietrich Herzogs seither im Grenzbereich von Parlamentssoziologie und Elitensoziologie, und das könnte uns als Hinweis für die Beantwortung der immer
32 Siehe Anm. 31. 33 1968 wurden die Ergebnisse der Elitenstudie von Peter Christian Ludz über die DDR
veröffentlicht ("Parteielite im Wandel"). Siehe dazu weiter unten. 34 Die Ergebnisse sind veröffentlicht in: Jürgen Dittbemer/Rolf Ebbighausen (Hrsg.),
Parteiensystem in der Legitimationskrise. Studien und Materialien zur Soziologie der Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen: Westdeutscher Verlag 1973 (Beiträge v. Nils Diederich u. Armin Meyer).
35 Vgl. Dietrich Herzog, Political Parties and Political Leadership Selection. Prolegomena for a Research Project, in: Orto Stammer (Hrsg.), Party Syste:r.s, Party Organizations, and the Politics of New Masses. Beiträge zur 3. Internationalen Konferenz über Vergleichende Politische Soziologie, Berlin, 15.-20. Januar 1968, Berlin: Institut für Politische Wissenschaft 1968, S. 160ff.
36 Dietrich Herzog, Politische Karrieren. Selektion und Professionalisierung politischer Führungsgruppen, Opladen: Westdeutscher Verlag 1975, S. 5.
Politische Klasse und politische Institutionen 19
noch offenen Frage dienen, warum die Elitenforschung nur ein randständiges Dasein innerhalb der Sozialwissenschaften führt. Aber dazu später. Hier soll nur festgehalten werden, daß für Herzog nicht das Parteiensystem, sondern das Parlament den Bezugsrahmen für die Analyse politischer Karrieren bildete. Er orientierte sich bei der Formulierung seiner Leitfragen an der Untersuchung von Gerhard Loewenberg über den Deutschen Bundestag37.
Loewenberg hatte sich ausführlich mit dem Zusammenhang von Parlamentsfunktionen und Rekrutierungsprozessen beschäftigt. Zugleich mit dem Wandel des Parlaments von einem Organ der Interessenrepräsentation zu einem Führungs- und Kontrollorgan der Verwaltung bildeten - so Loewenberg - Spezialisierung und Fachwissen eine zunehmend wichtigere Voraussetzung dafür, daß die Abgeordneten ihre Aufgaben auch effektiv erfüllen können. Nicht der Interessenvertreter, sondern der Fachmann und Politiker gewährleiste die Funktionsfähigkeit des Parlaments. Die wichtigsten Führungspositionen im Deutschen Bundestag nähme eine kleine Gruppe von Berufspolitikern ein, deren herausragende Stellung weniger auf ihren besonderen Einflußmöglichkeiten, sondern auf ihren langjährigen praktischen Erfahrungen, auf ihrer spezifischen politischen Karriere beruhte. Daraus leitete Herzog zwei Kernprobleme für seine Studie ab: Zum einen die Diskrepanz zwischen dem Funktionswandel des Parlaments und den eher traditionellen und verharschten Rekrutierungsmustern und zum anderen die mangelnde Offenheit und Flexibilität der Selektionsprozesse von Spitzenpolitikem. Bei der Untersuchung der Rekrutierungsvorgänge sei "davon auszugehen, daß in einem durch freie Konkurrenz um politische Mandate gekennzeichneten ... personellen Auswahlprozeß der Berufspolitiker nicht schon als solcher seine politische Karriere beginnt. Vielmehr ist die Rolle des Berufspolitikers gleichsam das Ergebnis eines Rekrutierungsvorganges, dessen Strukturen, Bedingungen und Konsequenzen ... zum Gegenstand der empirischen Analyse zu machen sind."38 Die immer wieder konstatierte selektive Disproportionalität sozialer Repräsentation gefährde zwar nicht grundsätzlich Legitimation und Funktionsfähigkeit des Parlaments. Jedoch seien den verschiedenen sozialen Schichten aus demokratietheoretischen Erwägungen hinreichende Partizipationsmöglichkeiten im Auswahlverfahren zu gewährleisten. Für sein Forschungsprojekt leitete er daraus die Notwendigkeit ab, insbesondere auch die in den Selektionsprozessen wirksamen Restriktionen zu betrachten.
Die Strukturmuster der Rekrutierungsprozesse von Spitzenpolitikern und die Ursachen für die sozialstruktureile Selektivität dieser Prozesse wurden mit einem eigens für diese Studie entwickelten "karrieretheoretischen Ansatz" untersucht, da die bekannten methodischen Zugänge (Entscheidungsprozeßanalyse, biographische
37 Gerhard Loewenberg, Parliament in the German Political System, lthaca: Cornell University Press 1967.
38 Herzog, Politische Karrieren (Anm. 36), S. 11 (Hervorhebung im Orig.).
20 Hans-Dieter Klingemann/Richard Stöss/Bernhard Weßels
Methode, social background analysis, persönlichkeitstheoretischer Ansatz) als für
diese Fragestellung ungeeignet erschienen39. Herzog definierte Karriere wie folgt:
"Als Karriere wird eine Sequenz von Positionen verstanden, die ein Individuum
sukzessiv durchläuft. Diese Positionen sind gewöhnlich (aber nicht notwendig) in
einer hierarchischen Rangordnung im Hinblick auf Einfluß, Prestige und/oder Ein
kommen gestaffelt. In ihrer 'subjektiven' Dimension stellt eine solche Positionsse
quenz eine Abfolge von persönlichen Entscheidungen, Verhaltensorientierungen,
Allpassungen und Erwartungen unter den jeweiligen sozialen und politischen
Strukturbedingungen dar, in denen die einzelnen Positionen ihren Platz haben. Mit
der fortlaufenden Übernahme neuer Positionen ist gewöhnlich ein Lernprozeß ver
bunden, der auch als 'Qualifikationsprozeß' verstanden werden kann. Verlaufsso
ziologisch gleichsam vorgelagert, also nicht zur eigentlichen Karriere gehörend, ist
eine Phase der (politischen) Sozialisation, in der das Individuum vor Eintritt in die
Positionssequenz (politische) Werte lernt, erste Kenntnisse über Positionen und
Aufstiegschancen gewinnt und möglicherweise bestimmte Karrieremotivationen
entwickelt."40 Auf der Grundlage dieser Definition entwickelte Herzog ein analytisches Mo
dell, das vier Phasen der politischen Elitenbildung unterscheidet: "(1) Die Soziali
sationsphase41, (2) die Phase der politischen Rekrutierung, womit angesichts der
dominierenden Rekrutierungsfunktion der Parteien und der Bedeutung der Partei
mitgliederschaft im politischen System der Bundesrepublik speziell der
Parteibeitritt gemeint ist, (3) die Phase der politischen Karriere und (4) die Phase
der Elitenrekrutierung im engeren Sinne, d.h. die Rekrutierung von Personen aus
'Vorpositionen' in die Geweils untersuchten) Spitzenpositionen."42 Als besonders
wichtiger Aspekt einer Karriere wird die Professionalisierung betrachtet, die mit
der erstmaligen Übernahme einer hauptberuflichen politischen Position, mit dem
"cross over" von einem privaten in einen politischen Beruf einsetzt und in der sich
kontinuierlich verstärkenden "Anpassung an die Normen und Werte des politi
schen Berufs"43 besteht. Die Ergebnisse der Befragung44 von 124 Spitzenpolitikern auf Bundesebene
können hier nicht im einzelnen wiedergegeben werden. Entscheidend ist der Be
fund, daß sich die Auswahl der Spitzenpolitiker in der Bundesrepublik in der Regel
in langfristigen und laufbahnartig strukturierten Karrieren45 vollzieht. Vorausset-
39 Vgl. dazu auch: Dietrich Herzog, Politische Elitenselektion. Alte und neue Ansätze zur Analyse politischer Auswahlprozesse, in: Soziale Welt, 20./21. Jg.(1970n1), H.2, s. 129ff.
40 Herzog, Politische Karrieren (Anm. 36), S. 44. 41 Siehe dazu auch den Beitrag von Hilke Rebenstorf in diesem Band. 42 Herzog, Politische Karrieren (Anm. 36), S. 48. Nicht berücksichtigt ist der
"Elitenabgang" (Ausscheiden aus der Politik), der auch nicht Gegenstand der Untersuchung war.
43 Ebd., s. 182. 44 Mitglieder der Projektgruppe waren Sigrid Herzog, Rolf-Peter Lange, Alf Mintzel,
Harald Preugschat und Annemarie Tröger. 45 Eine im Rahmen des Forschungsprojekts durchgeführte Untersuchung über die Kar
rieren von Bundesministern bestätigte diesen Befund: Rolf-Peter Lange, Auslese-
Politische Klasse und politische Institutionen 21
zung und Ergebnis dieser durch die Parteien nicht nur mediatisierten, sondern
zugleich kanalisierten "Karrierisierung des politischen Rekrutierungsprozesses"46 ist die politische Professionalisierung:
"Je intensiver und je länger Politik für den einzelnen zum Beruf wird, desto
mehr entfremdet er sich (objektiv und subjektiv) von seinem ursprünglichen Privatberuf, und desto stärker paßt er seine Einstellungen und sein Verhalten wie
derum den Normen, Bedingungen und Karrieremöglichkeiten seines politischen
Berufs an. Dieser Mechanismus wirkt sich zugunsten einer Verfestigung des politi
schen Establishments, eine Art 'politischer Klasse' von Professionals, aus und kann der Entfremdung dieser 'Klasse' von den Interessen der 'Basis' Vorschub leisten, wenn nicht andere Mechanismen der Willensbildung und Kontrolle von 'unten' nach 'oben' entsprechend verstärkt werden. "47
Karrierisierung und Professionalisierung bewirkten - so Herzog - eine starke "positive Rollenidentifikation" bei den Spitzenpolitikern und eine erhebliche Bereitschaft zur Konsensfindung und Konfliktminimierung. "Dabei bildet sich ein es
prit de corps heraus, ein Gemeinschaftsgefühl der politischen Professionals untereinander, das über die Parteigrenzen hinweg reicht."48
Die sozialstruktureHe Selektivität der Rekrutierungsprozesse beruhe hauptsäch
lich auf den spezifischen Karrierevoraussetzungen für politische Professionals. Notwendige Bedingungen für ein cross over in die politische Klasse seien vor al
lem berufliche Abkömmlichkeit, ein großer Freiraum für die zeitintensive politische Arbeit und die Nähe des Privatberufs zur Politik~ Dadurch werde die
überwiegende Mehrheit der Bevölkerung von der Teilnahme am Prozeß der
Rekrutierung politischer Führungsgruppen ausgeschlossen49. Die Parlamentssoziologie und die Rolle des Abgeordneten unter den sich wan
delnden gesellschaftlich-politischen Anforderungen bildeten in der Folgezeit einen
Arbeitsschwerpunkt von Herzog, wobei er eine Reihe von Fragestellungen des
Karriere-Projekts weiter vertiefte50. Das galt insbesondere für den - damals auch
strukturen bei der Besetzung von Regierungsämtern, in: Dittbemer/Ebbighausen, Parteiensystem (Anm. 34), S. 132ff.
46 Herzog, Politische Karrieren (Anm. 36), S. 220. 47 Ebd., S. 222. 4S Ebd., S. 226 (Hervorhebung im Original). 49 Siehe auch Dietrich Herzog, Karrieren und politische Professionalisierung bei
CDU/CSU, SPD und FDP, in: Dittbemer/Ebbighausen, Parteiensystem (Anm. 34), S. 109ff., insbes. S. 125ff.
50 Vgl. z.B. Dietrich Herzog, Partei- und Parlamentskarrieren im Spiegel der Zahlen für die Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 7.Jg.(1976), H.1, S. 25ff.; ders., The Study of Elites in West Germany, in: Max Kaase/Klaus v. Beyme (Hrsg.), Elections and Parties, London/Beverly Hills: Sage 1978, S. 243ff.; ders., Karrieremuster von Abgeordneten in Deutschland - früher und heute, in: Politik als Beruf? Das Abgeordnetenbild im historischen Wandel, Zur Sache, 1/1979, S. 63ff.; ders., "Politiker", in: Martin Greiffenhagen/Sylvia Greiffenhagen/Rainer Prätorius (Hrsg.), Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Opladen: Westdeutscher Verlag 1981, S. 308ff.; ders., Elitensoziologische Aspekte der Bundestagswahl 1980, in: Max Kaase/Hans-Dieter
22 Hans-Dieter Klingemann/Richard Stöss/Bernhard Weße/s
für die Mannheimer Forschungen51 bedeutenden - Elitenkonsens und für das Verhältnis von Wählern und Gewählten. So kristallisierte sich in den achtziger Jahren die Repräsentationsforschung als weiterer, mit der Elitenforschung freilich aufs engste verknüpfter Arbeitsschwerpunkt heraus. Neben dem unübersehbaren Einfluß von Fraenkel, der sich sehr ausführlich mit der repräsentativen Demokratie beschäftigt hatte52, war dafür sicherlich auch die Tatsache entscheidend, daß sich seinerzeit die internationale Diskussion intensiv dieser Thematik widmete53. Schließlich spielte die Berufung von Hans-Dieter Klingemann an die Freie Universität eine nicht unerhebliche Rolle. Da gerade die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus und den zwölf Bezirksverordnetenversammlungen (Mai 1981) bevorstand, entwickelten der Wahlforscher und der Elitenforscher die Idee eines "Eliten-Massen-Vergleichs".
Der Übergang von den siebziger zu den achtziger Jahren markierte einen Umbruch in der Entwicklung des politischen Systems der Bundesrepublik. Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit, neue soziale Bewegungen und grün-alternative Parteien waren die Vorboten für das Ende der sozialliberalen Ära. Die neuen Partizipationsformen und die "neue Politik" stellten aber auch hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf das Wahlverhalten und die Legitimität des Repräsentativsystems54 Herausforderungen für die Sozialwissenschaften dar. In Berlin offenbarten der Sturz des Stobbe-Senats über die "Garski-Affäre" und die durch zwei außerordentlich erfolgreiche Volksbegehren erzwungenen Neuwahlen 1981 eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise des politischen Systems. Die wachsende Parteiverdrossenheit machte sich vor allem am "Ämterfilz" fest, an der Verquickung von Parteieliten, öffentlichem Dienst und Eigenbetrieben des Landes Berlin, an Ämterpatronage, ungerechtfertigten Subventionen usw. Mit der Bürgemähe der "etablierten" Parteien und der Politik des SPD-FDP-Senats schien es nicht weit her zu sein. Die Ökologie- und Alternativbewegung hatte massenhaften Zulauf und gewann auch bei der Bevölkerung zunehmend Sympathien (Hausbesetzer etc.). Bei den Wahlen 1981 überwanden die GrürlenAltemativen nach Bremen (1979) und Baden-Württemberg (1980) in Berlin zum dritten Mal die Fünfprozenthürde und zogen mit neun Abgeordneten (7,2 Prozent der Zweitstimmen) in das Landesparlament ein, das Richard von Weizsäcker (CDU) zum neuen Regierenden Bürgermeister wählte.
Die politische Situation in Berlin bildete mithin einen nahezu idealen Hintergrund für einen "Eliten-Massen-Vergleich". In allerkürzester Zeit bereitete HansDieter Klingemann gemeinsam mit der Forschungsgruppe Wahlen in Mannheim
Klingemann (Hrsg.), Wahlen und politisches System. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl1980, Opladen: We._~deutscher Verlag 1983, S. lOlff.
51 Siehe Anm. 12. 52 Vgl. Fraenkel, Deutschland (Anm. 30), S. 32ff, 113ff. 53 Z.B. Heinz Eulau/John C. Wahlke (Hrsg.), The Politics of Representation, Lon
don/Beverly Hills: Sage 1978. 54 Siehe dazu auch die Beiträge von Russell J. Dalton, Hans-Dieter Klingemann, Roland
Rothund Camilla Werner in diesem Band.
Politische Klasse und politische Institutionen 23
eine repräsentative Bevölkerungsumfrage vor, und Dietrich Herzog organisierte mit Richard Stöss eine schriftliche Befragung der knapp 2000 Wahlbewerber. Die Fragenprogramme waren weitgehendst aufeinander abgestimmt, um einen umfassenden Vergleich von Wählern, Kandidaten und Abgeordneten zu errnöglichenss.
Unter dem unmittelbaren Eindruck des direktdemokratisch erzwungenen Machtwechsels und des bislang größten Wahlerfolges einer grün-alternativen Partei - der von Kaase geprägte Begriff "partizipatorische Revolution"56 ist trefflich geeignet, die damaligen Verhältnisse in Berlin zu charakterisieren - wurde die (keineswegs neue) Frage nach der Bedeutung der Repräsentativität von politischen Eliten unter demokratietheoretischen und funktionalen Gesichtspunkten mit Blick auf die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erneut und kontrovers57 diskutiert. Auch Herzog befaßte sich mit dem "Doppelcharakter politischer Führungsgruppen" als Interessenrepräsentanten und "gesamtgesellschaftlichen Steuerungsaggregaten", und zwar unter der (an sein Karriere-Projekt anknüpfenden) Fragestellung, welche Bedeutung diese ambivalente Rolle für die Inter-ElitenBeziehungen hat. Es zeigte sich, daß selbst in dem hochpolitisierten und politisch polarisierten Berliner Klima keine gravierenden Differenzen zwischen den Führungsgruppen der etablierten Parteien bestanden - abgesehen von Extrempositionen, die verschiedentlich von Repräsentanten der Alternativen Liste geäußert worden waren. Die durchaus bestehenden unterschiedlichen Auffassungen in der politischen Führungsschicht über politische Struktur-, Wert- und Sachfragen hatten nicht die Qualität von Gegensätzen zwischen verfeindeten Lagern angenommen und auch nicht die Entscheidungs- und Durchsetzungsfähigkeit der politischen Führungsorgane gelähmt58.
Viele der in der "Wahlstudie Berlin 1981" aufgeworfenen Fragen wurden ab 1984 in einem großen Forschungsverbund weiter verfolgt. Der von Herzog geleitete Forschungsprojektschwerpunkt "Konfliktpotentiale und Konsensstrategien im sozio-politischen System der Bundesrepublik Deutschland" stellte mit rund andert-
55 Die Ergebnisse der Untersuchung sind 1985 in der Reihe "Informationen aus Lehre und Forschung" der Freien Universität veröffentlicht worden. Bd.1: Dietrich Herzog, Konsens und Konflikt in der politischen Führungsschichi Berlins; Bd.2: Bernhard Weßels, Wählerschaft und Führungsschicht: Probleme politischer Repräsentation; Bd.3: ders., Das Berliner Abgeordnetenhaus im Netzwerk gesellschaftlicher Interessen; Bd.4: Richard Stöss, Kandidaten und Abgeordnete: Zur sozialstruktureilen Repräsentation und Zirkulation; Bd.5: Helmut Thome, Wertorientierungen und Parteipräferenzen in der Berliner Wählerschaft; Bd.6: Hans-Dieter Klingemann, Formen, Bestimmungsgründe und Konsequenzen politischer Beteiligung; Bd.1: Andrea Volkens, Die Berliner Wahlen im Kontext politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen.
56 Max Kaase, Partizipatorische Revolution -Ende der Parteien?, in: Joachim Raschke (Hrsg.), Bürger und Parteien. Ansichten und Analysen einer schwierigen Beziehung, Opladen: Westdeutscher Verlag 1982, S. 173ff.
57 Vgl. die Beiträge von Stöss und Weßels (Anrn. 55). 58 V gl. Herzog, Konsens (Anm. 55), S. 78f.
24 Hans-Dieter Klingemann/Richard Stöss/BernluJrd Weßels
halb Millionen DM an Drittmitteln und insgesamt 19 Wissenschaftlerns9 das wohl größte sozialwissenschaftliche Forschungsvorhaben an der Freien Universität dar. Der Versuch, das Verhältnis von Konsens und Konflikt in der bundesdeutschen Gesellschaft auf breiter empirischer Grundlage und unter Einbeziehung auch der historischen Dimension zu analysieren, mußte sich notgedrungen auf eine übersehaubare Anzahl von Fallstudien beschränken, wobei es aus personellen und finanziellen Gründen nicht möglich war, alle wünschenswerten Dimensionen abzudecken. Immerhin konnten sieben Teilprojekte zu · folgenden Themen durchgeführt werden: Arbeiterbewegung, SPD und Gewerkschaften, Wahlen und Sozialstruktur, Programmatik der Volksparteien, Studentemevolte, Grüne und Parlamentarismus, Umweltpolitk. Der Berichtsband60 vermittelt so einen durchaus eindrucksvollen, wenn auch unvollständigen, Einblick in den Problemhaushalt bundesdeutscher Politik unter den Bedingungen des sozialen und politischinstitutionellen Wandels.
Herzog bereitete während der Laufzeit des Projektverbunds eine neue Untersuchung über das Repräsentativsystem der Bundesrepublik unter den spezifischen gesellschaftlich-politischen Bedingungen der achtziger Jahre (wachsende Partizipationsansprüche einerseits, hohe Erwartungen an den Sozialstaat, verstärkter Entscheidungsdruck bei der Lösung neuartiger, langfristiger und international verschränkter Probleme andererseits) vor, die wiederum als "Eliten-Massen-Vergleich" angelegt war, nunmehr aber besonders kommunikations- und steuerungstheoretische Aspekte berücksichtigen sollte. Mehr und mehr rückte der Berufspolitiker als "konstitutives Element" moderner, durch "funktionale Differenzierung, aggregative Institutionalisierung und Problem-Komplexität" geprägter soziopolitischer Systeme ins Zentrum seiner empirischen Forschungen. Die Aufgabe des modernen Berufspolitikers bestehe darin, so Herzog, in relativer Unabhängigkeit von spezifischen gesellschaftlichen Interessen, aber unter Berücksichtigung sowohl von demokratischer Responsivität als auch von politisch-gesellschaftlicher Kommunikation und Interessenvermittlung professionelle politische Steuerungsleistungen zu erbringen. "Es ist die besondere Funktion des modernen Berufspolitikers, alle Kommunikationskanäle zu nutzen, um die gesellschaftlichen Problemlagen kennenzulernen und konfligierende gesellschaftliche Erwartungen in strategische Entscheidungen umzusetzen. Nicht mehr nur 'Interessenvermittlung', sondern 'Interessen-Konversion' ist die eigentliche Aufgabe. Jedenfalls hat keine andere Gruppe dafür die notwendigen Voraussetzungen, und kein anderer Politiker-Typ ist dafür besser qualifiziert - weder der Webersehe 'Demagoge' noch der bloße
59 Neben Dietrich Herzog: Michael Fichter, Frank Uwe Fuhrmann, Hella Kastendiek, Hans-Dieter Klingemann, Ulian Klotzsch, Klaus Könemann, Rainer Koll, Siegward Lör..nendonk:er, Peter Müller, Bemd Rabehl, Hugo Reister, Horst W. Schmollinger, Klaus Schröder, Richard Stöss, Andrea Volkens, Bernhard Weßels, Jörg Wischermann und Bodo Zeuner.
60 Dietrich Herzog!Bernhard Weßels (Hrsg.), Konfliktpotentiale und Konsensstrategien.. Beiträge zur politischen Soziologie der Bundesrepublik, Opladen: Westdeutscher Verlag 1989.
Politische Klasse und politische Institutionen 25
Parteifunktionär oder der politische Experte oder der Interessenrepräsentant."61 Seine Vorstellungen von den Aufgaben der Repräsentationsforschung legte er in einem programmatischen Artikel dar, der in1 Berichtsband des Projektverbunds veröffentlicht wurde62.
Darin rechnet Herzog zunächst betont polemisch mit den herkömmlichen Varianten der Parlamentarismuskritik (Identitätstheorie, Suprematstheorie) ab63, weil sie die "Funktionsprobleme des gegenwärtigen Repräsentativsystems an der falschen Stelle suchen (und Abhilfe mit untauglichen Reformen empfehlen)". Parlamente seien hingegen als "unter öffentlicher Verantwortung stehende Steuerungsorgane des Staates" zu konzipieren, woraus sich die Notwendigkeit ergäbe, eine "kybernetische Theorie des repräsentativen Systems" zu konstruieren64.
"Das moderne Parlament kann nicht mehr als 'Volksvertretung' (im Sinne eines Abbilds des Volkes) und nicht mehr als 'supreme power' verstanden werden. Zur Erfassung moderner Repräsentativsysteme reicht weder die (klassische) Elitentheorie aus, noch die (klassische, beispielsweise an Rousseau orientierte) Partizipationstheorie. Statt dessen ist eine kybernetische Betrachtungsweise angemessen, bei der die 'Steuerungsfahigkeif (also etwas vergröbernd: die 'Problernlösungsfähigkeit') des soziopolitischen Systems in Frage steht. Diese Fähigkeit hängt sowohl vom Grad der Autonomie des Steuerungszentrums (oder der Zentren) als auch von der Art und Intensität interner und externer Kommunikation ab."65
Indem Parlamente nun vorrangig als politische Steuerungsorgane betrachtet werden, müssen sie auch nicht mehr Spiegelbild der pluralistischen Gesellschaft in1 Sinne von Fraenkel sein. Im Gegenteil: Starke persönliche Interessenbindungen der Abgeordneten (womöglich sogar das inlperative Mandat) mindern die Steuerungsfähigkeit, weil dadurch die Autonomie bzw. der Handlungsspielraum begrenzt und die innere Geschlossenheit gefährdet sind. Das Parlament kann seine Aufgaben nur dann erfüllen, wenn ein gewisses Maß an - Homogenität und Konsens verbürgender - Entfremdung gegenüber den einzelnen Wünschen und
61 Dietrich Herzog, Der moderne Berufspolitiker. Karrierebedingungen und Funktion in westlichen Demokratien, in: Der Bürger im Staat, 40Jg.(1990), H.1, S. 9ff., Zit. S. 14, 15 (Dieses Sonderheft "Eliten in der Bundesrepublik" ist auch als KohlhammerTaschenbuch erschienen: Stuttgart usw. 1990).- Der Begriff Interesse ist bei Herzog generell sehr weit gefaßt. Damit sind alle möglichen Ansprüche, Ziele und Erwartungengemeint
62 Dietrich Herzog, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Repräsentation?, in: Herzog!Weßels, Konfliktpotentiale (Anm. 60), S. 307ff.
63 Da ist die Rede von der gerade in Deutschland "so zählebige[n], nachgerade aber bloß noch rituelle[n]" Parlamentarismuskritik, vom "nicht selten ideologisch motivierte[n] Begriffskrieg um 'Repräsentationsdefizite', 'Funktionsverlust des Parlaments', 'Legitimationskrisen'" oder von der "deprirnierende[n] Dauerkonjunktur des Antiparlamentarismus in !<"_reisen der deutschen Intelligenz" (ebd., S. 308). !dentitätsthe.orie, Suprematstheorie und sinnverwandte Begriffe werden grundsätzlich in distanzierende Anführungszeichen gesetzt, während seine "kybernetische Repräsentationstheorie" ganz ohne Hervorhebung auskommt.
64 Ebd., S. 309. 65 Ebd., S. 321.
26 Hans-Dieter Klingemann/Richard Stöss/Bernhard Weßels
Bedürfnissen von gesellschaftlichen Gruppen und Klientelen gegeben ist. Es muß sich folglich auf bereits im Bereich der intermediären Institutionen hochgradig aggregierte Interessen stützen können, um dem wachsenden Steuerungsbedarf komplexer Systeme gerecht zu werden. Der Abgeordnete mutiert so zum hoch professionalisierten politischen Steuerungstechniker, der auf die Vorarbeit von -für den politischen Prozeß nach wie vor bedeutsamen- Parteien, Verbänden und Interessengruppen angewiesen ist, diesen jedoch nicht unmittelbar verpflichtet sein darf. Sein Verhältnis zu ihnen und zu seiner Wählerschaft wird mit den Begriffen Responsivität und Verantwortlichkeit gekennzeichnet. Steuerung setzt (multilaterale) Kommunikation voraus und reproduziert sie zugleich, wobei Kommunikation den klassischen Begriff Partizipation ersetzt bzw. weithin auf Informationsvermittlung reduziert.
Steuerung und Kommunikation bilden daher zwei komplementäre, eng miteinander verbundene Kreise, die im Zentrum des laufenden Forschungsprojekts von Herzog ("MdB - Rolle und Kommunikationsbeziehungen des Abgeordneten in der repräsentativen Demok:ratie"66) stehen. Die ersten Ergebnisse wurden in Form einer "kommentierten Dokumentation" veröffentlicht67. Ob der Bundestag dem Modell eines Parlaments entspricht, das Herzog in seiner "kybernetischen Repräsentationstheorie" entwickelt hat, ist aus den präsentierten Daten nicht ersichtlich. Hinsichtlich des Rollenverständnisses der befragten Abgeordneten bestehen jedoch teilweise erstaunliche Übereinstimmungen. Generell verstehen sich die Parlamentarier weniger als Repräsentanten einer politischen Partei oder einer Interessengruppe, sondern als Vertreter "der Bürger" oder "ihrer Wähler". Und als ihre Aufgabe betrachten sie kaum die Interessenartikulation, sondern zuallererst die Mitwirh.'Ullg an der Gesetzgebung und an der Kontrolle der Regierung. Für die Wähler ist die sozialstruktureile Repräsentativität der Abgeordneten von geringer Bedeutung. Auch sie wünschen sich vor allem ein bürgernahes und weniger durch Parteien und Verbände geprägtes Parlament. Die Kommunikationsbeziehungen der Abgeordneten erstrecken sich insgesamt auf ein sehr breites Spektrum gesellschaftlicher Interessen, wobei die Parteien jeweils spezifische Beziehungsgeflechte ausprägen. Genauere Einsichten in die Bedeutung des Deutschen Bundestages und in die Funktionsweise bzw. Funktionsprobleme des Repräsentativsystems dürften die derzeit laufenden empirischen Analysen68
66 Projektmitarbeiter sind Uli Brückner, Manfred Himer, Dirk Martens, Helmut MüllerEnbergs, Hilke Rebenstorf, Camilla Wemer und Bernhard Weßels.
67 Dietrich Herzog u.a., Abgeordnete und Bürger. Ergebnisse einer Befragung der Mitglieder des 11. Deutschen Bundestages und der Bevölkerung, Opladen: Westdeutscher Verlag 1990; s.a. Hilke Rebenstorf/Bernhard Weßels, Wie wünschen sich Wähler ihre Abgeordneten?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 20.Jg.(1989), H3, S. 408ff.; Hilke Rebenstorf, Frauen im Bundestag - anders als die Männer? Soziodemographische Merkmale, Rollen- und Po!itikverständnis, in: Der Bürger im Staat (Anm. 12), S. 17ff.; Camilla Wemer, Wo sind die Rebellen im Parlament? Die Interfraktionelle Initiative Parlamentsreform im 11. Deutschen Bundestag, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 21Jg.(1990), H3, S. 404ff.
68 Siehe dazu .die Beiträge von Hilke Rebenstorf, Camilla Wemer und Bernhard WeBeis in diesem Band.
Politische Klasse und politische Institutionen 27
ergeben, in die durch Zusatzuntersuchungen mittlerweile auch die demokratisch gewählten Abgeordneten der Volkskammer der DDR einbezogen worden sind69,
So kann und soll am Ende dieses Abschnitts nicht der Versuch einer Zwischenbilanz der wissenschaftlichen Tätigkeit von Dietrich Herzog stehen. Wohl aber ist zu fragen, ob denn das, was da so kontinuierlich und mit Hingabe in den vergangeneu 25 Jahren betrieben wurde, der Elitenforschung zuzurechnen ist, oder ob es sich nicht schlicht um empirische Parlamentalismusforschung handelt. Die Relevanz der Fragestellung ist evident, denn sie führt uns zurück zum Problem der Randständigkeit der Elitenforschung in der Bundesrepublik Die wissenschaftliche Karriere von Herzog könnte die These stützen, daß die Elitenforschung, wenn es sie denn hierzulande überhaupt jemals als eigenständigen empirischen Forschungszweig gegeben haben sollte, längst integraler Bestandteil der vielen "Bindestrich"-Soziologien und -Politologien geworden ist, Bestandteil beispielsweise der Wahlforschung, der Einstellungsforschung, der Parteienforschung, der Gewerkschaftsforschung, der Parlamentalismusforschung, der Verwaltungsforschung, der Gemeindeforschung, der Policyforschung usw. Keine dieser Disziplinen kommt ohne die Analyse von Machtstrukturen und Trägern von Macht in ihrem Bereich aus. Das was hier als Randständigkeil der Elitenforschung bezeichnet wird, wäre mithin nur Ausdruck der Tatsache, daß für eine gesonderte sozialwissenschaftliche Teildisziplin Elitenforschung kein nachhaltiger Bedarf besteht. SchonStammer hatte bei der Definition der Funktionselite die Bindung von Positionsinhabern an die soziale und politische Organisation eines Systems hervorgehoben. Die institutionelle Konstitution von Machtpositionen legt es mithin nahe, Untersuchungen über Führungsgruppen auf die sie umgebenden, sie bindenden und ihnen Macht verleihenden Institutionen zu beziehen und daraus die forschungsleitenden Fragestellungen zu entwickeln.
Anders gesagt: Daß sich die Elitenforschung als fester Bestandteil der politischen Wissenschaft in der Bundesrepublik kaum etablieren konnte, dürfte auch daran liegen, daß es bislang nicht, oder wenigstens nicht hinreichend, gelungen ist, die politischen Führungsgruppen analytisch aus ihrer institutionellen Verankerung zu lösen und sie theoretisch als spezifische Gruppe oder kollektiven Akteur, jedenfalls als eigenständigen Faktor im politischen Prozeß zu konzipieren -beispielsweise als "politische Klasse".
69 Siebe dazu die Beiträge von Helmut MüHer-Enbergs und Camilla Werner in diesem Band.
28 Hans-Dieter Klingemann/Richard Stöss/Bernhard Weßels
m.
Der Begriff politische Klasse ist nicht unproblematisch und mag Anlaß zu Mißverständnissen7o und Kritik geben, scheint ihm doch die Vorstellung von einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft zugrunde zu liegen, an deren Spitze ein Kartell von Machthabern autonom und uneingeschränkt herrscht. Er könnte Assoziationen an das reichlich antiquierte aber noch keineswegs so alte Bild vom Olymp der Mächtigen und Einflußreichen hervorrufen, die als verschworene Gemeinschaft ihre Vorherrschaft gegen fremde Machtansprüche verteidigen. Dieser grobschlächtig gezeichnete Gegensatz von Krupp und Krause kann sich freilich nicht einmal auf die klassische Elitentheorie, beispielsweise auf Mosca71, berufen. Zwar gingen die Klassiker durchaus von einer dichotomen Machtverteilung aus, aber die politische Klasse erwuchs in ihrer Theorie nicht einem ökonomisch-sozialen Antagonismus und war auch nicht durch gemeinsame diesbezügliche Klasseninteressen gekennzeichnet. Pareto und Mosca befaßten sich vielmehr intensiv mit der Binnenstruktur der politischen Klasse, mit Fragen der Elitenkonkurrenz und -zirkulation und mit dem Problem des Machtwechsels, wobei, jedenfalls bei Mosca, auch immer (wenn auch noch sehr diffus) die sozialen Bezugsgruppen der Teileliten Berücksichtigung fanden72.
Die Rückbesinnung auf das Erbe der klassischen Elitentheorie kann durchaus von Nutzen sein. Denn nach wie vor gilt, daß zumeist nicht soziale Klassen, sondern Individuen (zumeist Männer) Geschichte machen, daß die Gruppe der führenden politischen Akteure nur einen winzigen Prozentsatz der Bevölkerung ausmacht und die breite Masse der nichtprivilegierten sozialen Schichten an der Machtelite nicht beteiligt ist (Gesetz der zunehmenden Disproportionalität73). Die Ergebnisse
70 Schon der Klassenbegriff stellt in der Bundesrepublik (anders als im Ausland) keine allgemein akzeptierte Kategorie moderner Sozialwissenschaften dar, weil er hier oft fälschlicherweise ausschließlich der marxistisch-leninistischen Terminologie zugerechnet wird. Herzog weist in seinem Warner-Buch (Anm. 28, S. 11) mit Recht darauf hin, daß er seit Plato unqauch in neuerer Zeit bei Nicht-Marxisten (z.B. Max Weber) Verwendung findet. Ubenlies ist Herzog der Auffassung, "daß sozialwissenschaftliche Grundbegriffe nicht unbrauchbar werden müssen, wenn sie im politisch-publizistischen Vokabular einen Bedeutungswandel erfahren oder aus dem öffentlichen Sprachgebrauch verschwinden. Indem sie für wissenschaftliche Zwecke nach Möglichkeit beibehalten, allerdings ständig reflektiert und präzis definiert werden, haben Grundbegriffe (wie derjenige der sozialen Klasse) eine wichtige Funktion für die sachliche Verständigung und für die kontinuierliche Entwicklung einer Wissenschaft."
71 "In allen Gesellschaften, von den primitivsten im Anfang der Zivilisation bis zu den fortgeschrittensten und mächtigsten, gibt es zwei Klassen, eine, die herrscht, und eine, die beherrscht wird. Die erste ist immer die weniger zahlreiche, sie versieht alle politischen Funktionen, monopolisiert die Macht und genießt deren Vorteile, während die zweite, zahlreichere Klasse von der ersten befehligt und geleitet wird." Gaetano Mosca, Die herrschende Klasse. Grundlagen der politischen Wissenschaft, München: Leo Lehnen 1950, S. 53.
72 Vgl. dazu Herzog, Politische Führungsgruppen (Anm. 1), S. 12ff. 73 Putnam, Political Elites (Anm. 3), S. 33ff.
Politische Klasse und politische Institutionen 29
der neueren Elitenforschung verweisen allerdings auf eine differenzierte, polyhierarchische und jeweils vielfach geschichtete Machtstruktur mit unterschiedlichen, oft konkurrierenden Zentren, wobei der Handlungsspielraum der Teileliten begrenzt, dabei aber auch variabel ist. Die Rekrutierungsprozesse sind in der Bundesrepublik zwar durch eine deutliche sozialstruktureile Selektivität (m bezug vor allem auf Arbeiter, Arbeitnehmer aus dem nicht-öffentlichen Sektor und Frauen74) gekennzeichnet, aber doch nicht prinzipiell nach unten abgeschottet.
Das Verhältnis von Eliten und Gesellschaft wäre- jedenfalls für die westlichen Demokratien - mit der Dichotomie Herrschende - Beherrschte nur unzureichend beschrieben. Jedoch tendieren Eliten zur Verselbständigung und Selbstrekrutierung. Das Ausmaß ihrer Autonomie und Entfremdung hängt entscheidend vom Zustand einer politischen Kultur ab: Politisches Interesse und Wachsamkeit der Öf~ fentlichkeit, die Bereitschaft zur politischen Beteiligung und die Existenz einer effektiven Opposition sind wichtige Voraussetzungen für eine lebendige Verbindung von Eliten und Gesellschaft. Es bedarf daher wirksamer Kontrollins tanzen, die den Zugang zu Ämtern und Mandaten öffnen, Rotation beschleunigen und eine angemessene Repräsentanz von politischen Präferenzen, Interessen, sozialen Gruppen und politischen Kräften gewährleisten. Dabei kommt gerade auch den politischen Parteien eine große Verantwortung zu75.
Hier setzt die Kritik an der demokratischen Elitenherrschaft an. Wiesendahl beispielsweise bezeichnet die "Volksparteien als Instrument repräsentativdemokratischer Elitenherrschaft" mit Klassencharakter: "Eine kleine Gruppe von professionellen Berufspolitikern, die per Personalunion die Kontrolle über Parteivorstände sowie Staats- und Regierungsämter ausübt, betreibt hauptberuflich das Geschäft der Vermittlung und Makelung von Interessen und Forderungen in politische Entscheidungen, beeinflußt von Massenmedien und Verbänden. Dies ist unverkennbar Elitenherrschaft einer politischen Klasse, die allerdings für sich in Anspruch nimmt, nach unten hin offen zu sein und ihr Handwerk mit demokratischer Legitimation durch Wahlen und zum Wohle des Volkes zu verrichten. "76 Die relative Autonomie der politischen Klasse und ihre damit notwendigerweise verknüpfte Entfremdung gegenüber den Bürgem77 drückt sich zwangsläufig in der Suche nach
74 Daten z.B. bei Rudolf Wildenmann u.a., Führungsschicht in der Bundesrepublik Deutschland 1981, Mannheim, August 1982 ( Codebuch der ZA-Studie Nr. 1139).
75 Siehe dazu auch die Beiträge von Sören Holmberg, Ursula Hoffmann-Lange, Jacques Thomassen und Bernhard WeBeis in diesem Band.
76 Elmar Wiesendahl, Etablierte Parteien im Abseits? Das Volksparteiensystem der Bundesrepublik vor den Herausforderungen der neuen sozialen Bewegungen, in: UIrike C. Wasmuht (Hrsg.), Alternativen zur alten Politik? Neue soziale Bewegungen in der Diskussion, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S. 90, 86.
77 Nochmals Wiesendahl: "Seitdem eine im 'Treibhaus Bonn' gezüchtete politische Klasse von Berufspolitikern die Parteispitzen und staatlichen Machtapparate besetzt, wächst die Bürgerferne abgehobener repräsentativer Elitenherrschaft Technokratisches Sachzwangdenken, Verrechtlichungsstreben, prinzipienlose Managementmentalität, abstrakte Rationalität, Korrumpierbarkeit, Denken in demoskopischen Kategorien, die sterile Sprache der Politik, ihr biedermännisch-höfischer Darstellungsstil und das farb- und kantenlose Mittelmaß an personeller Repräsentanz tragen das Ihre dazu
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neuen (direktdemokratischen) Formen politischer Beteiligung aus78, die allerdings als KoreHat zur Herrschaft der politischen Klasse fungieren, indem sie die Unterstützung des Gesamtsystems eher begünstigen als behindern79.
Kritische Einwände gegen den Begriff politische Klasse könnten sich auch darauf beziehen, daß er häufig als Synonym für die bürokratische Herrschaft kommunistischer Staaten gebraucht wird. Djilas sprach in diesem Zusammenhang beispielsweise von einer "neuen Klasse" (bestehend aus den Führungskadern der bolschewistischen Partei und der politischen Staatsorgane), von einer politischen Bürokratie, die im Besitz des "administrativen Monopols" und somit fast des gesamten Volksvermögens sei und daher erhebliche Privilegien und materielle Vorteile genieße. "Das Monopol, das die neue Klasse im Namen der Arbeiterklasse über die gesamte Gesellschaft errichtet, ist hauptsächlich ein Monopol über die Arbeiterklasse selbst."SO Die empirische Elitenforschung hat diesen -für die Analyse des Zusammenbruchs bzw. der Demokratisierung kommunistischer Systeme durchaus nützlichen - Zugang leider nicht weiter verfolgt, sondern, gerade auch in international und gesellschaftsvergleichender Hinsicht81, ihr Hauptaugenmerk auf Veränderungen der Machtstrukturen, auf Prozesse der Differenzierung und Pluralisierung von Elitenangesichts des ökonomisch-sozialen Wandels in den Staaten des Ostblocks gelenkt82.
Dies galt weithin auch für die Elitenstudien im Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung über die DDR. So beobachtete Ludz einen Wandel der SED von einer totalitären zu einer autoritären Partei mit konsultativen Merkmalen ("konsultativer Autoritarismus"). "Der wissenschaftlich-technische Fortschritt setzt eine Reihe von Kräften frei, die funktionale und disfunktionale Konflikte für das Herrschaftssystem der DDR mit sich bringen. Er begünstigt die Differenzierung der politischen Führungsgruppe und führt neue, konkurrierende Eliten herauf, so daß die totale Durchdringung der Gesellschaft durch das ideologische Wollen einer Partei gegenwärtig in weit schwächerem Maße gegeben ist und Schwankungen im
bei, die Distanz zwischen Bürger und Politiker, zwischen Lebenswelt und öffentlicher Arena zu vergrößern." (Ebd., S. 88) Vgl. auch die einzelnen Beiträge, insbesondere die Einleitung des Herausgebers, in: Raschke, Bürger und Parteien (Anm. 56).
78 Vgl. Samuel H. Barnes/Max Kaase (Hrsg.), Political Action. Mass Participation in Five Western Democracies, Beverly Hills/London: Sage 1979; Hans-Martin Uehlinger, Politische Partizipation in der Bundesrepublik Strukturen und Erklärungsmodelle, Opladen: Westdeutscher Verlag 1988.
79 Vgl. Dieter Fuchs, Die Unterstützung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Opladen: Westdeutscher Verlag 1989.
80 Milovan Djilas, Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems, München: Kindler 1957, S. 61ff., Zit. S. 67.
81 Vgl. Lewis J. Edinger (Hrsg.), Political Leadership in Industrialized Societies. Studies in ComparativeAnalysis, New York usw.: John Wiley 1%7.
82 Vgl. z.B. R. Barry Farrell (Hrsg.), Political Leadership in Eastem Europa and the Soviet Union, Chlcago: Aldine Pub!. 1970; Arcbie Brown (Hrsg.), Po/itical Leadership in the Soviet Union, Bloomington, IN: Indiana University Press 1989.
Politische Klasse und politische Institutionen 31
Sanktionenvollzug der herrschenden Gruppen fast unvermeidlich werden."83 Die traditionellen Parteifunktionäre (''strategische Oique") sähen sich jedoch zunehmend der Konkurrenz einer "institutionalisierten Gegenelite" ausgesetzt, die auf eine "Stärkung des politischen und gesellschaftlichen Systems der DDR" drängte84.
Glaeßner konnte später in seiner Untersuchung über die Kaderpolitik in der DDR nachweisen, daß die Differenzierungsprozesse und Strukturreformen auf die "Effektivierung und Verfestigung bürokratischer Herrschaft" zielten, nicht aber auf eine Erweiterung der Partizipationschancen angelegt waren. "Die Partei hat es verstanden, trotz der nicht zu übersehenden Veränderungen ihrer eigenen Programmatik und der partiellen Ablösung tradierter Formen der Herrschaftsausübung den Willen der Gesellschaftsmitglieder nach Partizipation weitgehend abzuwehren bzw. zu kanalisieren und ein gesellschaftliches und politisches Gefüge zu schaffen, dessen Struktur ebensowenig zur Disposition steht wie die ihm zugrundeliegenden Funktionsprinzipien."85
Insgesamt wurde jedoch in der nationalen und internationalen Elitenforschung der Perspektive zu wenig Bedeutung beigemessen, daß der Mangel an demokratischer Legitimation der kommunistischen Führungsgruppen eine gravierende Systemschwäche darstellt, die sich mit den ökonomisch-sozialen Unzulänglichkeiten zentral gesteuerter Volkswirtschaften zu revolutionären Umwälzungen verdichten könnte. Djilas jedenfalls hat der "neuen Klasse" kein langes Leben vorausgesagt. Er war fest davon überzeugt, daß der Sozialismus nicht auf dem Wege einer FunktionärsdiktatuT zu verwirklichen sei. Und: "Wenn die neue Klasse von der Bühne der Geschichte abtritt - das muß einmal geschehen - dann wird weniger Trauer über ihren Abgang herrschen als über denjeder anderen Klasse zuvor."86
Diese notwendigerweise sehr selektiven Literaturhinweise zeigen, daß der Begriff politische Klasse durchaus wertvolle analytische Eigenschaften birgt, was unseres Erachtens dafür spricht, ihn als sozialwissenschaftliche Kategorie beizubehalten. Einer Anregung von Herzog folgend schlagen wir vor, ihn im Sinne von Max Weber als "wertfremden" bzw. wertneutralen "Idealtypus"87 für denjenigen kollektiven Akteur zu verwenden, der - in Anlehnung an Burdeau88 - durch die
83 Peter Christian Ludz, Parteielite im Wandel. Funktionsaujbau, Sozialstruktur und Jdeolog'.e der SED-Führung. Eine empirische Untersuchung, Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag 1968, S. 4f.
84 Ebd., S. 324ff. 85 Gert-Joachim Glaeßner, Herrschaft durch Kader. Leitung der Gesellschaft und Ka
derpolitik in der DDR am Beispiel des Staatsapparates, Opladen: Westdeutscher Verlag 1977, S. 288.
86 Djilas, Die neue Klasse (Anm. 80), S. 102. fS7 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundrisse der verstehenden Soziologie, 4.
neu hrsgg. Auf!. v. Johannes Winckelmann, Bd.1, Tübingen: Mohr 1956, S. 1ff., insbes. S. 10.
88 Georges Burdeau, Die politische Klasse, abgedr. in: Wilfried Röhrich (Hrsg.), 'Demokratische' Elitenherrschaft. Traditionsbestände eines sozialwissenschaftliehen Problems, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975, S. 251ff. (Ursprünglich: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 44 [1958], S. 207ff.)
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regelmäßige Teilnahme an staatlichen Entscheidungen gekennzeichnet ist89. Die jeweils spezifische Binnenstruktur einer politischen Klasse (Inter-ElitenBeziehungen) und ihre Beziehungen zu den gesellschaftlichen Institutionen und Gruppen muß Gegenstand der empirischen Analyse bleiben, die mit diesem Idealtypus über ein Instrument zum Vergleich unterschiedlicher politischer Systeme und gesellschaftlicher Verhältnisse verfügt. Er könnte sich gleichermaßen bei der Formulierung von demokratietheoretisch begründeten Anforderungen an die interne Verfassung und die gesellschaftliche Bindung einer politischen Klasse bewähren. Ob sich dieses "label" in der scientific community durchsetzt, wird die Zukunft erweisen. Ob es sich um ein analytisch fruchtbares Konzept handelt, hängt primär davon ab, ob es sich theoretisch plausibel begründen läßt und über eine gewisse empirische Evidenz verfügt.
Hinsichtlich der theoretischen Begründung kann insoweit an die Klassiker und an die Untersuchungen über kommunistisch-bürokratische Herrschaft angeknüpft werden, als diese die Eliten weniger aus der individualistischen Perspektive betrachten, sondern vor allem systembezogen als gesellschaftlich-politische Aggregate analysieren. Auch Felber hält den individualistischen Ansatz in der deutschen Elitenforschung für unzureichend und schlägt statt dessen einen systemtheoretischen Zugang (in Gestalt von Netzwerkanalysen) vor. Er begreift Eliten als "Totalität" mit "Gestaltqualität", die mehr sei als die bloße Summe ihrer Teile und sich nicht auf die Eigenschaften von Individuen reduzieren lasse90.
Auch Herzog vertritt die Auffassung, daß es der Elitenforschung an einer hinreichenden theoretischen Grundlegung mangelt, die den lwllelaiven politischen Akteur neben den politischen Institutionen als (notwendigen) Bestandteil eines politischen Systems begreift, und zwar zugleich als abhängige .und als unabhängige Variable. Seine ursprüngliche Skepsis gegenüber dem Begriff politische Klasse91 bat sich gelegt, seitdem er sich mit der Entwicklung einer kybernetischen Theorie des Repräsentativsystems beschäftigt. Die Elitenforschung müsse sich mehr als bisher dem Problem stellen, wie eine sich zunehmend differenzierende und nicht zuletzt deshalb unter wachsenden Problemdruck geratende Gesellschaft zu einer gestaltenden Handlungskoordination gelangt. "Welche Bedingungen muß die
89 Dabei ist unerheblich, ob oder inwieweit diese Teilnah"1e erfolgreich ist 90 Felber, Elitenforschung (Anm. 7), S. 199ff. 91 In seiner Einführung in die Elitenforschung (s. Anm. 1, S. 114) mochte sich Herzog
noch nicht so recht mit dem Begriff politische Klasse als Kategorie einer modernen Elitenforschung anfreunden: Was die Klassiker unter politischer Klasse verstanden hätten (eine nach Herkunft, Ausbildung und Interessen homogene Schicht), sei in der Realität gegenwärtiger Gesellschaften zumeist ein Aggregat verschiedener Führungsgruppen, deren jeweiliger Einfluß auf verschiedenen Ressourcen beruhe und im historischen Prozeß durchaus variabel sei. Statt dessen gehe man heute "von dem Konzept einer 'Eiitenformation' aus, die die jeweiligen Führungsgruppen in den politisch-staatlichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Sektoren umfaßt, wobei die konkreten Strukturen dieser Formation in den verschiedenen politisch-gesellschaftlichen Systemen im einzelnen (und nach Möglichkeit auch vergleichend) zu untersuchen sind".
Politische Klasse und politische Institutionen 33
politische Führungsschicht erfüllen, um die autonomen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Einheiten zu einer kollektiven Agenda zu bringen?"92
Sie muß sich zunächst - wie bereits dargestellt - aus hochprofessionalisierten Politikmanagern rekrutieren, die zwar responsiv und kommunikativ, aber in relativer Unabhängigkeit von ihren interessenspezifischen Einflußgruppen und institutionellen Bezügen agieren93. Eine funktionsfähige und dauerhafte kollektive Agenda von relativ autonomen Politikmanagern macht es überdies erforderlich, daß sich die individuellen Eigenschaften zu einem besonderen Aggregat mit aggregatspezifischen Merkmalen verdichten, das sich strukturell und funktional von anderen Aggregaten im System unterscheidet. Da es nicht die Gestalt einer abgegrenzten Institution annehmen darf, muß es sieb als soziale Formation (eben als politische Klasse) konstituieren, die zwar in das Institutionensystem verwoben, selbst aber keine Institution ist und keiner Organisationslogik folgt. Die besonderen Merkmale dieses Aggregats sind mithin auch nicht institutioneller, sondern gruppenspezifischer Art und beziehen sieb zum einen auf gemeinsame biographische Faktoren (Karrieren), auf gemeinsame Einstellungs-, Verhaltens- und Kornmunikationsmuster und auf politische Kompetenz (Professionalisierung). Neben den gruppenspezifischen Aggregatmerkmalen ist die politische Klasse zum anderen durch funktionale Merkmale gekennzeichnet. Dabei handelt es sich - in Anknüpfung an Herzog - um die Steuerung eines differenzierten und komplexen Gesamtsystems, wobei die Stabilität des Systems wesentlich davon abhängt, daß die Steuerung zur effektiven Lösung der gesellschaftlichen Probleme führt. Die dafür notwendige Macht erwächst der politischen Klasse - hier folgen wir wiederum Burdeau94 - aus ihrer konstitutiven Eigenschaft, nämlich der regelmäßigen Teilnahme an staatlichen Entscheidungen9s.
Für die Realanalyse von politischen Klassen ergeben sich daraus sechs grobe Merkmale, nämlich - Karriere, - politische Kompetenz, - Klassenbewußtsein, - horizontale Kommunikation, - Problemlösungskapazität und - vertikale Kommunikation, die in konkrete Forschungsfragen hinsichtlich der internen Struktur und der gesellschaftlichen Verankerung einer politischen Klasse als Ursache und Folge von historisch-politischen Spezifika eines Systems zu übersetzen sind.
Eine Inspektion der Ergebnisse der Elitenforschung liefert mehr als nur vorläufige Hinweise auf die empirische Evidenz des Forschungskonzepts politische
92 Interview mit Herzog am 13.3.1991. 93 Siehe dazu auch den Beitrag von Moshe M. Czudnowski in diesem Band. 94 Burdeau, Politische Klasse (Anm. 88), S. 261ff. 95 Der Entscheidungsansatz wurde für die empirische Elitenforschung erstmalig von
Robert A Dahl (Who Governs?, New Haven/London: Yale University Press 1961) eingeführt.
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Klasse: beispielsweise Putnams "elite culture"96, also gemeinsame Werte, Ziele und das übereinstimmende Politikverständnis von Berufspolitikern, ferner das in den Mannteimer Studien ermittelte hohe Konsens- und Kompromißpotential in bezug auf grundlegende politische Werte, Verfahrensfragen und die Agenda der politischen Klasse und nicht zuletzt Herzogs Befunde hinsichtlich der Karrierisierung des politischen Rekrutierungsprozesses, der Professionalisierung von politischen Führungsgruppen, ihrer (auch von der Mannteimer Schule konstatierten) spezifischen horizontalen und vertikalen Kommunikationsmuster und schließlich ihres esprit de corps.
Entscheidend für die künftige Entwicklung der Elitenforschung dürfte jedoch sein, ob es ihr gelingt, den Systembezug der politischen Klasse in theoretischer und empirischer Hinsicht zu elaborieren. Insbesondere sollte sich die Forschung stärker auf das Verhältnis von politischer Klasse und politischen Institutionen beziehen. Beide bilden zwar unter ausschließlich kybernetischen Gesichtspunkten ein komplementäres, unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten jedoch auch ein widersprüchliches Verhältnis, denn die politische Klasse ist erfahrungsgemäß (auch in demokratischen Systemem) bestrebt, vor allem die intermediären Institutionen, und hier wiederum besonders die politischen Parteien, als Legitimations- bzw. Transmissionsagenturen für ihre Entscheidungen zu mißbrauchen97. Diesem komplizierten Verhältnis von politischer Klasse, politischen Institutionen und Gesellschaft kann die Politikwissenschaft insgesamt nicht gerecht werden, wenn sie sich ihm nur aus der (langsam wieder außer Mode geratenden) Perspektive der Partizipations- und Bewegungsforschung oder nur mittels der (gegenwärtig eine Renaissance erfahrenden) Institutionenforschung nähert und die Elitendimension allenfalls als Randerscheinung zur Kenntnis nimmt, sie als Gegenstand empirischer Forschung aber schlicht ignoriert. Umgekehrt muß sich auch die Elitenforschung auf dieses "Dreiecksverhältnis" beziehen. Dafür dürfte das Konzept der politischen Klasse hilfreich sein, weil es den weithin individualistischen und institutionenbezogenen Ansatz der bisherigen Elitenforschung in den globalen Systemzusammenhang einbettet.
Aus -dieser Perspektive wagen wir die Prognose, daß Elitenforschung für die Sozialwissenschaften künftig wichtiger werden wird: Denn die Bedeutung der politischen Klasse wächst mit dem sozialen Wandel. Soziale Heterogenität, Individualisierung, Flexibilisierung und Mobilität, die Auflösung von sozialen Milieus und die Abschwächung von Organisationsbindungen stehen in Wechselwirkung mit der "Entgrenzung der Politik"98, mit der Entstrukturierung des Institutionensystems
96 Robert D. Putnam, The Beliefs of Politicians. Ideology, Corrflict and Democracy in Britain andltaly, New Haven/London: Yale University Press 1973, S. 237ff.
97 So z.B. Rudolf Wildenrnann, Towards a Sociopolitical Model of the German Federal Republic, in: Sozialwissenschaftliches Jahrbuch für Politik, Bd.4, München/Wien: Olzog 1974, S. 283ff.
98 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 300.
Politische Klasse und politische Institutionen 35
und dem Souveränitäts-, Profil- und Identitätsverlust jeder einzelnen Institution99. Interdependenz und UnübersichtlichkeitlOO bedürfen des "Managements von (gestiegener) Vielfalt"lOl, das Institutionen überfordert und mithin nur von der politischen Klasse geleistet werden kann.
IV.
Die Beiträge dieses Diskussionsbandes befassen sich überwiegend mit Aspekten und Problemen politischer Repräsentation. Daß sich die Elitenforschung gegenwärtig vor allem dieser Thematik widmet, ist fraglos jenen globalen Entwicklungen zuzuschreiben, die bereits angedeutet wurden und gleich noch von Dalton ausführlicher behandelt werden: den politischen Begleiterscheinungen des sozialen Wandels, die eine erhebliche Herausforderung für die fortgeschrittenen Industriegesellschaften darstellen. Die Hinwendung zur Repräsentationsforschung stellt unseres Erachtens einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Öffnung der Elitenforschung dar, weil sie diese aus ihrer oftmals randständigen Enge und Abgehobenheit herausführt und ihr sozialen Bodenkontakt verschafft.
Die Arbeiten von Dalton, Lipset, Best und Eulau thematisieren das Verhältnis von sozialem Wandel, Institutionen und Eliten im weitesten Sinne. Dalton und Lipset befassen sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Transformation von Parteiensystemen in den letzten zwei Jahrzehnten. Best zeigt das Wechselspiel von Institutionen und Akteuren an der Genese von Konfliktstrukturen in den ersten Vertretungskörperschaften Deutschlands und Frankreichs auf. Eulau stellt sich vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen den "Federalists" und den "Anti-Federalists" dem Problem, wie die Definition von Gesellschaft im Sinne von Klassen und Interessen das amerikanische Verständnis politischer Repräsentation geprägt hat.
Der Rekrutierung, der Rolle, dem Selbstverständnis und der Strategie politischer Eliten widmen sich fünf Beiträge. Dogan analysiert in vergleichender Perspektive die Zugangswege und dabei vorherrschenden "ungeschriebenen" Regeln bei der Rekrutierung von Ministern. Blonde! behandelt, ebenfalls vergleichend, ministerielle Karrieren und stellt die Frage, ob sie eher Generalisten oder Spezialisten, eher
99 Ebbighausen spricht in diesem Zusammenhang von "relativer Institutionenungewißheit"; vgl. Rolf Ebbighausen, Institutionentheorie im historisch-gesellschaftlichen Kontext, in: Gerhard Göhler (Hrsg.), Grundfragen der Theorie politischer Institutionen. Forschungsstand- Probleme -Perspektiven, Opladen: Westdeutscher Verlag 1987, S. 61ff.
100 Vgl. Jürgen Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit (Kleine Politische Schriften,Bd. V), Franfurt a.M.: EditionSuhrkamp ~?85.
101 Wolfgang Streeck, Vielfalt und Interdependenz. Uberlegungen zur Rolle von intermediären Organisationen in sich ändernden Umwelten, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 39Jg.(1987), H.3, S. 477.
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Manager oder Repräsentanten sind. Czudnowki entwickelt einen theoretischen Bezugsrahmen, der die Bedingungen strategischen Verhaltens von politischen Eliten darstellt. Rebenstorf untersucht für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages das Verhältnis von Herkunft und politischer Karriere. Müller-Enbergs beschäftigt sich mit dem Charakter der demokratisch gewählten Volkskammer aus der Perspektive und dem Verständnis ihrer Abgeordneten.
Mit politischer Repräsentation und Responsivität politischer Systeme befassen sich aus einer theoretischen Perspektive die Aufsätze von Thomassen und Hoffmann-Lange. Empirische Analysen legen Holmberg für Schweden, Weßels für die Bundesrepublik Deutschland und van Sehendelen für das quasi "internationale Regime" der Europäischen Gemeinschaft vor.
Den Abschluß des Bandes bildet ein Abschnitt mit drei Arbeiten, die die Herausforderung der politischen Eliten durch die "partizipative Revolution" thematisieren. Klingemann behandelt die Ausweitung politischer Beteiligung und fragt nach den Konsequenzen für die Politik, Wemer analysiert die Haltungen der Parteien und Einstellungen von Abgeordneten in Deutschland- zu direktdemokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten, und Roth widmet sich dem Spannungsverhältnis zwischen "elitistischer" Realität in der Bundesrepublik und den Ansprüchen und der Praxis neuer sozialer Bewegungen.
Wenn es überhaupt möglich ist, aus den hier versammelten Beiträgen eine gemeinsame Botschaft für Wissenschaft und Politik herauszufiltem, dann ist es wohl diese: Die gesellschaftlich-politischen Veränderungen bürden der politischen Klasse eine doppelte Verantwortung auf. Sie muß ihre Steuerungskapazität im Sinne einer effektiven und zukunftsorientierten Gestaltung gesellschaftlicher Probleme durch vermehrte Rationalität optimieren und zugleich die Kommunikation mit den gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen im Sinne eines wechselseitigen Prozesses verbessern. Für die deutsche Elitenforschung eröffnet sich damit die Chance, als Begleitforschung des sozialen Wandels und der gesellschaftlichen Modernisierung aus ihrem bisherigen Schattendasein herauszutreten.
Die Herausgeber bedanken sich bei den Autorinnen und Autoren für die Mitarbeit an diesem Band, bei Frauke Burian für die Redaktion der Beiträge, bei Jan Flickschu und Gudrun Mouna für die technische Unterstützung bei der Herstellung der Druckvorlagen und nicht zuletzt bei Dietrich Herzog für seine geduldige Auskunftsbereitschaft und wichtige Anregungen und Hinweise.