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schlechthin Widerstrebendes, wie Schopenhauer meinte, der sie als den „Willen“ verstand: wir können in ihnen noch das Wissen begrifflich absondern al s ihre Eigenschaft: ohne Wiedererkennen und Schließen giebt es keinen Trieb, kein Treiben und Wollen. Page Break KGW='V-1.769' KSA='9.439' Der Intellekt (und nicht die Empfindung) ist „dem Wesen der Dinge“ eingeboren; Empfindung ist ein Zufall in der Geschichte seiner Richtungen und nichts an sich Neues. Um die ersten Sätze der Mechanik zu verstehen, muß man den treibenden Kräften ein Wiedererkennen und Schließen geben — aber keine Bewußtheit darum, keine Empfindung. Das Wiedererkennen und Schließen aber setzt Mehrheit, aber Einartigkeit von Kräften voraus, mindestens Zweiheit. Der Irrthum im Wiedererkennen und Schließen ist erst möglich, seit es Empfindung giebt. — So! Nun fliegt zurück, ihr Tauben und gebt den Wolken, was der Wol ken ist! Page Break KGW='V-1.770' KSA='9.440' V-2 Idyllen aus Messina Titlepage Page Break id='IM' KGW='V-2.1' KSA='3.333' Idyllen aus Messina. Page Break id='IM' KGW='V-2.2' KSA='3.334' Page Break id='IM' KGW='V-2.3' KSA='3.335' Aphorism id='IM-Text-1' kgw='V-2.3' ksa='3.335' Prinz Vogelfrei. So hang ich denn auf krummem Aste Hoch über Meer und Hügelchen: Ein Vogel lud mich her zu Gaste — Ich flog ihm nach und rast, und raste Und schlage mit den Flügelchen. Das weisse Meer ist eingeschlafen, Es schläft mi r jedes Weh und Ach. Vergessen hab' ich Ziel und Hafen, Vergessen Furcht und Lob und Strafen: Jetzt flieg ich jedem Vogel nach. Nur Schritt für Schritt — das ist kein Leben! Stäts Bein vor Bein macht müd und schwer!

Idyllen Aus Messina

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Idyllen aus Messina

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  • schlechthin Widerstrebendes, wie Schopenhauer meinte, der sie als denWillen verstand: wir knnen in ihnen noch das Wissenbegrifflich absondern als ihre Eigenschaft: ohne Wiedererkennenund Schlieen giebt es keinen Trieb, kein Treiben und Wollen.

    Page Break KGW='V-1.769' KSA='9.439'

    Der Intellekt (und nicht die Empfindung) ist dem Wesen derDinge eingeboren; Empfindung ist ein Zufall in der Geschichteseiner Richtungen und nichts an sich Neues. Um die ersten Stzeder Mechanik zu verstehen, mu man den treibenden Krftenein Wiedererkennen und Schlieen geben aber keineBewutheit darum, keine Empfindung. Das Wiedererkennen und Schlieenaber setzt Mehrheit, aber Einartigkeit von Krften voraus,mindestens Zweiheit. Der Irrthum im Wiedererkennen undSchlieen ist erst mglich, seit es Empfindung giebt. So! Nunfliegt zurck, ihr Tauben und gebt den Wolken, was der Wolkenist!

    Page Break KGW='V-1.770' KSA='9.440'V-2Idyllen aus MessinaTitlepage

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    Idyllen aus Messina.

    Page Break id='IM' KGW='V-2.2' KSA='3.334'Page Break id='IM' KGW='V-2.3' KSA='3.335'

    Aphorism id='IM-Text-1' kgw='V-2.3' ksa='3.335'

    Prinz Vogelfrei.

    So hang ich denn auf krummem AsteHoch ber Meer und Hgelchen:Ein Vogel lud mich her zu Gaste Ich flog ihm nach und rast, und rasteUnd schlage mit den Flgelchen.

    Das weisse Meer ist eingeschlafen,Es schlft mir jedes Weh und Ach.Vergessen hab' ich Ziel und Hafen,Vergessen Furcht und Lob und Strafen:Jetzt flieg ich jedem Vogel nach.Nur Schritt fr Schritt das ist kein Leben!Stts Bein vor Bein macht md und schwer!

  • Ich lass mich von den Winden heben,Ich liebe es, mit Flgeln schwebenUnd hinter jedem Vogel her.Vernunft? das ist ein bs Geschfte:Vernunft und Zunge stolpern viel!Das Fliegen gab mir neue KrfteUnd lehrt' mich schnere Geschfte,Gesang und Scherz und Liederspiel.

    Page Break id='IM' KGW='V-2.4' KSA='3.336'

    Einsam zu denken das ist weise.Einsam zu singen das ist dumm!So horcht mir denn auf meine WeiseUnd setzt euch still um mich im Kreise,Ihr schnen Vgelchen, herum!

    Aphorism id='IM-Text-2' kgw='V-2.4' ksa='3.336'

    Die kleine Brigg, genannt das Engelchen.

    Engelchen: so nennt man mich Jetzt ein Schiff, dereinst ein Mdchen,Ach, noch immer sehr ein Mdchen!Denn es dreht um Liebe sichStts mein feines Steuerrdchen.

    Engelchen: so nennt man mich Bin geschmckt mit hundert Fhnchen,Und das schnste KapitnchenBlht an meinem Steuer sich,Als das hundert erste Fhnchen.

    Engelchen: so nennt man mich Ueberall hin, wo ein FlmmchenFr mich glht, lauf ich ein LmmchenMeinen Weg sehnschtiglich:Immer war ich solch ein Lmmchen.

    Engelchen: so nennt man mich Glaubt ihr wohl, dass wie ein HndchenBell'n ich kann und dass mein MndchenDampf und Feuer wirft um sich?Ach, des Teufels ist mein Mndchen!

    Page Break id='IM' KGW='V-2.5' KSA='3.337'

    Engelchen: so nennt man mich

  • Sprach ein bitterbses WrtchenEinst, dass schnell zum letzten OertchenMein Geliebtester entwich:Ja, er starb an diesem Wrtchen!

    Engelchen: so nennt man mich Kaum gehrt, sprang ich vom KlippchenIn den Grund und brach ein Rippchen,Dass die liebe Seele wich:Ja, sie wich durch dieses Rippchen!

    Engelchen: so nennt man mich Meine Seele, wie ein Ktzchen,That eins, zwei, drei, vier, fnf Stzchen,Schwang dann in dies Schiffchen sich Ja, sie hat geschwinde Ttzchen.

    Engelchen: so nennt man mich Jetzt ein Schiff, dereinst ein Mdchen,Ach, noch immer sehr ein Mdchen!Denn es dreht um Liebe sichStts mein feines Steuerrdchen.

    Aphorism id='IM-Text-3' kgw='V-2.5' ksa='3.337'

    Lied des Ziegenhirten.(an meinen Nachbar Theokrit von Syrakusa.)Da lieg ich, krank im Gedrm Mich fressen die Wanzen.Und drben noch Licht und Lrm:Ich hr's, sie tanzen.

    Page Break id='IM' KGW='V-2.6' KSA='3.338'

    Sie wollte um diese Stund'Zu mir sich schleichen:Ich warte wie ein Hund Es kommt kein Zeichen!

    Das Kreuz, als sie's versprach!Wie konnte sie lgen?Oder luft sie Jedem nach,Wie meine Ziegen?

    Woher ihr seidner Rock? Ah, meine Stolze?Es wohnt noch mancher BockAn diesem Holze?

  • Wie kraus und giftig machtVerliebtes Warten!So wchst bei schwler NachtGiftpilz im Garten.

    Die Liebe zehrt an mirGleich sieben Uebeln Nichts mag ich essen schier,Lebt wohl, ihr Zwiebeln!

    Der Mond ging schon in's Meer,Md sind alle Sterne,Grau kommt der Tag daher Ich strbe gerne.

    Page Break id='IM' KGW='V-2.7' KSA='3.339'

    Aphorism id='IM-Text-4' kgw='V-2.7' ksa='3.339'

    Die kleine Hexe.

    So lang noch hbsch mein Leibchen,Lohnt sichs schon, fromm zu sein.Man weiss, Gott liebt die Weibchen,Die hbschen obendrein.Er wird's dem art'gen MnchleinGewisslich gern verzeihn,Dass er, gleich manchem Mnchlein,So gern will bei mir sein.

    Kein grauer Kirchenvater!Nein, jung noch und oft roth,Oft gleich dem grausten KaterVoll Eifersucht und Noth!Ich liebe nicht die Greise,Er liebt die Alten nicht:Wie wunderlich und weiseHat Gott dies eingericht!

    Die Kirche weiss zu leben,Sie prft Herz und Gesicht.Stts will sie mir vergeben: Ja wer vergiebt mir nicht!Man lispelt mit dem Mndchen,Man knixt und geht hinausUnd mit dem neuen SndchenLscht man das alte aus.

  • Gelobt sei Gott auf Erden,Der hbsche Mdchen liebtUnd derlei HerzbeschwerdenSich selber gern vergiebt!So lang noch hbsch mein Leibchen,

    Page Break id='IM' KGW='V-2.8' KSA='3.340'

    Lohnt sich's schon, fromm zu sein:Als altes WackelweibchenMag mich der Teufel frein!

    Aphorism id='IM-Text-5' kgw='V-2.8' ksa='3.340'

    Das nchtliche Geheimniss.

    Gestern Nachts, als Alles schlief,Kaum der Wind mit ungewissenSeufzern durch die Gassen lief,Gab mir Ruhe nicht das Kissen,Noch der Mohn, noch, was sonst tiefSchlafen macht ein gut Gewissen.

    Endlich schlug ich mir den SchlafAus dem Sinn und lief zum Strande.Mondhell war's und mild ich trafMann und Kahn auf warmem Sande,Schlfrig beide, Hirt und Schaf: Schlfrig stiess der Kahn vom Lande.

    Eine Stunde, leicht auch zwei,Oder war's ein Jahr? da sankenPltzlich mir Sinn und GedankenIn ein ew'ges Einerlei,Und ein Abgrund ohne SchrankenThat sich auf: da war's vorbei!

    Morgen kam: auf schwarzen TiefenSteht ein Kahn und ruht und ruht Was geschah? so riefs, so riefenHundert bald was gab es? Blut? Nichts geschah! Wir schliefen, schliefenAlle ach, so gut! so gut!

    Page Break id='IM' KGW='V-2.9' KSA='3.341'

  • Aphorism id='IM-Text-6' kgw='V-2.9' ksa='3.341'

    Pia, caritatevole, amorosissima. (Auf dem campo santo.)O Mdchen, das dem LammeDas zarte Fellchen kraut,Dem Beides, Licht und Flamme,Aus beiden Augen schaut,Du lieblich Ding zum Scherzen,Du Liebling weit und nah,So fromm, so mild von Herzen,Amorosissima!

    Was riss so frh die Kette?Wer hat dein Herz betrbt?Und liebtest du, wer htteDich nicht genug geliebt? Du schweigst doch sind die ThrnenDen milden Augen nah:Du schwiegst und starbst vor Sehnen,Amorosissima?

    Aphorism id='IM-Text-7' kgw='V-2.9' ksa='3.341'

    Vogel Albatross.

    O Wunder! Fliegt er noch?Er steigt empor und seine Flgel ruhn!Was hebt und trgt ihn doch?Was ist ihm Ziel und Zug und Zgel nun?

    Er flog zu hchst nun hebtDer Himmel selbst den siegreich Fliegenden:Nun ruht er still und schwebt,Den Sieg vergessend und den Siegenden.

    Page Break id='IM' KGW='V-2.10' KSA='3.342'

    Gleich Stern und EwigkeitLebt er in Hhn jetzt, die das Leben flieht,Mitleidig selbst dem Neid :Und hoch flog, wer ihn auch nur schweben sieht!

    O Vogel Albatross!Zur Hhe treibt's mit ew'gem Triebe mich!Ich dachte dein: da flossMir Thrn' um Thrne ja, ich liebe dich!

  • Aphorism id='IM-Text-8' kgw='V-2.10' ksa='3.342'

    Vogel-Urtheil.

    Als ich jngst, mich zu erquicken,Unter dunklen Bumen sass,Hrt' ich ticken, leise ticken,Zierlich, wie nach Takt und Maass.Bse wurd' ich, zog Gesichter,Endlich aber gab ich nach,Bis ich gar, gleich einem Dichter,Selber mit im Tiktak sprach.

    Wie mir so im VersemachenSilb' um Silb' ihr Hopsa sprang,Musst ich pltzlich lachen, lachenEine Viertelstunde lang,Du ein Dichter? Du ein Dichter?Stehts mit deinem Kopf so schlecht? Ja, mein Herr! Sie sind ein Dichter! Also sprach der Vogel Specht.

    Die frhliche WissenschaftTitlepage

    Page Break id='FW' KGW='V-2.11' KSA='3.343'

    Die frhliche Wissenschaft. (la gaya scienza) von Friedrich Nietzsche.

    Ich wohne in meinem eigenen Haus, Hab Niemandem nie nichts nachgemacht Und lachte noch jeden Meister aus, Der nicht sich selber ausgelacht. Ueber meiner Hausthr.

    Neue Ausgabe mit einem Anhange: Lieder des Prinzen Vogelfrei.

    Leipzig. Verlag von E. W. Fritzsch. 1887.