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Im Atlantik verschollen

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Fred McMason

Im Atlantik verschollen

Juli 1598-Atlantik. An Bord der Galeone „Pilgrim" hatte niemand bemerkt, daß Ed Cornhill über

Bordgegangen war. Inseinen Wahn- und Fieberträumen war er zu dicht ans Schanzkleid getreten und hatte bei einem Roller den Halt verloren.

Das letzte, was Ed Cornhill in seinem Leben bewußt und deutlich gesehen hatte, waren ein einziger funkelnder Stern und die Hecklaterne der „Pilgrim".

AufderSchebeckederSeewölfewurdederertrinkendeMannebenfallsnichtbemerkt, dazu war die Nacht zu dunkel. A ußerdem segelte die Schebecke etwa eine halbe Meile

seitlich versetzt und achteraus der „Pilgrim ". IhrfolgtenurnochdieKaravelle,jenesSchiff,dassieseitLondonbegieiteteunddaswie ein Fühlungshalter immer in Sichtweite blieb, um den Anschluß nicht zu verpassen...

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Die Hauptpersonen des Romans:

William Anderley - der Kapitän der „Rabauken''-Karavelle betätigt sich als Leichenfledderer.

Old O'Flynn - spielt seine Rolle als „Katastrophen-Prophet" und riecht kommen­des Unheil.

Robert Granville - als Kapitän wurde er vom Seewolf abgesetzt und schmort in der Vorpiek, aber seine Retter erweisen ihm einen schlechten Dienst.

Barry Wister - der Zimmermann aus London kann nicht mehr schlafen, weil er in seinen Träumen das Zweite Gesicht hat.

Edwin Carberry- mit einer Bootscrew jagt er einen „Affenarsch" von Wal, der ihm das Fürchten beibringt.

Philip Hasard Killigrew - der Seewolf kann nur noch beten, als der Sturm los­bricht.

1.

Mit der Navigation standen die Kerle auf der Karavelle auf Kriegs­fuß, und so hatten sie sich an den Konvoi der Auswandererschiffe ach­tern angehängt und jeden Kontakt zu den Schiffen vermieden. Der Konvoi würde sie in die Neue Welt bringen, sofern sie nicht den Kontakt mit den Schiffen verloren.

Das war William Anderleys größte Sorge - ein Sturm, der die Schiffe auseinandertrieb, womöglich ein Sturm, der nachts wütete, wenn nichts zu sehen war.

Verloren sie den Kontakt, dann blieb ihnen nichts weiter übrig, als stur nach Westen zu segeln, wo sie früher oder später auf Land stoßen mußten. Es war dann allerdings mehr als fraglich, ob sie ausgerechnet Vir­ginia erreichen würden.

In dieser Nacht, es ging langsam dem Morgen zu, befanden sich nur der Bootsmann Tim Robinson und der Kapitän William Anderley an Deck. Die anderen Kerle schliefen bis zur nächsten Wache.

An Deck brannte keine Laterne. Sie hatten auch achtern keine Lampe ge­

setzt. Ihr Abstand zum letzten Schiff des Konvois, es war die Schebecke, betrug etwa fünf Meilen. Die Heckla­ternen der Pilgerschiffe waren wie leuchtende Geisterfinger in der See zu sehen.

„Wir sollten ein bißchen dichter aufschließen", sagte der Bootsmann. „Sind jetzt ungefähr vier, fünf Meilen achteraus. Der Killigrew kümmert sich sowieso nicht mehr um uns, aber wenn wir die Schiffe aus den Augen verlieren..."

„Weiß ich selbst", sagte Anderley brummig. Er hatte ein dichtes, schwarzes Bartgestrüpp, das ihm bis zur Brust reichte und ihm ein aben­teuerliches und verwegenes Ausse­hen verlieh. „Wir warten noch bis zur nächsten Wache, dann setzen wir zu­sätzlich ein Segel. Noch ist die Sicht so gut, daß nichts passieren kann, und es wird sich auch vorläufig nichts daran ändern."

„Wie du meinst, William, war nur ein Vorschlag. Ich habe immer ein bißchen Bammel, daß wir plötzlich allein auf weiter Flur stehen. Wir wis­sen nicht einmal, wie lange unsere Reise noch dauert. Oder hast du eine ungefähre Vorstellung?"

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William Anderley, den die Kerle trotz seiner fehlenden navigatori­schen Kenntnisse zum Kapitän er­nannt hatten, schüttelte sich in lautlo­sem Lachen. Die Frage schien ihn zu amüsieren.

„Nein, nicht die geringste", gab er zu. „Ich habe das nur grob überschla­gen und geschätzt. Kann sein, daß es noch vierzehn Tage dauert, kann aber auch noch einen ganzen Monat oder mehr dauern. Warum fragst du das?"

„Jack hat gestern den Proviant überprüft. Sieht ziemlich schlecht aus. Einiges ist durch Feuchtigkeit vergammelt, und zwei Fässer mit Hartbrot sind absolut ungenießbar geworden."

Anderley schluckte hart und räus­perte sich die Kehle frei.

„Wie lange reicht das Zeug noch?" fragte er kurz.

„Wenn wir nicht mehr so reinhauen wie bisher, höchstens noch zehn Tage. Dann können wir unsere eige­nen Planken fressen, sagte Jack."

„Verdammt. Sieht es wirklich so schlecht aus?"

„Leider ja." „Na, das kann ja heiter werden",

murmelte Anderley. „Hätten in Lon­don doch etwas mehr einsacken sol­len, verflucht. Aber verhungern wer­den wir trotzdem nicht."

„Auf See sind schon viele verhun­gert und noch mehr verdurstet. Das kann uns ebenfalls passieren. Oder glaubst du, wir finden unterwegs eine Insel, wo wir uns eindecken können?"

„Ich weiß nicht, ob es hier Inseln gibt, ich glaube nicht. Aber ich dachte nicht an eine Insel."

„Sondern?" „Wir werden uns Proviant beschaf­

fen, wenn es wirklich hart auf hart geht. Doch dazu haben wir noch Zeit.

Das will auch alles genau überlegt sein."

„Denkst du an eine der Galeonen? Das dürfte uns eine Menge Ärger ein­bringen. Die Killigrewburschen ken­nen keine Gnade."

„Das alles ist noch nicht spruchreif, Tim. Aber ich lege mich lieber mit den Killigrews an, als zu verhun­gern."

Robinson war von dieser Idee gar nicht begeistert, denn er fürchtete die „Killigrews", wie sie die Seewölfe nannten. Die würden es nicht zulas­sen, daß ein Wolf in die behütete Schafherde einbrach und Beute schlug. Er sagte jedoch nichts, denn es bestand ja die Möglichkeit, daß sie bald Land erreichten, das Land, in dem angeblich Milch und Honig flos­sen.

Eine halbe Stunde später wurden Jack und Ted hochgepurrt. Halb ver­schlafen setzten sie zusammen mit dem Kapitän ein weiteres Segel. Ganz langsam schlossen sie dann zu dem Konvoi wieder auf. In zwei Stun­den konnten sie das Segel wegneh­men, um wieder hinterherzuhinken.

Von der Seemannschaft verstanden sie einiges, nur die navigatorischen Künste ließen sehr zu wünschen üb­rig. Das Kartenmaterial, das sie an Bord hatten, schauten sie erst gar nicht an.

Die Sterne verblaßten. Ein kühler Wind strich über das Meer. In einer knappen halben Stunde würde es hell werden.

Robinson zuckte zusammen, als es hart am Bug pochte. Ein ähnliches Geräusch erklang gleich darauf noch einmal an Backbord.

„Habt ihr das auch gehört?" fragte er. „Hörte sich an, als hätten wir was gerammt."

„Hier gibt es nichts zu rammen",

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sagte Anderley brummig, „Hier gibt's nur Wasser und Himmel. Aber ich habe es auch gehört. Vielleicht hat je­mand auf den Galeonen was über Bord geworfen."

„Vielleicht ist auch nur was runter­gefallen", meinte Jack. „Etwas, das wir möglicherweise brauchen kön­nen. Wollen wir nicht mal nachse­hen?"

Sie stierten ins blasenwerfende Kielwasser, aber es war nichts zu se­hen.

Anderley zeigte jetzt auch Interes­se.

„Purrt die anderen Burschen hoch", befahl er. „Wenn sie an Deck sind, fahren wir eine Halse und sehen nach."

Abermals verging mehr als eine Viertelstunde, dann lag die Rabau-kenkaravelle auf Gegenkurs.

Im Osten zeigte sich der erste schwache Schein einer kurzen Däm­merung.

Das Meer war noch dunkel wie der Himmel auch.

Sie starrten voraus, bis Robinson plötzlich die Hand ausstreckte und nach Steuerbord voraus zeigte.

„Da treibt etwas!" rief er. „Ein Bün­del Lumpen oder so was. Sieht jeden­falls merkwürdig aus."

Sie hatten sich mit Haken be­waffnet und lagen auf der Lauer.

In der See trieb mit der Dünung tat­sächlich etwas auf und ab, das an ein Bündel Lumpen erinnerte.

Als sie noch näher heran waren, er­kannte Jack den Gegenstand.

„Das ist ein Kerl!" rief er. „Be­stimmt über Bord gegangen!"

„Dann laß ihn treiben", meinte der Bootsmann. „Soll er seinem Kahn hinterherschwimmen. Ist nur eine Be­lastung für uns."

„Moment mal", sagte Anderley,

„der sieht schon halbtot aus. Hievt ihn an Bord, vielleicht hat er was bei sich."

Es war typisch für die Kerle, daß sie so dachten. Mitleid war ihnen ein absolut fremder Begriff, und daß man einen in der See treibenden Mann nicht herzlos im Stich ließ, kümmerte sie auch nicht. Für sie war ein zusätzlicher Mann an Bord eine Belastung.

Die Bootshaken schossen vor und griffen in Hemd und Hose des Man­nes. Zu viert hievten sie ihn hoch und legten die tropfnasse Gestalt an Deck. -

Dort lag Ed Cornhill jetzt. Er war mit Hemd und Hose bekleidet, das Hemd war jedoch aufgerissen. Seine Augen waren geschlossen, aber sein Mund stand weit offen. Das Haar fiel ihm über die Stirn. Auf den ersten Blick sah er so aus, als lebe er noch.

„Der ist abgenippelt", stellte An­derley leidenschaftslos fest, nachdem er den Toten kurz berührt hatte. „Ganz kalt, der Bursche. Vermutlich ist er über Bord gegangen und ersof­fen."

„Was sollen wir jetzt mit einer Leiche an Deck?" fragte Ted. „Tote Kerle an Bord bringen nur Unglück, das ist eine alte Weisheit."

„Ich bin auch dafür, daß wir ihn so schnell wie möglich wieder loswer­den", sagte Jack schaudernd.

„Wir gehen erst wieder auf Gegen­kurs", entschied der vollbärtige Kapi­tän. „Sonst verlieren wir den An­schluß. Auf Stationen."

Als das Manöver beendet war und die Karavelle wieder auf ihrem alten Kurs lag, sah Anderley sich den To­ten noch einmal genauer an. Dabei entdeckte er eine dünne Schnur, die um den Hals des ertrunkenen Mannes lief.

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„Da gibt's anscheinend noch was zu holen", sagte er ungerührt. „Sieht nach einem Brustbeutel aus."

Er griff die Schnur und zog daran. Dann fuhr er entsetzt zurück, als sich das eine Auge des Toten öffnete. Der Blick war gebrochen und leicht ver­schleiert, aber den Kerlen war es, als stehe der Mann gleich auf. Fluchend und ängstlich sprangen sie zurück.

„Nur ein Reflex", sagte Robinson. „Das passiert manchmal, wenn sich die Lage einer Leiche verändert. Soll ich mal?"

Anderley schüttelte den Kopf und griff erneut nach der dünnen Schnur.

Ein dünner Beutel aus Leder hing daran, der auf den Nacken der Was­serleiche gerutscht war. Mit einem heftigen Ruck riß der Kapitän den Lederbeutel ab. Durch die hastige und ruckartige Bewegung öffnete sich auch das andere Auge des Man­nes. Er schien sie vorwurfsvoll anzu­blicken.

„Sieht aus, als lebe er noch", mur­melte Jack beklommen. „Das ist ja gräßlich anzusehen."

Anderley öffnete den Beutel, blickte hinein und grinste dünn.

„Hat sich gelohnt, den Burschen aufzuhieven. Das ist unsere Beloh­nung, hier!"

Er griff in den Beutel und holte zwei Goldmünzen und vier Silber­münzen hervor. Die anderen Kerle begannen breit zu grinsen.

„Dafür kann man schon mal einen aus dem Wasser holen", erklärte Jack. „Er hat sein kurzes Gastspiel je­denfalls teuer bezahlt."

Die rohen Kerle begannen, den To­ten zu fleddern. Sie hatten nicht die geringsten Hemmungen.

Ed Cornhill trug nichts weiter bei sich. Die paar Münzen waren sein ganzer Besitz gewesen.

Anderley steckte die Münzen grin­send in seine Tasche. Mittlerweile war es so hell geworden, daß alles deutlich zu erkennen war.

„Was tun wir eigentlich mit den Münzen?" fragte Ted. „Genaugenom­men können wir gar nichts damit an­fangen. Hier gibt es weit und breit kein Geschäft und keinen Markt."

Anderley fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes Bartgestrüpp.

„Hm, wir heben sie auf. Vielleicht können wir später von den anderen Schiffen etwas Proviant kaufen. Ob der Kerl von dem Schiff ist, das ein bißchen gebrannt hat?"

Die Frage blieb unbeantwortet, aber sie interessierte auch keinen. Den Qualm und ein paar Flammen hatten sie auf einer der Galeonen be­obachtet, sich aber nicht weiter dar­um gekümmert. Anderley hatte ledig­lich bemerkt, daß sie keine Schiffbrü­chigen aufnehmen würden, falls der Kahn absaufen würde. Das Feuer war dann aber ziemlich schnell ge­löscht worden.

Keiner von den Kerlen brachte den Toten in Zusammenhang mit dem Feuer. Ed Cornhill hatte bei dem Brand seine Frau Claire verloren. Über ihren Tod hatte sich sein Geist verwirrt, und so war er seiner Frau gefolgt.

Von der menschlichen Tragödie ahnten die Rabauken nichts. Es hätte sie auch nicht weiter berührt.

„Werft ihn über Bord", sagte An­derley, „aber wartet, bis ich euch ein Zeichen gebe. Vielleicht belauern uns die Killigrews gerade durch das Spektiv. Die brauchen schließlich ja nicht alles zu sehen."

Durch den Kieker beobachtete er die Schebecke der Seewölfe. Sie war jetzt knapp drei Meilen entfernt. Er konnte nicht feststellen, ob sie ihn be-

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obachteten, und so gab er das Zei­chen.

Achtern auf der Karavelle hoben Jack und Ted den Toten hoch. Dann holten sie kurz aus und warfen Ed Cornhill ins Wasser.

Diesmal ging der Tote unter und verschwand im schäumenden und brodelnden Kielwasser. Er tauchte auch nicht mehr auf.

Ed Cornhill hatte sein ewiges Grab endgültig in der Weite des Atlantik gefunden.

Der Tag bei den Arwenacks begann wie immer mit der morgendlichen In­spektion der drei Galeonen. Visite nannten sie das.

Hasard hatte es sich zur Gewohn­heit werden lassen, täglich nach dem Stand der Dinge zu fragen, seit Gran-ville als Kapitän der „Discoverer" ab­gesetzt worden war. Jetzt hatte Har­ris das Kommando, und an Bord hatte sich einiges zum Vorteil aller entwickelt.

Harris, hatte auch ein ganz beson­ders wachsames Auge auf die drei ausgekochten Halunken - den Koch Bascott, den Decksältesten Gordon Tibbs und den brutalen Bootsmann Watts. Die drei Kerle hatten von den Arwenacks die Dresche ihres Lebens empfangen.

Es gab jeden Tag etwas Neues, so auch heute, als die Schebecke Kurs auf die „Pilgrim" nahm und längs­seits ging.

James Drinkwater begrüßte den Seewolf zurückhaltend und bedrückt.

„Wir vermissen einen Mann, Sir. Ed Cornhill heißt er."

Er erzählte in kurzen Worten das, was er wußte.

„Er ist also nicht mehr an Bord?" fragte Hasard. „Steht das fest?"

„Ja, Sir, wir haben jeden Winkel durchsucht. Die Leute sagten mir, daß sich sein Geist ein wenig verwirrt habe. Möglicherweise steckt der Mann auch hinter dem Tod des Man­nes, der an der Rah hing. Beweisen läßt sich das jedoch nicht. Sie kennen die Geschichte, Sir."

„Ja, ich kenne sie", sagte der See­wolf seufzend. „Seit wann ist er denn verschwunden?"

„Das weiß niemand. Möglicher­weise hat er sich in einem Anfall von Schwermut das Leben genommen. Das kann ich nicht ausschließen. Wir wollten Ihnen gerade ein Signal ge­ben, Sir."

Hasard blickte ganz automatisch achteraus. Natürlich erwartete er nicht, den Mann dort im Wasser trei­ben zu sehen. Es war mehr ein Reflex.

„Konnte er schwimmen?" „Keine Ahnung, Sir. Die meisten

können leider nicht schwimmen." „Es ist also während der Nacht pas­

siert", sagte Hasard. „Das müßte -das Günstigste vorausgesetzt - min­destens zwei Stunden her sein, ver­mutlich aber wesentlich länger. Den Kurs haben Sie seit gestern nicht mehr geändert."

„Glauben Sie, daß er eine Überle­benschance hat, Sir?" fragte Kapitän Drinkwater ungläubig.

„Das ist nicht auszuschließen. Si­gnalisieren Sie dem Verband, daß er auf Kurs bleiben soll, Kapitän. Wir werden die Strecke absegeln, obwohl ich nicht viel Hoffnung habe. Aber man soll niemals aufgeben."

„Ich weiß nicht so recht, ob Sie überhaupt nach ihm suchen sollten, Sir", murmelte Drinkwater unsicher. „Nach allem, was ich hörte, hatte Cornhill wohl mit dem Leben abge-

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schlossen und wollte seine Ruhe fin­den."

„Vielleicht hat ihn auch jemand über Bord gestoßen", erwiderte Ha­sard, „und das wollte er ganz be­stimmt nicht. Ich bin da anderer Ansicht, wenn Sie gestatten."

Hasard verlor keine Zeit mehr und gab das Zeichen zum Loswerfen.

Die schnelle und wendige Sche-becke legte ab, luvte kurz an und ging augenblicklich auf Gegenkurs.

Drinkwater setzte inzwischen das Signal, das Hasard angeordnet hatte. Es besagte, daß der Verband auf Kurs zu bleiben habe.

„Jeden Tag etwas anderes", sagte Hasard, „aber nur ganz selten etwas Gutes. Ich möchte nur einen Tag erleben, an dem auf den drei Ga-leonen mal Ruhe und Ordnung herr­schen."

„Das wird bis zur Ankunft wohl sicher nicht mehr der Fall sein", murmelte Ben Brighton. „Ich möchte nur wissen, was auf der ,Pilgrim' in jener verhängnisvollen Nacht vorge­gangen sein mag. Erst steckten die Kerle beim Ausräuchern der Ratten ihr Schiff in Brand, dann wurde einer kurzerhand an die Rah gehängt und ein anderer fing an zu spinnen. Jetzt ist er außerdem noch spurlos ver­schwunden. Warum geht eigentlich bei uns alles so glatt? Langsam be­ginne ich mich darüber zu wundern."

„Wir sind eine eingeschworene Mannschaft", sagte der Seewolf mit einem feinen Lächeln. „Wir haben tausend Stürme hinter uns und muß­ten uns immer wieder bewähren, in jeder Situation neu. Anfangs, als wir noch bei Drake fuhren, hatte es ja auch eine Menge Schwierigkeiten ge­geben. Danach wurde die Spreu vom Weizen getrennt. Was übrig blieb ist heute der goldene Kern."

Sie grinsten sich für einen Augen­blick an.

Die Schebecke lag jetzt auf direk­tem Ostkurs. Alle an Bord verfügba­ren Spektive waren verteilt worden. Die Ausgucks suchten pausenlos die See ab. Zum Glück war das Meer ruhig, so daß jeder treibende Gegen­stand schon auf weite Entfernungen gesichtet werden konnte.

„Wenn er nicht schwimmen kann, ist eine Suche aussichtlos", sagte Don Juan. „Kann er sich wider Erwarten aber doch über Wasser halten, dann müßten wir ihn auch finden. Es ist nur eine Frage der Zeit."

„Dann opfern wir ein paar Stun­den", sagte Hasard. „Für die Sche­becke ist es kein Problem, zum Ver­band aufzuschließen. Wir segeln un­ter vollem Preß fast dreimal so schnell."

„Wenn er noch lebt, dann hat er jetzt einen Vorgeschmack der Hölle erhalten", sagte Ben nach einer Weile. „Fast jeder von uns weiß, wie es ist, hilflos und allein in der unend­lichen Weite eines Meeres zu schwim­men. Man wird verrückt bei dem Gedanken, daß nie wieder Hilfe zu erwarten ist und man früher oder später jämmerlich ertrinken muß."

„Hoffen wir das beste für ihn." Dan O'Flynn suchte ebenfalls die

See ab. Wenn einer den treibenden Mann entdeckte, dann war es zweifel­los Dan, der die Augen eines See­adlers hatte und dem nichts entging.

Ein kleines, kaum merkliches Lä­cheln umspielte seine Lippen, wäh­rend er durch den Kieker blickte.

„Was gibt es denn zu grinsen?" fragte Al Conroy.

Dan O'Flynn deutete mit dem Ell­bogen zu der Karavelle, die wie in einem goldenen Licht erschien, als die Sonnenstrahlen sie voll trafen.

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Einzelheiten waren an Bord nicht zu erkennen. Das wendige Schiff sah wie ein himmlischer Lichtblitz aus.

„Die Kerle werden offensichtlich nervös und wissen nicht, was sie von unserem Manöver halten sollen."

„Tatsächlich, sie ändern den Kurs in südliche Richtung", sagte Al. „Sie haben wohl ein sehr schlechtes Ge­wissen."

Das stimmte allerdings.

2.

Auf der Karavelle wurde in den Morgen hineingetrödelt wie fast je­den Tag. Nachdem Ed Cornhill für alle Zeiten verschwunden war, gaben sich die Kerle der Langeweile, hin. Sie sehnten den Tag herbei, an dem end­lich Land auftauchte und die große Suche nach Gold beginnen konnte.

Zwei der Rabauken warfen mit Messern auf den Fockmast, um sich die Zeit zu vertreiben.

Jack studierte zum hundertsten Male die Schatzkarte, die er von ei­nem alten Seemann in einer Londo­ner Hafenkneipe gekauft hatte. Sie alle kamen mit dem Ding nicht zu­recht, denn da war von einem reich­lich obskuren Goldfluß in der Neuen Welt die Rede, aus dem man die Nug­gets nur so mit den Fingern heraus­klauben könne. Nur wo er genau lag, war noch völlig unklar - irgendwo im Norden.

In den Karten stand jedoch noch mehr ungereimtes Zeug, über das sie lange Zeit gerätselt hatten. Abwech­selnd betrachteten sie immer wieder die Karte, ohne schlauer zu werden.

„Das ergibt sich alles, wenn wir erst an Ort und Stelle sind", prophezeite der Bootsmann. „Hier haben wir kei­nerlei Anhaltspunkte, an denen wir

uns orientieren können. An Land aber sind Bäume, Berge, Hügel und Seen eingezeichnet, und die Himmels­richtungen haben wir ebenfalls. Wir brauchen uns nur an den eingezeich­neten Pfeilen zu orientieren, dann finden wir auch das, was wir suchen -und noch mehr."

Nicht alle teilten seinen Optimis­mus, denn die Karte war doch recht dilettantisch gezeichnet. Aber sie wa­ren nicht allein auf diese Karte ange­wiesen. Sie wollten das Land erobern, das angeblich so ungeheure Schätze barg.

Sie wurden aus ihren träumeri­schen Betrachtungen gerissen, als William Anderley scharf durch die Finger pfiff. Die Kerle zuckten zu­sammen und blickten nach achtern zu ihrem Kapitän.

„Die Killigrews kreuzen auf!" schrie Anderley und deutete mit der Hand aufgeregt voraus.

Dort war die Schebecke zu sehen, noch knapp zwei Meilen entfernt, aber unter vollem Preß laufend. Sie hatte jeden Fetzen Tuch gesetzt und bewegte sich wie eine schnelle Wolke durch das Wasser.

Der Bootsmann wechselte abrupt die Farbe und wurde unter seiner son­nengebräunten Haut schmutziggrau.

„Was jetzt? Die wollen sicher was von uns. Sie halten genau auf uns zu, die verdammten Bastarde."

Niemand an Bord konnte sich vor­stellen, daß die „Killigrews" einen Mann suchten, der über Bord gefal­len war, und daß sie deshalb auf Ge­genkurs gegangen waren. Die Rabau­ken hatten ein schlechtes Gewissen, und daher nahmen sie an, daß es ih­nen jetzt an den Kragen ginge. Viel­leicht hatten die Killigrews das lä­stige Spielchen satt, das mit ihnen schon seit London getrieben wurde.

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„Wir werden uns wehren", sagte Anderley. „Wir lassen uns nicht von der freien See vertreiben."

Seine Stimme klang allerdings nicht entschlossen genug. Er schien noch zu zaudern.

„Wenn wir uns wehren", sagte Ro­binson heiser, „dann verarbeiten die uns zu Kleinholz. Außerdem sind un­sere Drehbassen unten und müssen erst an Deck gebracht werden."

„Dann holt sie doch, verdammt!" Die Kerle sahen sich unschlüssig

an. Dann blickten sie zu der heran­rauschenden Schebecke auf Gegen­kurs. Es sah aus, als wichen die Kil-ligrews um keinen Deut von ihrem Kurs ab. Oder hatten sie die Absicht, die Karavelle zu rammen?

„Los, die Drehbassen an Deck!" rief Robinson. Er wirkte fahrig, ner­vös und aufgescheucht. Sein Kapitän verhielt sich nicht anders.

„Die haben uns doch hoffentlich nicht dabei beobachtet, als wir den Kerl über Bord warfen?" fragte Jack.

Er erhielt keine Antwort. Drei Mann waren damit beschäftigt, den Raum aufzudecken, in dem die Dreh­bassen lagen. Sie hatten für alle Not­fälle nur zwei Drehbassen an Deck -eine vorn, die andere achtern. Aber damit konnten sie gegen die Killi-grews bestenfalls kleine Nadelstiche austeilen.

Die Schebecke war dagegen gut ar­miert. Sie hatte vorn und achtern je zwei Drehbassen und an jeder Seite nochmals sechs Stück vom Culveri-nenkaliber. Das waren Siebzehnpfün­der, und wenn sechs davon trafen, konnten sie ihre Reise in die Neue Welt vergessen. Sie würden dann höchstens noch auf ein paar Planken dem ersehnten Land entgegentrei­ben.

Die Schebecke näherte sich

erstaunlich schnell und wurde immer größer, was Anderley mit dem aller­größten Mißbehagen registrierte.

Es hatte ganz den Anschein, als ginge es ihnen diesmal an den Kra­gen.

Er sah nach seinen Rabauken, die sich unendlich schwer damit taten, den Laderaum zu öffnen. Sie schie­nen die Arbeit absichtlich zu verzö­gern, denn sie hatten Angst. Die Zeit würde auch gar nicht mehr ausrei­chen. Bis sie die Drehbassen an Deck, montiert und geladen hatten, war die Schebecke längst heran und hatte ih­nen ein paar Löcher in die Bordwand gestanzt.

Angesichts dieser eisenharten Kerle verließ Anderley jetzt auch langsam der Mut. Was hatten sie schon davon, wenn sie als Trümmer­haufen im Atlantik trieben, überlegte er fieberhaft.

„Verfluchte Mistkerle", stieß er hei­ser hervor und ließ dabei offen, ob er jetzt die Killigrews oder seine eige­nen Leute meinte.

Dann packte er die Pinne fester und legte Ruder nach Backbord.

„Trimmt die Segel nach!" brüllte er, „wir gehen auf Südkurs."

Die Erleichterung war den Kerlen deutlich anzusehen. Jeder von ihnen atmete heimlich auf.

„Sollen wir die Drehbassen nicht mehr . . . "

„Nein, verdammt! Kümmert euch um Halsen und Schoten! Wir laufen mit achterlichem Wind ab."

Mit beachtlichem Eifer gingen sie jetzt an die Arbeit, als der Bug der Karavelle langsam nach Süden schwang.

Anderley sah, daß die Schebecke den Kurs nicht änderte und weiter nach Osten törnite, als hätte sie es furchtbar eilig. Vielleicht aber war

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das nur ein Ablenkungsmanöver, das sie in Sicherheit wiegen sollte. Den Killigrews traute er alles zu.

Sie klüsten weiter hart nach Süden, als der neue Kurs anlag. Die Kerle fanden sich mittlerweile auf dem Achterdeck ein und verfolgten die Schebecke mit den Blicken.

„Die wollen gar nichts von uns", sagte Robinson nach einer Weile, als sich das Schiff immer weiter nach Osten entfernte. Er lachte gequält auf und schlug mit der Hand auf das Schanzkleid. „Wir haben uns ins Bockshorn jagen lassen."

„Noch traue ich denen nicht", sagte Anderley. „Die können jeden Augen­blick den Kurs wechseln und uns nachjagen. Aber bis sie uns jetzt er­reicht haben, vergeht mehr als eine halbe Stunde. Holt die Drehbassen trotzdem an Deck. Wir haben einen winzigen Vorsprung."

Die Kerle murrten, sahen dann aber ein, daß es doch besser war, noch ein paar zusätzliche Rohre an Deck zu haben.

Nach einer kleinen Ewigkeit hatten sie vier Drehbassen oben und setzten sie in die Halterungen. Inzwischen war die Schebecke jedoch schon so klein wie ein Spielzeug geworden. Die „Killigrews" dachten gar nicht daran, der Karavelle zu folgen. Sie hatten ein ganz anderes Ziel.

Endlich ging auch Anderley ein Licht auf, und er schlug sich mit der Hand vor die Stirn.

„Jetzt habe ich es endlich kapiert!" rief er aus. „Die suchen den Kerl, der über Bord gegangen ist. Natürlich, sie waren auf der einen Galeone, und da hat man ihnen gesagt, daß ein Mann verschwunden ist. Na, da können sie lange suchen", setzte er hämisch hin­zu. „Von dem Kerl finden sie nichts mehr."

„Er ist im Kielwasser untergegan­gen und nicht mehr aufgetaucht", versicherte Jack. „Das habe ich ganz deutlich gesehen. Und gemerkt haben sie auch nichts, daß wir ihn an Bord hatten."

„Unverschämte Bastarde", schimpfte Robinson. „Bleiben wir jetzt auf Südkurs?"

Anderley strich mit den Fingern durch seinen dichten Bart und schüt­telte den Kopf.

„Wir gehen langsam wieder auf Südwest. Aber behaltet die Kerle gut im Auge. Möglicherweise statten sie uns auf dem Rückweg noch einen Be­such ab. Immer gut aufpassen."

Nach einer weiteren halben Stunde war die Schebecke nur noch ein win­ziger Punkt in der Weite des Atlan­tiks, und die Rabauken atmeten er­leichtert auf.

Die Arwenacks belustigte der Zwi­schenfall nur kurz, als die Rabauken auf der Karavelle fast überstürzt die Flucht ergriffen und nach Süden ab­drehten.

„Ich würde die Kerle noch ein biß­chen zwiebeln, bis sie endgültig ab­drehen und soweit entfernt sind, daß sie den Anschluß an den Verband ver­lieren", schlug Carberry vor. „Dann herrscht endlich Ruhe."

„Ruhe herrscht auch jetzt", sagte Hasard. „Bisher sind sie noch nicht unangenehm aufgefallen. Sie halten sich immer zurück."

„Fragt sich nur, wie lange das noch dauert. Unser Katastrophenprophet hat ja schon verkündet, daß sie noch ihr wahres Gesicht zeigen würden, wenn einmal Not am Mann sei."

Old O'Flynn, der sich als Katastro-

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phenprophet auch sogleich angespro­chen fühlte, nickte bekräftigend.

„Zuerst wird es ihnen einmal drek-kig ergehen", sagte er grüblerisch. „Aber uns auch."

„Höhere Eingebung?" fragte Ha­sard. Obwohl sie sich unterhielten, ließen sie das Meer nicht aus den Au­gen. „Oder wie ist das zu verstehen?"

Der Alte verzog das Granitgesicht, bis tausend kleine Fältchen darin zu erkennen waren.

„Riecht nach Sturm", erwiderte er und zog unbehaglich die Schultern hoch.

„Sieht aber gar nicht danach aus", entgegnete Hasard spöttisch. „Der Himmel ist fast durchgehend blau, die Temperatur ist angenehm, und der Wind ist nichts weiter als eine frische Brise. Ich merke es meist auch, wenn ein Wetterumschwung be­vorsteht. Aber diesmal habe ich abso­lut kein Gefühl dafür."

„Das ist mehr längerfristig", ent­gegnete Old O'Flynn. „Kann noch zwei oder drei Tage dauern, aber dann gibt's was auf die Mütze. Ich glaube, es wird ein schrecklicher Sturm werden. Den schlimmsten, den wir bisher auf dem Atlantik hatten", fügte er leise hinzu.

„Mal bloß nicht den Teufel an die Wand", sagte Hasard unterdrückt. „Ein verheerender Sturm so kurz vor dem Ziel bei den vor Hunger und Krankheit geschwächten Leuten, das fehlt uns gerade noch."

„Hm", brummte Old Donegal. „Ich kann es nicht ändern, bin ja schließ­lich nicht Gottvater und auch nicht der Meergott. Aber mein Gespür für solche Dinge hat mich nur sehr selten getrogen."

„Das stimmt", gab Hasard zu. Aus einem unerklärlichen Grund heraus fühlte er sich plötzlich unbehaglich.

Es war wie ein kurzer Schauer, der ihm über den Körper lief. „Hoffent­lich trügt dich dein Gefühl wenig­stens diesmal."

„Hoffe ich auch", erwiderte der Alte knapp. „Aber vorsichtshalber sollten wir den Verband schon mal Wahrschauen. Wenn es nicht zutrifft, haben wir schließlich nichts verlo­ren."

Da wußte Hasard, daß doch etwas an der Sache war. Old Donegal peilte wieder mal hinter die Kimm, sonst wäre er bei seinen Worten nicht so ernst gewesen.

„Nun, das werden wir auch tun", versprach er, und dabei überlief ihn erneut dieser unerklärliche Schauer.

Von dem verschwundenen Mann war nichts zu sehen. Dennoch segel­ten sie bis fast gegen Mittag auf dem Kurs weiter.

Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, gab der Seewolf auf.

„Es hat keinen Zweck mehr", sagte er enttäuscht. „Wir sind jetzt so weit gesegelt, daß wir den Verband nicht mehr sehen. Bis wir ihn wieder einge­holt haben, dürfte es dunkel sein. Der Mann ist ertrunken, daran gibt es wohl keinen Zweifel. Gott sei seiner armen Seele gnädig."

„Ja, es ist aussichtslos, die Suche noch weiter fortzusetzen", meinte auch Ben Brighton. „Ich habe keine Hoffnung mehr. Wir können nur auf dem Rückweg noch einmal Ausschau halten, indem wir auf einen Kurs ge­hen, der uns ein paar Kabellängen nach Süden versetzt führt. Aber auch da dürfte es keine Hoffnung mehr ge­ben."

Sie waren scheinbar allein in der Weite des Atlantiks. Weit und breit war kein anderes Schiff zu sehen. Der Konvoi segelte irgendwo hinter der westlichen Kimm. Nicht einmal die

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Mastspitzen der Galeonen waren sichtbar.

Die ersten Mastspitzen sahen sie erst nach ein paar Stunden an der südlichen Kimm.

„Ah, unsere Rabauken", sagte Don Juan. „Sie wagen sich wieder auf den alten Kurs zurück. Sie sind so lästig wie Fliegen."

Hasard kümmerte sich nicht weiter um sie. Er wußte genau, daß sie sich wieder anhängen würden, wenn sie die Schebecke in sicherer Entfernung voraus sahen.

Das war dann nach einer weiteren Stunde der Fall. Die Karavelle kreuzte auf und ging langsam auf nordwestlichen Kurs. Als die Arwe-nacks den Verband wieder eingeholt hatten, war es später Nachmittag. Zu diesem Zeitpunkt lag die Karavelle genau achteraus und folgte ihnen wie ein braves Hündchen.

„Laßt Granville für eine Stunde an Deck", sagte Hasard, „damit er frische Luft schnappen kann."

Batuti, Bill und Jan Ranse gingen zur Vorpiek, wo der ehemalige despo­tische Kapitän der „Discoverer" zur Zeit hauste. Der Seewolf hatte ihn ab­gesetzt, verhaften und in die Vorpiek der Schebecke sperren lassen.

Robert Granville hatte seine Stel­lung gründlich mißbraucht. Er hatte Siedler beim Würfelspielen betrogen und ausgenommen, Proviant und Trinkwasser drastisch gekürzt und zurückgehalten und den Frauen auf der Galeone nachgestellt. Unschul­dige Opfer hatte er rigoros auspeit­schen lassen, bis sein Maß nach etli­chen Verwarnungen endgültig voll war.

Als er an Deck stand, sah er noch finsterer aus als sonst. Unter dicken Augenbrauen blinzelte er in die tief­stehende Sonne. Seine Lippen waren

verkniffen, sein Gesicht bösartig ver­zogen.

„Eines Tages werdet ihr das noch bitter bereuen", sagte er haßerfüllt zu Jan Ranse. „Ich werde wieder nach England zurückkehren, und dann geht es euch an den Kragen."

„Die Sprüche kennen wir", sagte Jan gleichgültig, „Es ist jeden Tag das gleiche. Troll dich, Mister, in ei­ner Stunde landest du wieder in dei­nem Kabuff."

„Ich habe eine Beschwerde bei Kil-ligrew vorzubringen. Ich will, daß er mich anhört. Ich lasse mir das nicht gefallen, in einem dunklen Loch ein­gesperrt zu sein. Bringt mich nach achtern."

„Der Kapitän legt keinen Wert dar­auf, mit Ihnen zu sprechen", sagte Bill. „Er hat ausdrücklich betont, daß Sie auf dem Achterdeck nicht er­wünscht sind. Sie können jetzt Ihre Runden drehen, aber nur bis zum Nie­dergang des Achterdecks. Sie können aber auch wieder zurück, das liegt ganz bei Ihnen, Mister."

„Sie haben mich mit Sir anzure­den!" schrie Granville. „Ich bin nicht irgendein hergelaufener Mister!"

„Sie sind ein korrupter, herrsch­süchtiger Hundesohn, der arme Leute um ihr letztes bißchen Geld betrogen hat", sagte Bill kalt. „Das ist eine Tat­sache. Ein Sir sind Sie auf keinen Fall, eher . . .

„ . . . eine erbärmliche Ratte", fügte Jan hinzu.

Der Profos tauchte auf, als er Gran­ville diskutieren sah. Sein Amboß­kinn stach drohend in die Luft.

„Gibt es wieder Stunk?" fragte er leise. „Muß ich mich vielleicht veran­laßt sehen, dem ehrenwerten Kapitän die Haut in Streifen von seinem kor­rupten Affenarsch abzuziehen, was, wie?"

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„Er will den Kapitän sprechen", sagte Jan.

„Abgelehnt", entschied Carberry. „Wenn er noch lange herumstänkert, bringt ihn nach unten und legt ihn in Eisen. In Zukunft fällt dann seine eine Stunde an Deck ganz aus, klar?"

„Alles klar", erwiderte Bill mit ei­nem dünnen Grinsen.

Sie ließen Granville stehen, der fin­ster über das Wasser starrte und den Blick auf die „Discoverer" heftete. Dort hatte jetzt sein Erster Offizier Harris das Kommando, der kein kor­rupter Hund war und die Leute fair und anständig behandelte. Da Harris über beachtliche navigatorische Kenntnisse verfügte und ein ausge­zeichneter Seemann war, hatte der Seewolf ihn zum Kapitän ernannt.

Granville trat verärgert ans Schanzkleid und legte seine fleischi­gen Pranken auf den Handlauf. So starrte er zu der Galeone hinüber und wünschte Harris die Pest an den Hals. Untergehen sollte der verdammte Kahn mit Mann und Maus, absaufen mit allem, was an Bord war. Unauf­hörlich kreisten seine Gedanken dar­um. Dann sann er darüber nach, wie er sich aus seiner mißlichen Lage be­freien konnte.

Da gab es jedoch keinen Ausweg, so angestrengt er auch überlegte. Er hatte keine Freunde, und gerade ihm würde niemand helfen. Doch, er hatte ein paar Freunde, und die befanden sich hier auf der Schebecke. Es waren Sir William Godfrey, Alec Morris und Frank Davenport. Und dann war da noch die weit zurückliegende Ka-ravelle. Die Kerle kannte er auch alle sehr gut, und sie würden ihn mit Freuden aufnehmen.

Er war so in Gedanken versunken, daß er die drei Gestalten erst wahr­nahm, als sie neben ihm auftauchten.

Die drei ehrenwerten Adelströpfe grinsten ihm aufmunternd zu.

„Nur nicht die Nerven verlieren, Robert", sagte Sir William Godfrey. „Deine Lage ist zwar augenblicklich schlecht, aber doch nicht hoffnungs­los. Was will Killigrew dir denn an­tun? Pah - drüben muß er dich so­wieso freilassen, und dann sind wir wieder zusammen. Wenn der Kerl erst einmal abgesegelt ist, sieht alles ganz anders aus. Du hast auf der ,Dis­coverer' noch Freunde, vergiß das nicht. Und Anderley ist mit seinem Schiff ebenfalls immer in der Nähe."

Granville nickte langsam. „Du hast recht, William. Hängen wird er mich nicht, sonst hätte er es längst getan. Und ein Gefängnis werden sie ja wohl auch nicht extra für mich bauen."

„Ganz sicher nicht", sagte Alec Morris. Er grinste überheblich. „Es wird ja nicht mehr lange dauern, bis wir endlich drüben sind. Hast du eine Ahnung, wie lange das noch sein wird? Hier an Bord erfährt man ja nichts, wenn man anständig fragt."

Was Morris als anständiges Fragen bezeichnete, erschien den Arwenacks jedesmal als überhebliche Arroganz. Zudem wußte der unbedarfte Kerl immer alles besser und tönte großkot­zig herum.

„Etwa zwei bis drei Wochen", sagte er unsicher. „So hat der Bastard Har­ris das jedenfalls vor ein paar Tagen errechnet. Drei Wochen sind es si­cherlich noch. In der Zeit kann ich hilflos in der Piek schmoren."

„Im Augenblick können wir nichts für dich tun", sagte Frank Davenport bedauernd. „Überall folgt uns dieser verdammte Wolfsköter und knurrt uns an. Mich wundert nur, daß wir uns überhaupt unterhalten dürfen. Aber selbst wenn wir dich befreien könnten, bringt das nichts ein. Ander-

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ley würde dich natürlich sofort auf­nehmen, aber ob er dich im Wasser bemerkt, bezweifle ich stark."

„Damit ist mir wahrhaftig nicht ge­dient", sagte Granville leise. „Ich wäre frei und kann elend ersaufen. Aber vielleicht ist der Gedanke doch nicht ganz so schlecht. Ich kann ver­dammt lange schwimmen, und ich würde mich schon bemerkbar ma­chen."

„Aber wir haben keine Möglich­keit", wandte Morris ein. „Wir müs­sen eine günstige Gelegenheit abwar­ten. Fragt sich nur, wann sich die er­gibt. Das kann noch Tage dauern."

„Kriegst du denn wenigstens etwas zu essen?" fragte Godfrey teilnahms­voll, „oder verweigern die Kerle auch das noch?"

„Verhungern lassen sie mich nicht", gab Granville widerwillig zu. „Aber das ist natürlich kein Ver­gleich zu vorher."

Die drei einfältigen Tröpfe be­dauerten das lebhaft. Sie schmiede­ten Zukunftspläne und heckten aus, was sie alles anfangen würden, so­bald sie in der Neuen Welt seien.

Ganz am Anfang der Reise hatten sie noch groß herumgetönt, daß sie sich um den Aufbau der Kolonie und die Siedler kümmern wollten. Doch das war nur ein lausiger Vorwand. Sie dachten nicht im Traum daran, je­mandem zu helfen. Sie wollten sich nur bereichern, und in ihren Köpfen spukten riesige Goldberge herum, die nur abgeräumt zu werden brauchten.

„Eine Gelegenheit könnte sich bei Sturm ergeben", sagte Granville nach einer Weile des Nachdenkens. „Dann sind die Kerle beschäftigt und passen nicht auf."

„Das müßte dann möglichst in der Dunkelheit sein", entgegnete Daven­port.

Was sie da ausheckten, hatte weder Hand noch Fuß, oder sie überdachten die Lage nicht richtig.

„Bei Dunkelheit wäre es natürlich am besten", tönte auch Alev Morris wieder herum. Allerdings bedachte er dabei nicht, daß niemand auf der Karavelle einen in dunkler Nacht treibenden Mann im Wasser entdek-ken würde. Die anderen dachten nicht viel weiter, selbst Granville nicht, der nichts anderes im Sinn hatte, als von hier zu verschwinden.

Hasard sah den Kerlen vom Achter­deck aus eine Weile zu, wie sie die Köpfe zusammensteckten und tu­schelten. Morris, der ohnehin dümm­ste der Kerle, drehte dabei ständig den Kopf und peilte die Lage.

„Sie hecken etwas aus", sagte der Seewolf. „Aber was sie auch immer vorhaben, es wird ihnen nicht gelin-gen. Die drei Tröpfe sind schlichtweg zu dumm und zu feige, einen gefaßten Plan in die Tat umzusetzen. Es würde mich aber doch interessieren, über was sie palavern."

„Soll ich sie trennen?" fragte Big Old Shane. „Dann ist ihr Palaver sehr schnell beendet."

Hasard schüttelte den Kopf. „Sie können nichts unternehmen,

jedenfalls hier an Bord nicht. Ver­mutlich unterhalten sie sich darüber, wie es weitergeht, wenn wir die Neue Welt erreicht haben. Laß sie also quatschen, die Helden."

„Was hast du mit Granville vor, Sir?"

„Das weiß ich noch nicht. Ich werde aber darüber bei Gelegenheit mal nachdenken. Vorerst bleibt er da un­ten, bis er schwarz wird. Wie es dann weitergeht, werden wir noch sehen. Auf die ,Discoverer' kehrt er jeden­falls nicht mehr zurück, auch wenn keine Pilger an Bord sind. Vielleicht

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lassen wir ihn ganz einfach drüben. Dann bleibt ihm nichts anderes üb­rig, als sich einzugliedern."

„Oder die anderen fallen über ihn her. Gründe haben sie genug."

„Das ist auch möglich, doch dar­über will ich mir jetzt nicht den Kopf zerbrechen."

Als die Zeit abgelaufen war, ver­schwanden die drei adligen Affen mit roten Köpfen, denn Carberry nahte, und vor dem hatten sie einen Heiden­respekt.

Granville bezog wieder sein Quar­tier in der Vorpiek. Er tat es unter Protest und üblen Flüchen.

3.

Seit Robert Granville als Kapitän abgelöst worden war, herrschten auf der „Discoverer" wieder normale Zu­stände. Die Mannschaft ging nicht ge­rade begeistert ihrer Arbeit nach, aber sie tat es ohne Murren. Auch die drei Kerle, die zuvor alles terrorisiert hatten, waren nach außenhin etwas friedlicher geworden, seit Harris ih­nen scharf auf die Finger sah.

Zudem erschien jeden Tag der See­wolf mit seiner Crew und erkundigte sich genau nach dem Stand der Dinge.

Bascott, Watts und Tibbs blickten dabei jedesmal tückisch, oder sie lie­ßen sich einfach nicht sehen, weil sie, wie Carberry sagte, provozierend auf ihn wirkten. Und von Carberry und den anderen Kerlen waren sie restlos bedient.

Die Zustände waren also als fast normal anzusehen.

Für Barry Wister, den Zimmer­mann aus London, war es trotzdem ein einziger Alptraum, aber das lag nicht an den Zuständen an Bord.

Ihn plagten jede Nacht stärker die unheimlichen Träume, und er hatte schon eine höllische Angst vor dem Einschlafen.

An diesem Tag ging er völlig über­nächtigt und grau im Gesicht immer wieder rastlos an Deck umher. Seine Augen hatten einen fiebrigen Glanz. Er hielt sich gebeugt und sah kaum, was um ihn herum vorging.

Das Ende nahte, er spürte es über­deutlich, obwohl es nicht die gering­sten, Anzeichen dafür gab. Das Meer wiegte sich in einer endlosen schau­kelnden Bewegung von Horizont zu Horizont, und der Himmel war von ei­ner selten zu sehenden seidigen Bläue. Die drei Galeonen lagen sau­ber ausgerichtet auf Kurs, begleitet von der Schebecke und gefolgt von der an der Kimm stehenden Kara-velle.

Soweit war alles in bester Ordnung. Auch auf dem Schiff gab es keinen größeren Ärger und keine Schikanen mehr, bis auf die kleinen Reibereien der Siedler untereinander.

Und doch war in Barry Wister et­was zerbrochen, seit die unheimli­chen Träume angefangen hatten.

Er blickte irritiert auf, als sein Sohn Jimmy ihn anstieß. Jimmy war dreizehn Jahre alt, ein mageres, hochgewachsenes Bürschchen mit ei­nem ernsten Gesicht, der nur selten lachte. Jimmy hatte Not und Elend kennengelernt, und er darbte noch immer.

Vor ein paar Tagen war Jimmy auf die Idee verfallen, Fische mit einem aus Messing gefertigten Blinker zu angeln. Ein paar Erwachsene hatten nachsichtig darüber gelächelt, aber Jimmy hatte es ihnen bewiesen, daß es auch ohne Köder ging. Seine Beute waren zwei prächtige Dorsche, die den Hunger etwas lindern sollten.

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Von dem Fang hatte er nichts ge­habt. Der Bootsmann Watts und der hinterhältige Decksälteste Tibbs hat­ten ihm den Fang abgenommen und das Angelzeug beschlagnahmt. Die Fische waren anschließend in die Mä­gen der beiden Halunken gewandert, die ohnehin genug zu essen hatten. Den schäbigen Rest hatten sie außer­dem noch zu Wucherpreisen an ein paar betuchte Siedler verhökert.

Das war Jimmys erste bittere Er­fahrung auf diesem Schiff gewesen. Sie hatten ihn noch verprügelt, als er seinen Fang verteidigte und schließ­lich seinen Vater zusammengeschla­gen, weil der sich einmischte.

„Ich habe wieder einen Blinker, Dad", verkündete er. Sein ernstes Ge­sicht zeigte Anzeichen von stiller Freude. „Kapitän Harris hat ihn mir persönlich gegeben. Ich darf auch wieder Fische fangen, wenn ich will. Ich fange am besten gleich an, Dad."

Der bärtige Zimmermann nickte abwesend. Er wußte, daß sich auf der Galeone einiges geändert hatte, aber er nahm es kaum wahr. Flüchtig strich er Jimmy über die dunklen Haare.

„Tu das, mein Sohn, aber paß auf die Kerle auf, damit die nicht wieder einen Weg finden, dich zu schlagen."

„Das passiert nicht mehr", versi­cherte Jimmy. „Der Kapitän hat es ja selbst erlaubt."

„Dann ist ja alles gut." „Dad - du bist so - so anders ge­

worden", sagte das Bürschchen nach­denklich. „Mom hat das auch schon gesagt und bereitet sich Sorgen. Ist es deshalb, weil sie dich geschlagen ha­ben?"

Wister schüttelte müde den Kopf. „Nein, das ist es ganz sicher nicht, Jimmy."

„Was ist es denn?" bohrte der Junge hartnäckig.

„Mir ist nicht gut", sagte Wister ausweichend. „Ich habe oft starke Kopfschmerzen und kann dann nicht schlafen."

„Manchmal wachst du schreiend auf, Dad."

„Das muß mit den Schmerzen zu­sammenhängen. Ich werde mich mal an den Kapitän wenden, vielleicht weiß der einen Rat. Der Feldscher tut ja sowieso nichts."

Wister hatte vor, den Kapitän von seinen unheimlichen Träumen zu er­zählen. Bei Granville wäre so etwas unmöglich gewesen. Aber Harris sprach oft mit den Siedlern und er­kundigte sich nach deren Wohlbefin­den.

Der Zimmermann hielt es für seine Pflicht, den Kapitän zu warnen, denn man sagte ihm nach, daß er das Zweite Gesicht habe. Die damalige Feuersbrunst in London hatte er auch wochenlang vorher geträumt. Sie hatte schließlich unendlichen Scha­den angerichtet, als sie ausbrach. Es gab noch mehr unerklärliche Dinge in seinem Leben, und stets hatten sie sich in seinen Träumen angekündigt.

„Kann ich jetzt blinkern gehen, Dad?" fragte Jimmy zaghaft. „Oder soll ich dir lieber ein nasses Tuch für die Schmerzen holen?"

„Geh nur blinkern und sieh zu, daß du wieder einen schönen großen Bur­schen an Bord holst. Die Schmerzen haben schon etwas nachgelassen."

Jimmy und einer der Fletcher-Söhne, Little John, gingen aufgeregt nach vorn, wo sie die Angel auswer­fen wollten.

Der Zimmermann ließ sich unter­dessen bei Kapitän Harris melden.

Granville hätte ihn nicht einmal

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zur Kenntnis genommen, aber Harris war sofort bereit, ihn anzuhören.

Ein paar Minuten später stand er etwas linkisch und mit eingefallenen Schultern vor Harris und wußte nicht so recht, wie er beginnen sollte, denn jetzt erschien es ihm ganz plötzlich lä­cherlich.

„Sie können ganz offen sprechen", sagte Harris, „auch wenn Sie eine Be­schwerde vorzubringen haben. Sind Sie nicht jener Mann, der von dem Decksältesten geschlagen wurde?"

„Ja, Sir, aber das ist vergessen und vergeben. Es hat sich ja einiges zum Guten gewandelt. Ich möchte auch keine Beschwerde vorbringen. Es handelt sich um meine Träume, Sir."

Einen Augenblick lang sah Harris den Zimmermann belustigt an. „Sie wollen mir also Ihre Träume erzäh­len?"

„Nein, das nicht, Sir", sagte Wister hastig. „Ich bin nicht hier, um Sie mit irgendwelchen unbedeutenden Träu­men zu langweilen. Es handelt sich um eine ziemlich ernste Angelegen­heit, und daher halte ich es für meine Pflicht, Sie zumindest darüber zu un­terrichten."

„Lassen Sie hören." „Unter vier Augen, Sir, wenn ich

bitten darf?" „Gut, dann gehen wir ins Quarter­

deck." Sie hatten keine Zuhörer mehr. Wi­

ster wollte auch keine haben, weil es einerseits, bei einigen abergläubi­schen Gesellen eine Panik geben konnte, er sich andererseits aber auch nicht auslachen lassen wollte. Vielleicht nannten sie ihn dann einen Spinner.

„Manche sagen von mir, ich hätte das Zweite Gesicht", begann er. „Aber das kann ich selbst nicht beur­teilen, Sir. Ich glaube es auch nicht,

doch sind viele meiner schrecklichen Träume meist Wirklichkeit gewor­den. Leider, wie ich hinzufügen muß. Ich habe damals die große Feuers­brunst im Traum vorhergesehen, sehr deutlich und erschreckend, und ich hörte das Heulen und Pfeifen des gewaltigen Feuersturmes. Ich wachte danach schweißgebadet und schreiend auf. Dieser Traum wieder­holte sich regelmäßig eine ganze Wo­che lang und bewahrheitete sich dann auf fürchterliche Art und Weise."

Harris nickte. „Ich kann mich noch daran erinnern. Jetzt träumen Sie et­was, das mit dem Schiff zusam­menhängt, wenn ich recht vermute."

„So ist es, Sir. Ich hatte Angst, Sie würden mich auslachen."

„Es gibt Dinge, die für uns Men­schen unerklärlich sind", sagte der Kapitän. „Deshalb würde ich nieman­den auslachen. Was träumen Sie denn? Ist es schlimm?"

„Sehr schlimm, Sir. Ich habe mei­ner Frau die fürchterlichen Träume immer verschwiegen und allen ande­ren auch. Aber sie sind in letzter Zeit immer schlimmer geworden. Ich habe Angst vor dem Einschlafen, denn so­fort danach überfallen sie mich wie Dämonen."

Harris nickte wieder gedankenvoll. „Reden Sie sich ruhig alles von der

Seele. Manchmal tut es ganz gut. Viel­leicht können wir den Träumen einen Hinweis entnehmen und uns entspre­chend vorbereiten."

„Es beginnt damit, daß wir uns auf einem Meer von eigentümlicher und nicht beschreibbarer Farbe befin­den", sagte Wister langsam. „Auch der Himmel hat diese unheimliche Farbe, wenn er an der Kimm mit dem Wasser verschmilzt. So fängt es im­mer an. Dann sehe ich Gestalten an Deck, unwirkliche Gestalten, Phan-

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tome, die sich kaum bewegen. Keine dieser Gestalten hat ein Gesicht, es sind nur leere Flächen. Von nun an herrscht eine gespenstische Stille, und alles wird unwirklich und fremd, als sei ich in einer bizarren anderen Welt."

Wister brach ab und holte tief Luft. Harris bemerkte, daß seine Finger zitterten und auf der Stirn des Man­nes die ersten Schweißtropfen er­schienen.

„Erzählen Sie weiter, Mister." „Das ist die ruhige Phase des

Traums, die ich in allen Einzelheiten durchlebe, als sei ich hellwach. Von da an wird es schlimm. In der Phanta­siewelt, wo alle Farben verwischen, erhebt sich ganz plötzlich das Meer. Eine riesige Walze erscheint, die im­mer größer wird, bis sie schließlich den Horizont verschluckt. Nur noch diese große Woge ist da, Sir, die für einige Zeit stillzustehen scheint."

Harris sah den bärtigen Zimmer­mann ernst an. Ihm wurde ein klein wenig unheimlich, als er das Gesicht sah, in dem sich jetzt das fürchterli­che Geschehen spiegelte.

Nein, dieser Mann ist kein Spinner, dachte Harris. Der hat Eingebungen, wie sie schlimmer nicht sein können. Irgendeine fremde Macht sandte ihm diese Träume, vielleicht um andere zu warnen? Alles andere hätte keinen Sinn ergeben.

„Erzählen Sie weiter", hörte er sich wie aus weiter Ferne sagen. „Was ge­schieht dann?"

„Die große Welle beginnt zu rollen, lautlos, gespenstisch, ohne jeden Ton. Dann bewegt sich die Galeone. Sie ächzt und knarrt, und sie hat Angst wie ein Mensch. Ich fühle, daß sie lebt. Wenn die Welle zu rollen be­ginnt, werfe ich immer einen Blick nach achtern und rufe den Offizieren

zu, sie mögen doch etwas tun. Aber niemand reagiert. Sie starren ge­sichtslos vor sich hin, ohne sich der Gefahr bewußt zu sein. Sie unterneh­men nichts."

„Weil sie sich ihrer Hilflosigkeit vermutlich bewußt sind", sagte Har­ris heiser. „Sie sind wie versteinert?"

„Ja, so ist es wohl, Sir. Sie sind wie versteinert. Zu diesem Zeitpunkt höre ich das Schiff schreien, weil seine Angst immer größer wird. Es schreit in panischer Angst wie ein Tier. Es schüttelt sich in namenlosem Entsetzen. Dann rast die Welle auf uns zu, mit unheimlicher und alles-vernichtender Geschwindigkeit. Ich höre ein Brüllen und Tosen, als würde der Atlantik kochen."

Barry Wister hatte die Augen halb­geschlossen und stützte sich auf den Handlauf des Schanzkleides. Er sah erschöpft aus. Sein Gesicht war fahl und die Augen tief eingesunken.

„Dann naht das Ende, Sir, das grauenhafte Ende. Das Schiff erhält einen zermalmenden Schlag, und ein riesiger Wasserwirbel überschüttet alles. Da ist nur noch Wasser und sonst nichts mehr. Jetzt wird es auch wieder totenstill, und wir befinden uns erneut in einer anderen Welt. Ein gewaltiger Trichter reißt uns in die Tiefe. Die Galeone stürzt dem Mee­resboden entgegen, als würde sie di­rekt zur Hölle segeln. Ich sehe noch ein paar bemooste Bergrücken aufra-gen, einen Algenwald. Danach zer­birst das Schiff in einer lautlosen Ex­plosion und reißt auseinander. Dann - dann ist nichts mehr, Sir. Nur ein gewaltiger Schmerz droht meinen Körper zu zerreißen. Sofort nach dem Traum erwache ich und liege stundenlang wach. Verstehen Sie jetzt, Sir, daß ich furchtbare Angst vor dem Einschlafen habe?"

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Harris war sehr nachdenklich ge­worden. Er fuhr sich mit der Hand über das Kinn und starrte an Wister vorbei gedankenverloren in die See.

„Wie oft haben Sie das schon ge­träumt?" fragte er schluckend, den Blick immer noch auf die See gerich­tet.

„Ich weiß es nicht genau, Sir. Viel­leicht seit einer Woche oder zehn Ta­gen. Anfangs hielt ich es noch für ei­nen Zufall. Aber selbst wenn ich jetzt nach dem Erwachen wieder ein­schlafe, kehrt der Traum in voller Länge und aller Schrecklichkeit so­fort zurück."

„Betrachten wir das einmal ganz nüchtern", sagte Harris und sah sich um, ob sie auch keine Zuhörer hatten. „Was Sie im Traum erleben, ist ein ausgewachsener Sturm, ein Orkan meinetwegen. Ich bin natürlich kein Traumdeuter, aber es gibt mir zu den­ken. Sie sehen, um es kurz auszudrük-ken, den Untergang eines Schiffes voraus, das wahrscheinlich in einem Sturm sinkt."

„Unseres Schiffes, Sir", sagte Wi­ster nachdrücklich. „Von den ande­ren sehe ich überhaupt nichts. Nur wir sind von diesem Traum betrof­fen."

„Sehr eigenartig. Haben oder hat­ten Sie noch mehr derartige Träume, die sich dann erfüllt haben?"

„Sehr viel, Sir, und die meisten wurden leider wahr."

„Wie lange war denn die Zeit­spanne vom Beginn des Traumes bis zu dem schrecklichen tatsächlichen Ende?" fragte Harris gespannt.

„Auch das ist sehr unterschiedlich, Sir. Bei der Feuersbrunst in London hat es zehn Tage gedauert, ein ande­res Mal nur vier, und einmal trat das schreckliche Ereignis bereits einen Tag später ein."

„Es ist gut, daß Sie mir das alles er­zählt haben", sagte Harris. „Niemand weiß jetzt genau, ob das Ereignis ein­trifft oder nicht. Aber nehmen wir einmal an, es würde eintreffen. Wir sind von unserem Ziel noch etliche Tage entfernt, mindestens vierzehn bei anhaltendem Wind. Der Atlantik ist jedoch ein tückischer Geselle, der mitunter ganz unerwartet und gna­denlos zuschlägt." Harris legte Wi­ster die Hand auf die Schulter und sah ihm in die Augen. „Ihr Traum mag vielleicht etwas verzerrt gewe­sen sein, aber ich werde sofort ein paar Maßnahmen treffen, sobald es Anzeichen von Sturm gibt. Wenn es dann schlimmer werden sollte, sind wir zumindest besser darauf vorbe­reitet."

Wister nickte erleichtert. Er hatte das Gefühl, als sei eine große Last von seinen Schultern genommen wor­den.

„Vielen Dank, daß Sie mir zugehört haben, Sir", sagte er. „Ich kann und will mit niemandem darüber spre­chen. Manche lachen mich aus, an­dere werden hysterisch, ich habe das alles schon erlebt, und seitdem be­halte ich meine Träume immer für mich."

Als Wister nach diesem Gespräch das Quarterdeck verließ, waren seine Schultern nicht mehr so gebeugt und eingefallen, und auch sein Blick war wieder ruhiger geworden.

„Hat er dir was gegen die Kopf­schmerzen gegeben?" fragte Jimmy, sein Sohn, neugierig. „Du siehst jetzt viel besser aus, Dad."

Der Zimmermann lächelte nach­sichtig.

„Manchmal, mein Sohn", sagte er, „manchmal braucht man gar kein Mittel gegen irgendwelche Schmerzen. Es genügt dann schon,

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wenn man mit jemandem sprechen kann, der aufmerksam zuhört."

Aber das verstand Jimmy nicht so genau. Außerdem begann es an dem Blinker heftig zu rucken. Es war wie­der ein Dorsch dran, ein wahres Prachtexemplar, das ihm niemand mehr wegnehmen würde.

4.

Der übernächste Tag brachte eine Überraschung und sorgte auf den Ga-leonen für helle Aufregung.

Es war der Schwede Stenmark, der die winzige Fontäne weit im Süden zuerst entdeckte. Er hatte Ausguck und suchte mit dem Spektiv das Meer ab. Gleich darauf setzte er den Kieker verblüfft ab.

„Wal ho!" brüllte er an Deck. „Wal blowt drei Strich an Backbord!"

Für die Arwenacks war das eine willkommene Unterbrechung in der Langeweile. Sofort reckten alle Mann die Hälse und spähten in die angege­bene Richtung.

Über der Dünung war ganz schwach etwas zu erkennen, das wie ein heißer Dampfstrahl aussah. Er wurde ziemlich hoch geblasen, ver­schwand dann wieder und stieg nach einer Weile erneut auf.

In kurzen Abständen blies der Wal Luft ab, immer wieder. Demnach mußte er sehr lange auf Tiefe gewe­sen sein.

„Das sehen wir uns an", sagte Ha­sard. „Ich stelle mir gerade vor, daß es uns gelingen könnte, einen Wal zu erlegen. Damit wären wir die Nah­rungsprobleme bis zu unserer An­kunft in Virginia endgültig los."

Der Anblick der ständigen Fontä­nen, die aus dem Meer stiegen, ließ die Arwenacks ganz kribblig werden.

Auf den anderen Schiffen hatte man das Blowen ebenfalls bemerkt, denn immer mehr Köpfe reckten sich in die Richtung.

„Damit wären wir wirklich aller Sorgen enthoben", sagte auch Ben. „Es dürfte nur etwas problematisch werden, ein solch großes Tier zu erle­gen. Wir sind nicht darauf eingerich­tet und haben weder Harpunen noch Flensmesser. Vor langer Zeit haben wir mal einen Wal gefangen und ab­gespeckt, als wir wirklich in Not wa­ren. Heute herrscht dieser Zustand auch vor, aber uns fehlt eben die Aus­rüstung."

„Ich weiß." Der Seewolf nickte kurz. „Wir müssen eben improvisie­ren. Man könnte den Wal auch mit der Kanone erlegen."

„Dann geht er vermutlich sofort un­ter, noch bevor es uns gelingt, ihn zu vertäuen", wandte Ben ein.

„Das ist ja eben der kritische Au­genblick. Es wäre sinnlos, einen Wal abzuschlachten, wenn er danach auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Wir werden alles dransetzen, ihn so­fort zu vertäuen. Wir setzen die Jolle aus und nehmen alle verfügbaren Ha­ken und Draggen mit. Es geht nicht um irgendein abwechslungsreiches Spiel, sondern darum, ein paar hun­dert Menschen die notwendige Nah­rung zu beschaffen."

„Ich weiß. Dann also los. Ich lasse das übliche Signal an den Verband setzen."

Das Signal, auf Kurs zu bleiben, wurde gesetzt und von den Galeonen auch sofort bestätigt. Offenbar ahnte man drüben, was die Arwenacks vor­hatten.

„Dem Wal nach", sagte Hasard zu dem Rudergänger Blacky. „Wir se­hen uns den Burschen erst einmal aus nächster Nähe an. Es ist offenbar ein

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älterer Einzelgänger, sonst wären hier längst mehr Wale zu sehen."

Der neue Kurs wurde angelegt. Shane und Ferris Tucker begannen damit, alles hervorzukramen, was es an Bord an brauchbaren Utensilien für eine provisorische Waljagd gab. Es fanden sich auch ein paar harpu­nenähnliche Lanzen.

„Ich schlage vor", sagte Carberry, „daß wir den Wal erst mit der Jolle jagen und ihn vom Boot aus harpu­nieren, wie wir es damals getan ha­ben. Dann ist er fest, und wir können ihm mit der Culverine den Fang­schuß geben."

Hasard sah wieder zu der Stelle hin. Das Blowen hatte aufgehört, der Gigant der Tiefsee war abgetaucht.

„Nicht schlecht, der Vorschlag, Ed. Dann haben wir ihn wenigstens si­cher. Und die Schebecke ist schnell genug, um der Jolle jederzeit folgen zu können. Notfalls pullen wir noch zusätzlich."

Sie segelten auf die Stelle zu, wo vor kurzem noch der Strahl aus dem Wasser geschossen war. Jetzt herrschte dort Ruhe. Die See war -bis auf die Dünung - wieder still.

„Wir müssen warten und Geduld haben", sagte Hasard. „Fiert in der Zwischenzeit die Jolle ab und besetzt sie. Ed übernimmt das Kommando. Such dir noch ein paar Leute aus, Ed."

Die Jolle wurde abgefiert. Dann warteten sie, nachdem die Ausrü­stung gut verstaut war.

Ein eigenartiges Fieber hatte die Arwenacks gepackt. Jeder von ihnen starrte auf eine Stelle im Meer, in der Hoffnung, der Wal würde dort wieder auftauchen.

Matt Davies deutete zu dem weiter­segelnden Konvoi und sagte: „Ich weiß nicht, ob es richtig war, den Ver­

band ziehen zu lassen. Angenommen, wir erlegen den Burschen, was dann? Sollen wir ihn an Bord hieven? Wird wohl schlecht gehen, denn der Kerl ist sicher fast so lang wie wir. Wenn wir ihn in Schlepp nehmen, brauchen wir ein paar Tage, um den Konvoi einzuholen."

„Fehler von mir", sagte er lako­nisch. „Das geschah wohl in dem Übereifer, als ich den Wal sah. Du hast recht, Matt. Wir werden also das Signal zum Aufkreuzen geben, damit der Verband in der Nähe bleibt. Die sollen jetzt denken, was sie wollen. Ich bin auch nicht fehlerfrei."

Bill heißte das Signal, und es wurde sofort bemerkt, kaum daß der Wim­pel zu flattern begann. Auf den Ga-leonen konzentrierte sich die ganze Aufmerksamkeit auf die Arwenacks.

Gehorsam luvten die Galeonen an und gingen in den Wind. Dann began­nen sie damit, lange Kreuzschläge zu segeln.

„Der Bursche läßt sich aber ver­dammt viel Zeit", meinte Carberry. „Der muß doch wieder mal auftau­chen."

Sie hockten in der Jolle und warte­ten.

„Kann länger als eine Stunde dauern", sagte Ferris in die Stille. „Wenn er länger als eine Stunde un­ten bleibt und dann auftaucht, muß er etwa sechzigmal blasen. Zeit ge­nug, um ihn zu erwischen."

Alles lag bereit. Allerdings wußte niemand, wo der Wal wieder auftau­chen würde. Das konnte in allen Him­melsrichtungen der Fall sein.

Endlich, nach einer halben Stunde, war es soweit. Stenmarks Stimme überschlug sich fast.

„Da, direkt im Süden! Er taucht auf! Eine knappe halbe Meile!"

Die Fock wurde gesetzt, die Arwe-

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nacks griffen zu den Riemen, verfolgt von unzähligen Augenpaaren, die ge­bannt zu der Stelle blickten.

Aus dem Meer erhob sich ein brei­ter Schädel, der behäbig auf und nieder tauchte. Eine gigantische Fluke war zu sehen, die schäumend in die See zurückklatschte. Der Wal blies eine riesige Fontäne ab und trieb dann träge weiter. Seine Verfol­ger, die sich eilig näherten, sah er nicht.

Sie waren ziemlich schnell heran. Hin und wieder verschwand die ge­waltige Masse in einer Dünung, dann tauchte sie wieder auf.

Es war ein Gebirge aus Muskeln und schützendem Fett, das sich da in der See türmte. Immer wieder stieg eine gewaltige Fontäne von dem Rie­sen auf, eine Gischtwolke sprühte und überschüttete ihn.

„Ein Nordkaper", sagte Ferris, als sie dichter heran waren.

Angesichts dieser gewaltigen Masse kamen sie sich mit ihren Har­punen ziemlich hilflos vor. Niemand bemerkte, daß die Schebecke inzwi­schen Kurs auf sie nahm. Zwei Rohre waren so ausgerichtet, daß sie den Giganten treffen würden. Noch aber war es nicht soweit.

Es war tatsächlich ein Nordkaper, ein breitmäuliges Ungetüm mit win­zig kleinen Augen, die gleichgültig ins Wasser starrten. Oberhalb und unterhalb des riesigen Schädels war das Maul mit Entenmuscheln dicht bewachsen. Auch über dem einen Augen befand sich ein gewaltiger Ring aus Entenmuscheln.

„Wir haben Glück, daß es ein Nord­kaper ist", sagte Ferris heiser. „Das sind so ziemlich die einzigen Wale, die an der Oberfläche treiben, wenn sie tot sind. Die anderen gehen meist sofort unter und verschwinden.

Mann, ist das ein Brocken", setzte er stöhnend hinzu.

Sie hatten sich dem Nordkaper jetzt bis auf eine knappe Kabellänge genähert. Die Entenmuscheln waren selbst aus dieser Entfernung über­deutlich zu erkennen. Sie umwucher­ten ihn wie schmutzige Korallen.

Daß die Nordkaper träge waren, wußten sie. Die Burschen waren re­gelrecht faul und liebten es, vor sich hinzudösen. Dieser hier döste beson­ders lange und ausgiebig. Dabei pru­stete er in kurzen Abständen und blies Luft und Wasser in gewaltigen Fontänen hoch.

„So einfach war es noch nie", sagte Batuti fast enttäuscht. „Der Kerl tut mir ein bißchen leid, daß er so über­rascht wird."

„Ruhe jetzt", knurrte Carberry. „Wenn wir ihn erst am Haken haben, wirst du dich noch wundern."

Die Riemen wurden lautlos einge­holt. Shane, Batuti, Carberry und Matt Davies richteten sich auf, die Harpunen fest in den Fäusten.

Als sie bis auf fünfzig Yards heran waren und ihre Augen bereits zu leuchten begannen, tauchte der dö­sende Riese weg und sackte ins Meer zurück. Sein gewaltiger Schädel ver­schwand, dann ragte die Fluke aus dem Wasser und schien ihnen zuzu­winken. Dennoch war der Schlag ge­waltig. Ein Wasserwirbel entstand, Schaum brodelte, das Meer schien zu kochen. Der Gigant der Tiefsee ging auf Tiefe.

Carberry starrte ihm fassungslos nach.

„Das kommt von eurem dämlichen Gequassel", sagte er. „Wer beim nächsten Mal auch nur hustet, den harpuniere ich persönlich."

Wieder mußten sie warten. Diesmal jedoch nicht so lange, denn schon

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nach ganz kurzer Zeit begann der Herr der Meere auf Südkurs träge da-vonzuschwimmen. Zuerst sahen sie nur die riesige Fontäne, dann einen Teil des monströsen Leibes. Auf und ab bewegte er sich in gleichmäßigem Rhythmus.

Sie jagten hinterher, denn es hatte nicht den Anschein, als würde der Nordkaper wieder tauchen.

Ein paar Yards vor ihnen schob sich der ungeheure graue Koloß hoch aus dem Wasser, ragte wie ein kleiner Berg auf und blowte so stark, daß seine Umgebung von einer Gischt­wolke vernebelt wurde.

Ein Sprühregen drang ihnen in die Gesichter.

Der Koloß merkte offensichtlich nichts von seinen Verfolgern. Er zog weiterhin seelenruhig und gemäch­lich seine Bahn. Unterdessen lauer­ten schon mehr als dreihundert hung­rige Mäuler auf Walfleisch. Da schwamm die Rettung, die alle Nöte lindern würde, ein gewaltiger Fleisch­berg, von dem sie lange Zeit zehren konnten. Alles würde sich schlagartig verbessern.

Die Jolle war heran. Da schleuderte Batuti mit aller Kraft seine Harpune. Shane tat es ihm nach und auch Fer­ris.

Die Harpunen jagten dem Wal in den riesigen Leib, der immer noch seelenruhig auf- und abtauchte, als würde ihn das nicht besonders stö­ren.

„Wal ist fest!" schrie Batuti. „Wal ist fest!" rief auch Ferris Tuk-

ker und zog prüfend an der langen Leine.

Shane meldete ebenfalls seinen Er­folg an. Eine vierte Harpune streifte den grauen Leib nur seitlich und prallte ab wie ein flacher Stein von der Wasseroberfläche.

Aber drei Harpunen saßen im Zie l . . .

„Achtung, jetzt geht es los", sagte Carberry. „Bereitet euch auf ein hei­ßes Tänzchen vor, wenn die Sche-becke nicht gleich da ist und ihm den Fangschuß geben kann."

Die Schebecke war zu diesem Zeit­punkt nur noch zwei Kabellängen entfernt und jagte unter vollem Preß heran.

Der träge Bursche schwamm un­verdrossen weiter, nachdem ihn die Harpunen getroffen hatten. Für ihn waren es dem Anschein nach nur ein paar Mückenstiche, die nicht einmal durch die Haut gingen.

Der Profos sah schluckend von ei­nem zum anderen. Schließlich kratzte er sich verblüfft den Schädel.

„Der hat ja ein verdammt dickes Fell, der Onkel." Fassungslos starr­ten sie auf die drei Harpunen, deren Spitzen tief im Rücken des großen Wals steckten. Die Männer hatten in­zwischen die Leinen lose um die Pol­ler geschlungen und warteten auf den ersten Ruck.

Auf der Schebecke konnten sie auch keinen Schuß anbringen, denn die Jolle befand sich gefährlich dicht an dem träge dahinziehenden Wal.

Ganz plötzlich ging es los. Durch den grauen Riesenleib des Nordka­pers ging ein heftiges Zittern. Gleich­zeitig begann das Tier ganz überra­schend auf Tiefe zu gehen und davon­zujagen.

Die Leinen schlängelten sich ab, törnten um die Poller.

„Laß laufen!" rief Carberry, der aufrecht in der Jolle stand. „Fieren, Lose geben!"

Die Leinen zischten immer schnel-

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ler um die Poller, wurden kurz ge­stoppt und schnell wieder gefiert. In der Luft lag ein singender Ton. Die Arwenacks kamen mit dem Fieren kaum noch nach. Um die Poller her­um entwickelte sich Qualm. Carberry goß Seewasser über die rauchenden Holzpoller, damit sie kein Feuer durch die harte Reibung fingen.

Über dem mächtigen Leib schloß sich kochend und brodelnd das Was­ser.

Ein letztes Aufschäumen, ein Schlag mit der gewaltigen Fluke, dann war der Nordkaper in seinem Element.

Das Boot wurde davongezogen, im­mer schneller, immer rasender, bis der Bug tief ins Wasser schnitt.

Den Arwenacks wurde es mulmig. Das gestand sich jeder in diesem Au­genblick ein, als es in rasender Fahrt weiter nach Süden ging. Die Sche-becke konnte dem irrsinnigen Tempo nicht mehr folgen.

Der Wal tauchte noch tiefer ab. Die Leinen sausten wie wilde Schlangen um die rauchenden Poller.

„Jetzt wird er sauer", stöhnte Car­berry. „Gebt ihm nicht mehr soviel Lose, sonst rauschen die Leinen aus. Wir müssen den Burschen ermüden."

„Ermüden ist gut", sagte Batuti und entblößte sein weißes Prachtge­biß. „Der schafft uns eher als umge­kehrt."

Tief unter ihnen begann der Nord­kaper zu toben und zu wüten. Er wechselte den Kurs ganz abrupt und zog in nordwestlicher Richtung wei­ter. Kurz darauf jagte er achtern an dem Verband vorbei, wo fassungslose Leute an Deck standen und dem Schauspiel zusahen. In manchen Ge­sichtern standen Angst und Schrek-ken.

Dann ging er noch weiter auf Tiefe,

und sie mußten wieder fieren, damit er das Boot nicht nach unten zog.

Flüche erklangen. Die Jolle tobte wie wild durch die Dünung und wurde hin und hergerissen. Spritz­wasser überschüttete sie und nahm ihnen zeitweilig die Sicht.

Sie hatten die Leinen fest belegt und ließen sich schleppen. Als sie wieder durchhingen, wurde blitz­schnell eingeholt. Es war eine Kno­chenarbeit, die sich ständig wieder­holte. Das Tänzchen auf dem Wasser wurde bösartig und unangenehm.

Der Profos stand aufrecht im Bug der Jolle und stierte voraus in die See. Sie waren jetzt achtern an dem Verband vorbeigezogen, der schnell kleiner wurde. Die Schebecke hatte ebenfalls den Kurs geändert und folgte ihnen.

„Wahrschau, er taucht auf!" schrie Carberry. Mit der linken Hand wisch­te er sich das Wasser aus dem Ge­sicht. Die andere Hand deutete in die See.

Sie sahen einen dunklen Fleck, der schnell größer wurde und aus der Tiefe hochschoß. Es geschah mit be­ängstigender Kraft und Schnellig­keit.

Dann donnerte das Ungetüm mit der Masse eines Schiffes fast steil aus dem Wasser. Von dem monströsen Leib tropfte schäumend salziges Was­ser.

Fast in seiner ganzen Länge schnellte der Wal hoch. Dann fiel er so hart zurück, daß eine gewaltige Welle entstand, die fast ausgereicht hätte, die Jolle kentern zu lassen.

Das Boot wurde herumgewirbelt. Gleichzeitig holten sie Hand über Hand die Lose durch. Einer der Poller wurde mit unglaublicher Gewalt her­ausgerissen und flog wie ein Korken davon. Die Leine verschwand mit

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ihm. Der Rest brannte Matt Davies in der Hand. Er wechselte blitzschnell zur Hakenprothese über. Die Leine war jedoch nicht mehr zu halten. Flu­chend sah Matt zu, wie Poller und Leine verschwanden. Er hatte das Ge­fühl, als sei sein Haken aus glühen­dem Eisen.

„Verflucht, der hat alles herausge­rissen."

Der Nordkaper, kaum ins Wasser zurückgeklatscht, tauchte erneut, schoß aber sogleich wieder nach oben und vollführte einen weiteren Luft­sprung. Seine Fluke hieb mit allesver-nichtender Gewalt durch das Wasser. Das Springen wiederholte er ein paarmal, dann tauchte er tiefer ab, schwamm aber noch schneller als zu­vor.

„Alle nach achtern!" schrie Car-berry, als er sah, daß die Jolle lang­sam unterschnitt. „Fiert noch etwas nach!"

Gewaltige Kräfte jagten sie jetzt über das Meer, unsichtbare Kräfte, die die Jolle wesentlich schneller vor­antrieben als die Schebecke. Der Konvoi wurde langsam immer klei­ner. Jetzt ging es fast auf direktem Kurs nach Norden.

Der Wal hatte viel Luft in seinen gewaltigen Lungen, denn er blieb trotz der schweren Last unglaublich lange auf Tiefe.

„Der schleppt uns nach Grönland", sagte Matt keuchend. „Da können wir uns dann die Affenärsche abfrieren. Ich weiß nicht, ob die Waljagd eine so gute Idee war.".

Sie hockten jetzt alle achtern in der Jolle. Irgendwo tief unter ihnen, etwa hundert Yards, tobte der Nordkaper unsichtbar herum. Die Jolle bewegte sich wie durch einen gewaltigen Vor­hang aus schäumender Gischt.

Carberry versuchte etwas zu erken­

nen, doch das war nicht möglich. In rasanter Fahrt ging es weiter.

„Wir müßten mehr Harpunen ha­ben", knurrte er. Mit der Hand wisch­te er sich das immer wieder überkom­mende Wasser aus dem Gesicht. „Die drei Dinger scheinen ihn nicht zu juk-ken."

„Wir können ihm ja gut zureden", sagte Shane. „Vielleicht ergibt er sich dann der Übermacht."

Den anderen war nicht unbedingt nach kleinen Scherzen zumute. Sie hatten lange keinen Wal mehr gejagt.. Es war eine mühselige Anstrengung, die unglaubliche Kraft und Ausdauer erforderte.

Sie grinsten verkniffen. Unglaublich lange blieb der Nord­

kaper diesmal auf Tiefe. Sein Kurs war immer noch nach Norden ausge­richtet.

Als die Arwenacks einen Blick ach­teraus warfen, war der Konvoi kaum noch zu sehen. Er stand fast unter der Kimm. Lediglich die Karavelle der Strolche war noch gut zu erkennen.

„Achtung jetzt", sagte Shane. „Er muß bald wieder auftauchen. Lange kann er nicht mehr unten bleiben."

Das Tempo hatte sich etwas ver­langsamt. Sie sahen es an den Was­serschleiern und am Unterschneiden des Bugs. Der Riese tief unter ihnen schien überfordert zu sein von der wilden Jagd.

Noch langsamer wurde die Jolle. Ihre Blicke waren gespannt auf das Wasser gerichtet. Jeder fragte sich, wo der Koloß auftauchen würde.

Es bestand die Möglichkeit, daß er direkt unter der Jolle hochschoß und sie mit seiner gewaltigen Fluke zer­schmetterte. Wenn das der Fall war, konnten sie eine lange Zeit im eiskal­ten Wasser zubringen. Der Gedanke war nicht gerade erbaulich.

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„Durchholen!" rief Carberry wie­der. „Himmel, Arsch und Blubber­speck. Muß ich euch das jedesmal verklaren? Der Bursche belauert uns jetzt und wird jeden Augenblick auf­tauchen."

Die Leinen hingen fast träge im Wasser. Und irgendwo lauerte der Nordkaper auf sie. Blitzschnell wurde durchgeholt, bis die Leinen fast wieder straff waren.

Sekundenlang herrschte ge­spenstische Ruhe. Das Rauschen der Bugwelle war verebbt. Die Stille war fast unheimlich.

„Da, der Schatten!" rief Matt Da-vies. „Haltet euch fest!"

Der Schatten war nur schwer unter der Wasseroberfläche zu erkennen. Es war ein verzerrter riesiger Fleck, dessen Größe sich nicht genau be­stimmen ließ.

Ganz plötzlich schoß der Schatten nach oben, wobei er immer größer und dichter wurde. Wie ein Gebirge sah er aus, das aus dem Wasser wuchs.

Dann tauchte das monströse Ge­bilde wieder so schnell auf wie vor­hin.

Das linke Auge wurde sichtbar. Es schien sie tückisch anzublinzeln, doch das bildeten sie sich nur ein. Es sah eher gleichgültig auf die Männer, falls es sie überhaupt bemerkte. Das gewaltige Tier schüttelte sich und blowte. Eine Riesenfontäne aus Luft und Wasser stieg hoch. Das Geräusch hörte sich nach einem ungebärdigen, wilden Schnauben an.

Alle drei Harpunen saßen noch im Leib des Nordkapers. An einer fehlte die Leine. Sie war abgerissen und ver­schwunden.

Respektvoll starrten sie das Mon­strum an. Batuti griff nach seinem Langbogen, um einen Pfeil abzu­

schießen, aber es war, als habe der Nordkaper geahnt, was der Mann aus Gambia vorhatte. Er drehte den mon­strösen Schädel, der Leib zuckte zu­sammen, und dann schüttelte sich das Tier in einer konvulsivisch zucken­den Bewegung. Gleichzeitig drehte sich der tonnenschwere Leib zur Seite. Die Bewegung sah spielerisch aus, doch sie reichte aus, um die Jolle hart krängen zu lassen. Die Arwe-nacks hielten sich verzweifelt fest.

Die fürchterliche Fluke kam aus dem Wasser. Eine Fontäne stieg hoch und überschüttete sie. Um den grauen Leib herum kochte und bro­delte das Wasser erneut.

Nach dem dritten Blowen tobte der Nordkaper los.

Die Männer hatte jetzt zwar das Jagdfieber gepackt, und sie wollten wissen, wer nun der Stärkere war, ein relativ schwacher Mensch oder die gewaltige Masse des Wals. Doch noch stand alles für den Nordkaper, als er auf Tiefe ging.

Die Jolle erhielt einen harten Stoß. Der Nordkaper hatte sie nicht be­rührt. Es genügte das bloße Straff-werden der Leinen.

Batuti konnte seinen Pfeil nicht mehr abschießen und ließ resigniert den Bogen sinken. Der plötzliche Start warf ihn auf die Ducht zurück, wo er fluchend und unter lautem Dröhnen unfreiwillig Platz nahm.

Das alte Spiel wiederholte sich, und es würde sich noch sehr oft wiederho­len, wie es den Anschein hatte. Zu­mindest solange, bis der Nordkaper erschöpft war. Wie lange das unter den jetzigen Umständen noch dauer­te, ließ sich nicht einmal annähernd abschätzen.

Er hing jetzt ziemlich kurz an den Leinen, aber da er steil auf Tiefe ging,

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mußte augenblicklich nachgefiert werden.

Carberry blickte wieder zur Kimm und sah, daß die Schebecke den Kurs geändert hatte. Sie stand klein wie ein Spielzeug an der Kimm. Der Kon­voi war im Augenblick nicht zu se­hen. Erst jetzt bemerkte er, daß auch der Nordkaper nach Nordwesten zog und seinen Kurs unmerklich auf Süd änderte.

„Dann sind wir ja bald wieder am alten Platz", brummelte er vor sich hin, ,,und der Bursche kann sich auf seinen Fangschuß vorbereiten."

Auf der Schebecke wurden sie durch den Kieker beobachtet. Hasard ließ immer wieder den Kurs ändern und versuchte so, der Jolle den Weg zu verlegen.

Doch der Nordkaper war unbere­chenbar. Als sehe er das todbrin­gende Schiff, änderte er nach einer Weile wieder den Kurs.

5.

Das ständige Fieren und Durchho­len wirkte erschöpfend, zumal es im­mer in rasender Schnelligkeit vor sich gehen mußte.

Wenn der Nordkaper zum Blowen auftauchte, war er immer so weit ent­fernt, daß sie nichts unternehmen konnten. In seinem Spout war auch kein blutiger Schaum zu sehen. Er hing lediglich an den Leinen, schien aber nicht verletzt zu sein.

Im Geiste sah der Profos die riesige „Mahlzeit" schon unbeschadet da-vonschwimmen. Es war zum Verzwei­feln.

Auf und ab und hin und her ging es. Mal schoß der Koloß steil aus dem Wasser, mal tauchte er weit entfernt von der Jolle auf oder jagte tief unter

ihr hindurch, so daß sie nicht mehr als einen flüchtigen Schatten wahr­nahmen. Sie rechneten jeden Augen­blick damit, daß er direkt unter der Jolle auftauchte und sie in die Höhe hob. Immer wieder waren sie darauf gefaßt, plötzlich im Bach zu liegen.

Etliche Male zeigte sich das riesige Maul mit den Kolonien von Entenmu­scheln ganz in ihrer Nähe. Dann konnten sie den riesigen Schädel mit den kleinen Augen sehen. Der Nord­kaper schien sie zum Narren zu hal­ten.

Dann hatte er sich offenbar auf ei­nen festen Kurs eingeschwommen, der in einem großen Bogen auf den Verband zuführte.

„Wir hätten ein paar leere Fässer mitnehmen sollen", sagte Shane. „Wenn er einige davon unter Wasser zieht, erschöpft ihn der gewaltige Auftrieb schneller, und die anderen gelangen zum Schuß. Drei, vier Fäs­ser hätten ihn längst ermüdet."

„Wir haben aber keine", sagte Fer­ris mißmutig. „Also müssen wir mit dem Kerl um die Wette schwimmen und können noch froh sein, daß die beiden Leinen halten."

An der Kimm tauchte jetzt der Ver­band auf. Die Galeonen segelten ver­setzt in Kiellinie. Als winziger Punkt folgte die Karavelle der Abenteurer.

Der Nordkaper schien jetzt ruhig geworden zu sein und blieb unbeirr­bar auf seinem südlichen Kurs. Er tauchte auf, blowte, tauchte wieder unter und zeigte ihnen den gewalti­gen grauen Leib, als bereite es ihm Spaß, das Schiffchen hinter sich her­zuziehen.

Auf der Schebecke war wieder der Kurs gewechselt worden. Sie segelte der Jolle entgegen und beschrieb ei­nen leichten Bogen.

Die Schiffe wurden rasch größer

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und waren immer deutlicher zu er­kennen. Der graue Riese hielt weiter auf den Verband zu und suchte sich die Lücke zwischen „Discoverer" und der „Pilgrim". Immer schneller ver­kürzte sich der Abstand.

Auf der Schebecke hatten sie alle Hände voll zu tun, um den Kurs der Jolle zu kreuzen, denn wieder än­derte der Nordkaper ganz leicht seine Richtung.

Eine knappe Viertelmeile von den Schiffen entfernt, stieg er in furchter­regender Größe aus dem Meer, ein wildes Ungeheuer, das unwillig sei­nen gewaltigen Atem ausblies.

Niemand wußte später zu sagen, ob dem Nordkaper die Gefahr bewußt war. Er benahm sich jedenfalls sehr eigenartig, tauchte den Schädel weg und ging steil auf Tiefe.

Die Männer in der Jolle begannen zu fluchen, als ihnen die Sicht genom­men wurde. Der Bug schnitt unter und brodelnde Wassermassen ergos­sen sich über die Arwenacks. Nie­mand konnte etwas sehen, außer ei­nem wildbrodelnden Wasservorhang. Gleichzeitig war auch ein fürchterli­ches Rauschen und Tosen zu hören.

„Fieren!" brüllte Carberry vergeb­lich.

Sein Geschrei verhallte ungehört in dem kochenden Hexenkessel. Er hatte den Kopf zur Seite gedreht und versuchte, seine Umgebung zu erken­nen. Doch da war nur Wasser, quir­lender Schaum und hohles Brausen.

Für einen halben Lidschlag lang, sah er eine Bordwand vor sich aufra­gen. Er konnte nicht abschätzen, wie weit sie noch entfernt war, und er hörte undeutlich und verzerrt wilde, laute Schreie, die von allen Seiten auf ihn eindrangen.

Die anderen hörten es auch, sahen aber nichts, zumal die Jolle mehr und

mehr unterschnitt, und das Wasser fast sturzbachartig hereinschoß. Sie mußten sich umdrehen, um in dem Wasserschwall nicht zu ersticken. Sie konnten auch nicht mehr nachfieren.

Carberry glaubte noch einmal, diese riesige Bordwand jetzt unmit­telbar vor sich zu sehen und die lau­ten Entsetzensschreie zu hören. Es hatte ganz den Anschein, als rase die Jolle mit voller Fahrt auf eins der Schiffe zu.

„Raus mit euch!" schrie er mit überkippender Stimme, die selbst in dem Hexenkessel nicht zu überhören war. „Ab, über Bord!"

Batuti sprang, angespornt von dem entnervenden Gebrüll. Auch er sah nichts mehr außer einem riesigen Schatten, der schäumend und in vol­ler Fahrt auf sie zuraste. Er jumpte über Bord und spürte, wie ihn gewal­tige Kräfte durch das Wasser rissen, bis die Bewegung abrupt aufhörte. Die anderen ließen sich ebenfalls nicht lange bitten und folgten seinem Beispiel.

Shane sprang fluchend über Bord, Ferris folgte. Matt Davies ließ sich einfach außenbords fallen und ver­barg das Gesicht in der linken Hand. Die Hakenprothese hielt er dabei weit von sich gestreckt, wie um den fürchterlichen Anprall zu mildern.

Der Profos drehte sich mit einer Rolle ab und klatschte mit dem Rük-ken hart aufs Wasser, wo er buchstäb­lich entlangschlitterte, bis er langsam in den Fluten versank.

Das letzte, was er hörte, war ein un­glaublich lauter Knall, eine Explo­sion, als würden Fässer voller Schieß­pulver in die Luft fliegen.

Dann begann er entnervt um sich zu schlagen und zu paddeln.

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Aus der Sicht der Schebecke ergab sich ein ganz anderes Bild. Auch die Leute auf der „Discoverer" sahen es aus einer völlig anderen Perspek­tive.

Hasard hatte ein letztes Mal den Kurs geändert, denn der Nordkaper zog jetzt verhältnismäßig stur seine Bahn, bis auf ein paar kleine unwe­sentliche Änderungen.

„Was wir da angestellt haben, war doch ein bißchen dilettantisch aufge­zogen", sagte Hasard. „Wir hätten uns besser darauf vorbereiten sollen, denn einen Nordkaper zu jagen, ist schließlich nicht das gleiche wie Af­fen fangen. Aber die Eile entschul­digt es wohl."

„Immerhin hat er drei Harpunen im Leib", sagte Ben, der die Jolle durch den Kieker verfolgte. „In erster Linie ging es ja auch darum, ein paar hundert Leute satt zu krie­gen. Zum anderen hätte uns der Wal leicht entwischen können und wäre verschwunden, wenn wir nicht so schnell gehandelt hätten."

Don Juan war der Ansicht, daß der Wal wohl bald ermüden würde - bei dem Tempo, das er vorlegte.

Sie segelten der Jolle nach, ver­suchten, ihr den Weg zu verlegen und wurden schließlich das Gefühl nicht los, an der Nase herumgeführt zu werden, denn was der riesige Bulle da trieb, sah fast nach einem einseitigen Spielchen aus.

Anfangs belustigten sie sich noch darüber, aber dann wurde aus dem Spiel ganz überraschend tödlicher Ernst, als der Nordkaper auf den Konvoi zuhielt und stur seine Bahn zog.

„Wir setzen uns jetzt zwischen den Verband und die Jolle", sagte Ha­sard. „Also Nordkurs und dann ein harter Schwenk nach Westen. Wollen

doch mal sehen, ob wir den Burschen nicht fassen."

Nach ganz kurzer Zeit war vor­auszusehen, daß der Nordkaper sich nicht erwischen ließ. Er tauchte tief ab, und sie sahen, wie die Mannen in der Jolle wie die Wilden fierten, be­legten, wieder fierten.

Stur wie ein Büffel hielt der Nord­kaper nach seiner letzten Kursände­rung auf die „Discoverer" zu, obwohl es anfangs noch so aussah, als stoße er durch die Lücke zwischen dem Verband.

„Der wird doch nicht.. .", mur­melte Dan O'Flynn und schwieg.

Der Wal ging noch tiefer. Der Bug der Jolle schnitt hart unter. Anschei­nend waren sie auf dem kleinen Boot nicht in der Lage, weiter Lose zu ge­ben, denn ein Schauer aus Gischt überschüttete die Männer.

Die Arwenacks taten ihr Bestes, um sich noch zwischen den Verband und die Jolle zu schieben. Der Nordkaper war jedoch schneller. Und es schien, als habe er sich jetzt die „Discoverer" als Ziel auserkoren, um die Jolle hin­einzujagen.

„Fiert doch nach!" brüllte Hasard, obwohl er wußte, daß ihn niemand hören konnte. „Himmel noch mal!"

„Sie sehen nichts mehr", sagte Stenmark. „Die Jolle wird jeden Au­genblick kentern. Die ist schon ganz voll Wasser."

Beängstigend schnell verkürzte sich der Abstand zwischen der Jolle und der Galeone. Der Bug befand sich jetzt völlig unter Wasser, und der Druck riß die Männer fast um. Ha­sard sah ein, daß sie weder nachfie-ren noch die Leinen kappen konnten.

Auf der „Discoverer" selbst liefen die Menschen zusammen und schrien. Ihre Entsetzensschreie waren über­deutlich zu hören.

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Die Arwenacks stöhnten entsetzt, als die Ramming kurz bevorstand.

Harris legte zwar sofort Hartruder nach Backbord, doch die Galeone rea­gierte viel zu schwerfällig. Ehe der Druck auf das Ruder wirkte, war es längst zu spät.

„Springt", sagte Hasard inbrünstig, als er erkannte, daß es keinen Aus­weg mehr gab. „Springt wenigstens rechtzeitig, sonst schlagt ihr euch die Schädel an der Bordwand ein."

Die Jolle selbst war nicht mehr zu sehen. Ein Gebilde, schaumgekrönt und wild gischtend, tobte in einem riesigen Wasserwirbel über die See.

Die Jolle konnte gar nicht mehr un­tergehen, das Tempo war viel zu hoch.

Kurz darauf - die Jolle war von der Bordwand der Galeone noch etwa fünfzig Yards entfernt - sahen sie ein paar Schatten in dem rasenden Was­serwirbel.

Die Jollenmänner sprangen außen­bords und schlitterten dabei wie kleine Baumstämme über das Was­ser. Ein paar von ihnen überschlugen sich, ehe sie untergingen.

Dann folgte das, was sie alle zusam­menzucken ließ. An Bord der Ga­leone wichen die Leute aufschreiend von der Bordwand zurück.

Das Beiboot knallte seitlich an die „Discoverer". Der Schlag ließ die Ga­leone vom Rumpf bis zu den Masten erbeben. Sie schüttelte sich, als sei eine Breitseite voll eingeschlagen. Ein urweltlicher Knall rollte über das Meer, und dann zerbarst die Jolle in einer wilden Explosion. Ein Regen von Trümmern senkte sich herab. Holzsplitter flogen hoch auf das Deck der Galeone. Der Rest verteilte sich im Wasser. Von der Jolle blieben nur ein paar armselige Trümmer übrig.

Der Nordkaper war sein lästiges

Anhängsel los und tauchte eine Vier­telmeile entfernt aus der See wie ein wilder Dämon, der furchtbare Rache geübt hat. Er blowte ein paarmal und ging dann auf Tiefe.

Old O'Flynn behauptete später, er habe sehr zufrieden ausgesehen, was natürlich völliger Stuß war.

Dicht vor der Bordwand der Ga­leone trieben die Arwenacks im Was­ser. Harris ließ anluven und ging mit killenden Segeln in den Wind. Die beiden anderen Galeonen luvten ebenfalls an. Für lange Augenblicke herrschte Wuhling auf den Schiffen. Der Verband lief kreuz und quer durcheinander.

Dann war die Schebecke heran. Taue wurden über Bord gehängt. Auf der „Discoverer" wollten sie ein Bei­boot abfieren, doch Hasard winkte ab, als er das sah.

„Kann ich Ihnen helfen, Sir?" rief Harris. „Es tut mir furchtbar leid, ich konnte nicht mehr ausweichen."

„Nicht nötig!" schrie Hasard zu­rück. „Sie können Ihre Fahrt fortset­zen, wir kriegen unsere Leute schon. Ich habe auch nicht damit gerech­net."

Nein, damit hatte keiner gerechnet. Einer nach dem anderen wurde an

Bord der Schebecke gehievt. Tropf­naß und kopfschüttelnd standen sie dann an Deck.

„Ende der Waljagd", sagte Hasard lakonisch. „Hat eine Jolle gekostet, aber euch ist zum Glück nichts pas­siert. Ich dachte, ihr würdet nie mehr springen."

„Wir sahen nichts mehr, nicht die Hand vor den Augen", erwiderte der Profos. „Dieser Affenarsch von ei­nem Nordkaper hat das natürlich absichtlich getan. Das war seine Rache."

„Er sah auch richtig schadenfroh

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Den folgenden Brief sandte uns B G straße 4, 3307 Kneitlingen 2:

Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin 1983 während eines Jugoslawien-Urlaubs zufällig auf die Seewolf-Serie gestoßen und lese die Hefte seither regelmäßig. Mit Ihrer freundlichen Unterstützung (meine Such­anzeige wurde von Ihnen in Band 371 ge­druckt) gelang es mir in kurzer Zeit, den größten Teil der fehlenden Hefte über die Börse zu erwerben. Seit zwei Jahren versuche ich nun über Flohmärkte, An- und Verkaufsläden sowie die Börse die fehlenden Einzelstücke zu be­kommen - ohne Erfolg. Verständlicherweise verkauft niemand, der über die Börse seine komplette Sammlung anbietet, einzelne Ex­emplare gesondert. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie nochmals meine An­schrift mit den fehlenden Heftnummern ab­drucken könnten. Es sind die Nummern 12-19, 23,28, 29 und 34. Ich bin für jedes einzel-ne Exemplar dankbar. Nun möchte ich noch einige Bemerkungen zur Serie selber loswerden. Durch den Nach­kauf über die Börse habe ich mir in relativ kurzer Zeit - so glaube ich jedenfalls - einen gerafften Überblick über die Entwicklung der Serie verschafft. Wie auch bereits Leser vor mir geäußert haben, glaube ich, daß die Serie in den ersten 200 Heften ihren absolu­ten Höhepunkt gehabt hat. Danach gab es immer wieder einen Wechsel von schwäche­ren und stärkeren Phasen. Das halte ich al­lerdings für ganz verständlich, wir bringen schließlich im Schul- oder Arbeitsalltag auch nicht immer nur gute Leistungen. Zum Thema Zyklus muß ich sagen, daß ich auch zur Gruppe der Befürworter gehöre. Der Potosi-Zyklus zum Beispiel gehört nach meiner Meinung zu den absoluten Höhe­punkten. Um jedoch allen Lesern gerecht zu werden, liegt die Lösung des Problems viel­leicht doch in der Mitte, das heißt, in dem Wechsel von Zyklus mit Einzelromanen. Daß die Seewölfe endlich mal wieder in eu­ropäischen Gewässern ihr Unwesen trei­

ben, finde ich gut. Hoffentlich bleibt das ei­ne Weile so. Der Redaktion wünsche ich für ihre weitere Arbeit viele gute Ideen und noch möglichst viele Seewolf-Hefte (das nächste Ziel ist si­cher die Nummer 1000). Mit freundlichen Grüßen -B G Herzlichen Dank für Ihren Brief, lieber Herr G . Hoffen wir, daß Ihre Suchmel­dung dieses Mal von Erfolg gekrönt ist - al­lerdings sind die ersten SW-Nummern aus­gesprochene Mangelware und haben den berühmten Seltenheitswert. Über den Dau­men gepeilt, werden über die Börse häufi­ger und mehr die Mittel- und Spätnummern als die Erstnummem angeboten, was wie­derum die Späteinsteiger verschnupft, die gern wissen möchten, was die Seewölfe so in den Nummern mit den zweistelligen Zahlen bis hin zu 100 und 150 getrieben ha­ben. Und die echten Sammler halten ihre „Schäfchen" natürlich zusammen, was auch wiederum verständlich ist. Mit einer Zweitauflage wäre die Luft raus, aber lei­der, l e ider . . . Zyklen oder Einzelromane - im Moment dürfen sich die Zyklen-Anhänger eigent­lich nicht beklagen, denn Roman für Ro­man klüsen die Arwenacks noch über den Atlantik, um die Auswanderer nach Virgi­nia zu bringen. Es sind also Romane mit Fortsetzungscharakter, und Autoren und Redaktion halten es für reizvoll, die Schau­plätze von Schiff zu Schiff zu wechseln und darzustellen, wie die einzelnen Kapitäne mit ihren Pflichten und Anforderungen fer­tig werden und die einzelnen Familien der Auswanderer ums Überleben kämpfen. Das ist also ein echter Zyklus, in dem be­stimmte Personen von Roman zu Roman fortgeführt und dargestellt werden - siehe die drei adeligen „Stiesel", die in Virginia noch für Trouble sorgen werden!

Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren

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Weder Fisch noch Fleisch, ein Bastard, das ist das Fahrzeug, das wir unseren Lesern auf den beiden vorigen Seiten vorstellen. Ein „Dampfer mit Schonerrigg" oder ein „Schoner mit Dampfantrieb" - wie man's nimmt, nichts Halbes und nichts Ganzes, zwei Fliegen mit einer Klappe: die eine Fliege hieß Dampfantrieb, die andere Windantrieb. Das ent­wickelte sich so im letzten Jahrhundert, und vielleicht nannte man es Fortschritt. Was dabei jedoch herauskam, das waren Zwitter, die uns heute seltsam anmuten. Ganz allgemein waren Schoner Segelschiffe mit zwei und mehr Masten, an denen Schratsegel gefahren wurden, am Vormast über dem Schoner­segel zum Teil auch Rahsegel wie auf unserer Zeichnung. Was sich jetzt jedoch bei unserem „Dampfer-Schoner-Zwitter" verändert hat, das ist seine Rumpfform, die keineswegs mehr als schnittig bezeichnet werden kann. Der Bugspriet fehlt, der Vorsteven selbst ist nicht mehr elegant geschwungen, sondern steif und gerade - fast häßlich. Im vorderen Achterschiff ragt der Schornstein auf, vor ihm befindet sich der Steuer­stand, der sonst achtern war. Später wird er den Namen „Brücke" erhal­ten. Die Beiboote hängen in Galgen, sogenannten Davits an Backbord und Steuerbord. Bei den reinen Segelschiffen standen sie noch auf Klampen und mußten an den Rahen ausgeschwungen werden. Zweifel­los sind die Davits zum schnellen Aussetzen oder Aufholen der Beiboote praktischer als das Manöver mit einer Rah. Die Nummern bedeuten: 1 Vor-Stengestagsegel, 2 Stagfock, 3 Unter­Toppsegel, 4 Ober-Toppsegel, 5 Bramsegel, 6 Schonersegel, 7 Groß-Stagsegel, auch Deckschwabber genannt, 8 Großsegel, 9 Gaffeltopp­segel, 10 Fockmast, 11 Fockrah, 12 Unter-Toppsegel, 13 Ober-Topp­segelrah, 14 Bramrah, 15 Schonersegelbaum, 16 Schonersegelgaffel, 17 Großmast, 18 Großstenge, 19 Groß-Bramstenge, 20 Großbaum, 21 Großgaffel, 22 Vor-Bramstag, 23 Vor-Stengestag, 24 Fockstag, 25 Fockwanten und Großwanten, 26 Vor-Stengepardunen, 27 Vor-Brampardune, 28 Fockbrassen, 29 Unter-Toppsegelbrassen, 30 Ober-Toppsegelbrassen, 31 Brambrassen, 32 Vor-Gaffelgeerden (zum Schwenken der Gaffel), 33 Großstag, 34 Groß-Stengestag, 35 Groß-Bramstag, 36 Großbaum-Dirk (zum Auftoppen des Großbaums), 37 Groß-Gaffel-Geerde, 38 Vorstenge, 39 Vor-Bramstenge, 40 Anker­kran, 41 Ventilator und 42 Schornsteinstag.

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aus", behauptete Old O'Flynn. „Fast war mir so, als hätte er ein bißchen gegrinst."

„Aber nur ein bißchen", meinte Ha­sard einschränkend. „Schade um den Burschen, der hätte ausgereicht, um die Probleme für eine Weile zu lösen. Aber wir können nicht immer gewin­nen. Man muß auch eine Niederlage hinnehmen können. Oder eine Ent­täuschung. Wie wär's mit einer klei­nen Entschädigungsrunde für unsere Nordkaper?"

Carberry wrang sein Hemd aus und grinste. Er sah Tucker, Shane, Matt und schließlich Batuti an.

Der riesige Gambiamann grinste auch ein bißchen, etwas zaghaft an­fangs, dann immer breiter und schließlich gluckste er laut los und lachte sein tiefes guturales Lachen, das so ansteckend auf die anderen wirkte.

Kurz darauf standen die Kerle an Deck und grinsten bis zu den Ohren. Dann brach ein Gelächter los.

„Weiß eigentlich jemand, warum hier so dämlich gelacht wird?" erkun­digte sich Old Donegal irritiert.

Niemand wußte es. Es gab auch gar keinen Grund für das immer wilder werdende Gelächter, und weil es kei­nen Grund gab, lachte Old Donegal schließlich ebenfalls mit.

Der Kutscher ließ für die „Nordka­per" nach ihrem mißglückten Fang­versuch eine Buddel reihum gehen, die dankbar angenommen wurde. So nach und nach hörte das wilde Ge­lächter dann auch langsam auf.

Die drei adligen Stiesel, die alles beobachtet hatten, verzogen sich beim Ausbruch des wilden Geläch­ters eiligst unter Deck. Sie kapierten überhaupt nichts mehr und mokier­ten sich untereinander darüber.

Da jagten diese Idioten einen so

großen „Fisch", wie sie noch nie in ih­rem Leben einen gesehen hatten, rammten mit ihrer Jolle eine Ga-leone, wobei die Jolle total zertrüm­mert wurde, und dann stellten sie sich an Deck und lachten. Das war für die drei Adelströpfe einfach zuviel und unbegreiflich.

„Ja, wirklich schade", sagte etwas später auch Carberry, nachdem die Buddel kräftig gelenzt worden war. „Das Boot ist beim Teufel, und der Nordkaper hat sich abgesetzt. Jetzt haben wir nur noch die kleine Jolle, und gegen den allgemeinen Hunger haben wir auch nichts getan, außer, einen Versuch zu unternehmen, der kläglich gescheitert ist. Zum Heulen ist das wirklich."

„Sehr traurig", sagte Batuti und lachte schon wieder. „Wir haben uns benommen wie Angler, die einen zu großen Fisch fangen wollten. Jetzt hat der Fisch uns gezeigt, daß es so nicht geht."

Hasard blickte noch einmal nach Süden. Doch der Nordkaper zeigte sich nicht mehr. Er war in der Weite des Atlantiks verschwunden und wie­der auf Tiefe gegangen. Vielleicht war auch er um eine Erfahrung rei­cher geworden, seit er die Menschen kennengelernt hatte.

Sie wechselten ihre Plünnen und klüsten dann zur „Discoverer" hin­über. Der Verband segelte wieder fast in Kiellinie.

Hasard sah sich die Beschädigun­gen an der Bordwand an, aber sie fan­den nicht mehr als ein paar Schram­men. Der Rumpf zeigte zwischen den Planken keinerlei Risse, wie Ferris Tucker feststellte.

An Bord der anderen Schiffe wurde jedoch lebhaft bedauert, daß der Nordkaper entwischt war. Alle hatten schon in der Vorfreude gehofft und

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gebetet, daß es den Arwenacks gelin­gen möge, den Wal zu fangen.

„Wir haben es immerhin versucht", sagte der Seewolf bedauernd. „Aber man hat eben nicht immer Glück."

Der Kutscher zeigte achteraus, wo in der See ein paar dunkle Gegen­stände trieben.

„Ich hätte ja nicht den Vorschlag unterbreitet, die Jolle zu verheizen, Sir", sagte er, „aber jetzt, da sie nur noch aus Trümmern besteht, sollten wir wenigstens die Reste noch ver­wenden. Die Holzkohle wird knapp, und mit Brennholz sind wir nicht ge­rade üppig dran."

Hasard nickte und sah auf das weit­verstreut schwimmende Treibgut.

„Du hast recht, Kutscher. Das soll­ten wir tatsächlich nicht dem Atlan­tik überlassen. Ferris dürfte einige Schwierigkeiten mit der Reparatur der Jolle kriegen. Wir werden die Re­ste also sorgfältig einsammeln."

Die Schebecke törnte auf die Trüm­mer zu. Die Arwenacks hatten sich mit Haken bewaffnet und zogen die ersten Bruchstücke an Bord.

„Die hat's aber wirklich kurz und kleingehauen", sagte Blacky. „Da ist keine einzige Planke heil geblieben. Wenn ihr nicht rechtzeitig außen­bords gesprungen wäret, dann hätten wir jetzt Tote zu beklagen gehabt."

Der Profos nickte nur etwas kläg­lich und starrte auf die Trümmer, die sich an Deck stapelten. Es war eine ansehnliche Menge. Das größte heil-gebliebene Holzstück war nur noch halb so lang wie eine Ducht. Selbst der kleine Mast bestand nur noch aus ellenlangen Holzstücken.

Als das Treibgut eingesammelt worden war, ging die Schebecke wie­der auf ihren alten Kurs zurück und folgte dem Verband.

6.

Einer, der ständig nach dem Wetter Ausschau hielt, war Kapitän Harris von der „Discoverer". Die Warnung von Barry Wister hatte ihn nachdenk­lich gestimmt und der schreckliche Traum nicht unbeeindruckt gelassen.

An diesem Morgen gefiel ihm das Wetter ganz und gar nicht, und er blickte immer wieder zum Himmel, der sich unmerklich mit einem feinen nebelähnlichen Dunst bezog, bis das Blau langsam verkümmerte und ei­ner fahlen Farbe wich.

Die langrollende Dünung ließ nach, die winzigen Schaumkämme ver­schwanden unmerklich. Die gebläh­ten Segel fielen in sich zusammen wie leere Leichentücher.

Gegen halb zehn Uhr war die See blank wie poliertes Glas geworden, und kein Lüftchen regte sich. Was blieb, war die Hitze, die sich wie eine Glocke über die Schiffe senkte.

Der Konvoi segelte nicht mehr. Träge trieben die Schiffe dahin, als sei alles Leben aus ihnen gewichen. Es war schwül und drückend gewor­den, als stünde unmittelbar schweres Unheil bevor.

An der östlichen Kimm schob sich unmerklich eine lilaschwarze Wol­kenbank in die Höhe. Sie schien nicht zu wandern, aber den Himmel trotz­dem allmählich aufzufüllen.

Gegen elf Uhr nahm die Schwärze zu, und alle hatten das Gefühl, daß ihnen Unerklärliches und Schlimmes bevorstehe. Der Himmel an der östli­chen Kimm füllte sich weiter mit Wolken auf, die wie ein pechschwar­zes Gebirge wirkten.

Man konnte darin riesige Schluch­ten, Abgründe und Schatten erken­nen. Himmel und Meer gingen schließlich nahtlos ineinander über,

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bis man nicht mehr unterscheiden konnte, ob es sich um Wolken oder riesige Brandungswellen handelte, die fast unbeweglich am Horizont standen.

Auch auf die Leute wirkte sich der Wetterumschwung aus. Sie waren träge geworden, standen an Deck her­um und sprachen nicht mehr viel mit­einander. Fast alle starrten zur Kimm, wo sich das seltsame und un­heimliche Farbenspiel dauernd ver­änderte.

Die Schiffe lagen jetzt fast unbe­weglich still auf dem glatten Wasser.

Harris wanderte unruhig auf dem Achterdeck hin und her. Der Ruder­gänger hatte nichts mehr zu tun. Die anderen Männer räusperten sich un­behaglich, wohl wissend, daß es bald Kummer geben würde.

Harris sah Barry Wister auf der Kuhl stehen. Der Zimmermann ging ebenfalls von einer Seite zur anderen. Hin und wieder blieb er stehen und blickte zur Kimm, wo sich seine schrecklichen Träume immer stärker bewahrheiteten.

Harris bemerkte, daß Wister ziem­lich blaß aussah.

Als sich ihre Blicke einmal kurz tra­fen, wollte Wister schnell wieder weg­schauen, doch Harris bat ihn mit ei­ner stummen Bewegung auf das Ach­terdeck.

„So war es in Ihren Träumen, nicht wahr?" fragte er leise und mit heise­rer Stimme.

Wister nickte und räusperte sich den Hals frei.

„Ja, Sir, so ähnlich. Das unheimli­che Bild nimmt immer mehr Gestalt an. Alles ist gespenstisch still gewor­den, und die Farben am Horizont sind kaum noch zu beschreiben. Sie wir­ken, als hätte sie ein verrückter Phan­

tast in geistiger Umnachtung ge­malt."

„Wir kriegen einen schweren Sturm", sagte Harris. Auch er mußte sich wiederholt räuspern. „Es wird noch ein paar Stunden dauern, doch dann geht es los, und der Himmel wird sich auftun. Sehen Sie nur, wie sich die Farben laufend verändern."

Barry Wister sah das schon seit lan­gem mit dem allergrößten Unbeha­gen und fürchtete sich.

Das Meer selbst hatte sich farblich dem Himmel angepaßt. Ganz achtern an der Kimm stand das, was Barry als Riesenwalze bezeichnet hatte. Un­beweglich, als würde sie von unsicht­baren Kräften gehalten, stand diese erstarrte Riesenwoge da und wartete nur darauf, endlich freigelassen zu werden, um ihr tödliches Werk begin­nen zu können.

„Die Farben werden lila und schwarz", sagte er, „dann gibt es noch ein paar Tönungen darin, die sich nicht beschreiben lassen. Ich habe dieses Farbenspiel noch nie wirklich gesehen, nur im Traum."

„Sie wirken jetzt ruhiger als vorge­stern", bemerkte Harris. „Da hatten Sie fiebrige Augen, und das Grauen stand in Ihrem Gesicht deutlich ge­schrieben. Haben Sie jetzt keine Angst mehr?"

„Ich weiß, daß es unausweichlich ist, Sir. Doch, ich habe noch Angst, weil ich das fürchterliche Ergebnis kenne. Aber Gott will es so, und das beruhigt mich ein wenig. Mir ist nur Angst um meine Familie. Was wer­den Sie jetzt tun, Sir?"

Harris seufzte leise. „Ich habe mir immer wieder vorge­

stellt, was ich alles tun würde. Aber ich kann, im Grunde genommen, gar nichts tun. Ich kann die Räume ab­decken lassen, ich kann die Segel

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wegnehmen und überall Taue span­nen lassen. Aber alles das erscheint mir plötzlich unsinnig, obwohl ich es doch tun werde. Verstehen Sie das?"

„O ja, Sir", antwortete Wister ru­hig. „Sie wissen, daß es endgültig ist und niemand etwas daran ändern kann. Der Allmächtige zeigt uns hier unsere Grenzen. Es gibt keinen Ha­fen, in den wir uns retten können, es gibt überhaupt keinen Schutz. Wir vertrauen nur darauf, daß alles gut abläuft und wissen doch, daß es nicht so ist", fügte er mit ganz leiser Stimme hinzu.

„Ich werde jetzt trotzdem die An­weisungen geben. Ich weiß mit abso­luter Sicherheit, daß uns noch ein paar Stunden bleiben."

Sie schwiegen für kurze Zeit, dreh­ten sich um und sahen zum Horizont. Dort gab es keine Linien mehr. Die Riesenwalze stand da, aus erstarrtem Schaum, der immer noch von unsicht­baren Kräften gehalten wurde. Aber tief unten schien es zu quellen und zu brodeln, als sei ein gigantischer Topf am Kochen.

Die See war immer noch glatt wie ein Spiegel, und das Wasser strahlte geheimnisvoll die Farben zurück, die auf es einwirkten. Selbst ganz tief im Ozean stand die Riesenwalze.

Wister blickte zu den anderen Schiffen und fand, daß sich alles mit seinem Traum deckte. Auf dem Ach­terdeck standen Kapitän und Offi­ziere wie versteinerte Menschen. Sie rührten sich nicht, und sie hatten an-stelle von Gesichtern nur verwaschen wirkende Flecken. Alle waren zur Hilflosigkeit verdammt und warte­ten.

Noch schlimmer aber empfand Wi­ster diese tödliche Stille, die Ruhe vor dem Sturm. Geisterhaftes Zwielicht hatte sich über die Schiffe gesenkt,

und an der schaumigen Barriere stand die Karavelle. Einsam, verlas­sen und allein reckte sie ihre drei Ma­sten wie fahle Leichenfinger in die unheimlichen Wolkenberge.

Die Stille war unirdisch, obwohl Wister glaubte, daß alles um sie her fortlaufend grelle Töne und Bewe­gung erzeugte.

Er hörte neben sich die tonlose Stimme des Kapitäns. Sie klang, als raune sie aus unendlich weiter Ferne.

„Der Seewolf kommt." Schwerfällig wandte der Zimmer­

mann den Kopf. Die Schebecke näherte sich ihnen,

getrieben von leichten Ruderschlä­gen. Ihre Segel hingen schlaff an den Masten. Das war das einzige Ge­räusch in der unwirklichen Stille, das leise Knarren der Riemen und ein un­wirkliches Geraune, wenn Stimmen erklangen.

Wister glaubte einen leichten Luft­zug zu spüren und hatte das Gefühl, jeden Augenblick ohnmächtig zusam­menzubrechen. Schweiß stand in fei­nen Perlen auf seiner Nase, und er hob die Hand, um sie fortzuwischen.

Auch die Stimme des Seewolfs klang so, als sei sie meilenweit ent­fernt - ganz wie in seinem Alptraum.

„In spätestens zwei Stunden krie­gen wir einen recht unangenehmen Sturm, Kapitän Harris", sagte der Riese mit den grauen Schläfen im pechschwarzen Haar. „Ich möchte Sie nur Wahrschauen, denn es wird nicht ungefährlich. Sie wissen, was Sie zu veranlassen haben. Sollten wir uns während des Sturmes aus den Augen verlieren, bleiben Sie anschließend genau auf dem Kurs, der zuletzt an­lag. Es besteht durchaus die Möglich­keit, daß wir uns in alle Winde zer­streuen."

„Ja, Sir, ich weiß", sagte Harris.

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„Ich habe bereits alles veranlaßt. Die Räume werden verschalkt, damit kein Wasser eindringen kann. Halten Sie es für richtig, wenn wir alle Segel wegnehmen? Ich habe im Atlantik noch keinen richtigen Sturm erlebt."

„Die anderen Kapitäne auch nicht", sagte Hasard. „Sie haben noch Zeit. Lassen Sie zwei kleine Sturmsegel setzen. Früher oder später werden wir ohnehin vor Topp und Takel len­zen müssen. Für den Fall sollten Sie möglichst viel Tauwerk achteraus hängen und an den Pollern belegen. Wenn Sie das nachschleppen, dann schlagen Sie auch nicht quer. Für uns ist das eine alte Erfahrung, die sich bestens bewährt hat."

„Das werde ich sofort tun, Sir. Vie­len Dank. Glauben Sie, daß es sehr schlimm werden wird?"

„Nehmen Sie das Schlimmste an", sagte Hasard ernst. „Es sieht wahr­haftig nicht gut aus."

Die Arwenacks pullten weiter zur „Explorer" unter dem frömmelnden Puritaner Arnos Toolan, der seine Schäfchen in der seltsamen Kluft an Deck versammelt hatte und laut vom Strafgericht des Herrn sprach.

„Ich würde eine Menge darum ge­ben, die Gelassenheit dieses Mannes zu haben", sagte Harris. „Leider ist dem nicht so. Ich weiß zwar eine Ga-leone zu führen, doch das ändert nichts an der Tatsache, daß mir sehr beklommen zumute ist. Das sage ich aber nur Ihnen, Wister. Ich muß meine Furcht hinter einem betont harmlosen Gesicht verstecken."

„Ich beneide Sie nicht um Ihren Be­ruf, Sir. Aber Angst oder Furcht sind keine Zeichen menschlicher Schwäche. Das bilden sich einige we­nige nur ein."

Leise Kommandos erklangen. Die Männer von der „Discoverer" gingen

an die Arbeit. Für etliche Minuten waren die Ängste unterdrückt.

Auch Hasard bewies Menschlich-keit, als sie die letzte Galeone ge­warnt hatten.

Er schickte Smoky und Roger Brighton nach vorn in die Vorpiek.

„Ich will nicht, daß sich dieser Ha­lunke von Granville die Knochen bricht, wenn es rund geht. Wenn wir richtige dicke See kriegen, dann fliegt er da unten von einer Seite zur anderen. Bindet den Kerl also mit Tauen so fest, daß er sich notfalls selbst befreien kann. Ihr könnt ihm das ja verklaren, was uns bevorsteht. Wenn er nicht angebunden werden will, dann soll er es bleiben lassen. Laßt ihm dann aber für alle Fälle ein paar Tampen da."

Die drei Adelströpfe standen ziem­lich hilflos herum und gafften immer wieder zum Horizont, wo sich offen­bar der Weltuntergang ankündigte. Sie glaubten sich in einer anderen Welt, in der alles unwirklich und fremd war - und sie hatten Angst, höllische Angst. Alle Augenblicke wollten sie wissen, wann es losginge und ob es schlimm werden würde.

„Suchen Sie Ihre Kammer auf", riet Hasard kurz. „Und lassen Sie sich während des Sturmes nicht an Deck blicken, sonst werden Sie über Bord geblasen, und niemand kann Ihnen helfen."

Die Kerle waren ziemlich blaß um die Nasen, wechselten einen ver­schwörerischen Blick miteinander und zogen kleinlaut ab. Sie sahen recht kläglich aus, als sie unter Deck verschwanden. Dennoch hofften sie in ihrer Einfalt, Granville in den nächsten Stunden befreien zu kön­nen, ohne die Konsequenzen zu über­denken.

Keiner von ihnen hatte einen richti-

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gen Sturm erlebt. Was sie bisher ken­nengelernt hatten, war nur ein zartes Säuseln.

Die Karavelle stand so weit ab, daß sie kaum noch zu sehen war. Ledig­lich drei unwirklich scheinende dünne Nadeln stachen aus der See, die ihre Masten darstellten.

Hasard hatte nicht vor, die Strolche zu warnen. Es hätte Stunden ange­strengten Pullens gekostet, und das wollte er seinen Männern nicht zumu­ten. Außerdem mußten sie sich um die anderen Schiffe kümmern und versuchen, den Verband so gut wie nur möglich zusammenzuhalten.

Die Rabauken mußten mit sich selbst fertig werden.

„Jetzt sind wir an der Reihe", sagte er. „Die anderen sind beschäftigt und wissen, was sie vorbeugend zu tun ha­ben. Euch brauche ich das ja nicht mehr zu verklaren."

Carberry kümmerte sich um das „Viehzeug" an Bord, das zuerst nach unten gebracht werden mußte.

Der Schimpanse Arwenack und die Wolfshündin Plymmie ließen sich auch ohne Schwierigkeiten nach un­ten verfrachten, doch als der Profos seinen Sir John lockte, erntete er nur ein höhnisches Gekrächze und ein paar üble Flüche. Die Krachente war nicht dazu zu bewegen, auf seiner Schulter Platz zu nehmen. Sie ahnte wohl offenbar etwas, und vom Ein­gesperrtsein hielt Sir John nun mal nichts.

„Salzheringe!" kreischte der Ara-canga schrill. „Braß an, Gevatter! Laß die Tampen fliegen!"

„Du Mistvieh!" schrie der Profos, nachdem alle Lockversuche fehl­geschlagen waren. „Du ersäufst wie eine Ratte, wenn es losgeht!"

„Säuft wie eine Ratte!" kreischte Sir John. Er hockte auf der Rahrute

und spreizte die bunten Flügel. „Af­fenärsche, krrrriiii, Affenärsche!"

Der Profos wurde wütend und wußte nicht, wie er den Krachvogel dort herunterholen sollte. Da fiel ihm ein, daß jemand mit der Muskete auf Sir John gezielt und auch gefeuert hatte. Da war Sir John ziemlich klein­laut und schutzsuchend auf seine Schulter geflogen.

Er besorgte sich einen Schießprü­gel, der nicht geladen war und legte mit grimmigem Gesicht auf Sir John an.

Der Aracanga kannte diese Kra­cher genau. Ein solches Rohr hatte ihn schon einmal ein paar Federn gekostet. Schrill kreischend verließ er die Rahrute und segelte nach un­ten. Auf Carberrys Schulter blieb er hocken.

Der Profos warf die Muskete an Deck, grinste hinterhältig und schnappte sich Sir John mit einer blitzschnellen Bewegung. Der Papa­gei stieß Schreie aus, als sollte er um­gebracht werden. In der Aufregung ließ er auch noch etwas Warmes auf Carberrys Schulter fallen.

„Feine Erziehung", höhnte der Kut­scher. „Da muß er die Plappereule erst mit einer Muskete bedrohen, ehe sie gehorcht. Zustände sind das!"

„Wie bei den Menschen", sagte der Profos grinsend. „Manche muß man auch erst bedrohen, ehe sie gehor­chen. Was regst du dich also auf, Kut­scher."

Der hagere Mann gab keine Ant­wort. Er drehte sich um und winkte Mac Pellew. Sie wollten die Kombüse gegen den Sturm sichern. Die Überre­ste der Jolle mußten auch noch ver­staut werden.

Als der Kutscher das Schott öff­nete, sah er sich noch einmal um.

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Auch Mac blieb stehen und zog ein saures Gesicht.

In der hintersten Wolkenwand, wo es am schwärzesten war, begann es grell aufzuleuchten. Die Welt schien zu beben und zu wanken. Aber dem langanhaltenden Blitz folgte kein Donner. In der Wolke zuckte und tobte es jedoch weiter.

„Wetterleuchten", sagte Mac miese­petrig. „Ist noch weit weg."

„Da bin ich nicht so sicher, Mac. In spätestens einer Stunde wird es wohl losgehen."

Sie gingen nach unten, um Schlin­gerleisten an den Regalen anzubrin­gen und alles seefest zu zurren.

Auch an Deck wurde gearbeitet.

Auf der „Discoverer" und den ande­ren Schiffen waren die Arbeiten ab­geschlossen. Überall waren Mann-und Strecktaue gespannt. Die Grä­tings waren abgedeckt und die Räu­me verschalkt und kontrolliert wor­den. Auch die Segel waren ordentlich und sorgfältig aufgetucht. Harris ließ sie noch einmal kontrollieren, damit es bei der ersten Bö keine Windbeu­len gab, die sich verheerend in der Ta­kelage auswirken konnten.

Er hatte auch dicke Tampen und anderes Tauwerk achtern um den Be-sanmast gelegt, daß sie jederzeit über Bord gegeben werden konnten, um das Querschlagen zu verhindern.

Während die meisten Erwachsenen sich fast flüsternd unterhielten, wa­ren die Kinder wesentlich unbeküm­merter. Sie konnten sich unter der Gefahr, die da heranzog, noch nicht viel vorstellen.

Die Familien Wister und Fletcher, die sich während der langen Reise an­gefreundet hatten, unterhielten sich.

Fletcher hatte drei Kinder: die sieb­zehnjährige Sarah, den vierzehnjäh­rigen Sohn Little John und den fünf Jahre alten Roebuck, die damit prahl­ten, schon an Bord der Schebecke des Seewolfs gewesen zu sein.

Als das erste Wetterleuchten in der immer größer werdenden Wolken­bank aufblitzte, zuckten die beiden Frauen zusammen.

Susan Fletcher sah ihren Mann Da­vid fragend an. Ann Wister zuckte zu­sammen und schluckte nervös. Sie hatte Angst, und diese Angst verlieh ihr große fragende Augen. Im geister­haften Zwielicht erschien ihr schma­les Gesicht seltsam fahl. Ihre Haut war fast durchsichtig.

„Es ist besser, wenn die Frauen und Kinder nach unten gehen", schlug Fletcher vor. „Der Herr möge uns be­schützen."

„Für uns wird es auch besser sein", murmelte Wister, obwohl er keine Anstalten traf, nach unten zu gehen.

Um sie her schien die Luft zu kni­stern und zu vibrieren. Sie alle spür­ten das drohende Unheil mit jedem Nerv.

„Die Karavelle ist verschwunden", sagte Wister nach einer Weile, um überhaupt etwas zu sagen. „Sie ist von der Wolkenbank verschlungen worden."

Himmel und Meer erbebten gleich­zeitig. Ein geisterhaftes Leuchten zit­terte für Augenblicke durch die At­mosphäre. Die Umgebung sah aus, als würde sie instabil und wie ein Ka­leidoskop in sich zusammenfallen.

Noch zweimal wiederholte sich das Zittern mit der blitzenden Entladung, ohne daß Geräusche zu hören waren. Dann stieß Little John plötzlich einen wilden Schrei aus und deutete zum Großmast. Sein Mund war weit geöff­net, sein Finger zitterte wild.

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An dem eisernen Beschlag des Ma­stes kroch ein winziges Flämmchen hoch. Erst war es fahl-grünlich, dann wanderte es weiter nach oben und nahm eine hellblaue Färbung an. Gleich darauf schimmerte es rötlich­violett und sah wie ein kleines Bü­schel aus.

Das unheimliche Licht teilte sich ganz überraschend. Eins blieb auf dem Maststopp zitternd und glim­mend hocken, das andere wanderte weiter zur Rahnock. Gleich darauf er­schien auch ein drittes.

Selbst den härteren Männern kroch ein eisiger Schauer über den Rücken, als sie die wandernden Büschellich­ter sahen. Einige bekreuzigten sich voller Angst.

„Was ist das?" fragte Wister ent­setzt und griff nach dem Arm eines vorüberhastenden Mannes.

„Lassen Sie mich in Ruhe", schrie der Mann wild. „Das ist Gevatter Tod. Er wird uns alle holen."

Die Kinder schrien wild und flüch­teten nach unten, als sich die Flämm­chen weiter teilten und von einer Rahnock zur anderen sprangen. Die­ses wandernde Licht brachte etliche fast um den Verstand, denn keiner hatte eine Erklärung dafür.

Selbst Harris sah mit steigendem Unbehagen zu den Leuchterscheinun­gen, die immer weiter wanderten und alle in helle Aufregung versetzten.

Die Angst ging um auf der „Disco­verer". Doch auf den anderen Schif­fen trat das unheimliche Phänomen, ebenfalls auf. Sie hörten es an den Entsetzensschreien.

Auf der Schebecke erschienen ebenfalls wie hingezaubert zwei der mysteriösen Flämmchen, aber bei den Arwenacks waren sie schon fast gute Bekannte, und Old O'Flynn be­grüßte sie mit einem lautgebrüllten

„Misericordia". Der um Barmherzig­keit flehende Ruf sollte die Flämm­chen vertreiben, doch er tat es nicht.

Sankt Elmo war an Bord erschie­nen und sorgte für eine kleine Panik.

Die Arwenacks hatten damals im Meer der toten Seelen ebenfalls Be­kanntschaft mit dem Elmsfeuer ge­schlossen und ähnlich reagiert wie heute die Pilger, die es noch nicht kannten.

Das kalte Licht begann erneut zu wandern, verfolgt von unzähligen Augenpaaren. Fast jeder glaubte, der Teufel persönlich sei in einer seiner zahlreichen Gestalten an Bord er­schienen, und nun werde es ein gro­ßes Unheil geben.

Wister und Fletcher sahen dem ei­gentümlichen Licht mit verzerrten Gesichtern nach. Ihre Frauen waren voller Angst hinter den Kindern her­gelaufen und ließen sich nicht mehr an Deck blicken.

„Um der Barmherzigkeit willen", stöhnte Wister. „Ob das wirklich die Vorboten des Todes sind? Setzt der Herr uns ein Zeichen?"

„Ich weiß es nicht, Barry", erwi­derte Fletcher tonlos, den Blick eigen­tümlich starr auf das Elmsfeuer ge­richtet. „Ich habe so etwas noch nie gesehen. Es scheint nicht von dieser Welt zu sein."

Eins der Lichter verblaßte unmerk­lich. Die anderen begannen zu irrlich-tern und zu schwanken, als das Wet­terleuchten wieder Himmel und Meer erhellten.

Dort, wo die Karavelle stand, war jetzt alles grau in grau. Eine Regen­front zog auf, die sich unaufhaltsam näherschob.

Die See war immer noch spiegel­glatt, doch jetzt lag in der Luft ein fer­nes zartes Rauschen, das unmerklich

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anschwoll. Es hörte sich nach einem leisen Trommeln an.

Die meisten anderen zogen es vor, unter Deck zu gehen. Als auch Flet­cher das vorschlug, schüttelte Wister stur den Kopf.

„Ich bleibe noch hier, David. Ich will wissen, wie das weitergeht."

Er deutete nach oben und sah sich ratlos um. „Die unheimlichen Lichter lösen sich auf. Sie verschwinden."

Fletcher schaute sich ungläubig um. Die schimmernden Irrlichter wa­ren tatsächlich fast verschwunden. Sie wurden immer fahler, bis sie sich schließlich nach ein paar Augenblik-ken in Nichts auflösten. Der fürchter­liche Spuk war beendet.

Dafür zog jetzt die Regenwand schneller heran. Es ließ sich genau er­kennen, wo sie abgegrenzt war und mit welcher Geschwindigkeit sie sich näherte.

Auf der spiegelglatten See erschie­nen winzige Pünktchen, Pfützen ähn­lich, in die schwere Regentropfen fie­len und aufspritzten.

Wister hatte das Gefühl, muttersee­lenallein auf der Welt zu sein. Die an­deren Schiffe verschwanden in einem trüben Dunst, als die Regenfront her­antrieb und sie einhüllte. Wie durch Zauberei wurde eine Galeone nach der anderen unsichtbar.

Wister und Fletcher spürten die Wassertropfen auf ihren Köpfen. Das Rauschen verstärkte sich und wurde zu einem monotonen Trommeln, das die Planken des Schiffes vibrieren ließ.

Übergangslos spaltete sich der Himmel. Eine gewaltige blitzende Riesenaxt hieb ihn in zwei Teile. Blauweißes Leuchten blendete sie, bis die Augen schmerzten. Der Don­ner, der dann folgte, ließ sie alle zu­

sammenzucken. Sie duckten sich angstvoll.

Innerhalb von Sekunden waren sie bis auf die Haut durchnäßt. Um sie her wurde es zusehends finsterer. Die Tageszeit ließ sich nicht mehr bestim­men. Sie wußten, daß es noch nicht einmal Mittag war, aber genausogut hätte es später Abend sein können.

Auch das Achterdeck der Galeone entschwand ihren Blicken. Der Regen fiel jetzt so dicht, daß es sie wie aus Kübeln überschüttete.

„Ich gehe nach unten!" brüllte Flet­cher. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund. Als Wister sich umdrehte, hatte er das Gefühl, die Gestalt löse sich auf wie ein Schemen.

Er stand allein in dem strömenden Regen, dem wilden Zucken der Blitze und dem Hämmern des Donners, der alles zu zerreißen schien.

„Mein Gott", sagte er leise. „Laß dieses fürchterliche Unwetter an uns vorüberziehen. Laß das Schiff nicht untergehen."

Niemand hörte seine versagende Stimme. Er war immer noch allein auf der Welt, und es gab außer dem harten Krachen des Donners und dem Trommeln des Regens keine an­deren Geräusche. Selbst im Innern der Galeone war alles totenstill.

Fröstelnd nahm er wahr, daß ein kühler Windzug ihn streifte. Er sah sich hastig um, konnte jedoch keins der Schiffe mehr sehen. Mit einem lei­sen Schrei auf den Lippen floh er nach unten und donnerte das Schott hinter sich zu.

Stickige warme Luft empfing ihn, blakendes diffuses Laternenlicht, und große weitaufgerissene Augen starrten ihn an, dem das Wasser von den Haaren aus dem Gesicht und dem Bart troff.

Frauen und Kinder hatten sich in

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die Kojen zurückgezogen, zusam­mengekauert und warteten ängstlich. Bei jedem wilden Donnerschlag zuck­ten sie zusammen und verkrochen sich noch weiter.

Hier unten hörte sich wieder alles ganz anders an. Der Regen der auf die Planken trommelte, war ein Ge­räusch, als würden pausenlos Erbsen in einem riesigen Sieb geschüttelt. Das Krachen des Donners schien je­desmal das Schiff zu spalten. Selbst Wister war davon überzeugt, daß der Blitz an Deck eingeschlagen hatte.

Ein paar kleinere Kinder begannen in der qualvollen Enge zu weinen.

Nach einer Weile wurde die „Disco­verer" ganz sanft angehoben. Sie ging mit dem Achterschiff hoch und senkte sich träge.

Wister schloß krampfhaft die Au­gen. Er dachte an die furchtbaren Riesenwellen in seinem Traum. Das waren sicher die ersten Vorboten da­von.

Die Galeone bewegte sich noch ganz sanft. Dann war plötzlich ein Heulen in der Luft, anfangs ein Win­seln, als würden sich Hunde ängstlich verkriechen. Dann jaulte und heulte es immer wilder.

Sturm kam auf, und gleichzeitig er­hob sich auch das bis dahin so spie­gelglatte Meer.

7.

Amos Toolan auf der „Explorer", hatte seine Seele Gott befohlen und sah vom Achterdeck aus zu, wie die Front heranraste. Die Männer, die ne­ben ihm standen, hatten verkniffene und verbissene Gesichter. Er sah sie kaum. Der Regen nahm ihnen die Sicht. Nur wenn ein Blitz den Him­mel zerfetzte, dann sah er die Gestal­

ten lilafarben aufleuchten und er­kannte die gespenstisch-fahlen Ge­sichter.

Ein Donnerschlag erschütterte die „Explorer". Von allen Seiten zugleich fauchte es plötzlich heran. Die Ga­leone erhielt einen Stoß wie von der Faust eines Riesen und krängte hart über.

Als sie in die See zurückfiel, hob sich übergangslos das Heck steil in die Höhe. Ein weiter dumpfer Schlag folgte, noch heftiger als der erste.

Vom Vorschiff drangen Schreie herauf. Toolan hielt die Augen ge­schlossen und betete mit zuckenden Lippen.

Eine gellende Frauenstimme riß ihn aus seinen inneren Betrachtun­gen. Er sah undeutlich einen Schatten über das Deck hasten. Der Schatten hatte die Arme ausgebreitet und kreischte wild. Im Zucken des Blitzes erkannte Toolan eine Frau mit auf­gelösten Haaren.

„Kehr um, du Gotteslästerer!" keifte sie. „Wir wollen nach England zurück und nicht in die Hölle. Die Welt ist hier zu Ende. Wir wollen so­fort umkehren. Du führst Gott in Ver­suchung."

„Wir können nicht mehr umkeh­ren!" schrie Toolan, doch ein greller Blitz und der sofort folgende Donner rissen ihm die Worte von den Lippen.

„Geh wieder nach vorn unter Deck und halt die Schotten dicht, sonst sind wir alle verloren."

„Mörder!" kreischte sie. „Du bringst uns alle um! Der Satan ist an Bord!"

Offenbar war die Frau vor Angst verrückt geworden. Sie gebärdete sich wie toll und schüttelte drohend die Fäuste. Nach dem zweiten Blitzschlag war sie ganz plötzlich ver­schwunden

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Toolan konnte sich nicht mehr um sie kümmern, denn ein gewaltiger Brecher rollte aus dem Grau heran. Er donnerte gegen die Bordwand und drückte das Schiff auf die Seite. Ein unglaublicher Wasserschwall fegte über alle Decks. Das Meer schäumte und brodelte bis hinauf zum Achter­deck. Hunderte von Tonnen Wasser stemmten sich gegen das Holz.

Toolan verlor den Halt und griff nach einem der Strecktaue. Seine Bei­ne wurden von wilden Gewalten da-vongerissen, und er klammerte sich verzweifelt an den Tauen fest. Es dauerte sehr lange, bis das Wasser wieder ablief.

Im Vorschiff wurde das Geschrei lauter und durchdringender. Es war deutlich zu hören. Offenbar hatte die wildgewordene Frau das Schott offen gelassen.

Toolan schickte einen seiner Offi­ziere nach vorn. Der Mann hangelte sich an den Tauen über Deck und ver­schwand für lange Zeit unter einem erneuten Brecher, der donnernd über der Galeone zusammenschlug. Sie krängte noch härter über.

Dann erstarb das wilde Schreien und war nur noch gedämpft zu hören. Das Schott war zugeknallt, nachdem eine Menge Wasser in die Räume ge­drungen war.

Der Zweite Offizier kämpfte sich mühsam aufs Achterdeck zurück. Von der Frau hatte er nichts mehr ge­sehen. Vermutlich war sie doch über Bord gegangen.

Es blieb keine Zeit mehr, das nach­zuprüfen. Wenn sie über Bord gegan­gen war, konnte ihr keiner mehr hel­fen, denn die Sicht war gleich Null. Außerdem kochte und brodelte das Meer jetzt, und die Wellen wurden immer höher.

Im Vorschiff brach bei dem uner­

wartet starken Seegang eine Panik aus. Beim nächsten Brecher fielen die Leute schreiend und hilflos durchein­ander. Es gab die ersten Verletzun­gen.

Niemand konnte ihnen helfen. Je­der hatte mit sich selbst genug zu tun und kämpfte ums Überleben.

Das größte Pech hatte gleich bei Ausbruch des Sturmes die Galeone „Pilgrim" unter James Drinkwater.

Der Regen trommelte noch hart auf die Planken, und ein gewaltiger Blitz erhellte die Dunkelheit, als Drinkwa­ter etwas sah, das ihm für Augen­blicke den Atem nahm.

Er befand sich mit seiner Galeone wesentlich weiter von der Schebecke entfernt als die beiden anderen Schiffe. Aber er hatte unerklärlicher­weise bessere Sicht. Er konnte wie durch eine schmale Gasse etwa eine halbe Meile voraus blicken. Dort reg­nete es nur ganz schwach, während sich die schweren Schauer nach links und rechts verteilten.

Er hatte das Phänomen schon ein­mal vor Jahren erlebt. Da hatte es wie verrückt auf seinen ausgestreckten Arm geregnet, und doch blieb sein Kopf von den Wassermassen ver­schont. Es war eine klare Linie gewe­sen.

„Oh, mein Gott", sagte er leise, aber doch so, daß sein Erster Offizier Gra­ham Lilley ihn verstehen konnte.

„Was gibt es, Sir?" „Ei - eine Riesenwelle, ein Ka-

ventsmann", ächzte Drinkwater. „Sie rast genau auf uns zu."

Lilley fuhr fassungslos herum. Noch hatte der Sturm nicht richtig zugelangt, und er wunderte sich, daß Drinkwater so erschrocken war. Sie

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befanden sich erst in den kleinsten Ausläufern des Windes.

Als er jetzt in die angegebene Rich­tung sah, wurde ihm sehr mulmig zu­mute. Mit einer hastigen Bewegung wischte er sich über die Augen, um das alptraumähnliche Gebilde zu ver­scheuchen.

Es nutzte nichts, der Kaventsmann raste heran, vermutlich entstanden aus einer Kreuzsee.

„Gott steh uns bei", murmelte er. Das Meer hatte sich in einer flie­

ßenden Bewegung erhoben, als sei ein unterseeisches Beben ausgebro­chen. Ganz weit entfernt war ein Fau­chen und Grollen zu hören. Eine stark in sich selbst gekrümmte riesige Mau­er mit einem noch spiegelglatten Kamm toste heran. In dem gewölbten Hohlraum zischte und brauste es. Der Kamm schwoll beträchtlich an und jetzt erschien ein feiner weißer Strei­fen ganz oben.

Das Ungetüm trieb mit pfeifenden Geräuschen die Luft vor sich her, die von der Gewalt zusammengepreßt wurde. Der Kaventsmann war nicht sehr breit, aber er hatte eine schwin­delerregende Höhe, die immer stär­ker zuzunehmen schien. Das Unge­tüm würde seine verheerende Wir­kung bald verlieren, aber nicht, bevor es die Galeone überrannt hatte.

„Runter vom Deck!" brüllte Drink-water wild. „Hinüber nach Steuer­bord hinter die Aufbauten! Hier oben können wir uns nicht halten!"

Ein Kapitän darf seinen Posten während eines Sturmes nicht verlas­sen, hämmerte es in seinem Schädel. Er hatte gefälligst auf dem Achter­deck zu bleiben, wo er hingehörte.

Jetzt traf das allerdings nicht mehr zu, denn wenn er oben an Deck blieb, würde er sich Sekunden später auf Nimmerwiedersehen außenbords

wiederfinden. Kein Mensch hätte die­ser elementaren Wucht trotzen kön­nen, ohne zerschmettert zu werden.

Sie enterten blitzschnell über den Niedergang ab und verfingen sich da­bei fast in den gespannten Tauen.

James Drinkwater warf noch einen letzten Blick auf den entfesselten Ka­ventsmann, ehe er im Gang an Steuerbord verschwand.

Das monströse Gebilde benahm sich wie ein urweltliches Ungeheuer. Es walzte brüllend und tosend heran. Drinkwater mußte hochblicken, um den Kamm sehen zu können, der jetzt weißgekrönt war und wild gischtete.

Der unheimlich starke Sog packte die Galeone und zog sie wie in einer unterseeischen Strömung an den Ka­ventsmann heran. Im Atlantik schien sich ein riesiges Loch auf getan zu ha­ben. Er glaubte, einen trichterförmi­gen Sog zu sehen, aus dem die Welle entstand.

Das Heulen, Jammern und Klagen überlagerte jetzt jedes andere Ge­räusch. Das Brausen tat in den Ohren weh und preßte ihm die Luft aus der Lunge.

Die drei anderen Männer hatten sich im Gang auf die Planken gewor­fen und hielten instinktiv die Luft an. Mit Händen und Füßen verkeilten sie sich in den Tauen und hielten sich krampfhaft fest.

Dann erfolgte der donnernde Schlag. Die Welt schien unterzuge­hen.

Riesenhämmer schlugen mit furchtbarer Gewalt auf die „Pilgrim" ein. Kräfte hoben das Schiff an und schleuderten es wie einen Spielball über das Meer.

Da war nur noch Wasser, nichts als Wasser, das sie erdrückte, zerschlug, erstickte. Die Galeone wurde unterge­mangelt. Segel zerfetzten, Holz split-

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terte. Der Schiffskörper dröhnte und krachte.

Ein kurzer heftiger Nachläufer ver­setzte der „Pilgrim" den nächsten Hieb, um das tödliche Werk zu voll­enden. Doch da war sie schon stark angeschlagen.

Als Drinkwater wieder atmen konnte, spürte er jeden Knochen im Leib. Seine Lungen brannten vom Salzwasser, das er geschluckt und eingeatmet hatte. Seine Haut war zer­schunden. Von der Stirn lief ihm Blut über das Gesicht. Seine Offiziere sa­hen nicht besser aus, aber sie lebten.

Drinkwater wollte sich erheben, rutschte aber gleich wieder aus und fand nur sehr mühsam Halt.

„Wir - wir sind nicht untergegan­gen", murmelte er fassungslos. „Wir schwimmen noch."

Ja, die „Pilgrim" schwamm noch, allerdings mehr wie eine Was­serleiche.

Sie lag auf der Seite und wurde von der nächsten Welle träge angehoben. Die Rahnocken schleiften durch das Wasser, sie drehte sich langsam um ihre Achse.

Die Sturmsegel waren verschwun­den, ebenso eine Rah und drei Spie­ren.

Zwei Schotten waren eingedrückt worden. Die Kombüse stand unter Wasser, und im Laderaum gab es ei­nen weiteren Wassereinbruch.

Der Regen peitschte ihnen immer noch hart in die Gesichter. Der Sturm heulte dazu sein bösartiges Lied.

„Nach vorn, wir müssen nach vorn", japste Drinkwater. „Die Leute . . . "

Ein schäumender Wasserberg über­rannte sie. Er rollte von der anderen Seite heran und richtete die Galeone ein wenig auf. Das Schiff wankte und zitterte. Überall ächzte und knarrte

das Holz unter der gnadenlosen Bean­spruchung.

Sie kämpften sich qualvoll nach vorn, hingen in den Tauen, hielten die Luft an, wenn der nächste Wellen­berg sie überrannte, und erreichten endlich die vorderen Räume.

Geschrei und das Stöhnen Verletz­ter waren zu hören. Kinder wimmer­ten oder schrien. Ein Baby plärrte un­aufhörlich. Dort unten war die Hölle los.

Die Bilanz war erschreckend. Etli­che Pilger hatten Arm- oder Bein­brüche davongetragen. Andere hat­ten Blutergüsse, Verletzungen, Stau­chungen oder Prellungen. Drei Leute waren bewußtlos.

Das bißchen Mobilar war kurz und kleingeschlagen worden, Schapps aufgerissen, Türen aus den Angeln geschlagen, und in dem großen Raum stand überall Wasser.

Die „Pilgrim" hatte immer noch Schlagseite.

James Drinkwater sah sich hilf­losen, aber auch aggressiven Leuten gegenüber, die energisch die Rück­kehr nach England forderten. Sie wollten heim, zurück, und nicht elend ersaufen.

Der Sturm wütete weiter und wuchs sich langsam zu einem Orkan aus, der mit allesvernichtender Ge­walt über den Atlantik tobte.

Drinkwater tat alles, um Schiff und Leute zu retten. Aber es war herzlich wenig, was er tun konnte.

Sir William Godfrey, Alec Morris und der in England hochverschuldete Frank Davenport hatten sich in ihre Kammer verholt, als die Schebecke auf den Wellen zu tanzen begann.

Die drei Kerle waren ziemlich ver-

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stört. Sie hockten auf ihren Kojen und lauschten den vielfältigen Geräu­schen, dem Trommeln des Regens, dem Heulen des Sturmes und dem Krachen des Donners.

„Ich glaube, ich werde krank", sagte Morris. Seine Großkotzigkeit war ihm vergangen. Er sah bleich aus und hatte fürchterliche Angst. „Ob so ein kleines Schiff einen Sturm aus­hält? Was ist, wenn wir untergehen?"

Sir William, der Älteste der drei Hochwohlgeborenen, ertränkte sei­nen Kummer in Rotwein. Auch sein Gesicht war blaß bis auf die Nase, die in der gleichen Farbe wie der Wein schimmerte. Die bläulichen Adern in seinem Gesicht zeichneten sich scharf von der blassen Haut ab.

„Wenn wir untergehen", verkün­dete er, „dann steigen wir einfach in die Boote und segeln davon."

„Es gibt aber nur noch ein Boot", sagte Morris kläglich, der von der Seefahrt genausowenig Ahnung hatte wie die beiden anderen. Sie stellten sich alles weitere recht ein­fach vor, falls die Schebecke unterge­hen sollte.

„Das Boot säuft dann erst recht ab", sage Davenport. „Wenn sich schon so ein Schiff nicht halten kann, dann ist es bei einem kleinen Boot noch viel schlimmer. Glaube ich je­denfalls", setzte er hinzu.

Alec Morris rülpste laut und er­schreckt, als sich die Schebecke ab­rupt zur Seite neigte und er und die, anderen hart in die Kojen flogen.

„Oh, du lieber Gott", stöhnte er, „jetzt ist es aus."

Der einzige, der noch einigermaßen einen kühlen Kopf behielt, war Frank Davenport.

„So schnell geht das nicht." Er duckte sich trotzdem, als ein harter Brecher über das Deck donnerte und

ein gewaltiges Krachen zu hören war. „Wir müssen uns ablenken, dann denkt man nicht daran."

„Und wie?" fragte Sir William wei­nerlich. „Sollen wir bei dem Sturm vielleicht würfeln? Da besauf ich mich lieber und schlafe in aller Ruhe meinen Rausch aus. He, was haltet ihr davon? Wir begießen uns die Nasen, bis nichts mehr reingeht. Dann pennen wir ein paar Stunden, und wenn wir erwachen, ist alles vorbei."

„Mir ist so schlecht, ich mag nicht saufen", murmelte Morris verzagt.

„Wir haben aber ein Versprechen gegeben", sagte Davenport. „Ob dir schlecht ist oder nicht, wir müssen Robert Granville befreien. Der ist viel beschissener dran als wir in dem engen Loch. Und er wird sich alle Knochen brechen, wenn wir ihm nicht helfen."

Die beiden anderen blickten sich ängstlich an.

„Stimmt, das haben wir verspro­chen. Aber bei dem Wetter kann niemand an Deck gehen. Wir werden naß bis auf die Haut."

Alec Morris hatte wegen des leicht­sinnig gegebenen Versprechens jetzt mächtigen Bammel. Mit Worten konnte er jede Heldentat vollbringen, aber wenn man dabei gar naß wurde oder selbst in Gefahr geriet, dann sah alles ganz anders aus.

„Es kann nichts passieren", sagte Davenport eindringlich. „Wir brau­chen nur in den schmalen Gang im Laderaum zu kriechen, und schon sind wir vor der Piek. Das Schott ist nicht durch ein Schloß gesichert. Wir müssen nur einmal kurz an Deck auftauchen. Wenn uns einer der Kerle sieht, dann meint er, wir peilen nur mal die Lage. Robert kann in einem günstigen Augenblick über

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Bord springen und die Karavelle er­reichen."

Der Vorschlag war so dilettantisch und dämlich, daß ihn jemand, der et­was von der Seefahrt verstand, ganz sicher nicht ausgeführt hätte. Aber die drei Tröpfe waren Landratten, de­nen die See völlig fremd war. Mit dem Element Wasser konnten sie ab­solut nichts anfangen.

„Ich kann nicht mit", jammerte Morris. „Ich bin sterbenskrank und weiß nicht, ob ich jemals lebend da drüben ankomme. Aber ich werde aufpassen, damit man euch nicht sieht."

Das war genauso ein Blödsinn. Aber schließlich nickten Sir William und Davenport unschlüssig.

„Na gut, dann warten wir noch eine Weile."

Die ängstlichen Gentlemen hockten in ihren Kojen und lauschten dem er­barmungslosen Toben und Heulen, das immer lauter anschwoll. Das Pfeifen über ihren Köpfen war uner­träglich geworden. Die Schebecke reckte den Bug steil nach oben und donnerte im nächsten Augenblick in ein tiefes Wellental. Dann war jedes­mal ein hohles Brausen zu hören, wenn sich der Atlantik schäumend über die Decks ergoß. Es gab auch im­mer einen gewaltigen Stoß, der sie von einer Ecke der Koje in die andere schleuderte.

Sir William nuckelte seinen Rot­wein aus, preßte die Buddel eine Weile mit beiden Händen gegen seine Brust und warf sie schließlich auf den Boden.

Um sich abzulenken, sahen sie der Flasche nach, die quer durch die Kammer flog und jedesmal ein schep­perndes Geräusch verursachte.

Alec Morris hatte sich in die hinter­ste Ecke seiner Koje verkrochen, das

Genick eingezogen und die Beine an die Seitenwände gestemmt. Die Hände hatte er gefaltet, und er betete mit zuckenden Lippen, aber so leise, daß die anderen es nicht hörten.

In seinem Gebet beweihräucherte er sich selbst und klagte dem lieben Gott, daß er doch ein ehrlicher Kerl sei, der so ein hartes Schicksal nicht verdient habe, und der Herr möge ihn doch, bitte sehr, verschonen und sich lieber mal um die Banausen küm­mern, die nur Schlechtes im Sinn hät­ten. Wenn von denen ein paar absau­fen würden, könne es gar nicht scha­den.

Außerdem, so schloß er, sei auch Sir William viel älter, und den würde früher oder später ohnehin der Teu­fel holen. Vielleicht könne man da ein bißchen tauschen!

Solche krausen Gedanken ver­traute Alec Morris dem Herrn an, und der Herr mußte wohl ein Einsehen ha­ben, denn er verschonte den dümmli­chen Tropf vorerst.

Der Sturm wuchs sich aus. Die La­terne, die von einem Decksbalken in der Kammer hing, schaukelte so hef­tig von einer Seite zur anderen, daß Davenport vorschlug, sie zu löschen, damit sie nicht zersprang.

Davon wollte Alec Morris jedoch nichts wissen.

„Der Sturm ist schon schlimm ge­nug", jammerte er, „aber wenn es jetzt noch dunkel ist, wird alles nur schlimmer. Ihr solltet euch jetzt lie­ber um Robert kümmern. Schließlich haben wir ihm versprochen, zu hel­fen. Ihr hockt aber nur da und stiert die Buddel an."

Morris selbst war weit davon ent­fernt, sich an der „Hilfsaktion" zu be­teiligen. Er ließ die anderen agieren und wartete lieber ab. „Bringt ihn aber ja nicht nach unten", sagte er

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eindringlich. „Wenn die Kerle das merken, dann haben wir nichts mehr zu lachen. Die reißen uns die Köpfe ab."

„Dann bringen wir es hinter uns", sagte Davenport, „bevor der Sturm noch schlimmer wird. Man kann sich ja jetzt schon nur noch auf allen vie­ren bewegen."

Sie krochen aus ihren Kojen und konnten sich kaum auf den Beinen halten. Das Schiff torkelte von einer Seite zur anderen, tauchte tief unter, rollte, stampfte und schlingerte. Sie hörten das Holz knirschen und äch­zen.

Morris blieb in der Koje liegen und sah ihnen nach, wie sie mühsam das Schott öffneten. Er gab ihnen auch noch gute Ratschläge, wie sie sich verhalten sollten.

Sir William war leicht angetrun­ken, aber wenn er sich einen hinter die Binde gekippt hatte, war er ein Held. Das glaubte er jedenfalls von sich selbst. Dann gab es für ihn keine Probleme und nichts, das er nicht in einem heroischen Alleingang bewälti­gen konnte.

„Die Retter nahen", murmelte er. „Harre aus, o Freund aller Freunde. Wir setzen unser Leben für dich aufs Spiel."

Morris fand, daß sich das sehr gut anhörte und zählte sich auch zu den Rettern. Er bequemte sich sogar aus der Koje und spähte in einem Anflug von verwegenem Mut durch den Gang. Aber dann stieß er sich beim nächsten Überholen den Kopf am Schottbalken und torkelte als ge­knickter Held kläglich zu seiner Koje zurück.

Davenport und Sir William kro­chen durch den Gang und holten sich Beulen und blaue Flecken.

Alle beiden war schlecht, als sie die

Mitte des Schiffes erreicht hatten. Hier waren Fässer festgezurrt, Ki­sten, Ballen und Vorräte an Stock­fisch, Mehl und Öl. Auch große Fäs­ser mit Trinkwasser waren dabei.

In diesen Räumen war es am schlimmsten. Sie hatten das Gefühl, direkt in den Atlantik zu stürzen, denn bei jedem harten Aufsetzer hörte es sich an, als zerberste der Rumpf der Schebecke.

Dann erreichten sie den Nieder­gang, der an Deck führte.

Sir William stieß das Schott auf. Er mußte alle Kräfte aufbieten, weil der Sturm dagegendrückte. Als er es eine Handbreit offen hatte, donnerte Was­ser herein und urweltliche Kräfte hie­ben das Schott mit einem wilden Knall wieder zu. Beide wurden bis auf die Haut durchnäßt und blieben erschöpft vor dem Schott stehen. Die Hände hatten sie um den eisernen Knauf gepreßt.

Der nächste Versuch gelang, ob­wohl sie sich kaum noch auf den Bei­nen halten konnten. Sie stemmten sich gegen das Schott und öffneten es mit gemeinsamen Kräften.

Dann standen sie an Deck, nur noch ein wenig durch den Aufbau des Vor­schiffes geschützt.

Der Regen fiel so dicht, daß sie nicht einmal die Masten sahen. Er peitschte ihnen mit höllischer Gewalt in die Gesichter. Hier oben war die Hölle los. Das Meer bestand aus ei­nem gewaltigen brodelnden Kessel. Schaumfetzen jagten durch die Luft, und ein Brecher nach dem anderen überrannte das Schiff.

Davenport sah ein, daß es sinnlos war, Granville jetzt zu befreien, denn weit und breit war kein anderes Schiff zu sehen. Da war nur tosende, brüllende und kochende See.

Er schrie Sir William was ins Ohr,

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das es unsinnig sei, aber der adelige Saufkopf verstand in dem Dröhnen und Zischen kein Wort.

Als die Schebecke tief eintauchte, landeten beide am nächsten Schott und zwängten sich hinein. Ein riesi­ger Schwall Wasser begleitete sie.

Der schmale Gang zur Vorpiek lag vor ihnen. Er tanzte auf und nieder. Kein Mensch war hier zu sehen. Da­venport vermutete, daß sich die mei­sten Arwenacks im Logis aufhielten, dem Forecastle, das auf der anderen Seite lag. Es war unwahrscheinlich, daß jetzt jemand hier auftauchte.

Das Schott zur Vorpiek war nur verriegelt. Sir William öffnete es, während Davenport in dem dunklen Gang nervös nach achtern peilte.

„Bist du da drin, Robert?" fragte Sir William heiser.

Hier unten schienen tausend Teufel zu klopfen und zu hämmern. Es war so finster, daß er nicht die Hand vor Augen sah. Die Brecher donnerten mit aller Kraft gegen das Schiff und ließen die Planken zittern. Da war auch ein Gurgeln von Wasser zu hö­ren, das innen an die Wände klatschte.

„Natürlich bin ich hier!" rief Gran­ville aus der Finsternis. „Ihr müßt euch nach links halten."

Tastend und fluchend bewegten sie sich weiter und mußten bei den wil­den Bewegungen immer wieder Halt suchen.

Nach einer endlosen Ewigkeit hat­ten sie die Gestalt erreicht.

„Ich bin angebunden!" schrie Gran­ville. „Die Hunde haben mich festge­zurrt. Ihr müßt erst die Knoten öff­nen."

Die Knoten waren kaum zu erta­sten. Granville lag auf einer Gräting, durch die pausenlos Wasser schwappte.

Sie schnitten die Leinen durch, die seinen Körper an die Gräting fessel­ten. Granville flog quer durch die Piek, als er sich erhob.

„Du bist jetzt frei!" rief Sir Wil­liam. „Warte aber noch eine Weile, bis die Gelegenheit günstig ist. An Deck ist der Teufel los. Wir gehen wieder zurück, damit die anderen nichts merken."

Granville hielt es für überflüssig, sich zu bedanken. Er war frei, aber er konnte mit der Freiheit im Augen­blick nicht viel anfangen. Gemein­sam tasteten sie sich zum Schott zu­rück. Granville blieb stehen und war­tete, bis die beiden verschwunden wa­ren. Für einen winzigen Augenblick fiel Dämmerlicht in den Gang.

Er atmete laut und schnell. Er konnte sich kaum auf den Beinen hal­ten. Daran war zum Teil der wilde Seegang schuld, aber auch seine eige­nen Knochen, die zerschunden und kaputt waren. Jeder Muskel schmerzte höllisch. Er hatte am gan­zen Körper grüne und blaue Flecken. Taumelnd hielt er sich fest.

Er wartete eine halbe Stunde, wäh­rend der Sturm heulte und pfiff. Na­türlich konnte er überhaupt nichts unternehmen, aber er wollte wenig­stens einmal die Lage peilen. Viel­leicht war es oben nicht ganz so schlimm wie hier in der bedrücken­den Enge.

Er war frei und doch nicht frei -eine idiotische Situation. Aber er rechnete sich eine kleine Chance aus, wenn sich die See etwas beruhigt hatte.

Nach einer Weile öffnete er das Schott und duckte sich, als ihm der Sturm um die Ohren pfiff und eine Ladung Seewasser in sein Gesicht klatschte, daß es ihm den Atem nahm.

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Dann stand er taumelnd und wan­kend an Deck. Er sah so gut wie gar nichts, außer haushohen Wellenber­gen, die bis zum Himmel reichten. Ein brüllendes und tobendes Chaos war um ihn herum.

Er drehte sich um und blickte nach vorn. Da rannte ein Brecher heran, vor dem er unwillkürlich in Deckung ging. Der Sturm trieb ihn hart an den Niedergang. Ein explosionsartiger Knall verkündete ihm, daß das Schott zugeflogen war. Irritiert griff er nach einem über Deck gespannten Tau, doch er erreichte es nicht mehr.

Die Schebecke bohrte sich mit ur­weltlichem Getöse in die See. Es krachte laut, und dann schlug die schäumende Welle über ihr zusam­men.

Robert Granville wurde wie ein Bündel Lumpen über das Deck ge­schleudert. Sein Körper krachte an den Mast, ein wilder Schmerz durch­zuckte ihn. Er hatte sich den Arm ge­brochen und begann zu schreien, als ihn die Wassermassen zu ersticken drohten.

Sein wilder Schrei erstickte in ei­nem Gurgeln. Mit der einen Hand griff er um sich, doch da war nur noch Wasser, eine ganze Welt aus Wasser.

Die zweite Welle hob ihn hoch und wischte ihn wild aufschäumend hoch über die Verschanzung der Sche­becke. Sekunden später war er in der kochenden See verschwunden.

Das Letzte, was der ehemalige kor­rupte Kapitän der „Discoverer" sah, war der Schatten des Schiffes, ein flüchtiger Schemen. Dann war er in der brüllenden Hölle allein.

Er schrie laut und gellend und wußte doch, daß ihm niemand mehr helfen konnte. Er hatte sich selbst ei­nen schlechten Dienst erwiesen, als er das Deck betreten hatte.

Von wahnsinniger Angst gepackt, schrie er weiter. Eine brüllende Woge nahm ihn auf und trug ihn fort. Er geriet unter Wasser, eine zweite Welle begrub ihn und schleuderte ihn in einen finsteren Abgrund, in dem es keine Luft mehr gab. Er sah und hörte nichts mehr, schoß noch einmal hoch und verschwand dann in einem Wellental auf Nimmerwiedersehen. Dort ertrank er und sank in die bo­denlose Tiefe.

8.

„Das war ein Schrei", sagte Hasard. „Er hat sich mehrmals wiederholt. Ich habe es deutlich gehört."

Er mußte laut brüllen, um verstan­den zu werden. Auf dem Achterdeck hielten sich Hasard, Ben, Carberry und Don Juan auf. Alle anderen hatte der Seewolf nach unten geschickt. Sie konnten an Deck nichts tun.

Der heulende Sturm fetzte ihm die Worte von den Lippen. Die Sche­becke donnerte in ein Wellental und versank fast ganz darin. In einem bro­delnden Trichter aus Schaum kam sie in bedrohlicher Schräglage nach oben.

Der Brecher nahm ihnen die Luft und ließ sie stöhnen. Sie alle hatten sich angeleint und kämpften darum, das Schiff über Wasser zu halten.

Die Schebecke lenzte schon seit ei­ner Stunde vor Topp und Takel. Sie trieb ohne jedes Segel dahin, nicht beigedreht, sondern vor dem Wind lenzend. Achtern hingen ein Treiban­ker, zwei große Spieren und ein paar lange Trossen, die sie nachschlepp­ten. So war der Gefahr des Querschla-gens am besten begegnet. Trotzdem drohte die Schebecke jeden Augen­blick zu kentern.

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Carberry und Don Juan hatten den sich mehrmals wiederholenden Schrei ebenfalls gehört. Dann hatte er abrupt aufgehört.

„Da ist jemand über Bord gegan­gen!" rief Carberry wild. „Ich werde sofort nachsehen."

„Hat keinen Zweck!" schrie Hasard gepreßt. „Du gelangst nicht einmal bis nach vorn und gehst selbst über Bord, auch wenn du dir hundertmal Gewißheit verschaffen willst. Es ist zu spät."

„Ich bleibe an der Leine." Der Pro-fos wartete keine Antwort ab. Er stemmte sich fest gegen das Deck und knotete eine längere Leine um seinen Körper. Jetzt hatte er einen Spiel­raum von fast dreißig Yards.

Es dauerte lange, bis er das Vor­schiff erreichte. Klatschnaß sah er die Kerle an, die es sich den Umstän­den entsprechend „gemütlich" ge­macht hatten. Sie lagen verkeilt und verschalkt in den Kojen.

Keiner hatte einen Schrei gehört. Alle waren da. Niemand fehlte, wie der Profos zu seiner grenzenlosen Er­leichterung feststellte.

Mit grimmigem, aber doch erleich­tertem Gesicht törnte er weiter zur Kammer der drei Adelströpfe und riß das Schott auf. Eine Schlingerbewe­gung trieb ihn von allein in die Kam­mer.

Die drei Kerle hatten sich in ihre Kojen verholt und waren blaß. Zwei waren so klatschnaß wie er selbst. Der dritte, Alec Morris, war aller­dings knochentrocken und grinste dämlich vor sich hin. Alle drei wirk­ten jedoch schuldbewußt und senkten gleich die Köpfe.

Bleibt nur noch ein Kerl übrig, der abgekantet ist, überlegte der Profos, und das war das Rübenschwein Gran­ville. Die Kerle hatten ständig mitein­

ander getuschelt und etwas ausge­heckt. Dem Profos ging blitzartig das Licht der Erkenntnis auf.

„Habt ihr durchlauchten Affen­ärsche mir vielleicht etwas mitzutei­len?" brüllte er die drei Helden wild an.

Sie schwiegen verstockt. Erst als Carberry den angetrunkenen Sir Wil­liam mit einem wilden Ruck aus der Koje riß, hob der entsetzt die Hände vors Gesicht. Dem Profos wehte eine beneidenswerte Weinfahne entgegen.

„Was habt ihr getan?" schrie er und quetschte ein bißchen. „In der Vor­piek rumgeschnüffelt, was, wie? Den ehrenwerten Kapitän losgebunden? Rede, Kerl, sonst dresch ich dich durch die Planken."

„Wir - wir haben ihn losgebun­den", wimmerte Sir William kläglich. „Er mußte so leiden, und da dachten wi r . . . "

„Also doch", schnaubte Carberry. Er stieß den Sir so hart von sich, daß der in der Koje landete und einen lau­ten Schrei ausstieß, als er mit dem Kopf gegen einen Balken knallte. „Da habt ihr feine Arbeit geleistet, ihr verdammten Idioten. Euer ehrenwer­ter Kapitän ist abgekantet und treibt jetzt irgendwo im Meer. Er wird wie eine Ratte ersaufen, denn da draußen kocht es."

Davenport und Morris wurden bleich. Davenports Nase stach spitz aus dem Gesicht hervor.

„Dann - dann müßt ihr beidrehen und ihn auffischen", maulte er. „Sonst ertrinkt Robert wirklich."

„Du dreimal kalfaterter Blödian!" brüllte der Profos. „Du Nachttopf Seg­ler hast doch überhaupt keine Ahnung, was sich da draußen ab­spielt. Das habt ihr fabelhaft ange­stellt. Dafür erhält später jeder einen Orden."

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„Ich wußte doch nicht.. .", jam­merte Sir William.

Carberry zog ihn noch einmal an seiner durchlauchten Säufernase aus der Koje und stieß ihn wieder zurück. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, knallte er das Schott zu und arbeitete sich an Deck zurück.

Auf den Besuch in der Vorpiek konnte er verzichten. Er wußte auch so, was vorgefallen war. Granville war an Deck gestiegen, von einem Brecher gepackt und über Bord ge­schwemmt worden.

„Granville ist über Bord gegan­gen", sagte Carberry. „Die Idioten ha­ben ihn aus der Piek befreit, weil er angeblich so leiden mußte. Jetzt hat er mit Sicherheit ausgelitten. Sie ha­ben es zugegeben."

Hasard wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. Erst wollte er aufbrau­sen, doch dann winkte er ab.

„Dann hat er Pech gehabt", sagte er hart. „Wir können nichts für ihn tun, gar nichts. Er hat sich sein Schicksal selbst zuzuschreiben. Wer bei diesem Orkan über Bord geht, ist hoffnungs­los verloren."

„Die Welt hat an diesem Bastard nicht viel verloren", sagte Don Juan. „Ich glaube nicht, daß ihm jemand eine Träne nachweint. Mitleid ist hier falsch am Platze."

„Die drei durchlauchten Säcke sollte man gleich hinterherfeuern", sagte der Profos. „Dann kehrte end­lich mal Ruhe ein. Diese Kerle haben uns nichts als Ärger und Verdruß be­reitet."

„Wir sind sie bald los", entgegnete Hasard. Damit war für ihn der Fall Robert Granville erledigt und abge­hakt. Wer so dämlich war, bei diesem Wetter an Deck herumzuturnen - ein Kapitän auch noch -, dem war nicht

mehr zu helfen, der hatte sich sein Unglück selbst zuzuschreiben.

Hasard versuchte, Regen, Schaum und Wasser mit den Augen zu durch­dringen, in der Hoffnung, irgendwo wenigstens eins der anderen Schiffe zu sehen. Doch alle Mühe war vergeb­lich. Sie sahen weder den Horizont, noch eine andere Galeone. Auch die Karavelle war verschwunden.

Nur die riesigen Wellenberge rann­ten gegen sie an, und sie selbst waren zur Untätigkeit verdammt. Sie muß­ten froh sein, daß sie sich überhaupt noch auf dem Wasser halten konnten.

Der Seewolf hoffte nur, daß auch die anderen den Orkan einigermaßen heil überstehen würden. Und er dachte an die Kinder und Frauen.

Aber er irrte sich diesmal. Der At­lantik schlug gnadenlos zu.

Auf der „Discoverer" war längst eine Panik ausgebrochen.

Riesige Brecher, so groß wie sie Harris noch nie gesehen hatte, über­rollten das Schiff fast pausenlos und drückten es immer wieder unter Was­ser.

Die achtern, ausgehängten Trossen und Spieren hatte die See im ersten groben Anlauf zerfetzt und ver­schlungen. Vom Besan war die Stenge mit Donnergetöse niederge­kracht und hatte um ein Haar einen Mann getroffen. Die Sturmsegel wa­ren zerfetzt. An Deck sah es schlimm aus.

Unter Deck war es noch schlimmer. Keiner der Auswanderer konnte sich den wilden Bewegungen anpassen. Etliche Leute flogen schreiend aus ih­ren Kojen und landeten hart auf den Dielen. Eine der Kojen war aus der Wand gebrochen. Die Trümmer wir-

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belten durcheinander. Auch der ver­bolzte Tisch hatte sich aus der Veran­kerung gerissen und flog von einer Seite zur anderen.

Barry Wister wußte genau, daß jetzt das Ende bevorstand. Seine Alp­träume waren Wirklichkeit gewor­den, schreckliche Wirklichkeit, wie sie sich immer angekündigt hatte.

Heftige Schläge erschütterten die Galeone, die von Wind und Wellen ge­schüttelt wurde. Die Planken knack­ten an allen Enden und Ecken.

Ein fürchterlicher Hieb wie von ei­nem Hammerwerk traf das Schiff und drückte es unter Wasser.

Weiter oben zersprang mit einem grellen Bersten das Schott. Kübel­weise drang aus einem Spalt hinter einer der Kojen Wasser ein.

Als das Schott zertrümmert wurde, ging ein wilder Aufschrei durch die Siedler. Holzteile wurden über Bord gewaschen. Ein brausender Was­serberg bahnte sich seinen Weg nach unten und fauchte brüllend herein.

Die Schreie wurden noch lauter, als sich der Boden schlagartig mit Was­ser füllte.

Ein paar beteten in ihrer Not schreiend so laut, daß die anderen vor Entsetzen wie gelähmt waren.

Ein Kind taumelte in der Brühe umher. Eine kreischende Mutter ver­suchte, es wieder zu fassen, doch es entglitt ihr immer wieder und wurde hin und her geschleudert.

Die Menschen bereiteten sich auf das Ende vor.

Wister, Fletcher und noch zwei Männer ergriffen Teile des Tisches und umherschwimmende Bretter. Sie versuchten, das Schott wenigstens so provisorisch abzudichten, daß nicht ständig die Brecher einfielen.

Es war ein Versuch, der aus der Verzweiflung und Angst geboren war

und kläglich scheiterte. Sie hatten kein Werkzeug, keine Nägel, nichts außer ihren Händen, und damit konn­ten sie den wilden Atlantik nicht bän­digen.

Wister wurde von dem nächsten Wassereinbruch zurückgeworfen und riß David Fletcher und zwei andere mit sich. Alle stürzten zu Boden und rangen in dem kalten Wasser nach Luft.

Ihre Kinder hatten sich in dem muf­figen und nassen Raum bis in die hintersten Winkel zurückgezogen. Dort klammerten sie sich fest und blickten mit großen starren Augen auf das Chaos, das mit jeder Minute schlimmer wurde.

Aus den weiteren Räumen hörten sie das Schreien der anderen. Was dort passierte, kriegten sie nicht mit.

Durch den ständigen Wasserein­bruch standen sie bald bis zu den Knien in der kalten Brühe. Die Müt­ter hatten ihre Kinder an sich ge­preßt. Die Kinder schrien verzweifelt und schlugen um sich. Der Krach in den überfüllten Räumen war uner­träglich.

Ein weiterer Hieb traf das Schiff -so gewaltig, daß es auf der Stelle ste­henblieb. Dem Donnerschlag folgte ein ohrenbetäubendes Getöse. Holz knirschte und krachte.

„Die Masten!" schrie Fletcher. Er hielt den kleinen Roebuck auf dem Arm und duckte sich unter dem Kra­chen und Bersten.

Der Fockmast zersplitterte. Wan­ten und Pardunen brachen mit einem häßlichen Knirschen. Der Mast schlug auf das Vordeck und zertrüm­merte die Aufbauten. Dämmerlicht war jetzt zu sehen. Durch den Spalt in der Koje floß das Wasser in einem armdicken Strahl und unter ungeheu­rem Druck in den Raum.

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Die Galeone krängte hart über und blieb in dieser Schräglage auf dem Wasser liegen - ein Spielball für die Wellen.

Die Folge der harten Schläge wurde immer kürzer. An etlichen Stellen gab es Wassereinbrüche, als ein paar Planken dem Druck nicht mehr standhielten.

Auf dem Achterdeck sah Harris mit steigendem Entsetzen, wie die Ga­leone buchstäblich abgewrackt wurde. Gerade eben hatte es den Fockmast erwischt. Vorn ragte nur noch ein zerbrochener Stumpf aus dem Deck. Der Mast war zweimal ge­brochen und hing außenbords. Ein Gewirr aus Leinen, Fallen, Schoten und Pardunen hielt ihn noch fest. Die Sturmsegel waren nur noch flat­ternde Fetzen.

Bei dem nächsten hart überkom­menden Brecher wurde der Fockmast zum tödlichen Rammbock. Die See holte wild mit ihm aus und schmet­terte ihn voller Wut an den Rumpf.

Es krachte und knirschte. Durch das Heulen des Sturmes war das Ber­sten von Planken zu hören, das Gur­geln von eindringendem Wasser.

Harris scheuchte seine Leute nach vorn.

„Kappt die Leinen und Taus!" schrie er den Männern zu, die sich bei dem Seegang kaum auf den Beinen halten konnten.

Die Männer hangelten unter Le­bensgefahr nach vorn, um die tödli­chen Fesseln zu kappen.

Harris sah mit Tränen in den Au­gen, wie einer von ihnen von einer mächtigen Woge erfaßt wurde. Er konnte sich nicht mehr halten. Die See riß ihm die Beine weg. Ein paar Augenblicke lang zappelte er schreiend in den gestreckten Tauen. Dann wischte ihn ein Brecher über

Bord. Sein Todesschrei ging im Brau­sen und Heulen unter.

Die anderen Männer hieben um sich. Eine Hand krallten sie in die Strecktaue, mit der anderen schlugen sie mit Beilen und Äxten auf das Gut ein.

„Festhalten!" schrie Harris, als er ein riesiges brüllendes Ungeheuer herantoben sah. Die Welle brach sich ein paar Yards vor der Bordwand und setzte die „Discoverer" völlig un­ter Wasser.

Im Kielschwein knirschte es be­drohlich. Der Großmast wankte und bebte unter dem Anprall. Auch er trug kein Segel mehr.

Harris befürchtete, daß auch er nicht mehr lange den Gewalten stand­hielt.

Die Deckleute hieben immer noch wie wild auf das Gut ein. Da holte der Atlantik zum nächsten mörderischen Schlag gegen die Galeone aus.

Eine Welle hob sie hoch und drehte sie halb um die Achse. Ein weiterer Mann verschwand aufschreiend zwi­schen den Nagelbänken und verfing sich dort. Da blieb er liegen, als das Wasser abfloß. Arme und Beine be­wegten sich wie bei einer Glieder­puppe, als weiteres Wasser ihn von ei­ner Seite zur anderen warf. Er hatte sich das Genick gebrochen. Ein zwei­tes Mal krachte der Vormast in die Planken.

Die „Discoverer" hatte starke Schlagseite und hing todkrank in der See. Von überall wurden starke Was­sereinbrüche gemeldet. Im Tosen der Wassermassen hörte Harris das Schreien der Menschen, die ihr Ende nahen sahen.

Verdammt - und er konnte nicht helfen. Sie würden untergehen, daran führte kein Weg mehr vorbei. Wie konnte er jetzt noch helfen?

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Der Fockmast schwamm endlich frei und verschwand in der kochen­den See. Dann erwischte es den Groß­mast mit der gleichen fürchterlichen Gewalt. Er riß das Deck auf, wirbelte Planken durch die Luft, nahm zwei Nagelbänke mit und sauste über Bord, wobei er das Schanzkleid auf halber Länge total zertrümmerte.

Als nächstes war der Besan dran, und eine halbe Stunde später trieb die „Discoverer" mit starker Schlag­seite und entmastet in der See.

Schreiende Gestalten erschienen an Deck. Sie krochen auf Händen und Knien bei der Schlagseite und droh­ten immer wieder abzurutschen. Sie griffen nach allem, was sie in die Hände kriegten.

Harris sah, daß die beiden Jollen noch heil waren. Sie waren fest an Deck verzurrt und nicht von den stür­zenden Masten zerschlagen worden. Er wußte, daß es heller Wahnsinn war, sie zu Wasser zu bringen, und daß dieser Versuch kläglich scheitern mußte. Aber in der See trieben Ma­sten, Spieren und Grätings. Vielleicht schlugen die Jollen nicht voll und konnten den Leuten wenigstens einen Halt bieten. Er wollte es immerhin versuchen.

Erst jetzt verließ er das Achter­deck. Dort konnte er nichts mehr tun, nur still dastehen und hilflos zuse­hen. Nein, sein Platz war jetzt bei den Menschen, die jede Hilfe brauchten.

Als der nächste Brecher über die Galeone hinwegschäumte, hatte er das Gefühl, als ließe die Kraft der Wogen ein wenig nach. Aber das konnte auch Einbildung sein.

Er arbeitete sich mit einigen ande­ren Männern nach vorn. Dort ergrif­fen sie Tampen und banden die Leute fest. Ihr Schreien war heiser gewor­den, sie hatten keine Hoffnung mehr.

Sie klammerten sich an hervorste­hende geknickte Planken und erwar­teten das Ende.

Die Decks waren jetzt so schräg ge­neigt, daß jeder Schritt zu einem ge­fährlichen Balanceakt wurde. Irgend­wo mittschiffs ging ein Mann, der ei­nen Krampf in den Händen hatte, still über Bord und versank in den Wogen.

Täuschte er sich, oder waren die Wellenberge nicht mehr so hoch? Der Regen pladderte immer noch und trieb ihm fast waagerecht ins Ge­sicht. Aber die wilden Schaumkronen waren tatsächlich kleiner geworden.

Er nahm das Beil und hieb auf die Taue ein, die die Jollen an Deck hiel­ten. Wild schlug er einen Tampen nach dem anderen durch.

Zu seinem Entsetzen sah er, daß die „Discoverer" mit dem Bug ganz all­mählich wegsackte. Das Deck war jetzt mit Menschen regelrecht über­sät und gespickt. Wie kleine Punkte hingen sie an Tampen und Planken.

Eine See riß die erste Jolle mit sich fort. Sie kehrte aber gleich darauf, wie von Geisterhänden bewegt, wie­der zurück.

„Springt in die Jollen!" rief Harris. „Verlaßt das Schiff, es bietet euch keinen Halt mehr! Haltet euch an den Jollen fest!"

Ein paar Menschen sprangen oder ließen sich fallen. Etliche von ihnen verschwanden im Meer, tauchten wie­der auf, griffen nach allem, was sie erwischen konnten. Ein paar andere tauchten nicht mehr auf.

In der einen Jolle hingen sie jetzt wie eine dichte Traube.

Harris sah Wister für einen Augen­blick, der seinen Sohn Jimmy an sich gedrückt hatte. Er sah auch Fletcher, seine Frau und die Kinder. Sie hingen an der Jolle.

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Die zweite Jolle wurde ebenfalls über Bord gewaschen. Menschen sprangen ihr schreiend und brüllend nach.

Ein hallender Schlag ging durch den Rumpf der Galeone. Sie krängte noch weiter über. Der Bug befand sich zum größten Teil bereits unter Wasser. Das Schiff konnte jetzt inner­halb weniger Minuten wie ein Stein absacken.

Harris taumelte nach achtern. In seiner Kammer gab es noch einen Kompaß, den er in die Jolle bringen wollte. Er sah aus den Augenwinkeln, daß sich nur noch wenige Leute an Bord befanden. Die anderen trieben in einem wüsten Durcheinander zwi­schen Planken, Masten, Spieren und den Jollen.

Im Schiff klang das Knacken und Krachen immer bedrohlicher und lauter. Eine Planke nach der anderen platzte wie eine reife Frucht. Noch mehr Wasser schoß herein.

Kurz bevor er seine Kammer er­reichte, wölbte sich das Achterdeck wie bei einer Explosion nach oben. Darunter schimmerte Wasser.

Er mußte den Kompaß holen, da­mit sie wenigstens eine Navigations­hilfe hatten, wenn der Sturm nach­ließ, und sie nicht hilflos und ohne je­des Ziel auf dem Meer trieben. Dann würden sie verhungern oder verdur­sten.

Kriechend erreichte er seine Kam­mer und hatte Mühe, das Schott zu öffnen. Hier war noch alles intakt, wie er mit einem schnellen Blick fest­stellte. Sogar die Bleiglasfenster wa­ren noch heil und hatten den An­sturm der See überstanden, weil sie ziemlich hoch lagen.

Das Schapp ließ sich kaum öffnen. Er riß und zerrte daran, auf den Knien liegend und fluchte leise.

Da wurde die Galeone wie bei ei­nem heftigen Beben durchgerüttelt. Ein Donnerschlag ließ sie ein Stück tiefer absacken. Irgendwo löste sich ein Balken und schlug an das Schott. Ein weiterer Balken über seinem Kopf brach in der Mitte durch. Dielen und Planken senkten sich herab.

Harris merkte erst, daß er einge­quetscht war, als er seine rechte Hand bewegte. Ungläubig starrte er auf den Balken, der seine Hüfte einklemmte. Wasser tröpfelte auf ihn nieder. Seine Beine waren schlagartig taub geworden. Er konnte sie nicht mehr bewegen. Er spürte jedoch keinerlei Schmerz.

Er versuchte, sich zu befreien. Es ging nicht. Der Balken lastete mit un­glaublichem Gewicht auf seinem Körper. Aus dem Tröpfeln des Was­sers war jetzt ein dicker Schwall ge­worden. In der Kammer gurgelte und zischte es immer lauter.

„Nein, das darf nicht wahr sein", sagte er ruhig. Immer noch verspürte er keine Schmerzen. Er hörte nur das Gurgeln und gab sich einen Ruck. Dann veränderte sich seine Lage, und er merkte, wie sich die „Discoverer" noch mehr auf den Bug stellte.

Harris wurde ganz ruhig, als sich der Raum langsam, aber unaufhalt­sam mit Wasser füllte. Es gab für ihn keine Rettung mehr. Früher hatte er immer geglaubt, er würde in einem solchen Augenblick wahnsinnig wer­den vor Angst. Jetzt war alles ganz anders. Keine Panik, keine Angst, nur eine leichte Verwunderung, daß alles so schmerzlos ging.

Das Wasser stieg und stieg unauf­haltsam, bis es sein Gesicht erreichte. Er versuchte noch einmal vergeblich, sich zu bewegen. Er konnte keinen Finger rühren.

Er lag da, hilflos, einsam und

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starrte durch das Bleiglasfenster in das trübe Dämmerlicht.

Das Schiff starb. Er glaubte, es schreien zu hören, so wie Wister er­zählt hatte. Alles war so wie in dem höllischen Traum.

Als er Luft holen wollte, schluckte er Wasser und zuckte zusammen. Da war ein Brennen in seinem Hals, ein kurzer stechender Schmerz. Er holte wieder Luft, gierig und japsend.

Das Dämmerlicht wurde dunkler. In weiter Ferne hörte er es leise und pausenlos knistern.

Mit einem letzten Gurgeln füllte sich der Raum mit Wasser. Die „Dis­coverer" ging ganz langsam auf Tiefe.

Harris fühlte sich in eine wunder­same Welt versetzt, eine Welt, die es nicht gab, voller bizarrer Farben, Li­nien und bunter Kreise.

Er sah einen Berg vor sich, der laut­los und majestätisch an ihm vorbei­glitt, einen schroffen Berg, algenbe­wachsen, der zum Grund hin pech­schwarz wurde.

Alles wurde still und unheimlich ruhig. Ein gewaltiger Trichter tat

sich auf. Er sah die Galeone überdeut­lich dem Meeresboden entgegenstür­zen. Weitere bemooste Bergrücken tauchten auf, dann ein riesiger Wald voller Algen.

Das Schiff barst auseinander, in ei­ner lautlosen gespenstischen Detona­tion. Es gab keinen Knall, kein Split­tern, nichts.

Kapitän Harris durchlebte den Traum eines anderen Mannes, der für ihn geträumt hatte. Das Ende des Traumes war pechschwarze Nacht und eine grenzenlose Stille.

Eineinhalb Tage später stieß die Schebecke der Arwenacks auf die bei­den Jollen mit den Überlebenden. Die See hatte sich beruhigt, die Dünung war leicht, und der Himmel wieder blau.

Die „Discoverer" war untergegan­gen, im Atlantik verschollen, aber die meisten hatten überlebt, auch Wister und sein Sohn sowie Fletcher mit sei­ner Familie.

Die Leute waren ausgelaugt und er-

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schöpft, und die Arwenacks taten, was sie nur tun konnten. Sie wurden verpflegt und dann auf die anderen Schiffe verteilt. Die Fletchers blieben auf der Schebecke.

Der Proviant schrumpfte noch mehr zusammen, die Enge wurde im­mer qualvoller. Aber sie würden bald die Küste erreichen.

Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 628

Der Tod kommt vor dem Morgengrauen von Jan J. Moreno

AI Conroy, der Stückmeister der Arwenacks, kam zur Sache. Lange genug war der Verband der Pilgrims von der Rabauken-Karavelle beschattet worden. Jetzt hatten die Kerle die Maske fallen lassen und die „Pilgrim" angegriffen. Da gab der Seewolf den ersehnten Feuerbefehl, und der Stückmeister ließ die Culve-rinen sprechen. Ein mächtiges Donnerwetter brach über die Rabauken herein. Der erste Schuß kappte den Papageienstock der Karavelle und ließ das Besan-segel fliegen, weil die Schot gebrochen war. Ein Hagelgeschoß mit gehacktem Blei zerfetzte das Großsegel, eine Kettenkugel brachte gleich darauf den Groß­mast zu Fall. Ein Schuß in die Bordwand lag zu hoch, aber der andere saß in der Wasserlinie, genau dort, wo ihn AI Conroy hatte haben wollen. Gurgelnd ergoß sich die See in das gezackte Loch.. .

Printed in Germany. April 1988

Die anderen Schiffe hatten den Sturm zwar nicht schadlos überstan­den, aber sie fanden sich wieder ein.

Zu Hasards großem Erstaunen tauchte bald darauf an der Kimm auch wieder die Karavelle der Rabau­ken auf. Auch sie hatten den Sturm überstanden, ziemlich unbeschadet, wie es den Anschein hatte ...

ex libris KAPTAIN STELZBEIN 2010

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