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Im Licht des Kristallmondes

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OBSIDIAN-ZYKLUS

NR. 1 VON 12 2

IM LICHT DES KRISTALLMONDESvon Hubert Haensel

Der Schmerz traf mich mit unglaublicher Wucht. Ich taumelte durch explodierende Sonnenglut, doch diesen Gewalten konnte mein leichter Raumanzug nur wenige Augenblicke standhalten. Ich spürte, wie der Schutzschirm fast zusammenbrach und dass der Anzug unter dem Ansturm der entfesselten Energien aufflammte.

Der Sauerstoff kochte; wie Feuer tobte er durch meine Luftröhre. Trotzdem konnte ich nicht einfach aufhören zu atmen.

Es gab kein Zurück! Tief in mir wisperte eine Stimme von Betrug und dass nur Millisekunden vergangen seien … Das in grellen Entladungen lodernde Transmitterfeld hatte uns irgendwo ausgespuckt, nur nicht am Ziel.

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1.

Ich stürzte durch einen reißenden Sog, und der glühende Schutzanzug brannte sich ins Fleisch ein. Hinter mir erklangen die qualvollen Schreie meiner Begleiter. Wir hatten keine Chance, diesem Inferno zu entkommen. Nicht einmal der Zellaktivator würde mein Leben retten können, wenn mich die Hitze von innen heraus verbrannte.

Ich achtete nicht auf das Flüstern in meinen Gedanken, weil mich nur noch eine einzige Regung beseelte: Li, dachte ich. Li da Zoltral – nun werden wir für alle Zeit vereint sein. Nicht im Leben, aber im Tod.

Sie war mir so nahe. Ich spürte ihren Atem, sah ihre helle Haut, registrierte sogar die Tränen in ihren Augenwinkeln. »Komm!«, schien sie mir zuzurufen. »Komm mit mir, Atlan!«

Der Schmerz wurde unerträglich. Er raubte mir die Besinnung.

*

Rückblick: »Keine erwähnenswerten Vorkommnisse!« Zuunarik zwirbelte seinen

kurz gestutzten Kinnbart und erhob sich aus dem Pilotensessel. »Wir haben uns den langweiligsten Ort des Universums ausgesucht«, behauptete er im Brustton der Überzeugung.

Ein zweifelndes Lächeln huschte über Lethem da Vokobans Gesicht. Eindringlich musterte er den Piloten der TOSOMA. »Wenn ich mich recht entsinne, wird auf dem Mutterschiff anderes gesagt.«

»Die wissen es immer besser«, erwiderte Zuunarik spöttisch. Mit einigem Aufwand hatte die Erforschung der Stahlwelt begonnen. An

Bord der ATLANTIS war Lethem gestern durch den von der Stahlwelt aus aktivierten Situationstransmitter eingetroffen und mit einer Reihe von Spezialisten auf die TOSOMA übergewechselt. Im Gegenzug waren etliche Besatzungsmitglieder aufs Mutterschiff zurückgekehrt, und dann war die ATLANTIS mit Kurs Arkon abgeflogen. Jetzt trat Lethem da Vokoban seinen Dienst in der Zentrale des Schweren Jagdkreuzers an.

Protokollabruf: Es gab tatsächlich keinen Eintrag außer Dienstbeginn und -ende des

Zaliters Zuunarik. Nichts, was der Erwähnung wert gewesen wäre. Status:

Orbit über dem Riesenplaneten Kharba. Warteposition. Auf Kharba, das wusste der Zweite Pilot, gab es eine

Transmitterverbindung zur Stahlwelt. Und auf dieser Stahlwelt, einem

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ausgehöhlten Planetoiden, hielt sich Atlan mit seinen Begleitern auf. Lethem da Vokobans Blick schweifte über die Panoramagalerie.

Ausgedehnte Wolkenwirbel verwehrten den Blick auf die Oberfläche des Riesenplaneten. Zwei seiner Monde, öde Felsbrocken, zogen durch den Erfassungsbereich. Ihr vielfältiger Schattenwurf zeichnete sich deutlich ab.

Ein weiterer Mond wurde von den Optiken eingefangen – eine Eiswüste, eigentlich selbst schon ein kleiner Planet. Die TOSOMA passierte ihn in geringer Distanz. Im Licht der dicht stehenden blauen Sonnen schimmerte der Mond wie Aquamarin.

Nur 42 Lichtstunden durchmaß die Konstellation der zwanzig Riesensterne, von denen jeder ein Spiegelbild der anderen zu sein schien. Schon der Anblick ihrer mathematisch exakten Positionen faszinierte Lethem. Es war ein unglaublicher Reiz, die Gravitations- und Energieströmungen zwischen ihnen auszuloten …

»Ortung!« Der Ausruf riss den Arkoniden aus seinen Überlegungen. »Abrupter Massezuwachs im Zentrumsbereich des Dodekaeders.«

»Detaillierter!«, drängte der Kommandant. »Das ist noch nicht möglich! Die Daten kommen stark verzerrt herein.« »Bereit für Kursmanöver? Eventuell Anflug des georteten Objekts.« »Bereit!«, bestätigte Lethem. Dreißig Minuten Langeweile genügten ihm. Nichts wäre ihm lieber

gewesen, als mit dem Großbeiboot der ATLANTIS in das Sonnendodekaeder vorzustoßen. Er aktivierte die Navigationsholos. Selbst in der verkleinerten Wiedergabe wirkten die Sonnen noch imposanter als der schönste Kugelsternhaufen. Ein Kunstwerk, fand Lethem. Ausdruck überlegener Technik, der es leicht fällt, über Sonnen zu gebieten und ihre extremen Kräfte zu nutzen. Solche gigantischen Transmitter würden eines Tages den Weg weit hinaus ins Universum ebnen, bis in die fernsten Sternregionen. Wenn es nach ihm ging, über fünfzehn Milliarden Lichtjahre bis zu den Galaxien, die als Erste nach dem Urknall entstanden waren. Eine solche Expedition an die Grenzen des Möglichen zu leiten, davon träumte Lethem da Vokoban.

Alarm heulte durch das Schiff. »Masseortung wird deutlicher! Das ist ein großes Objekt.« Noch zeigte die Einblendung auf der Panoramagalerie nur einen

verwaschenen Schatten, der sich aus Störungen heraus verdichtete. Optisch gab es ohnehin noch keine Wahrnehmung, rund 21 Stunden benötigte das Licht aus dem Zentrumsgebiet der Sonnenballung.

Zwanzig blaue Sterne … Auf den ersten Blick wirkten sie nur ihrer Farbe

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wegen auffällig. Man musste schon genau hinsehen, um das Besondere ihrer Konstellation zu erfassen, die nahezu mit dem galaktischen Sternenhintergrund verschmolz.

Zwölf regelmäßige Fünfecke bildeten sie, und jede Sonne markierte einen Eckpunkt des sich ergebenden Pentagon-Dodekaeders. Die Abstände zwischen jeweils zwei Sonnen betrugen konstant 16,128 Milliarden Kilometer. Lethem empfand höchsten Respekt vor den Technikern, die diese nahezu identischen Sterne über weite Entfernungen hinweg so präzise versetzt hatten.

Das Hologramm vor ihm wirkte noch unvollkommen. Erst als der Syntron Hilfslinien zwischen den Sonnen einfügte, gewann die Konstellation in ihrer Gesamtheit unvergleichliche Imposanz. Lethems Augen tränten vor Erregung.

»Wir haben es mit einer Plattform zu tun!«, meldete Tassagol von der Ortung. »Quaderförmig; sechs Kilometer lang, zwei breit, einen Kilometer hoch. Das ist keine uns bekannte Konstruktion. Und die Streustrahlung schwindet nur unwesentlich.«

Immer noch heulte der Alarm durch das Schiff. Jedem Besatzungsmitglied musste klar sein, dass die kurze Zeit der Ruhe vorüber war.

»Die Plattform ist aus dem Zentraltransmitter gekommen?« »Offensichtlich nicht. Es gibt keine besondere Aktivität der Sonnen. Das

Schiff ist aus eigener Kraft materialisiert.« Lethem da Vokoban hörte nur mit halbem Ohr hin. Er bereitete sich auf

einen Alarmstart der TOSOMA vor. Ausscheren aus dem Orbit mit voller Beschleunigung, Kurs auf das fremde Objekt, das sicher nicht zufällig imZentrum der Konstellation erschienen war … Ein kurzer Überlichtflug musste den Kreuzer in Zielnähe bringen.

Wo blieb Khemo-Massais Befehl, das Objekt anzufunken? Warum zögerte der Kommandant?

Erste Auswertungen ließen die Plattform deutlicher erscheinen. Lethem bedauerte nur, dass kein optischer Eindruck möglich war.

Jedes der Sonnenfünfecke stellte für sich einen leistungsstarken Transmitter dar. Das Zusammenspiel der zwanzig blauen Riesen baute zudem eine weitere Transmitterzone im Bereich ihres gemeinsamen Schwerpunktes auf. Wenn es gelang, den Transmitter zu justieren, wohin würde ein Schiff wie die TOSOMA abgestrahlt werden? Lethem fragte sich, ob es möglicherweise nur eine Gegenstation gab.

»Was sagt die Energieauswertung?«

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»Das fremde Gebilde ist noch nicht fassbar.« Endlich verstummte der Alarm. »Wir fliegen das Objekt an!«, bestimmte

Khemo-Massai. »Jede missverständliche Aktion ist zu vermeiden, aber wir müssen wissen, was da aus dem Hyperraum gefallen ist. – Lethem?«

»Alle Systeme sind klar!« »Maximalbeschleunigung! Und für den Notfall permanent

Ausweichmanöver berechnen!« »Hyperfunkspruch über Kharba-Station!«, meldete Tassagol in dem

Moment. »Es ist Atlan. Höchste Sicherheitsstufe!«

*

»Warum kommst du nicht zu mir, mein Freund? Wovor fürchtest du dich?« Eine eingebildete flüchtige Berührung schreckte mich auf.

Ich lag auf dem Bauch, den Kopf auf den Unterarmen, ein Knie weit an den Leib gezogen. Schon der Versuch, mich auf die Seite zu drehen, löste neue Schmerzen aus. Zugleich spürte ich die belebenden Impulse des Aktivatorchips.

Ich stemmte mich auf den Unterarmen hoch. »Li …?«, brachte ich wider besseres Wissen über die Lippen. Sie war vor zwei Tagen gestorben. Und wenn ich mir noch so sehr wünschte, die Zeit zurückdrehen zu können – ich konnte es nicht. Ich war so hilflos wie selten zuvor in meinem Leben.

Du hast in dreizehn Jahrtausenden viele Gefährtinnen verloren. Finde dich damit ab!

Ich verwünschte meinen Logiksektor. Zumal er nach dieser Bemerkung demonstrativ schwieg und es mir überließ, endlich die Realität zu akzeptieren.

Du hast hart zu sein, Atlan!, redete ich mir ein. Jeder erwartet das von dir!

Mittlerweile kniete ich auf dem Boden. Eine vage Dämmerung beherrschte den Raum und ließ schon wenige Meter entfernt alles im Ungewissen verschwimmen. Salziges Sekret verschleierte zudem meinen Blick.

Schwankend kam ich auf die Beine. Im Helmempfang erklang Horgald Massarems Husten. Ächzend richtete

sich der Raumsoldat auf. »Ich fühle mich, als wäre ich in den Partikelstrahl eines startenden … Raumschiffs geraten.« Der Vergleich war drastisch, aber zutreffend.

»Veloz?«, rief ich. »Jorge?« Veloz da Metztat, unser Historiker, antwortete mit einer deftigen

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Verwünschung. Er war also schon wieder in Ordnung. Augenblicke später schälten sich die Männer aus dem diffusen Zwielicht.

Mir schien, als verdichteten sich ihre Körper mit jedem Schritt, den sie näher kamen. Aber auch ohne diesen optischen Effekt wusste ich, dass wir unser Ziel nicht erreicht hatten.

»Die Aufzeichnung ist während des Transmittersprungs weitergelaufen.« Jorge Javales grinste schief. »Wir werden hoffentlich nachvollziehen können, was geschehen …«

»Genau das kann mir momentan den Buckel runterrutschen!«, fiel ihm Veloz ins Wort. »Mich interessiert nicht, was geschehen ist, sondern weit mehr, wo wir uns befinden.«

»In einem unbekannten Sektor der Kharba-Station«, stellte Javales fest. »Oder hält einer dieses Umfeld schon für die Hauptzentrale der TOSOMA?«

»Luftdruck und -zusammensetzung sind jedenfalls in Ordnung.« Veloz da Metztat nutzte die Funktionen seines Datenarmbandes. Mit einer

ruckartigen Bewegung öffnete er den Helm und schob die schlaff werdende Folie zurück. »Ich bleibe nicht länger als unbedingt nötig unter dieser Käseglocke.«

»Ist jemand verletzt?«, fragte ich. Javales zuckte mit den Schultern. »In meinem Schädel tobt eine

Raumschlacht«, behauptete er. Ich öffnete ebenfalls meinen Helm. Die Luft schmeckte abgestanden und

schal. Javales, der schmächtige Archivar, versteifte sich jäh. Er fixierte mich aus zusammengekniffenen Augen.

Horgald Massarems Rechte lag auf dem Griff seines Kombistrahlers. »Jemand … oder etwas … hat uns entführt.«

»Achtbeinige Monster – meinst du das?«, fragte Javales trocken. Sein Blick durchbohrte mich schier.

»Vielleicht …« Massarems Hand schloss sich um die Waffe. Die Lippen hatte er fest zusammengepresst.

Deine Trauer um Li wird dich noch umbringen, schimpfte mein Logiksektor. Glaubst du wirklich, die Welt besteht nur aus deinem Leid?

Massarem zog den Strahler. »Acht Beine?«, wiederholte ich. »Und Monster, ja? Das ist trotzdem kein

Grund, auf mich zu zielen.« Der Raumsoldat zögerte. »Glaubt ihr, ich spüre nicht, dass etwas an mir emporkrabbelt?«

Blitzschnell packte ich zu. Die erste Bewegung hatte ich am Schienbein

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wahrgenommen, jetzt saß das Tier oder was immer schon an der Innenseite des Oberschenkels. Und es krallte sich hartnäckig fest. Erst als ich mit beiden Händen zupackte, schaffte ich es, nacheinander alle acht Beine zu lösen.

»Eine Spinne«, bemerkte Javales. Den ruckartigen Bewegungen haftete etwas Mechanisches an. Ich hielt

das Ding fest umschlossen und betrachtete es von der Unterseite. Die mehrgelenkigen Beine zuckten in monotonem Rhythmus.

»Und?«, wollte Massarem wissen. »Ein kleines Monster«, bestätigte ich und legte die knapp zehn Zentimeter

messende Spinne mit dem Rücken auf den Boden. Schon nach wenigen Sekunden hatte sie sich herumgewälzt und lief zielstrebig auf mich zu. Ich trat einen Schritt zur Seite.

»Das Biest folgt dir!« »Sehr anhänglich«, kommentierte Veloz da Metztat. Schon tastete die Spinne nach meinem Stiefel. Ich stieß sie weg, aber sie

war sofort wieder da. Spontan trat Metztat zu. Obwohl sein Tritt kräftig gewesen war, kroch die

Spinne unbeschadet unter dem Stiefelabsatz hervor. »Was ist das?«, fragte er verblüfft.

»Ein Roboter!«, sagte ich. »Wer baut Spinnenroboter?« Massarem visierte die seltsame Maschine

über den Waffenlauf hinweg an. Als ich knapp nickte, zog ich noch nicht in Erwägung, den Roboter zu

untersuchen. Er war mir nur lästig. Und den Einwand meines Logiksektors ignorierte ich. Mir machten die Nachwirkungen des Erinnerungstransfers zu schaffen. Zu viele Informationen waren in kürzester Zeit auf mich eingeströmt. Überhaupt hatten mich die letzten Tage von einem Extrem ins andere gestürzt. Ich fühlte mich so miserabel, wie sich ein Aktivatorträger nur fühlen konnte.

Massarems auf wenige Millimeter gebündelter Thermoschuss traf die Spinne. Im ersten Moment zeigte er überhaupt keine Wirkung, dann glühte der linsenförmige Körper auf. »Keineswegs unzerstörbar …« Der Raumsoldat grinste breit.

Ich wischte mir das angetrocknete Sekret aus den Augen und blinzelte. Das Zwielicht zeigte allmählich Konturen. Bizarre Aggregate zeichneten sich ab. »Der Schuss war ein Fehler«, stellte ich fest. »Der Roboter hätte uns Daten liefern können.«

»Über unseren Aufenthaltsort?« Javales drehte sich langsam um sich

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selbst. Er machte den Eindruck eines Raubvogels auf Beutejagd. Der Terraner hatte die Stirn in Falten gelegt und die buschigen Brauen zusammengekniffen, die Hakennase dominierte in seinem Gesicht. »Ich sehe keinen fest installierten Transmitter.« Mit beiden Händen fuhr er sich über den millimeterkurz geschnittenen grauen Haarkranz.

»Nicht bewegen!« Massarems Aufschrei kam zu spät. Javales erstarrte schier, als seine Finger tastende Spinnenbeine berührten. »Sie sitzen auf deinem Rücken!«, warnte der Raumsoldat. »Mindestens ein halbes Dutzend.«

*

Rückblick: »Die Stahlwelt ist in Aufruhr geraten.« Atlans Stimme hallte aus den

Lautsprecherfeldern durch die Zentrale der TOSOMA. »Ich kann nicht vorhersehen, was geschehen ist, aber vor Minutenfrist ist ein großes Objekt nahe dem Zentrum des Sonnentransmitters materialisiert, Ich gehe davon aus, dass es auf der TOSOMA ebenfalls geortet wurde.«

Es gab keine Bildübertragung, sondern nur die Sprechverbindung über die Relaisschaltung von der Kharba-Station zur Stahlwelt. Der Eisen-Nickel-Planetoid war in einer Halbraumblase dem Einsteinraum entrückt.

Mit knappen Schaltungen blockierte Lethem da Vokoban die Triebwerke des Jagdkreuzers.

»Ich kenne das Objekt«, fuhr Atlan fort. Seine Stimme vibrierte merklich und offenbarte seine eigene Erregung. »Es liegt Jahrtausende zurück, dass ich dem schwarzen Quader schon einmal begegnet bin. Einige Völker nennen ihn die Vergessene Plattform, andere die Vergessene Positronik. Aber alle reden nur hinter vorgehaltener Hand von diesem Raumschiff. Das Erscheinen der Plattform gilt als böses Omen.«

»Wir sind nicht abergläubisch!«, wehrte January Khemo-Massai entschieden ab.

Ob Atlan verstand, was der Kommandant sagte, ließ sich nicht feststellen. Er fuhr nach einem deutlich hörbaren Atemzug fort: »Terraner würden die Plattform als Geisterschiff bezeichnen. Seit über 10.000 Jahren geistert sie durch die Galaxis. Sie taucht jäh aus dem Nichts heraus auf und verschwindet ebenso schlagartig wieder.«

»Stellt sie eine Bedrohung dar?«, wollte Khemo-Massai wissen. Fast eine halbe Minute verging, bis Atlan antwortete. »Ich weiß es nicht«,

sagte er. »Höchste Wachsamkeit ist angebracht! Außerdem haben alle Handlungen zu unterbleiben, die als feindlicher Akt missverstanden werden

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könnten. January …«, der unsterbliche Arkonide legte eine bedeutungsvolle Pause ein, »… die TOSOMA behält ihren Orbit über Kharba bei!«

»Wir benötigen genauere Messergebnisse.« »Vorerst nicht!«, wehrte Atlan ungewohnt scharf ab. »Ich komme mit

einigen Männern über Kharba-Station an Bord zurück. Wir sind schon auf dem Weg zum Transmitter.« Störungen verzerrten die Übertragung, die Ursache dafür mochte auf der Stahlwelt zu suchen sein oder im Bereich der Relaisstrecke. Lethem da Vokoban hatte allerdings auch die Vergessene Plattform in Verdacht. Ein Blick auf das Hauptholo zeigte ihm, dass der Quader zwar einigermaßen deutlich wiedergegeben wurde, dass ihn aber eine eigenartige Aura umfloss. Als nicht identifizierte Energiefelder wies sie eine syntronische Einblendung aus.

Die Geräusche hastiger Schritte waren im Funkempfang zu vernehmen. Jemand redete im Hintergrund, doch blieb die Stimme unverständlich. »Die Helme schließen!«, befahl Atlan gleich darauf. »Nur um sicherzugehen.« Anschließend wandte er sich wieder an die Besatzung der TOSOMA: »Die Terraner sind als raumfahrendes Volk noch zu jung, sie kennen die Legenden um dieses Schiff nicht. Es heißt, dass die Vergessene Plattform das Erbe eines kosmischen Urvolks sein soll, das spurlos verschwand, bevor unsere Vorfahren überhaupt lernten, das Feuer zu beherrschen. Seitdem erscheint der schwarze Quader in unregelmäßigen Abständen mal auf dieser Seite der Galaxis, mal auf jener. Angeblich bringt er allen, die ihm begegnen, den Tod.« Er lachte heiser. »Ich war schon einmal auf dieser Plattform und lebe immer noch. Also ist vieles nur dummes Geschwätz. Längst ist mir auch bekannt, dass sie von Lemurern geschaffen, aber später von Varganen als eine Station auf ihrer Suche nach dem Stein der Weisen benutzt wurde.«

»Wieso ist sie hier?« Der Kommandant musste die Frage zweimal wiederholen, bevor Atlan reagierte. Die Stimme des Arkoniden klang jetzt schwächer und verzerrt.

»Die energetische Aura der Plattform wird intensiver!«, meldete die Ortung. »Keine unmittelbare Bedrohung erkennbar, aber möglicherweise wird der Funkverkehr davon beeinträchtigt.«

Vielleicht steckt Absicht dahinter, schoss es Lethem durch den Sinn. Doch er konzentrierte sich sofort wieder auf das, was Atlan sagte.

»… damals waren es Streuemissionen, von denen die Vergessene Plattform angelockt wurde. Ich vermute, diesmal verhält es sich ähnlich. Die Ausstrahlung der beinahe durchgehenden Bewusstseinstransferanlage

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könnte das Geisterschiff angezogen haben. – Wir haben den Transmitter gleich erreicht. Atlan, Ende.«

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2.

Jorge Javales’ Gesicht verzerrte sich zur Grimasse. Er brachte keinen Ton über die Lippen. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er uns an – und das war ein stummer, geradezu verzweifelter Hilfeschrei, während die erste der faustgroßen Roboterspinnen über seinen Handrücken lief. Zwei andere hatten den Helmwulst des Anzugs erreicht und tasteten über Javales’ Nacken.

Veloz da Metztat erreichte den Archivar vor mir. Nun, da Javales endlich aus seiner Starre aufschreckte und sich herumwarf, prallten sie hart zusammen. Gurgelnd sackte der Terraner auf die Knie. Erst jetzt brachte er die Arme nach vorne, um sich abzufangen, schaffte das aber nur, weil Veloz ihn stützte. Sofort war ich bei ihnen, riss die erste Spinne von Jorges Schulter und schleuderte sie zur Seite. Massarem zerstörte die Maschine mit einem Strahlschuss.

Warum unterbindest du das nicht?, schimpfte der Extrasinn. Weil … Ich verstand mich selbst nicht. Es gab keinen Beweis dafür, dass

der missglückte Transmittersprung mit einem feindseligen Eingriff zusammenhing. Körperlicher Schmerz allein war kein Kriterium.

Die anderen Spinnenroboter hatten die Bedrohung registriert. Einer versuchte noch, in Javales’ Anzug zu klettern; seine Kieferzangen gruben sich in meinen Handballen, als ich ihn im letzten Moment daran hinderte.

Ich sah, dass der Archivar blutete. Offensichtlich hatte er sich die Nase an Veloz’ Schulter aufgeschlagen. Aber auch im Nacken zeigten sich zwei blutige Striemen, wo eben noch die beiden Spinnen gewesen waren.

Veloz hatte hastig zugegriffen, konnte den kleinen Roboter aber nicht festhalten. Taumelnd wich er zurück, als die Spinne ihm ins Gesicht sprang, gleich darauf wälzte er sich über den Boden.

Ich konnte nur einem von beiden helfen, hielt den Archivar fest und zerrte den letzten Roboter von seinem Schädel. Jorge stöhnte dumpf, als die metallenen Klauen seine Haut aufrissen.

Neben mir schlug der Raumsoldat mit dem Kolben seiner Waffe auf die Spinne ein, die unvermittelt von da Metztat abgelassen hatte. Als er endlich innehielt, jagte der achtbeinige Roboter in wildem Zickzack über den Boden. Massarem riss die Waffe zwar noch hoch, ließ sie aber ebenso schnell wieder sinken. »Was wollen die Biester von uns?«, fragte er.

»Wahrscheinlich betrachten sie uns als Eindringlinge«, sagte ich. Er schaute mich verwirrt an und nickte dann zögernd. »Hat uns jemand

gefragt, ob wir hierher wollten?« »Ich habe es gleich gewusst – diese schwarze Plattform bringt Unheil.«

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Veloz da Metztat betastete sein Gesicht. Es war angeschwollen. Blutige Streifen zogen sich über seine Wangen.

»Schmerzen?«, fragte ich. »Nicht im Geringsten.« Der Historiker bewegte die Mundwinkel. »Alles

ist nur irgendwie taub.« Er stutzte. »Glaubst du, das Biest hat irgendetwas damit …?«

»Eine Droge. Mag sein.« Javales richtete sich schwankend auf. Er hatte mit einem Mal Mühe, das Gleichgewicht zu bewahren, und tastete vorsichtig über die Wunden in seinem Nacken. »Ich fühle mich … irgendwie leicht. Gar nicht unangenehm.« Sein Lachen wirkte alles andere als echt. Zugleich hielt er den Kopf schräg. »Hört ihr das?« In seine eisgrauen Augen trat ein seltsames Funkeln. »Ich muss gehen!«

Ich hielt ihn zurück. Er starrte mich an, wütend erst, dann verbissen. Die Falten in seinem Gesicht gruben sich noch tiefer ein, aber mit seinen knapp neunzig Jahren brachte er nicht die Kraft auf, sich meinem Griff zu entziehen. Schweiß perlte auf seiner Haut, er zitterte, dann rammte er den Schädel nach vorne. Zweifellos hätte mir der Stoß die Nase gebrochen, wäre ich nicht ebenso schnell ausgewichen.

Veloz da Metztat lachte glucksend. »Ich bin völlig in Ordnung«, versicherte er, als ich ihn anschaute, doch das klang wenig glaubhaft.

»Wir müssen zurück!«, drängte ich. »Entweder auf die Stahlwelt oder zur Station.«

»Hier werden wir gebraucht!«, brachte der Archivar hervor. »Wer sagt das?« Ich hielt ihn an den Oberarmen fest, aber er reagierte

kaum noch darauf. Selbst als ich ihn zwang, mich anzusehen, ging sein Blick durch mich hindurch. Er wird beeinflusst; stellte mein Logiksektor nüchtern fest.

»Zurück?«, wiederholte Massarem bitter. »Sagtest du wirklich zurück, Atlan?« Ich sah, dass er an seinem Kombiarmband hantierte. »Ich bekomme keine Funkverbindung! Aber die TOSOMA sollte sich melden. Es ist unmöglich, dass das Schiff … dass wir über etliche Lichtjahre hinweg versetzt …«

»Wir befinden uns nach wie vor im Bereich des Sonnendodekaeders«, behauptete ich, obwohl die Schmerzen während des Transmitterdurchgangs etwas anderes nahe legten.

Ruckartig hob der Raumsoldat den Kopf. »Warum antwortet das Schiff nicht?«

Darauf konnte es viele Antworten geben. Vielleicht war die Anlage, in der wir uns befanden, einfach nur abgeschirmt. Ich achtete immer noch

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mehr auf Javales und da Metztat als auf den Soldaten. Der Archivar hing teilnahmslos in meinem Griff. Den Stolz in seiner Haltung gab es nicht mehr, und sein Blick wirkte eher matt als feurig.

Fauchend atmete Massarem aus. Offensichtlich deutete er mein Schweigen als Bestätigung seiner Befürchtungen. »Wurde die Plattform wirklich von Lemurern erbaut?«

Ich nickte knapp. »Aber die Spinnenroboter?«, drängte er weiter. »Kein Mensch würde

solche Biester konstruieren. Dahinter steckt mehr …« Javales versteifte sich. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Irgendetwas

geschah mit ihm, aber sehr schnell war alles wieder wie zuvor. Veloz da Metztat hatte gleichzeitig die Hände um seine Schläfen

verkrampft. Er setzte sich zögernd in Bewegung. »Bleib stehen!«, herrschte ich ihn an. »Veloz!« Er reagierte nicht. Aber er

wehrte sich auch nicht, als Massarem mit zwei schnellen Schritten zu ihm aufschloss und ihn zurückhielt.

»Verdammt!« Der Raumsoldat riss seine Waffe hoch, während er zugleich versuchte, Veloz zum Umdrehen zu bewegen.

Dutzende Spinnen, die sich zwischen den nach wie vor nur schemenhaft erkennbaren mächtigen Aggregaten bewegten, kamen auf uns zu. Und sie waren alles andere als klein.

Jorge Javales lächelte. Sein Gesichtsausdruck wirkte unheimlich.

*

Lethem da Vokoban hasste es, untätig warten zu müssen. Die Panoramagalerie zeigte kaum noch eine Veränderung. Ihm erschien es, als stünde die Zeit still.

Niemand redete. Alle warteten darauf, dass Atlans Rückkehr an Bord gemeldet wurde.

Wir warten vergeblich! Nur dieser eine Gedanke beherrschte den Zweiten Piloten. Immer mehr erschien ihm die fremde Plattform wie eine unglaubliche Bedrohung. Es war Irrwitz, sie mit dem nur 150 Meter durchmessenden Kugelraumer anfliegen zu wollen – doch genau diesen Befehl des Kommandanten sehnte er herbei.

Wie lange schon? Zwei Minuten oder gar drei? Die Sturmwelt Kharba drehte sich unter dem Schiff. Längst musste Atlan den Transmitter verlassen haben.

Lethems Blick glitt zurück zur Darstellung der Vergessenen Plattform. Sie brachte den Tod. Atlan hatte davon zwar gesprochen, die Aussage aber

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zugleich abgeschwächt. Warum meldete er sich nicht? Lethem da Vokoban bezweifelte, dass die Plattform mit diesem Schweigen zu tun hatte.

Er schaute zur Schiffsverteidigung hinüber. Cisoph Tonk gab sich den Anschein von Geschäftigkeit. In Wahrheit wartete er ebenso auf ein neues Lebenszeichen von Atlan wie alle anderen. Lethem sah die verhärteten, ausdruckslosen Gesichter der Besatzungsmitglieder.

Vier Minuten inzwischen … Er wusste noch nicht viel über die Kharag-Stahlwelt, die Steuerstation des

Sonnentransmitters. Etwas mehr als fünfhundert Kilometer durchmaß der zum Teil ausgehöhlte Planetoid. Im Äquatorbereich existierten große Landefelder und in der Tiefe Hangars und Werftanlagen, dazu Großtransmitter für den Materialtransport. Im Bereich des Südpols ragten die Antennentürme für die Sonnenzapfung auf, und am Nordpol erhob sich das Pyramidenfünfeck aus rotem Lemur-Metall, das den Situationstransmitter aufbaute. Hatte Lethem schon vor Jahren fasziniert alle greifbaren Dokumentationen über die lemurischen Sonnentransmitter in der Milchstraße und in der Nachbargalaxis Andromeda studiert, so empfand er angesichts der technischen Meisterleistung, die das Sonnendodekaeder darstellte, nur noch atemlose Bewunderung. Nicht Ehrfurcht, aber großen Respekt vor den Erbauern des galaxisweit wohl größten Sonnentransmitters. Oder gab es imposantere Anlagen, die ebenfalls seit Jahrzehntausenden der Wiederentdeckung harrten, Transmitter, für die mehr als zwanzig Sonnenriesen von ihren angestammten Positionen versetzt und zu einem diffizilen geometrischen Gebilde zusammengefügt worden waren?

»Kein Transmittersprung dauert sechs Minuten«, hörte Lethem sich unvermittelt sagen. »Wenn wir Atlan und seinen Begleitern helfen wollen …«

»Wer sagt, dass sie Hilfe nötig haben?«, unterbrach der Kommandant. »Es besteht kein Grund zur Aufregung.« Er ließ eine Verbindung zur Kharba-Station schalten, erhielt aber keine Rückmeldung, dass Atlan und seine Begleiter eingetroffen waren.

Danach folgte über Relais die Anfrage an die Stahlwelt. Das Kharag-Gehirn bestätigte die Abstrahlung von vier Personen nach Kharba. Nur waren sie dort niemals angekommen.

»Sie wurden von diesem Geisterschiff abgefangen!«, behauptete Lethem da Vokoban spontan.

»Mal den Teufel nicht an die Wand!«, protestierte Cisoph Tonk. Der Pilot schüttelte den Kopf. »Mit dem terranischen Teufel habe ich

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nichts im Sinn. Es gibt schlimmere Gestalten als diesen bocksfüßigen Kinderschreck.«

Kharag übermittelte alle aufgezeichneten Daten der Transmitteraktivierung. Mit den Mitteln der TOSOMA waren sie nicht auf Anhieb umzurechnen, doch Energiewerte, Masseaufzeichnungen und andere Parameter belegten letztlich, dass vier Personen die Stahlwelt verlassen hatten.

Der Abgleich mit den Permanentscans des Jagdkreuzers erbrachte den Hinweis auf einen Fremdeinfluss während des eigentlich zeitlosen Transports durch den Hyperraum. Diese Störstrahlung, mit dem Auftauchen der schwarzen Plattform erstmals nachweisbar, hatte für achtzehn Sekunden ein Maximum erreicht und war danach auf die aktuellen schwachen Werte zurückgefallen. Das zeitliche Zusammentreffen dieses Peaks mit der Transmitteraktivierung konnte kein Zufall sein.

»Also gab es einen Fremdeinfluss, der den Transport angezapft oder umgeleitet hat.«

»Atlan befindet sich demnach auf der Vergessenen Plattform«, stellte Lethem fest.

»Das ist nicht bewiesen«, wehrte Khemo-Massai ab. »Ich denke, wir lassen Atlan nicht im Stich!«, sagte der Pilot derart

schroff, dass sich jeder ihm zuwandte. Khemo-Massai wäre nicht der erste Kommandant gewesen, von dem er wegen seiner Eigenmächtigkeit eine Rüge erhielt. »Wir müssen eingreifen!«, fügte Lethem hinzu. »Egal, unter welchen Bedingungen.«

*

Angestrengt starrte Horgald Massarem in die Düsternis, in der sich mit einem Mal vielfältige Bewegungen abzeichneten. Er zerrte den Historiker zurück. »Was meinst du, Atlan? Nehmen wir es mit den Robotern auf?«

»Wir ziehen uns zurück!«, sagte ich. Er nickte, offensichtlich über meine Entscheidung erleichtert. »Manchmal

ist das wirklich besser«, bestätigte er. »Aber wie kommen wir hier raus?« Zweifellos wusste die Besatzung der TOSOMA schon von unserem

Verschwinden. Ich war überzeugt davon, dass der Kommandant sehr schnell die richtigen Schlüsse zog. January Khemo-Massai würde nicht lange zögern, uns vier aus der Vergessenen Plattform herauszuholen.

Falls sie noch da steht, wo sie vor knapp zwanzig Minuten materialisiert ist, bemerkte der Logiksektor.

Wo sollte sie sonst sein?

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Fort!, lautete der spöttische Kommentar. Genau diesen Gedanken hatte ich bisher verdrängt, aber mein Extrasinn

genoss es mitunter, in offenen Wunden zu wühlen. Den Terranern war die Legende vom Fliegenden Holländer bis in die Neuzeit hinein geläufig; die Geschichte um einen Kapitän, der dazu verdammt ist, mit seinem unermessliche Schätze bergenden Schiff bis in alle Ewigkeit über die Meere zu segeln. Ähnliche Legenden rankten sich um die Vergessene Plattform. Seit mehr als zehntausend Jahren geisterte dieser Kosmische Holländer durch die Galaxis. Sein Erscheinen verlief keineswegs nach System, er tauchte plötzlich aus dem Nichts auf und verschwand auf ebenso rätselhafte Weise wieder.

Du weißt, warum die Plattform hier materialisiert ist. Täuschte ich mich, oder lag tatsächlich eine Spur von Belustigung in dem Gedanken? Die Streuemissionen der Anlage für den Bewusstseinstransfer haben sie angelockt. Und nun sieh zu, wie du damit fertig wirst.

»Wohin?«, drängte Massarem. »Die Spinnen kommen von drei Seiten.« »Also bleibt uns keine Wahl.« Ich zog Javales mit mir. Der Archivar

sträubte sich nicht, er machte es mir aber auch nicht einfach. Zudem wuchs das Gefühl, genau das zu tun, was ein unbekannter Gegner von uns erwartete. Ich fragte mich, warum die Roboter uns nicht eingekreist hatten.

Bis auf wenige Schritte waren sie schon heran. Knapp einen halben Meter maßen sie – linsenförmige graue Körper mit mehrgelenkigen dünnen Gliedmaßen. Andererseits wirkten diese mechanischen Spinnen nicht wie das neueste Produkt einer fortschrittlichen Technik, eher hatten sie etwas Archaisches an sich.

Massarem und Veloz da Metztat wichen schneller zurück. Ich griff nun ebenfalls nach dem Kombistrahler an meiner Hüfte. Im einen Moment sah es so aus, als wollten sich mehrere Spinnen auf uns stürzen, in der nächsten Sekunde wandten sie sich den zerschmolzenen Überresten eines ihrer kleinen Artgenossen zu.

Unglaublich vorsichtig tasteten sie mit ihren Klauen über die kläglichen Schrottsplitter. Weitere Roboter schoben sich von hinten heran und kletterten über die vorderen Exemplare. Sehr schnell bildete sich ein Knäuel aus plumpen Leibern und zuckenden Gliedmaßen. Dabei gewann ich den Eindruck, dass sich die Roboter während der Berührung miteinander verständigten. Das metallische Schaben und Kratzen wurde lauter, es klang wie ein nicht enden wollender gemeinsamer Aufschrei. Zudem zuckten scharf gebündelte Lichtkegel durch die Düsternis.

»Atlan!«, drängte Massarem. »Worauf wartest du?«

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Javales sträubte sich gegen meinen Griff. Seine Augen waren ausdruckslos, aber seine freie Hand schoss jäh nach vorne. Er krallte mir die Finger ins Gesicht, und ich schaffte es nicht, ihm auszuweichen. Jorge entwickelte mit einem Mal erstaunliche Kraft.

Sekunden später sackte er schlaff in sich zusammen. Mit einem Dagorgriff hatte ich ihn ins Reich der Träume geschickt, und er würde einige Minuten lang bewusstlos sein.

Ich wuchtete mir Jorge halb über die Schulter und beeilte mich, Massarem zu folgen. Doch eine stählerne Fessel schloss sich um meine Knöchel. Selbst mein wütender Tritt schüttelte die Spinne nicht mehr ab. Ich hatte zu lange gewartet, hatte irgendwie darauf vertraut, dass es nicht so schlimm werden würde, und jetzt vermutete ich, dass der Logiksektor mich einen verdammten Narren schimpfte, aber nicht einmal das geschah. Ich hatte zwei Tage Zeit gehabt, die Ereignisse zu verdauen, aber mir setzte das alles weitaus stärker zu, als ich mir eingestehen wollte.

Der Bewusstlose behinderte mich, zumal sich die Roboterspinne an mir aufrichtete. Ich hatte Schwierigkeiten, sie abzuwehren.

»Pass auf!« Horgald Massarem feuerte sofort nach seinem warnenden Ausruf. Der Glutstrahl traf vor mir auf den Boden, sprang weiter und fraß sich Funken sprühend in den Roboterkörper.

Die Spinne ließ nicht von mir ab. Im Gegenteil. Sie verkrallte sich erst recht an meinem Schutzanzug. Javales rutschte von meiner Schulter, als ich nach der Waffe griff, aber ebenso schnell schlug der Roboter mit seinen Vorderbeinen nach meinem Handgelenk.

Erst Massarems dritter Thermoschuss brach den Spinnenleib auf. Glutquoll aus dem Rumpf hervor, ein knarrendes Ächzen erklang, dann drehte sich der Roboter um sich selbst. Ein angewinkeltes Bein traf mich an der Hüfte, als ich mich über den Archivar beugte, und schickte mich ebenfalls zu Boden. Im Herumwälzen zerrte ich Jorge mit mir aus dem Zugriffsbereich der Spinne.

Massarem stoppte zwei weitere Roboter, die schon bedrohlich nahe heran waren. Und während ich mich aufrichtete und den Archivar erneut unter den Achseln fasste, feuerte Horgald mitten hinein in die Masse der nachrückenden Roboterleiber.

Egal, wohin wir uns wandten, die Spinnen würden uns folgen. Ich gab mich gar nicht erst der Illusion hin, wir könnten ihnen auf Dauer entkommen. Es kam einzig und allein darauf an, Zeit zu gewinnen, bis wir einen Fluchtweg fanden – oder bis Hilfe von der TOSOMA eintraf.

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*

»Gefechtsbereitschaft!«, ordnete Khemo-Massai an. Er wandte sich an den Piloten: »Nicht nur du willst Atlan da rausholen – wir alle wollen das. Aber niemand von uns wird sich deshalb unüberlegt in Gefahr begeben. Das hilft uns nicht, und Atlan und seinen Begleitern erst recht nicht. Wir sind das einzige Schiff weit und breit, das eingreifen kann. Was schlägst du vor, Lethem?«

Mit dem Handrücken wischte sich der Zweite Pilot über den eisgrauen Schnurrbart. »Beschleunigung mit Höchstwerten, dabei den Ortungsschutz der Sonne ausnutzen, zusätzlich zu den eigenen Antiortungsfeldern. Kurze Überlichtetappe. Extrem zielgenauer Rücksturz über der Plattform.«

January Khemo-Massai entblößte seine schneeweißen Zähne. Der Kontrast zu seiner Ebenholzhaut konnte nicht deutlicher sein. »Ich fürchte, Lethem da Vokoban, du vernachlässigst die Schlagkraft des Geisterschiffs«, sagte er betont.

»Uns liegen bislang keine verlässlichen Hinweise vor.« »Eben das«, bekräftigte der Kommandant. »Atlan sprach davon, dass die

Vergessene Plattform den Tod bringt. Das kann nicht nur eine Metapher gewesen sein.«

»Ich habe es auch nicht als Metapher gesehen«, protestierte Lethem. Er wusste seine eigenen Fähigkeiten richtig einzuschätzen, und wenn der Kommandant ihn vorzuführen gedachte, nur weil er zum ersten Mal auf der TOSOMA Dienst tat … Erst das Lächeln in Khemo-Massais Gesicht verriet ihm, dass der Terraner ihn testen wollte. »Ich dachte an den Virtuellbildner«, fuhr er fort. »Die Projektion eines oder zweier Ortungsabbilder der TOSOMA wird die Waffensysteme der Plattform ablenken, während wir im schnellen Passierflug ein Einsatzteam ausschleusen. Die Betreffenden müssen danach jedoch selbst klarkommen.«

»Das wird nicht leicht sein, aber wir könnten es schaffen.« January Khemo-Massai nickte zustimmend. Er schaltete auf Rundruf: »Ich brauche Freiwillige für einen lebensgefährlichen Einsatz. Eine Garantie, dass jeder mit heiler Haut zurückkehrt, gibt es nicht.« Im selben Atemzug wandte er sich wieder an den Piloten: »Ich hoffe, du fliegst wirklich so gut, wie man erzählt.«

»Man?«, fragte Lethem irritiert. »Aktet Pfest.« Das Lächeln des Kommandanten wurde eine Spur breiter.

»Ich habe mir sagen lassen, dass Differenzen zwischen euch nicht eben selten sind. – Ist das der Grund für den Wechsel auf die TOSOMA?«

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»Nein«, sagte Lethem. »Eigentlich nicht.« »Schön.« In dem Moment wussten sie beide, dass sie gut miteinander

auskommen würden. Khemo-Massai schien bereit zu sein, dem Zweiten Piloten die Freiheiten zu geben, die er brauchte, um seine Fähigkeiten optimal einzusetzen. Aber sofort dämpfte er jeden Übermut. »Ich erwarte, dass meine Leute bis an ihre Grenzen gehen, doch keinesfalls, dass sie diese Grenzen überschreiten. Wie nahe können wir an die Plattform herankommen?«

»Falls sie nicht selbst beschleunigt, bis auf rund fünfhundert Meter.« »Mit Rücksturzgeschwindigkeit?« »Natürlich«, bekräftigte Lethem da Vokoban. »Damit dürften wir so

gerade noch einer Kollision entgehen.« Der Kommandant nickte zufrieden. »Wir verlassen den Orbit, sobald die

Einsatzgruppe mit einem Stealth-Shift bereitsteht. Das wird in wenigen Minuten der Fall sein.«

*

»Sie haben unsere Spur verloren.« Dass Horgald Massarem seiner eigenen Behauptung nicht so recht traute, war ihm anzusehen. Schwer atmend stand er da, den Strahler schussbereit, während er sich mit dem linken Handrücken den Schweiß von der Stirn wischte. Den Kopf ein Stück weit in den Nacken gelegt, musterte er Veloz da Metztat.

»Ich bin wieder in Ordnung«, versicherte der Arkonide. »Wirklich. Ich spüre keine Nachwirkungen.« Das Haar hing ihm in wirren weißen Strähnen ins Gesicht und widerstand allen hastigen Bemühungen, es zu bändigen. Die Spange, die seine üppige Mähne bislang im Nacken festgehalten hatte, war verschwunden.

Wir hatten die diffuse Düsternis hinter uns gelassen und eine möglicherweise mehrere hundert Meter durchmessende Halle erreicht. Viel war indes nicht zu erkennen. Auf gewisse Weise wirkte alles kompakt, wie ein einziger monströser Aggregateblock, in den Korridore und Seitengänge, geschwungene Rampen, Galerien und Balustraden eingefräst worden waren, um ihn überhaupt passierbar zu machen.

Ein dumpfes Brummen erfüllte die Luft. Mitunter glaubte ich sogar, schwache Vibrationen wahrzunehmen. Der flackernde Lichtschein in großer Höhe ließ nicht erkennen, ob sich über uns eine Decke spannte oder ob die Anlage weiter nach oben reichte. Wie Sonnenstrahlen, die für kurze Zeit die Wolkendecke durchbrachen, huschte gleißende Helligkeit in unregelmäßigen zeitlichen Abständen durch die Gänge. In den wenigen

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Minuten, die wir uns erst in dieser Halle befanden, hatte ich noch kein System dahinter erkennen können. Vor allem hatten wir es bislang vermieden, von diesem grellen Licht erfasst zu werden.

Mit den Fingerspitzen fuhr Veloz die verkrusteten Striemen in seinem Gesicht nach. »Jetzt spüre ich die Kratzer«, stellte er fest. »Vorhin, das war wie ein Delirium. Anders kann ich dazu nicht sagen.« Mit einer knappen Kopfbewegung deutete er auf Javales. »Ihn hat es noch schlimmer erwischt. Aber ich denke, er wird ohne Befehle auch bald zu sich kommen.«

»Befehle?« Veloz blickte mich irritiert an. »Du hast eben von Befehlen gesprochen.« Veloz schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Das …« Er stockte und

schob sich mit einer unwilligen Geste das Haar in den Nacken. »Denkst du, dass die Roboterspinnen uns beeinflussen wollten?«

Ich antwortete nicht. Immerhin hatte ich selbst einen tiefen Kratzer davongetragen. Dass ich von Folgeerscheinungen verschont geblieben war, lag wahrscheinlich am Aktivatorchip, der Giftstoffe im Körper neutralisierte, oder auch nur am Extrasinn.

Nur?, wisperte es unter meiner Schädeldecke. Danke für deine Wertschätzung, Barbar.

Massarem hantierte schon wieder an seinem Armbandfunkgerät. »Nichts«, schimpfte er. »Der Empfang ist taub, nicht einmal Störgeräusche schlagen durch.« Sichernd blickte er in zwei Seitengänge, dann blieb er wenige Schritte vor mir stehen. »Glaubst du wirklich, Atlan, dass wir in diesen Kosmischen Holländer verschlagen wurden?«

Er war gut einen Kopf kleiner als ich, aber stämmig. Die Arme vor der Brust übereinander gelegt, den Kombistrahler dennoch schussbereit in der Rechten, schaute er zu mir auf. Er fragte nicht mehr, aber zu erkennen, worauf er abzielte, war nicht schwer.

»Ich habe diese Plattform ein einziges Mal angeflogen«, sagte ich. »Vor sehr langer Zeit. Damals noch in Begleitung von Fartuloon.« Horgald Massarem konnte mit dem Namen nichts anfangen, das sah ich ihm an. Trotzdem verzichtete ich auf lange Erklärungen, die meinen väterlichen Lehrmeister und Freund betrafen. »Seitdem kann sich so ziemlich alles geändert haben. Aber wir werden uns nach außen durchschlagen.« Ich verschwieg, dass wir damals Tote auf der Plattform entdeckt hatten – Raumfahrer verschiedener Völker.

Massarem riss die Augen auf und starrte an mir vorbei. Veloz ließ einen

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warnenden Ausruf hören. Gleichzeitig hatte ich das Empfinden, in einer jäh aufflammenden Sonne zu stehen. Aber so grell diese Helligkeit auch war, weder blendete sie, noch warf sie Schatten. Eigentlich hätte das Licht weiterhuschen müssen, doch es ließ Javales und mich nicht mehr los.

Irrlichternde winzige Eruptionen umflossen den Kopf des Terraners und griffen auf seinen Raumanzug über. Er verwehte! Einen anderen Ausdruck hatte ich nicht dafür. Ich hielt ihn am Arm und spürte den Widerstand, dennoch schien er sich wie eine Nebelgestalt zu verflüchtigen.

Das Flirren sprang auf meine Hand über, zog sich den Arm hinauf. Selbst wenn ich es gewollt hätte, ich konnte Javales nicht mehr loslassen. Die Helligkeit lähmte mich, und dagegen kam nicht einmal der Aktivatorchip an.

Du musst Javales loslassen, oder der Chip versagt! Das Flirren verdichtete sich, schien aber im Bereich des Ellbogens auf

Widerstand gestoßen zu sein. Dafür tobte der Aktivatorchip unter dem linken Schlüsselbein.

Du wirst sterben! Selbst wenn du das hier überstehst, ohne den Chip bist du schon morgen ein alter Mann.

Massarem feuerte. Er schoss einfach in die Höhe. Ich hörte, dass er Veloz etwas zurief, verstand aber nicht, was er sagte. Der Historiker riss ebenfalls seine Waffe hoch.

Javales war – eigentlich konnten nur Sekunden vergangen sein – fast durchscheinend geworden. Mein Unterarm ebenfalls. Ich spürte ihn nicht mehr, hatte jedes Gefühl auf dieser Seite verloren.

Endlich erlosch das gleißende Licht. Jorge riss sich von mir los. Er war nicht verweht, aber ziemlich verwirrt. Das bewiesen seine Fragen. Offensichtlich fehlte ihm jede Erinnerung, seit die Spinnen über ihn hergefallen waren.

»Wir sollten so schnell wie möglich weiter!«, drängte Massarem, den Strahler weiterhin in die Höhe gerichtet.

Das Toben unter meinem Schlüsselbein ließ nur zögernd nach. Für einen schrecklichen Augenblick sah ich mich rasend schnell altern. Die Zeit, die mein Zellaktivator der Natur abgetrotzt hatte, holte sich zurück, was ihr gehörte. Meine Haut wurde faltig und trocknete aus, war für wenige Sekunden wie Pergament. Dann drückten die Knochen hervor. Die Haut riss, wurde schwarz, verweste gedankenschnell. Zurück blieb Staub, den ein aufkommender Wind verwehte.

Staub … Eines Tags wird auch der Kosmische Holländer zu Staub verfallen und Jahrmilliarden später das Universum …

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Mir war ganz und gar nicht nach einer Erwiderung. »Worauf habt ihr geschossen?«, wandte ich mich stattdessen an Massarem.

Der Raumsoldat verzog die Mundwinkel zu einem herausfordernden Grinsen. »Keine Ahnung«, gestand er. »Ich hatte den Eindruck, dass dieses grelle Licht senkrecht aus der Höhe kam, und da habe ich einfach nach oben gehalten. – Nein«, er bemerkte meine Skepsis, »da gibt es nichts zu sehen. Keine Schmelzspuren, nichts.«

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3.

Kaum merklich erst, aber rasch schneller werdend, scherte die TOSOMA aus dem von Pol zu Pol führenden Orbit aus und gewann an Höhe. Noch beschleunigten nur die Gravopuls-Projektoren das Schiff.

Endlich wurde Kharba in voller Größe in der Direktbeobachtung sichtbar. Der Planet stand senkrecht zur Ekliptik, ohne die geringste Neigung der Polachse. Nur fünf der zwanzig Sonnen des Dodekaeders hatten jeweils einen Planeten. Diese Sonnen markierten die Spitzen der oberen Fünfecke, bildeten also quasi einen Gürtel in der unteren Hälfte der Gesamtkonstellation. Und jeder Planet umkreiste sein Muttergestirn im Abstand von rund 862 Millionen Kilometern. Das war Perfektion.

Lethem da Vokoban hatte die maximale Zahl an Hologrammen vor sich aufgebaut. Sie zeigten einen Gesamtüberblick des Sonnentransmitters ebenso wie Detailausschnitte des Bereichs um Kharba und des Zentrumsgebiets.

Die Vergessene Plattform wurde nach wie vor nicht vollständig von den Ortungen erfasst. Das betraf allerdings weniger ihre Masse als vielmehr die Energiesignaturen. Was die Hochrechnung als diffuse Aura abbildete, konnte ein fremdartiger Schutzschirm sein, der jeden Durchbruchsversuch vereitelte. Oder diese Sphäre entrückte den Kosmischen Holländer aus dem normalen Raum-Zeit-Gefüge. Beide Möglichkeiten gefielen Lethem nicht. Sie zwangen ihn, Entscheidungen erst in allerletzter Sekunde zu treffen, dann, wenn es eigentlich schon zu spät dafür war.

Kharba fiel unter der TOSOMA zurück. Das Schiff flog mit vollem Ortungsschutz, auftreffende aktive Fremdortung würde sofort angezeigt werden. Aber noch schien sich auf der Plattform nichts und niemand für die Umgebung zu interessieren. Der Kosmische Holländer war einfach nur da, ohne Anzeichen besonderer Aktivität.

Er wartete. Worauf? – Lethem da Vokoban hätte viel für die Antwort gegeben. In

steter Folge ließ er die eigenen Ortungsdaten erneuern. Sie blieben unvollständig und waren für einen risikolosen Zielanflug keineswegs ausreichend. Zudem war es an der Zeit, die eigene Aktivortung zurückzunehmen.

»Wie sieht es aus?« Lethem schreckte auf. In seine Betrachtungen versunken, hatte er nicht

bemerkt, dass der Kommandant plötzlich neben ihm stand. Das war nicht nur unnötig, sondern auch unüblich.

»Ich schaffe es.«

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»Daran zweifle ich nicht«, sagte Khemo-Massai. »Aber ich will einen Zwischenstopp.«

»Das Risiko der Entdeckung …« »Wer oder was immer das Geisterschiff befehligt, weiß wahrscheinlich

längst von unserer Anwesenheit.« »Das ist eine Vermutung.« »Unser ganzes Handeln basiert momentan auf Vermutungen.« Der

Kommandant deutete auf die Kursprojektion der TOSOMA. »Hier, nach zwei Dritteln der Distanz, muss ein Orientierungsmanöver erfolgen. Dann bekommen wir wohl auch bessere Ortungsergebnisse.«

Lethem da Vokoban nickte knapp. Vom Gravopuls- schaltete er auf Metagrav-Antrieb um. Das Schiff beschleunigte nun mit dem Höchstwert von 1200 Kilometern pro Sekundenquadrat. Jedoch war ein Überlichtflug mit dem Metagrav im Omega-Centauri-Kugelsternhaufen nicht ausreichend sicher, das Schiff war also zur Transition gezwungen. Die Minimum-Eintrittsgeschwindigkeit lag bei 20 Prozent der Lichtgeschwindigkeit, als Standard galten mindestens 80 Prozent. Je höher die Geschwindigkeit des Schiffs war, desto geringer der Energieverbrauch. Damit einhergehend konnten die Strukturkompensatoren die Gefügeerschütterungen beim Eintritt in den Hyperraum und bei der Rematerialisation deutlich besser absorbieren. Auf einige Sekunden mehr oder weniger kam es ohnehin nicht an, was zählte, war die Sicherheit. Lethem hatte deshalb einen Wert von über 270.000 Kilometern pro Sekunde für die Transition vorgesehen. Die auftretenden Dilatationserscheinungen waren in diesem Größenbereich noch vernachlässigbar gering.

Knapp dreieinhalb Minuten bis zur Transition. Die TOSOMA jagte der blauen Riesensonne entgegen. Obwohl das

Aufgabe des Syntrons war, überwachte Lethem peinlich genau die Verlaufsanzeige. Nach den ersten vierzig Sekunden, in denen das Schiff mit vergleichsweise geringen 400 Kilometern pro Sekundenquadrat beschleunigt worden war, arbeiteten die Triebwerke nun auf Volllast. Neunzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit wurden nach 252 Sekunden erreicht. Die TOSOMA hatte bis zur Transition nur einen Bruchteil der Entfernung zur Sonne zurückgelegt, nämlich knapp 27,5 Millionen Kilometer.

Ohne messbaren Zeitverlust überwand der Schwere Jagdkreuzer zwei Drittel der Entfernung bis ins Zentrum des Dodekaeders, also rund vierzehn Lichtstunden. Aber auch hier konnte die schwarze Plattform optisch noch nicht wahrzunehmen sein.

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Der Rücksturz des Schiffs erfolgte ohne die unangenehmen Begleiterscheinungen früherer Transitionen. Die Absorber verhinderten den Entzerrungsschmerz.

»Keine Strukturerschütterung anmessbar!« »Ortungsschutz ist lückenlos! Virtuellbildner bereit zum Einsatz!« Lethem da Vokoban beschleunigte die TOSOMA schon wieder, während

rings um ihn beinahe hektische Betriebsamkeit herrschte. Die Masseortung bestätigte die vorliegenden Werte, die erforderlichen Korrekturen blieben unerheblich. Nach wie vor kein Funkempfang außer dem üblichen Hintergrundrauschen. Wer gehofft hatte, ein Lebenszeichen der Vermissten aufzufangen, der wurde enttäuscht. Lediglich die Energiescans zeigten rapide anschwellende Werte.

»Was immer da geschieht – es muss zeitgleich mit unserer Transition begonnen haben.«

»Aber es gilt nicht uns?« »Die Ausbreitung erfolgt gleichmäßig nach allen Richtungen.« »Demnach kein Waffeneinsatz?« »Nicht gezielt jedenfalls.« Der Pilot registrierte den Wortwechsel nur beiläufig, ohne bewusst darauf

zu achten. Seine Konzentration galt Kursvektoren und Simulationen, die den Zeitraum von zwei Minuten nach dem nächsten Rücksturz umfassten. Nach wie vor hing die Vergessene Plattform im relativen Stillstand zwischen den Sonnen; das vereinfachte die Berechnung der Rematerialisation.

»Verdammt, was ist das?« Der Aufschrei riss Lethem aus seiner Versunkenheit. »In der Ortung sieht es aus wie eine gewaltige Feuerwalze – sie kommt überlichtschnell auf uns zu.«

Raumalarm schrillte durch das Schiff. Auf der Panoramagalerie war ein kugelförmiges Brodeln zu sehen, das

sich rasend schnell ausweitete. Lethem fühlte sich an eine Sternexplosion erinnert, an eine Sonne, die ihre Gashülle abstieß.

Nur noch Sekunden, bis die Energiewolke die TOSOMA umfloss. Sie war allein in der Hyperortung zu erkennen. Die Normaloptik zeigte den Weltraum unverändert.

»Ausgangspunkt ist die Plattform …!« Kaum jemand achtete noch auf die Meldung von der Ortung. Die

energetische Front erreichte das Schiff. Sprunghaft schnellten die Belastungsanzeigen in die Höhe. Der Bordrechner hatte die Staffelung des Paratronschirms hochgefahren, aber schon zeigten sich die ersten Aufrisse.

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Zusammenbruch des äußeren Schirmfelds. Ebenso gedankenschnell verfärbte sich die zweite Schirmstaffel. Für die zitternd verharrende Belastungsanzeige hatte niemand mehr Augen. Schreie hallten durch die Zentrale, die plötzlich von einem nebelartigen Schleier erfüllt war.

Lethem da Vokoban sah noch den Mann neben sich zusammenbrechen, dann raste ein glühender Stich durch seinen Schädel. Er hörte jemanden halb erstickt keuchen, begriff aber nicht, dass er selbst es war, der qualvoll nach Atem rang. Alles um ihn herum schien in Auflösung begriffen zu sein; von der Panoramagalerie sprang der Weltraum herab.

Anhaltend gellte der Alarm durchs Schiff. Das kürzer gewordene Intervall verriet, dass nur mehr ein Schirmfeld Bestand hatte.

Weg hier! Nur noch dieser eine Gedanke beseelte den Piloten. Mit aller Kraft kämpfte er gegen die beginnende Ohnmacht an. Atlans Worte klangen in ihm nach: »… angeblich bringt er allen, die ihm begegnen, den Tod.«

Ein rasender Wirbel erfasste ihn. Es war vorbei. Ein einziger Augenblick noch … und danach? Die Ewigkeit? Oder das Erlöschen jeder Wahrnehmung?

Lethem da Vokoban wollte sich nicht damit abfinden. Vor seinem inneren Auge flammten Myriaden winziger Spiralen, die fernen und fernsten Galaxien, von denen er in seinem Leben wenigstens einige wirklich sehen wollte. Das war sein Traum, und er gab ihm Kraft. Während das letzte Schirmfeld unter tobenden Aufrissen verwehte, schlugen seine Finger schwer auf die Schaltflächen.

Fünf Sekunden blieben ihm. Danach blockierte die Sicherheitsabfrage jede weitere Order. Qualvolle Sekunden …

Die Schiffszelle dröhnte wie eine angeschlagene Glocke. Es stank nachOzon, eine Folge der Überschlagsenergien. Und der Alarm schien nicht enden zu wollen.

Vielleicht wäre es besser gewesen, auf der ATLANTIS zu bleiben … Die letzte Schaltung. Schwer lag Lethems Hand auf der Leuchtfläche.

Ungläubig starrte er auf das hektische Blinken: Sprungkoordinaten invalid! Er wollte es nicht glauben.

Lethem löste dennoch die Transition aus. Er verfluchte das kosmische Geisterschiff. Der Entzerrungsschmerz war

schlimmer als alles, was er je erlebt hatte.

*

Wir kümmerten uns weder um die kompakten Maschinenblöcke noch um

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die aufwärts führenden Rampen. Wenn wir die Plattform schnell verlassen wollten, mussten wir auf einer Ebene bleiben und durften uns keinesfalls verzetteln.

Jorge Javales war so weit wiederhergestellt, dass er Schritt hielt. Zumindest gab er sich den Anschein, dass er die schnelle Gangart durchhalten konnte. Trotzdem bemerkte ich hin und wieder sein kurzes Zusammenzucken und dass er sich mit einer Hand den Nacken massierte. Schweigend hatte er sein Aufzeichnungsgerät überprüft, als wolle er bei der nächsten Gelegenheit die Speicherung auf seine Netzhaut projizieren, um zu erfahren, was geschehen war.

»Verdammt!« Massarem blieb abrupt stehen. Ich hatte die Bewegung ebenfalls gesehen. Knapp zwanzig Meter vor uns

gab es die nächste Kreuzung. Die Maschinenblöcke in dem Bereich waren schichtenweise tief eingekerbt. Offensichtlich war es den Konstrukteuren darum gegangen, eine möglichst große Oberfläche zu schaffen. Darüber zu spekulieren, ob es sich um ein einfaches Filtersystem der Lebenserhaltung handelte oder um etwas völlig anders Geartetes, war müßig. Die Vergessene Plattform barg Geheimnisse, an deren Entschlüsselung Heere von Wissenschaftlern lange Zeit arbeiten würden. Hier hatten andere Mächte als nur Lemurer ihre Finger im Spiel.

»Spinnen!« Massarem stieß das Wort wie eine Verwünschung aus. Für einen Sekundenbruchteil war hinter den Einkerbungen ein klauenbewehrtes Metallbein zu sehen gewesen. »Die Biester lauern uns auf. – Was machen wir?«

»Kein Risiko eingehen!«, ächzte der Archivar. »Die sind überall«, behauptete Veloz. »Wahrscheinlich so etwas wie

Wartungs- und Reinigungsroboter.« Ein Weg war für uns so gut oder so schlecht wie der andere. Solange wir

unsere Position in der Plattform nicht kannten, konnten wir auch nicht den kürzesten Weg an die Peripherie finden. Folglich vergaben wir uns nichts, wenn wir eine der schon hinter uns liegenden Abzweigungen wählten.

Der Versuch war sinnlos. Kaum drehten wir um, versperrten uns die Roboterspinnen den Weg. Sie waren schnell und hätten uns schon bisher leicht einholen können. Aber, sie hatten nichts unternommen, solange wir uns in die gewünschte Richtung bewegten. Erst jetzt, nachdem wir vom Weg abgewichen waren, griffen sie wieder an.

Massarem hatte seinen Individualschutzschirm aktiviert. Breitbeinig stand er da und feuerte. Die erste der Roboterspinnen war nur noch eine Körperlänge von ihm entfernt, als der Thermostrahl zwei ihrer Gliedmaßen

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abtrennte. Es gab ein kurzes, schleifendes Geräusch, als der Körper aufschlug und gegen die Wand prallte. Vergeblich versuchte die Spinne, wieder in die Höhe zu kommen. Ihre zuckenden Beine wirkten gar nicht mehr so bedrohlich. Massarem feuerte bereits auf den zweiten Roboter, der ihn ansprang. Er hatte die Waffe auf Salventakt justiert. Drei Schüsse durchschlugen den linsenförmigen Körper und ließen ihn aufglühen. Meterweit rutschte die Spinne über den Boden, ehe sie, die Beine nach oben gekrümmt, auf dem Rücken liegen blieb.

»Sie kommen auch von der anderen Seite!«, warnte Veloz. Ich hatte das befürchtet. Mindestens dreißig Roboter eilten uns entgegen. Sie waren aber noch weit genug entfernt, dass wir uns vor ihnen in den Hauptkorridor zurückziehen konnten.

»Nach links!«, bestimmte ich. »Das ist die Richtung, die wir eben schon eingeschlagen hatten«, wandte

Jorge ein. »Ja«, sagte ich nur. Du weißt, was du tust?, fragte mein Extrasinn. Ich wähle den Weg des geringsten Widerstands. Das ist nicht immer der sicherste. Wir sind nicht ausgerüstet, um gegen die Spinnen zu bestehen.

Du Narr!, erklang es einmal mehr in meinen Gedanken. Ich halte es deiner Verwirrung zugute, dass du keinen Rat annehmen willst.

Veloz da Metztat und Jorge Javales hatten den Hauptkorridor erreicht. Die entgegenkommenden Spinnen waren noch sieben oder acht Meter entfernt. Allmählich wurde es überdeutlich, dass sie uns vor sich hertrieben. Die beiden so unterschiedlichen Männer, der hochgewachsene, schlanke Arkonide und der kleine Terraner, eilten im Laufschritt weiter.

»Wir ziehen uns zurück!« Ich wandte mich zu Massarem um, den ich nur wenige Meter hinter mir wusste, und sah gerade noch, wie mehrere Roboter über ihn herfielen. Zwei erwischte er mit seinen Thermoschüssen, zeitgleich prallten zwei andere auf seinen Schutzschirm. Mit einem fahlen Entladungsblitz brach das schwache Schirmfeld des Raumanzugs zusammen.

Der Raumsoldat taumelte, dann rissen ihn die Roboterspinnen zu Boden. Alles ging so schnell, dass ich nicht schießen konnte, ohne Massarem selbst zu gefährden. Nur ein paar Meter trennten uns, doch sie wurden zur unüberwindbaren Distanz. Im Nu wimmelte es von Spinnen, die allein schon mit der Fülle ihrer Leiber Horgald unter sich begruben, und mit bloßen Fäusten konnte ich nichts gegen sie ausrichten.

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Sein wütendes Gurgeln ging in den schabenden und kratzenden Geräuschen der Spinnen fast unter. Es gelang ihm, die Beine anzuziehen und mit aller Kraft zuzutreten. Damit gewann er tatsächlich ein klein wenig mehr Bewegungsfreiheit, und er nutzte sie, um den Strahler auszulösen. Die tödliche Glut durchschlug zwei Roboterkörper, aber ein Teil der Energie flutete auf die verdammt kurze Distanz zurück.

Massarems triumphierender Aufschrei brach wimmernd ab. Er musste gewusst haben, dass er sich selbst gefährdete. Einige der nachrückenden Spinnen hatte ich erledigt, aber ich kam immer noch nicht an den Raumsoldaten heran. Es sah so aus, als hielten mich die Roboter bewusst von ihm fern …

Verschwinde!, drängte der Logiksektor. Ich achtete nicht darauf. Stählerne Gliedmaßen zuckten heran und ließen

meinen Individualschirm aufflackern. Im nächsten Moment schlugen die Klauen durch und schmetterten gegen meine Beine.

Sie haben die Schirmfeldstruktur analysiert und absorbieren die Energie. Meine Schüsse streckten zwei Spinnen nieder. Nur sekundenlang

behinderten die zuckenden Wracks ihre nachdrängenden Artgenossen, dann kamen immer mehr dieser Biester auf mich zu. Ich würde einige von ihnen ausschalten können, aber keineswegs alle.

»Massarem!«, rief ich. »Ich hole dich da raus!« »Verschwinde, Atlan!« Das klang kaum mehr verständlich. Der

Raumsoldat feuerte erneut. Er musste wissen, dass das Wahnsinn war. Eine der Spinnen über ihm glühte auf. Sie explodierte, und die Glutwolke vermischte sich mit einer zweiten, weit heftigeren Explosion, als das Energiemagazin des Strahlers reagierte. Entweder hatte Massarem selbst die Zündung ausgelöst, oder ein Rückschlag hatte die Batterie zerrissen.

Wabernde Glut wogte heran. Ich warf mich herum und folgte den anderen. Zurückblickend sah ich die Spinnenleiber wie düstere Schemen im langsam erlöschenden Feuer. Der Anblick brannte sich in meine Netzhaut ein. Zugleich wusste ich, dass Horgald Massarem die Explosion nichtüberlebt haben konnte. Ihm war keine Zeit für Überlegungen geblieben. Hatte er aus Panik heraus gehandelt, weil er nicht gewollt hatte, dass ich ihm beistand und mich damit selbst in Gefahr brachte? Ich hatte ihn nie richtig kennen gelernt, um das wirklich beurteilen zu können. Horgald war waschechter Terraner gewesen, einer von denen, die ihr Leben jederzeit einem großen Ziel unterordnen konnten. Horgald Massarem, das hatte er mir erst auf der Stahlwelt gesagt, hatte für die Vision eines friedlichen Universums gelebt – und dafür war er gestorben.

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Die Spinnen folgten mir. Nicht so schnell, wie es ihnen sicherlich möglich gewesen wäre, aber beharrlich. Wenn ich den Deflektor einschaltete, wurde ich im normaloptischen Bereich unsichtbar. Andererseits verfügten Roboter über eine Mehrzahl von Wahrnehmungsmechanismen. Weil Veloz da Metztat als Einziger unserer Gruppe keinen Deflektorprojektor trug, hatten wir bislang darauf verzichtet. Jetzt aktivierte ich den Schirm zwar, die Spinnen ließen aber dennoch keine Unsicherheit erkennen.

Ich fragte mich, warum die Roboter so massiv über den Raumsoldaten hergefallen waren. Zufall? Oder hatten seine Schüsse auf die Quelle des grellen Lichts sein Todesurteil bedeutet? Es gab wohl nur einen Ort, an dem ich diese Frage stellen und Antworten erwarten konnte: in der Zentrale der Vergessenen Plattform.

»*

Atlan und Horgald erwischt. Andernfalls hätten sie längst zu uns aufgeschlossen.« Jorge Javales lehnte schwer atmend an den Verstrebungen eines unverkleideten Aggregats, das sich über ihm aufspaltete und die von Rücksprüngen und Nischen durchsetzte Wand mit einem Aderngeflecht überzog. Die matte Oberfläche erweckte den Eindruck einer uralten Konstruktion, das Ganze hatte etwas Fossiles an sich.

»Wenn wir weiter fliehen, verlieren wir die beiden. Das macht unsere Situation nicht gerade leichter.«

Javales nickte schwach. »Trotzdem«, beharrte er. »Wir müssen hier weg.« Sie hatten mich noch nicht bemerkt. Als scheinbar aus dem Nichts heraus

meine Stimme erklang, zuckten sie zusammen. »Wir schaffen es, hier raus zukommen«, sagte ich.

»Atlan, bist du das? – Du hast den Deflektor aktiviert? Horgald auch?« »Horgald Massarem ist tot«, sagte ich. Jorge Javales’ Miene versteinerte, dann nickte er zögernd. »Anzunehmen,

dass man in Begleitung eines Unsterblichen sicher ist, ist offensichtlich ein Trugschluss«, sagte er. »Jeder von euch zieht das Unheil an wie ein Magnet Eisenspäne.« Er meinte das so, wie er es sagte. Zugleich irritierte ihn, dass er mich nicht sehen konnte. Sein Blick huschte unruhig suchend hin und her.

Der Korridor hinter uns verlor sich im diffusen Dämmerlicht. Allerdings zeichnete sich auch eine vage Bewegung ab. Die Spinnen folgten uns unbeirrbar und würden uns bald eingeholt haben.

Vor uns öffnete sich eine zweite große Halle, ebenfalls ein Sammelsurium

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technischer Einrichtungen, aber nicht mehr so komprimiert. Zwischen den fremdartigen Maschinenblöcken gab es viele freie Flächen, die wie Sammelplätze lediglich mannsgroßer surrealistischer Konstruktionen wirkten. Eine Gitterdecke wölbte sich über uns. Lauflichter huschten darüber hinweg, schwollen an und zerstoben in Farberuptionen, die sich kreisförmig ausbreiteten und dabei verblassten.

»Was ist das?«, fragte Veloz. »Eine Art Energieerzeugung? Oder gehört der Vorgang zur Systemstabilisierung?«

»Was hältst du davon, Atlan?«, fügte der Archivar hinzu. Seit Veloz und er ihre Deflektorbrillen aufgesetzt hatten, war ich für beide wieder sichtbar.

»Äußerlichkeiten ändern sich in Jahrtausenden«, antwortete ich. »Da ist es wieder!« Veloz deutete auf den Hintergrund der Halle.

Gleißende Helligkeit hatte in einem begrenzten Teilbereich die Farben verdrängt. Dieses grelle Licht bewegte sich langsam, suchend beinahe. Es kam näher.

Das Licht muss keine Bedrohung sein, meldete sich mein Extrasinn. Eine Art Transportsystem mit der Funktionsweise eines Fiktivtransmitters erscheint denkbar.

Ich wollte es dennoch nicht ausprobieren. Zumindest nicht, bevor ich mit einer Hundertschaft Techniker und Wissenschaftler auf die Vergessene Plattform zurückgekehrt war …

Erst musst du sie unversehrt verlassen! … und natürlich mit dem Besten, was galaktische Technik zu bieten hatte.

Das Rätsel des Kosmischen Holländers reizte mich. »Hier ist jemand!«, raunte Javales und blickte unverwandt zur Seite. »Ich

habe eine Bewegung gesehen. Irgendwer verbirgt sich vor uns.« Da war ein schwer überschaubares Konglomerat von Maschinen, die

einem Albtraum entsprungen zu sein schienen. Jedenfalls hielt ich diese Gebilde für Maschinen. Aber für Maschinen aus einer anderen Welt … Alles wirkte verdreht, verschoben und in sich verwachsen. Nach einer geraden Linienführung suchte ich vergeblich. Am ehesten erinnerte mich das ausladende Gebilde an ein komplettes Lineartriebwerk mit Konvertern, Felderzeugern und Peripherie-Überwachung, das in extremer Hitze geschmolzen und in Schwerelosigkeit wieder erstarrt war. Wobei ein innerer Druck der zähflüssigen Schmelze unterschiedliche Bewegungsrichtungen aufgezwungen haben musste. Aufsteigende Tropfen, Schichtenformationen, zerplatzende und ausgezackte Blasen, dazwischen eine Vielzahl von Höhlungen und Durchbrüchen – vielleicht täuschte ich mich auch in der Annahme eines technischen Aggregats, und es handelte

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sich nur um ein Kunstwerk … Javales hat Recht! Du bist unkonzentriert und ablenkbar. Vergiss endlich

die letzten Tage! Mein Extrasinn hatte die Bewegung eher als ich identifiziert. Eigentlich

war es nur ein Schatten hinter einem der Durchbrüche, aber er verschwand, während ich hinschaute, und tauchte mehrere Meter seitlich wieder auf.

»Was ist das?«, raunte Veloz. Auf jeden Fall war es keine der Roboterspinnen und wohl auch keine

andere bewegliche Maschine. Aber ein Lebewesen? Ein Seitenblick verriet mir, dass Javales sein Aufzeichnungsgerät überprüfte. Und dass das grelle Leuchten näher kam, wobei es ruckartig über eine Breite von mindestens fünfzig Metern pendelte.

Das Licht suchte nach etwas. Oder nach jemand? Da war der Schatten wieder. Flüchtig konnte ich einen Kopf sehen,

halbrund, wie von silbernen Schuppen bedeckt. »Bleibt zurück!«, befahl ich. Veloz da Metztat nickte knapp. Er hatte

seinen Kombistrahler gezogen. Auch Javales griff zur Waffe. Ich ging weiter, schaltete den Deflektor ab und winkelte die Arme an, die

leeren Handflächen nach vorne gestreckt. Das war eine universell gültige Geste. »Wenn du mich verstehen kannst, lass uns miteinander reden!«, sagte ich halblaut. Unwillkürlich bediente ich mich der alten lemurischen Sprache. Da eine Antwort ausblieb, versuchte ich es mit galaktischem Interkosmo. Danach auf Arkonidisch. Nichts geschah.

Langsam war ich weitergegangen und hatte die geschwungenen Ausläufer des Konglomerats erreicht. Irgendwo vor mir verbarg sich ein lebendes Wesen, dessen war ich mir nun völlig sicher. Es beobachtete mich, und ich konnte seine Nähe spüren. Vielleicht besaß es mentale Kräfte und versuchte vergeblich, meine Gedanken zu sondieren.

»Beeil dich, Atlan! Das Licht pendelt nicht mehr so weit … es nähert sich deiner Position.«

Wieder sah ich den sichelförmigen Schädel. Etwas länger diesmal. Auf dem Schädelkamm saßen faustgroße Augen. Die Haut schien aus silbern glitzernden Schuppen zu bestehen.

Ein Maahk? Aber dieses Wesen trug keinen Schutzanzug. Maahks konnten in einer Sauerstoffatmosphäre nicht überleben.

Ich tauchte endgültig in den bizarr erstarrten Schmelzfluss ein. Die Hohlräume waren bedeutend größer, als es von außen den Anschein hatte.

Ein Rascheln, links von mir. Es klang wie das Schaben verhornter Schuppen auf Metall. Danach Schritte. Ich folgte ihnen eine verdrehte

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Rampe hinauf. Sechs, sieben Meter über dem Hallenboden existierte eine schüsselförmige Vertiefung, wie ein flacher Hohlspiegel. Matte Reflexe lösten sich vom Rand und wirbelten auf einer Spiralbahn dem Zentrum entgegen, in dem sie mit energetischer Schwärze verschmolzen. Das Aggregat war aktiv, befand sich aber wohl nur im Leerlauf. Gut einen Meter breit war der Rand, der sich halb um den Spiegel herumzog und auf der entgegengesetzten Seite in einen Durchgang mündete. Wenn der Schuppenhäutige nicht im wogenden Schwarz verschwunden war, konnte er nur diesen Weg genommen haben.

Ich folgte ihm. Bevor ich die Öffnung durchschritt, wandte ich mich noch einmal um. Die Helligkeit stach senkrecht aus der Höhe herab, eine gut einen Meter durchmessende Lichtsäule, und sie sprang über die nächstliegenden Aggregate heran.

Es wäre vernünftiger, ihr auszuweichen, mahnte mein Logiksektor. Ich habe den Kontakt schon einmal überstanden, gab ich lautlos zurück. Du ziehst falsche Schlüsse, mein Freund.

Ein Raum mit versetzten Ebenen öffnete sich vor mir. Säulenartig ragten transparente Maschinen auf; sie wuchsen scheinbar aus dem Boden auf und weiteten sich trichterförmig, bevor sie mit der gewölbten Decke verschmolzen. Flüssigkeit pulsierte in ihnen, eine quirlige, düstere Strömung, in der ich fadenförmige Gebilde zu erkennen glaubte.

Rings um mich herum war Leben. Ein lauter werdendes Wispern, Raunen und Stöhnen erfüllte die Luft.

Ich glaubte, Aufregung zu spüren. Und Qual. Doch das alles blieb so diffus wie die Räume, die wir bislang durchquert hatten. Wie eine andere Daseinsebene, durchzuckte es mich. War der Kosmische Holländer gar nicht vollständig materialisiert, sondern hing noch zwischen den Dimensionen? Dann konnte er schon in der nächsten Sekunde abgleiten und würde unter Umständen erst wieder in zehntausend Jahren in unserem Universum erscheinen. Kein angenehmer Gedanke – zumal er meine Aufmerksamkeit ablenkte. Die Warnung des Extrasinns kam fast zu spät.

Ich konnte gerade noch halb ausweichen, als sich aus der Höhe ein massiger Körper auf mich stürzte. Vom Aufprall zu Boden gerissen, rollte ich mich dennoch zur Seite und kam federnd auf die Beine. Das heißt, ich hätte es geschafft, wären da nicht plötzlich mehrere Hände gewesen, die meine Beine umklammerten und mich mit unwiderstehlicher Gewalt zurückzerrten.

Das Wesen erinnerte tatsächlich an einen Maahk, es war nur kleiner und wirkte nicht so massig. Drei untereinander angeordnete Armpaare ließen

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den Körper breiter erscheinen, als er wirklich war. Dazu die beiden kurzen, kräftigen Beine. Die Arme selbst waren elastische Tentakel und liefen in mehrfingrige Hände aus.

Vergeblich versuchte ich, mich aus dem Griff zu befreien. Ich rief dem Angreifer einige Worte auf Kraahmak zu, der geläufigen Umgangssprache der Methanatmer. Tatsächlich stutzte er, seine großen Augen verengten sich, schienen mich durchdringend zu mustern. »Ich bin ein Freund«, wiederholte ich.

Er öffnete den breiten Mund am Übergang zwischen dem Kopfwulst und den breiten Schultern und entblößte sein kräftiges Gebiss.

»Lass uns miteinander reden!« Sein Griff lockerte sich, ich rollte mich endgültig herum und richtete

mich langsam auf, bemüht, jede hastige Bewegung zu vermeiden. Wenn er wirklich von Maahks abstammt, hat er eine extreme

Mutationskette hinter sich, wisperte der Logiksektor. Eine vollständige Umstellung seines Metabolismus.

Ich weiß, gab ich in Gedanken zurück. Aber sieh ihn dir an! Die Ähnlichkeit ist frappierend. Und er reagiert auf das Kraahmak.

Er hat acht Gliedmaßen! Wie die Spinnenroboter. Stand ich einem der Beherrscher der Vergessenen Plattform gegenüber?

Obwohl Roboter zumeist dem Erscheinungsbild ihrer Konstrukteure entsprachen, erschien mir dieser Schluss zu gewagt. Aber Maahks und dieses lemurische Raumschiff, das durch viele Legenden geisterte, das ergab schon eher einen Sinn. Abgesehen davon, dass Fartuloon und ich einst auch vier tote Maahks auf der Plattform entdeckt hatten, gab es in tiefer Vergangenheit genügend Berührungspunkte, die eine Anwesenheit der Methanatmer erklären konnten. Die Maahks waren vor mehr als 50.000 Jahren von Lemurern aus ihrer Heimatgalaxis Andromeda vertrieben worden.

»Du verstehst mich?«, fuhr ich fort. »Mein Name ist Atlan.« Ein kehliges Knurren drang aus seinem Rachen. Er starrte zu mir hoch,

dann beugte er sich nach vorne, um sich mühsam aufzurichten. Dabei konnte ich seinen Rücken sehen. Ich erschrak. Die fingerdicken Schuppen hingen in Fetzen zur Seite, das Körpergewebe war zu einem unförmigen Geschwür angeschwollen, und das wilde Fleisch hatte zwei Metallteile überwuchert, die im Nacken dieses Wesens steckten. Spinnenbeine!, durchzuckte es mich. Es konnte gar nicht anders sein. Beide Beine waren gewaltsam ausgerissen worden, an den Schultergelenken hingen noch künstliche Sehnenbündel und Zuleitungen.

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»Was ist mit dir geschehen?« Der Maahk – ich nannte ihn besser einen Pseudo-Maahk – starrte mich

verwirrt an. Für einen Augenblick hatte ich den Eindruck, dass er mich gar nicht mehr wahrnahm, dann wich er zögernd zurück.

Er wirkte plötzlich gehetzt, riss den Rachen auf und brüllte wild. Meine Rechte zuckte zur Waffe. Falls der sechsarmige Koloss durchdrehte, hatte ich kaum eine Chance.

Der Schrei brach abrupt ab, als gleißende Helligkeit den Pseudo-Maahk umfloss. Durch die geschlossene Decke fiel dieses Licht herein. Innerhalb weniger Sekunden wurde der massige Körper erst durchscheinend, dann löste er sich auf, als hätte er nie existiert. Ich stand bereits in der Toröffnung, und als der grelle Lichtstrahl ruckartig zu wandern begann, als suche er nach einem neuen Opfer, warf ich mich herum und floh.

»Roboter!«, rief Veloz mir entgegen. »Wir müssen hier verschwinden, Atlan!«

Von allen Seiten drängten die mechanischen Monster heran. Meine Begleiter hatten das Feuer eröffnet, aber die Übermacht war zu groß. Für jede Spinne, die reglos auf der Strecke blieb oder gar ausbrannte, schienen zwei, drei weitere aus irgendwelchen Löchern zu kriechen – eine Streitmacht, der wir unmöglich Herr werden konnten.

Das heißt, sie hatten uns nicht völlig umzingelt, sondern wieder eine Fluchtrichtung frei gelassen. Inzwischen erschien es mir wie Wahnsinn, diesen Weg einzuschlagen, doch uns blieb keine andere Wahl. Massarems Tod war eine eindringliche Warnung.

Erneut versuchte ich, Verbindung zur TOSOMA zu bekommen. Der Minikom blieb abermals taub. Unser Schiff schien eine Ewigkeit weit entfernt zu sein. Und wer konnte es schon sagen, vielleicht stimmte das auch.

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4.

Übergangslos schreckte er auf. Stille umfing ihn, und er empfand diesen Zustand, als schwebe er in der Ewigkeit. Außer ihm gab es nichts, nur Schwärze – und seine langsam erwachenden Gedanken.

Ich lebe! Zögernd traf er diese Feststellung. Die Frage hallte in ihm nach, wurde drängender, schwoll zur Lawine an,

der er sich nicht entziehen konnte. Wie Schlaglichter blitzten Szenen vor ihm auf: der Sonnentransmitter … die TOSOMA … die Vergessene Plattform … Das alles existierte nicht mehr, es war einer samtenen Schwärze gewichen, und in dieser Schwärze wuchsen winzige Lichter, Sterne, die sich zu Spiralen zusammenfanden und die Leere erfüllten. Auf eine dieser leuchtenden Inseln stürzte er zu, auf eine der Galaxien am Rande des Nichts. Sie war uralt, nur wenige Jahrmillionen nach dem Urknall entstanden.

Er ließ sich treiben und versuchte nicht mehr zu ergründen, was geschehen war. Das hier war seine Welt, die ihm fremd erschien und zugleich vertraut.

Die Sterne hülsten sich in ein düsteres Rot, je näher er ihnen kam. Sie waren alt und der Raum zwischen ihnen von dichter Materie erfüllt. Bald würden sie erloschen durch die Ewigkeit treiben. Endlos. Immer weiter hinaus.

Ein freudiges, erregtes Wispern klang ihm entgegen. Er hörte diese Stimmen nicht wirklich, doch sie waren in ihm, in jeder Faser seines Körpers.

Habe ich überhaupt noch einen Körper? Es fiel ihm schwer, sich zu erinnern. Unglaublich lange Zeit schien vergangen zu sein, seit er sich zuletzt in einem Spiegel gesehen hatte.

Die Stimmen riefen ihn. Über Äonen hinweg waren sie einsam gewesen, während ihre Welten in der Glut zu Novae werdender Sonnen verbrannten. Sie lebten heute zwischen den spärlicher werdenden Sternen, vergeistigt, doch lohnt die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln. Zu Gefangenen waren sie geworden, und wenn die letzte Sonne ihrer Galaxis erlosch, würden sie in Finsternis und Eiseskälte zu existieren aufhören.

Sie waren namenlos, waren eins in ihrer Gesamtheit, aber zugleich unendlich verschieden, Angehörige vieler Völker … Er selbst hatte einen Namen. Er versuchte, sich zu erinnern. Lethem. Eine neue Ewigkeit schien vergangen zu sein. Oder doch nur ein Augenblick? Lethem da Vokoban.

Die Plattform …

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Wir kennen sie, hallte es in ihm wider. Wir haben den großen Quader nicht vergessen. Ja, die Plattform war bei uns. Gestern erst. Die Stimmen wollten ihn zurückhalten, ihn nie wieder freigeben. Weil er die einzige Abwechslung in ihrem Dasein war.

Sie spürten, dass er ihnen entglitt, und warfen sich auf ihn. An der Grenze zwischen dem Nichts und erlöschenden Gestirnen angelangt, wollten sie niemals mehr einsam sein. Lieber töteten sie den Fremden, als ohne ihn zu existieren. Auch körperlos waren sie stark. Es interessierte sie nicht, dass er unter ihrem Ansturm schrie …

… gurgelnd verstummte der Pilot. Ein durchdringender Schmerz raubte ihm den Atem. Die glühend heiße Woge breitete sich vom Hinterkopf über den Nacken aus und tobte sein Rückgrat entlang. Das war ein Entzerrungsschmerz, wie Lethem ihn noch nie zuvor gespürt hatte.

Die TOSOMA war aus der Nottransition zurückgefallen. Lethem wusste das, hatte aber dennoch Mühe, sich zurechtzufinden. Tief in ihm hielt sich das Bild einer langsam erkaltenden Sterneninsel – ein roter Schimmer im Nichts, bestehend aus Millionen erlöschender Sterne. Und da war die Vergessene Plattform. Düster. Schwarz. Beinahe mit dem Hintergrund verschmelzend. Nur das sie umgebende diffuse, unwirklich erscheinende Leuchten machte sie überhaupt sichtbar.

In Lethems Schädel wirbelte alles durcheinander. Was letztlich blieb, war das Abbild des Geisterschiffs auf der Panoramagalerie ebenso wie auf seinen Kontrollholos. Alles andere verblasste. Egal, ob seiner eigenen Vorstellung entsprungen oder suggeriert, er schob jeden Gedanken daran unwillig beiseite.

Der Alarm heulte immer noch durch das Schiff. Lethem da Vokoban registrierte die Vibrationen erst jetzt, nachdem er sie zuvor aus seinen Wahrnehmungen ausgeblendet hatte.

Die TOSOMA war nach der Nottransition nahezu im Zentrum des Sonnendodekaeders aus dem Hyperraum zurückgefallen. Die Plattform stand in den Holos beinahe zum Greifen nahe. Einige Millionen Kilometer Distanz, und die TOSOMA raste ihr auf Kollisionskurs entgegen.

Höchstens noch zweieinhalb Minuten bis zum Zusammenstoß. Von einer der Stationen erklang ein heiserer Ruf. Lethem konnte die

Stimme nicht identifizieren. Er ließ sich im Sessel zurücksinken und schloss sekundenlang die Augen, dann hob er die Hände vors Gesicht und massierte mit den Fingerspitzen seine Schläfen und die Augenwinkel.

Höchstens eine viertel Minute saß er so da, während es in der Zentrale wieder lebendig wurde. Endlich war die Stimme des Kommandanten zu

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hören. Khemo-Massai forderte Schadensmeldungen an. »Die Stoßfront hat sich aufgelöst!«, erklang es von der Ortung. »Mit der

Transition hätten wir sie ohnehin überwunden.« »Schutzschirm und Waffensysteme?« »Nur ein Prallfeld steht, der automatische Aufbau des Paratronschirms

scheitert. Transformkanonen und MVH-Geschütz zeigen Grünwerte.« »Triebwerke? – Verdammt, Lethem, wir liegen auf Kollisionskurs!« »Ich weiß«, murmelte der Pilot, mehr zu sich selbst als für die anderen

bestimmt. Vergeblich bemühte er sich, wenigstens eine Kurskorrektur zu erreichen. Weder der Metagrav noch die Gravopuls-Projektoren reagierten.

Die Kollisionswarnung flammte auf. In neunzig Sekunden würde die TOSOMA nur mehr eine expandierende Gaswolke sein, egal, ob sich das Leuchten um die Vergessene Plattform herum als Schutzschirm erwies oder nicht.

»Was ist los, Lethem? Ich erwarte eine Meldung!« Der Pilot erhielt keinen Aktivierungsimpuls. Reihenweise wechselten die

Grünwerte in ein höhnisch glimmendes Rot. Er aktivierte die Selbstkontrolle. Alle Systeme verfügbar, erschien eine Einblendung. Lethem löschte sämtliche Anzeigen, aber der Neuaufbau war unverändert.

Noch fünfzig Sekunden bis zum Aufprall. »Das Schiff evakuieren!«, befahl der Kommandant.

*

Über kurz oder lang mussten wir die Außensektoren erreichen. Die Frage war nur, ob wir danach wirklich einen Weg finden würden, die Plattform zu verlassen. Ich dachte an die beschädigte Kuppel der Zentralen Positronik, die Fartuloon und ich damals gesehen hatten. Jeder Versuch, mit der Positronik Kontakt aufzunehmen, barg ein Risiko …

Du lässt dich ablenken. Ich stutzte. Die Spinnen folgten uns in geringem Abstand, legten aber

keine Eile an den Tag. Weil sie wissen, dass ihr ihnen nicht entkommen könnt, giftete der

Extrasinn. Und du hast keine Ahnung, wo du die Positronik finden kannst. Also konzentriere dich auf das Nahe liegende.

In der letzten Halle waren wir gezwungen gewesen, auf eine andere Etage zu wechseln, weil unsichtbare Wände den Weg versperrt hatten. Die Bezeichnung Wand war eigentlich falsch. Wir hatten in dieses unbestimmbare Etwas eindringen können, waren jedoch auf einen schnell deutlicher werdenden Widerstand gestoßen und hatten uns nach wenigen

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Schritten in der Halle wieder gefunden, ohne freilich sagen zu können, wann oder wie wir die Kehrtwende um 180 Grad vollzogen hatten. Ein zweiter und dritter Versuch hatte kein anderes Ergebnis gebracht.

In einem Antigravschacht waren wir danach gut hundert Meter in die Höhe geschwebt, in einen Bereich, der so oder ähnlich auf den meisten Raumschiffen zu finden war: verwinkelte Korridore, Schotten zu beiden Seiten und hinter ihnen vermutlich Mannschaftsquartiere.

Immerhin waren von solchen Decks aus alle wichtigen Schiffsfunktionen auf direktem Weg zu erreichen. Das galt für die Kommandofunktionen ebenso wie für Maschinenräume, Hangars und Mannschleusen. Mein Versuch, eine der vermeintlichen Kabinen zu öffnen, hatte uns nur Zeit gekostet, ohne ein Ergebnis zu bringen.

Andererseits waren wir dem Bereich des diffusen Zwielichts entronnen. Javales’ unbewusstes Aufatmen hatte ich durchaus bemerkt. Endlich fühlte er sich wohler. Die Ausstrahlung des Alten, geradezu Zeitlosen war zwar geblieben, doch die Strukturen wirkten nun vertrauter.

Transparente Flächen erlaubten einen Blick in die Tiefe. So weit wir sehen konnten, erstreckten sich unter uns bizarre Maschinenanlagen. Lichtblitze huschten durch die Halle, zerstoben und pflanzten sich durch ein unüberschaubares halb transparentes Röhrensystem fort.

In einem Seitengang arbeiteten Roboterspinnen. Zwei große Exemplare hingen unter der Decke und lösten Verkleidungsplatten, andere hantierten an den Wänden. Sie hatten tentakelartige Werkzeuge ausgefahren. Als sie uns bemerkten, nahmen sie sofort Angriffshaltung ein.

Wir liefen weiter. Im Zurückblicken sah ich, dass eine der Spinnen den Seitengang verließ und uns beobachtete. Sekunden später zog sie sich wieder zurück.

Die Luft war stickiger geworden. Es roch nach Moder und Feuchtigkeit. Hatte mein Logiksektor das mit dem Vorwurf gemeint, ich solle mich auf das Nahe liegende konzentrieren?

Javales hielt abrupt inne. Prüfend sog er die Luft ein, und als er sich mir zuwandte, wirkte er irritiert. »Das riecht nach Fäulnis, Atlan. Ich stamme aus einer Bergregion im Norden Spaniens, seit mehr als tausend Jahren Naturschutzgebiet. Diesen Geruch werde ich nie vergessen – ich kenne ihn seit meiner Jugend, als bei einem Bergrutsch saftige Wiesen verschüttet wurden. Aber an Bord eines Raumschiffs …?« Er stockte. »Wir Terra-Nostalgiker plädieren schon sehr lange dafür, der Natur großzügig bemessene Reservate einzuräumen …«

Ich ließ Javales reden. Veloz’ indigniertes Lächeln verriet mir, dass er

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Jorge ebenfalls längst durchschaut hatte. Der Archivar war ein Mann, der sich hinter Prinzipien versteckte und damit seine oft linkische Art zu kaschieren versuchte. Andererseits war Jorge ein exzellenter Kenner lemurischer Geschichte und ebenso jener der Lemurerabkömmlinge. Er brauchte Anlauf, aber erst einmal in Fahrt geraten, vergaß er über seinen Vorträgen alles andere.

Der Geruch wurde intensiver. Er wehte uns durch den Korridor entgegen, ohne dass ich eine Ursache dafür erkennen konnte. Die vermeintliche Kabinenflucht erstreckte sich noch über mindestens hundert Meter.

Sieh dich vor! Die Warnung meines Extrasinns kam zu spät. Von einem Schritt zum

nächsten öffnete sich vor mir ein ausgedehnter Kuppelsaal. In der Höhe, zwischen rauchigen Wolkenschleiern, loderte eine kleine

Atomsonne. Ihr Licht und die Wolken warfen schnell treibende Schatten. Üppiges Grün hatte von der Halle Besitz ergriffen und ließ nur noch in der Höhe die Wände erkennen. Hier wucherte dampfender Dschungel, undurchdringlich und in seiner Lautlosigkeit erschreckend. Tropische Temperatur und hohe Luftfeuchtigkeit bestimmten das Klima. Erstickend legte sich der schwere Modergeruch auf die Atemwege.

»Da sollen wir durch?«, fragte Javales irritiert. »Was ist das hier?«, wollte Veloz da Metztat wissen. »Ich vermute, eine hydroponische Anlage«, antwortete ich. »Pflanzliche

Nahrung für die Besatzung, Lufterneuerung, Kläranlage – oder auch nur ein simpler Erholungsbereich …«

Im Hintergrund der Halle – Hunderte Meter entfernt, doch ich bezweifelte, dass der optische Eindruck die wirklichen Verhältnisse erkennen ließ – ballte sich Finsternis. Dort ging ein heftiger Wolkenbruch nieder.

»Wird das alles noch kontrolliert?« »Mehr oder weniger, Veloz«, antwortete ich. »Wahrscheinlich die

Wasserzufuhr. Alles andere dürfte sich längst zu einem geschlossenenÖkosystem entwickelt haben.«

Auch hinter uns erstreckte sich üppiges Grün, so weit das Auge reichte. Mit einer unwilligen Bewegung wischte Javales Schlingpflanzen beiseite, die ihn behinderten. Sie ringelten sich um seinen Arm, aber er zerriss sie mit einem wütenden Ruck. »Wir sind von da gekommen, Atlan, oder?«

Im morastigen Boden waren unsere Stiefelabdrücke nur mehr leidlich zu erkennen. Ich machte zwei Schritte zurück – und stand übergangslos wieder im Korridor, scheinbar weit entfernt vom dampfenden Dschungel.

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Ein ausgeklügeltes optisches System mochte dafür verantwortlich sein, doch ebenso war denkbar, dass eine winzige Niveauverschiebung die Räume trennte.

Nichts hatte sich verändert. Fast nichts jedenfalls. Abgesehen von dem Heer Roboterspinnen, das den Korridor ausfüllte.

»Da muss irgendwo ein Nest sein«, sagte Jorge neben mir. Seine Stimme zitterte leicht. Trotzig schob er das Kinn nach vorne, als er das näher kommende Wimmeln fixierte. Die Spinnen schoben sich sogar übereinander, und einige Exemplare hingen an den Seitenwänden und kamen schneller näher als die anderen. »Ich hasse Spinnen«, murmelte der Archivar und massierte seinen Nacken.

Ich zog ihn mit mir, zurück in den Dschungel. Die kurze Berührung ließ mich Jorges Zittern spüren. Natürlich würden uns die Roboter folgen. Etwas anderes anzunehmen wäre sträflicher Leichtsinn gewesen.

»Geht allein weiter …« Javales schluckte krampfhaft. »Ich … muss hier bleiben.«

Er wich meinem forschenden Blick aus. »Spürst du eine Beeinflussung?«, fragte ich alarmiert.

Jorge schwieg, doch an seiner Stelle sagte Veloz: »Ich spüre einendumpfen Druck im Schädel. Über dieser Halle liegt eine bedrückende Aura, fast ein mentaler Zwang …« Er war leiser geworden und verstummte, obwohl er noch mehr hatte sagen wollen.

Hinter uns brachen die ersten Roboterspinnen durch. Javales schrie auf, riss die Waffe hoch und schoss. Der Thermostrahl setzte das Unterholz in Brand. Flammen züngelten auf, erstickten in dem üppigen Grün aber sehr schnell. Dichter Qualm breitete sich aus. Für die Roboter war das offenbar ein Zeichen, uns anzugreifen. Veloz erledigte die vorderste Maschine mit zwei gut gezielten Schüssen, während ich auf die beiden Exemplare feuerte, die im Geäst über uns erschienen waren. Wenn alle Spinnen aus dem Korridor hier eindrangen, hatten wir in dem Dickicht einen schweren Stand.

»Wir verschwinden besser!«, drängte der Historiker. Der Untergrund wurde schlammig. Schmatzend schloss sich der Morast

um unsere Stiefel. Wenn ich mich umdrehte, glaubte ich, metallische Reflexe im Unterholz zu sehen. Die Roboter folgten uns.

Eure einzige Chance ist, dass die TOSOMA rechtzeitig erscheint, wisperte der Logiksektor. Aber du weißt nicht einmal, ob du wirklich fliehen sollst …

Sei still!, herrschte ich meinen Extrasinn an. Oder ich bereue, dass du je

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aktiviert worden bist. Sein verhaltenes Lachen verriet mir, dass er mich nur provoziert hatte.

Das Leben geht weiter, Beuteterraner! Ein Aufschrei neben mir. Tentakel peitschten durch die Luft, schlangen

sich um Veloz’ Beine und rissen ihn mit sich. Das Unterholz war lichter geworden und hatte uns sekundenlang die Illusion verschafft, wieder schneller voranzukommen. Nun erwies sich der kniehoch von farnähnlichen Pflanzen überwucherte Boden als trügerisch.

Veloz versank, kam prustend wieder an die Oberfläche – und wurde mit unwiderstehlicher Gewalt weitergezerrt. Etwas wie eine kantige Rückenflosse tauchte aus dem Morast auf. Ich schoss fast augenblicklich.

Eine zuckende Masse brach aus dem Sumpf hervor. Schlamm und Pflanzen spritzten nach allen Seiten und machten es unmöglich, mehr als vage Umrisse der Kreatur zu erkennen. Der Boden schwankte, als sie dumpf klatschend zurückfiel, und peitschende Tentakel verwandelten den Sumpf in einen brodelnden Sog. Ich sah Veloz abermals untertauchen. Verzweifelt kämpfte er gegen einen zweiten Fangarm, der sich um seine Schultern schlang.

Ich versank bis über die Hüften im Schlamm, als ich mich nach vorne warf. Hinter mir hörte ich Jorge rufen, doch ich verstand nicht, was er sagte. Etwas Hartes traf meine Schulter, und dicht neben mir stieg erneut dieses dunkle Monstrum auf, ein Berg aus Fleisch und Schuppen. Ich hatte keine Zeit gefunden, den Folienhelm nach vorne zu ziehen und zu schließen. Tief sog ich die stinkende Luft ein, tauchte und stieß mich mit aller Kraft ab, während über mir der Koloss zurückfiel. Abermals verfehlte er mich um Haaresbreite.

Die entstehende Druckwelle spülte mich hoch. Ich sah Schatten, eine schäumende, brodelnde Masse, und roch nur noch verbranntes Fleisch. Javales feuerte aus wenigen Metern Distanz auf den Angreifer.

Sekunden später erreichte ich Veloz. Mit beiden Händen versuchte er, den Fangarm zu lösen, der sich um seinen Hals gelegt hatte. Obwohl dem Tier die Kraft schwand, hatte da Metztat allein keine Chance.

Mit der Linken zerrte ich mein Vibratormesser aus dem Beinfutteral und stach zu. Ich musste höllisch aufpassen, dass ich nicht ebenfalls von einem der peitschenden Tentakel getroffen wurde. Veloz verschwand erneut in der brodelnden Brühe. Ich wurde herumgewirbelt und klammerte mich mühsam fest, während ich weiter auf den schenkeldicken Muskelstrang einstach. Viel zu lange schien es zu dauern, bis ich den Tentakel durchtrennt hatte, dann wirbelte mir eine peitschende Bewegung das

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schlammbedeckte Messer aus der Hand. Die Klinge versank im Morast. Prustend kam Veloz wieder hoch. Beide Hände hatte er unter den

Tentakel gekrallt, um den mörderischen Druck auf seinen Hals abzufangen. Jetzt schaffte er es endlich, die Umschlingung zu lockern.

»Atlan!« Javales’ Aufschrei übertönte das Gurgeln und Platschen. »Spinnen! Vor euch!«

Sie näherten sich quer über den Schlamm und waren höchstens noch zwanzig Meter entfernt. Jorge feuerte sofort; seine Thermoschüsse fauchten knapp über mich hinweg. Mit einem Arm umfasste ich Veloz und zerrte ihn mit mir auf halbwegs festen Boden zurück. Er löste den Tentakelstrunk vollends und schleuderte ihn angewidert von sich.

»Weiter!« Wenn nicht alles umsonst gewesen sein sollte, mussten wir einen Ausweg aus dieser Halle finden.

Die Roboterspinnen hatten uns nahezu eingekreist. Javales’ Waffe blockierte. Mit fliegenden Fingern nestelte er das Ersatz-Energiemagazin vom Gürtel.

Im Herumfahren stieß ich Veloz zur Seite, riss meinen Strahler hoch und feuerte ungezielt. Erst der dritte Schuss stoppte eine der Spinnen, die nächste sprang den Archivar an. Er schaffte es nicht mehr, sich zur Seite zu werfen, und schlug rückwärts auf. Sofort war der Roboter über ihm, drückte ihn zu Boden und fuhr blitzende Kieferzangen aus.

Mich fallen lassen und den Strahler auslösen war eins. Mehr Zeit blieb mir nicht. Ich lag keine vier Meter neben Javales, und der fingerdicke Glutstrahl stach schräg in die Höhe. Einen bangen Augenblick lang sah es so aus, als würde die Energie an der Spinne abfließen, dann verspritzte zähflüssiges Metall.

Jorge schaffte es, sich wenigstens ein Stück weit herumzuwälzen, so dass die Glut an seinem Anzug abtropfte.

Mein zweiter Schuss durchbohrte den Roboter in der Körpermitte. Im nächsten Moment war ich neben Javales und umklammerte die vorderen Spinnenbeine. Das Biest versuchte zwar noch, nach mir zu treten, aber ihm fehlte die Kraft. Ich zerrte es hoch und wuchtete es auf den Rücken. Seine rudernden Bewegungen hatten etwas von einem Käfer, der vergeblich versucht, sich wieder aufzurichten.

Wir flohen jetzt vor der Meute und sanken bei jedem Schritt bis an die Waden ein. Der Einsatz der Gravopaks scheiterte. Nicht nur der Funkempfang war gestört, auch der Antigrav zeigte deutliche Ausfallserscheinungen.

Veloz stieß eine deftige Verwünschung aus, als der Sumpf vor uns ins

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Kochen geriet. Aufsteigende Gasblasen verdrängten den Schlamm, und mit ihnen erhoben sich abstruse Kreaturen. Hier schob sich ein sechsbeiniger Fisch an die Oberfläche, dort richtete sich ein schlangenartiges Geschöpf auf und spreizte Flughäute ab. Es schien, als wäre der gesamte Morast in Bewegung geraten.

Sieh genauer hin!, drängte mein Extrasinn. Im Nacken des Schlangenwesens kauerten Spinnen. Doppelt faustgroße

Exemplare hatten sich in der Haut festgekrallt. Auch die anderen Wesen waren von Roboterspinnen »befallen«.

Höchstens noch zwanzig Meter vor uns wirkte das grüne Dickicht wieder wie eine undurchdringliche Mauer. Die so unverhofft aufgetauchten Kreaturen versperrten uns den Weg, und hinter uns folgten die großen Roboterspinnen.

Veloz da Metztat stürmte voran, Jorge Javales lief neben mir. Wir mussten den Wald erreichen. Der Terraner war schweißüberströmt und taumelte; trotzdem gab er sich Mühe, seine Schwäche zu verbergen. »Ich hoffe, die Qualität der Aufzeichnungen ist gut«, brachte er schwer atmend hervor.

Was war dieser Sumpf? Ein galaktischer Zoo? Uns verfolgten Dutzende Augenpaare, dennoch sah ich keine zwei gleichartigen Geschöpfe. Sammelte der Kosmische Holländer Leben ein, wo immer er materialisierte? Aber wir drei waren gewiss nicht als Ausstellungsstücke geeignet, wir … Veloz hob die Waffe. »Nicht schießen!« Ich fiel ihm in den Arm.

Vor uns, kaum noch von den wuchernden Pflanzen verdeckt, glaubte ich den Maahk zu erkennen, den das grelle Licht aufgelöst hatte. Also handelte es sich doch um ein Transportsystem, ähnlich dem Leuchten des Hoagh, das Fartuloon und ich damals kennen gelernt hatten? Das Geschöpf mit dem Sichelkopf und der Schuppenhaut streckte uns seine sechs Arme entgegen, als wolle es uns freudig begrüßen. Gleichwohl war ich mir nicht sicher, ob es sich wirklich um den Pseudo-Maahk handelte. Über seinen Sichelkopf reckte sich das Vorderteil einer großen Roboterspinne empor. Mit vier ihrer Gliedmaßen umklammerte sie seinen Oberkörper. Was mit den anderen Spinnenbeinen war, danach fragte ich lieber nicht; sie hatten sich zweifellos ins Fleisch des Bedauernswerten eingegraben.

Das Urteil »bedauernswert« ist verfrüht, wies mich der Logiksektor zurecht. Möglicherweise sind die Spinnen mit diesen Lebewesen eine Symbiose eingegangen, die beiden Seiten Vorteile einbringt.

Immer mehr Kreaturen erschienen im Dickicht. »Sie sind mutiert«, sagte

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Javales tonlos. Da war ein Echsenwesen mit zwei Schädeln, jedoch nur rudimentären, lappenartigen Greiforganen. Auf vier weit hinten am Körper angesetzten Stummelbeinen schob es sich schwerfällig vorwärts. Massige Muskelstränge hielten den Leib aufrecht. Auch im Nacken der Echse hing eine der großen Spinnen.

Daneben ein Blue. Aber kein blauer Pelzflaum bedeckte seinen Körper, sondern faltige Lederhaut. Lediglich der lange schlanke Hals und der Tellerkopf ließen die genetische Abstammung erkennen. Auf der Oberseite des Kopfes und auf den Schultern saßen fünf der kleinen Spinnen.

»Die Roboter kontrollieren diese Wesen!« Wie einen Fluch stieß Veloz die Feststellung aus.

Das war in der Tat die plausibelste Folgerung. Ich sah, dass der Historiker die Narben in seinem Gesicht mit den Fingerspitzen nachfuhr. Übten die Spinnenroboter auf ihre Opfer eine biologisch-paramechanische Kontrolle aus? Hatten sich meine Begleiter deshalb nach den Bissen vorübergehend lethargisch gezeigt? Ein steter Kontakt mit den Robotern hätte sie wohl unweigerlich in deren Bann gebracht. Und genau deshalb folgten uns die Spinnen so hartnäckig – sie wollten uns kontrollieren.

»Wenn wir die Strahler auf Paralyse umschalten …«, sagte Veloz. »Wir müssen in den Sumpf«, unterbrach ich ihn. Veloz starrte mich entgeistert an. »Wovon redet ihr?«, wollte Jorge wissen. »Davon, dass wir mehr als nur Glück brauchen.« Veloz da Metztat verzog

den Mund zu einem herausfordernden Grinsen, wandte sich halb um und feuerte auf die erneut bedrohlich nahe kommenden Spinnen.

Ich verließ den halbwegs sicheren Boden und zog Javales mit mir. Veloz folgte hinter uns. Nur zwei Schimären waren nahe genug, dass sie uns den Weg abschneiden konnten. Dessen ungeachtet reagierten sie zu langsam.

Uns blieb nichts anderes mehr, als die beherrschende Macht in diesem Schiff herauszufordern. Wir hatten von Anfang an nur die Wahl gehabt zwischen einer kleinen Chance und gar keiner.

*

45 … 44 … noch 43 Sekunden bis zum Aufprall … Gnadenlos verstrich die Zeit. Immer schneller glitten Lethem da Vokobans Finger über die Schaltflächen. Verbissen starrte er auf die Anzeigen und ignorierte mittlerweile völlig, was um ihn herum in der Zentrale geschah.

»Wo liegt die Ursache der Blockade?« Der Bordrechner antwortete nicht. Mit fliegenden Fingern veränderte der

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Zweite Pilot die Parameter und schaltete sich in die Verlaufskontrollen des Metagravs ein. Verwirrende Symbole wechselten einander in blitzschneller Folge ab.

Energieversorgung durch beide Gravitraf-Speicher – keine Blockade. Einspeisung in die Sublicht-Hyperkon-Komponente – alle Phasen auf

Grün, Redundanzverluste innerhalb der Norm. Noch 35 Sekunden … Zu wenig Zeit, um über den nahenden Tod

nachzudenken, geschweige denn ihn zu fürchten. »Wir müssen gehen!« Schwer legte sich eine Hand auf seine Schulter.

Der Pilot schaute auf und blickte in das unbewegte Gesicht des Kommandanten. »Komm!«, drängte Khemo-Massai.

Lethem schüttelte den Kopf. Die Zeit reichte kaum mehr, um zu den Rettungskapseln zu gelangen. Auf dem Panoramaschirm erschienen die Schleusenanzeigen, die drei Stealth-Shifts waren besetzt und bereit zum Ausstoß. Ebenso die Gleiter. Einige Rettungspods warteten noch aufnahmebereit in den Depots.

26 Sekunden … Lethem spürte den Atem des Kommandanten im Nacken. Knapp gab er

seine Befehle an den Bordrechner, während er zugleich mit tränenverschleiertem Blick Schaltungen einleitete. Er hätte aufschreien können, als er die Blockade endlich fand. Die Nottransition hatte eine an sich banale Sicherung ansprechen lassen, und schuld daran waren die hyperphysikalischen Besonderheiten des Kugelsternhaufens. Das war eine Schaltung, die nicht einmal in Schulungsprogrammen erwähnt wurde.

Es fiel ihm leicht, die Blockade zu überbrücken. Dann volle Leistung auf den Metagrav. Ein Wimmern tief aus dem Schiff schien alle Schallisolierungen zu durchschlagen. Lethem war sich aber nicht einmal sicher, ob nicht er selbst dieses Wimmern ausstieß.

Ein unwirkliches Leuchten sprang von der Panoramagalerie herab. Dahinter war Schwärze, ein gigantisch anmutender Koloss – die Vergessene Plattform. Wild zupackend grub sich die Hand in Lethems Schulter …

… und ließ los, als der Frontschirm nur noch eine Hand voll ferner blauer Sonnen zeigte. January Khemo-Massai ging schwerfällig zu seinem Platz zurück. »Das war knapp, Lethem«, stellte er fest, und wer ihn kannte, wusste, dass er damit das größte Lob aussprach. Laut sagte er: »Ausgeschleuste Objekte anpeilen! Wir müssen die Besatzung zurück …«

»Der Vorgang wurde bei minus acht Sekunden abgebrochen, als die Kurskorrektur ersichtlich war«, antwortete der Bordrechner.

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Khemo-Massai aktivierte den Interkom: »Gefechtszustand besteht nach wie vor! In dreißig Sekunden will ich jeden wieder auf seinem Posten sehen!«

*

Nach wie vor antriebslos hing das kantige Monstrum nahezu im Zentrum des Sonnentransmitters. Nichts deutete darauf hin, dass an Bord die Beinahekollision überhaupt registriert worden war.

»Das Ding ist taub«, sagte jemand. »Oder es sieht uns nicht als Bedrohung an«, stellte Lethem da Vokoban

fest. Vorhin hatte er wie eine Präzisionsmaschine funktioniert, doch nun, da die Anspannung von ihm abfiel, fühlte er sich wie ausgebrannt. Er hätte selbst nicht geglaubt, dass er den Zusammenstoß abwenden könnte. Aber er hatte es versuchen müssen. Sekundenlang blickte Lethem auf seine Hände. Sie zitterten leicht. Spontan versuchte er, dieses Zittern zu verbergen, nur wollte ihm das nicht so recht gelingen.

Er wandte sich wieder den Kontrollen zu. Die Antriebssysteme arbeiteten einwandfrei. Der Jagdkreuzer hatte sich mehrere Millionen Kilometer von der Vergessenen Plattform entfernt. Mit einem Angriff war auf diese Distanz wohl nicht mehr zu rechnen.

»Der Shift mit dem Einsatzkommando wurde ebenfalls nicht ausgeschleust«, sagte Khemo-Massai in dem Moment. Sein Konterfei blickte Lethem vom Holoschirm entgegen. »Und der Zwischenfall hat nichts an unseren Absichten geändert. Falls Atlan und seine Begleiter wirklich auf die Vergessene Plattform versetzt wurden, müssen wir ihnen helfen. Das heißt …«, der Kommandant machte eine bedeutungsvolle Pause, »… wir führen den Anflug nicht nur wie geplant zu Ende, wir können wohl auch davon ausgehen, dass wir nicht angegriffen werden. Lethem, willst du abgelöst werden, oder …?«

»Ich fühle mich nicht krank«, unterbrach der Pilot schroff. »Im Gegenteil. Was ich anfange, das bringe ich auch zum Abschluss.«

January Khemo-Massai nickte zufrieden. »Genau das wollte ich hören. Absetzmanöver für den Shift in 120 Sekunden?«

»Geht klar«, bestätigte Lethem. »Paratronstaffel wird aufgebaut!«, meldete Cisoph Tonk. »Damit ist das

Schiff wieder voll einsatzbereit.« Die TOSOMA, deren Kursvektor auf einen der noch weit entfernten

Ecksterne zielte, glitt in eine lang gezogene Kurve. Langsam wanderte die Plattform wieder in die Fronterfassung ein.

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»Energieortung?« »Ein hohes energetisches Spektrum, aber kein Anwachsen einzelner

Werte.« Ohne die vorherige Anspannung geriet dieser zweite Anflug zur Routine.

Nach wie vor umgab der Hauch des Rätselhaften und Fremden die Plattform, doch die Beklemmung einer unheimlichen Bedrohung war verhaltener Neugierde gewichen.

Seit der Beinahekatastrophe waren erst zweieinhalb Minuten vergangen, als der Pilot eine energetische Schwankung registrierte. Eine flüchtige Beeinträchtigung, ein kurzes Abfallen der Beschleunigung, doch bevor er sich darauf konzentrieren konnte, war es wieder vorbei. Lethem rief die Aufzeichnung ab, als die Ortung ein Anschwellen hyperenergetischer Werte meldete.

»Wir messen steigende Sonnenaktivität an!« »Wird der Transmitter aktiv?«, wollte Khemo-Massai sofort wissen. »Der Vorgang begann offenbar mit unserer Nottransition.« »Ausgeschlossen, dass die TOSOMA das bewirkt haben kann. Ohne

Aktivierungsimpulse der Schaltstation …« »Traktorstrahlen greifen nach der Plattform!« »Ausgeschlossen. Außer dem Geisterschiff und der TOSOMA …« »Kharag!«, rief Cisoph Tonk in die Runde. »Die Stahlwelt greift ein!« Die Schaltstation für das Sonnendodekaeder war in eine stationäre

Halbraumblase eingebettet und damit dem normalen Raum-Zeit-Kontinuum entzogen. Die extrem starken Traktorfelder hatten scheinbar im Nichts ihren Ursprung. Eine grafische Darstellung untermauerte, dass sie tatsächlich von Kharags Position ausgingen. Dabei blieb offen, warum das Kharag-Gehirn erst jetzt eingriff. Lethem vermutete einen Zusammenhang mit der wachsenden Sonnenaktivität. Wurde der Transmitter von der Plattform beeinflusst?

»Den Anflug abbrechen!«, befahl der Kommandant. Die Ortung zeigte extreme Turbulenzen rings um den schwarzen Quader.

Es hatte den Anschein, als fegten die auftreffenden Traktorstrahlen die Aura des Geisterschiffs zur Reaktion an. Zugleich zeigten die Auswertungen, dass die Plattform von ihrer Position entfernt werden sollte. Weitere Zugfelder griffen nach dem kantigen Gebilde.

Mit bloßem Auge war eine Ausweitung der Aura zu erkennen, ebenso ein intensives Flirren, das sich in den Bereichen der auftreffenden Traktorfelder zur lodernden Wolke verdichtete. Optisch wurde das Geschehen auf der TOSOMA nur mit mehreren Sekunden Verzögerung

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wahrgenommen. Das Ortungsbild zeigte weit mehr, eine erschreckende Reaktion, die erkennen ließ, welche Energien in dieser plötzlichen Konfrontation freigesetzt wurden. Hyperenergetische Protuberanzen umflossen die Plattform wie ein überdimensionales Leuchtfeuer, und sie lösten sich in gewaltigen mehrdimensionalen Fontänen.

Düstere Entladungen tobten im Schutzschirm der TOSOMA. Der Kugelraumer konnte sich den entfesselten Gewalten nicht entziehen. Aber noch schob der Pilot den Gedanken an eine neuerliche Transition weit von sich. Solange die Schirmfeldbelastung im unteren Bereich pendelte, bestand keine Gefahr. Zudem ließ Lethem die notwendigen Berechnungen schon mitlaufen.

»Die Sonnen reagieren! Starke fünfdimensionale Ausbrüche!« Die optische Umsetzung erschien auf der Panoramagalerie. Im

Hyperspektrum waren die blauen Riesensterne – nur eine Fünfergruppe wurde erfasst, doch niemand bezweifelte, dass die übrigen Sonnen ähnlich reagierten – auf ein Mehrfaches ihrer Größe angeschwollene, verzerrte Gebilde. Weder rund noch am Äquator aufgedunsen, sondern mehrfach ausgebeult. »Wie Kartoffeln«, bemerkte einer der Terraner. Lethem hatte keine Ahnung, wovon der Mann redete, doch er erkannte, dass sich die Sonnen gegenseitig beeinflussten. Jeder dieser Sterne hatte drei unmittelbare Nachbarn in exakt gleicher Distanz, und ihre Energiefelder strebten aufeinander zu, würden schon in wenigen Augenblicken miteinander verschmelzen und ein geschlossenes Netzwerk entstehen lassen …

Im Brennpunkt aller Sonnen veränderte sich der Raum. Ein düsteres Glühen griff mit Lichtgeschwindigkeit um sich. Heftige Entladungen durchbrachen die Schwärze, bizarr verzweigte Blitze, die nicht nur für Sekundenbruchteile aufflammten, sondern Bestand hatten und sich in ihrer Imposanz vereinten. Über Millionen Kilometer hinweg kam es zu bedrohlichen Vorgängen, deren atemberaubende Schönheit zugleich faszinierte. Inmitten dieses Sektors stand die Vergessene Plattform, winzig im Vergleich, doch den entfesselten Gewalten trotzend, umflossen von der diffusen, nur an wenigen Stellen auflodernden Aura.

Das alles geschah mit abstruser Schnelligkeit. Unmöglich, jede Einzelheit bewusst aufzunehmen. Mit voller Schubkraft versuchte Lethem, die TOSOMA dem anwachsenden Sog zu entziehen, doch das Schiff reagierte kaum. Die Triebwerksleistung wurde von unsichtbaren Kräften absorbiert.

Der Sog weitete sich aus. Da waren wirbelnde Energieschleier, in ihrem Zentrum das Aufflammen

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einer im Entstehen begriffenen Transmitterzone, von den Energien der blauen Riesensonnen gespeist.

Für Sekunden zeichnete sich die Vergessene Plattform als düsterer Schatten vor dem lodernden Rot des Transmitterfelds ab. Gleichzeitig wurde die Zentrale der TOSOMA von diesem grellen Leuchten überschwemmt.

… abgestrahlt ins Nichts?, war Lethem da Vokobans letzter Gedanke.

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5.

»Wir werden uns den Hals brechen!«, warnte Javales, als ich den Boden unter den Füßen verlor.

Natürlich bestand diese Gefahr. Aber die Schimären waren in den Schächten emporgeschwebt, demnach musste die Schwerkraft weitgehend aufgehoben oder durch Zugfelder ersetzt worden sein. Und wenn ein Weg aus der dampfenden Dschungelhalle hinausführte, dann dieser. Die Frage war nur, was uns erwartete. Wir konnten vom Regen in die Traufe geraten.

Du willst endlich Sektoren in der Plattform sehen, die dir bekannt sind. – Aber gibt es die noch?

Ein schwaches Gravitationsfeld trug mich abwärts. Um einen harten Aufprall einigermaßen abfangen zu können, hatte ich mich darauf konzentriert, nun ließ meine Anspannung nach. Jorge Javales folgte mir, und über ihm schwang sich Veloz da Metztat in den Schacht.

Du bist und bleibst ein Hasardeur!, schimpfte mein Extrasinn. Ich schwieg auch zu dieser Bemerkung. Sekunden später berührte ich den Boden. In der Luft hing eine Staubwolke, die sich schnell verflüchtigte. Offenbar hatte ein Energiefeld den Schlamm von uns abgewaschen.

Der Schacht war eine Stahlröhre ohne erkennbaren Ausstieg. Javales suchte vergeblich nach einem Öffnungsmechanismus. Erst als auch Veloz neben uns aufkam, verflüchtigte sich die Wand.

Der Raum, den wir erreicht hatten, erschien lang gestreckt, eine Röhre, die sich horizontal durch die Plattform zog, zumindest vermittelte die Schwerkraft diesen Eindruck. Halbrund wölbte sich die Decke über uns, und rote und gelbe Lauflichter huschten über den Stahl. Hangarschächte waren häufig so konstruiert, Einflugschneisen, die tief ins Innere großer Raumschiffe führten. Aber ebenso Auswurfkanäle für Reaktoren und Brennstoffe. In einem solchen Fall verbargen sich hinter den Wandmustern Magnetfeldprojektoren und Traktorstrahler, die für den nötigen Sicherheitsabstand sorgten.

Mit einem unwilligen Kopfschütteln verscheuchte ich diese Gedanken. Das leise Lachen des Extrasinns hatte spöttisch geklungen. Du denkst mehr über den Tod nach als über das Leben!, wies er mich zurecht.

Das rote Glühen weitete sich aus. Es war ein grelles, blendendes Licht – und überall in diesem Schein war Bewegung. Die Konturen verdichteten sich.

»Bei allen Sternengeistern!«, schimpfte Veloz da Metztat. »Wir sind ihnen endgültig in die Falle gegangen.«

Seine Rechte zuckte zwar zur Waffe, doch besann er sich schnell eines

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Besseren. Die absonderlichsten Gestalten hatten uns eingekreist. Keines dieser

Geschöpfe erinnerte auch nur entfernt an einen Menschen. Stumm schoben sie sich näher und reckten uns ihre Hände, Tentakel oder Rüssel entgegen. Ich sah, dass jedes dieser Wesen einen oder mehrere Spinnenroboter im Nacken trug. Zum Teil schon sehr lange, denn viele Roboter waren von aufgequollenem Gewebe weitgehend überwuchert. Daran, dass die Maschinen diese bedauernswerten Geschöpfe kontrollierten, konnte es keinen Zweifel mehr geben. Und dieses Schicksal stand offenbar auch uns bevor. Mich machten Zellaktivator und Mentalstabilisierung immun gegen die Beeinflussung, aber meine Begleiter waren ungeschützt. Dass Jorge jetzt hastig den Helm nach vorne zog und einrasten ließ, würde ihm bestimmt nicht helfen.

Zwischen den näher rückenden Mutanten huschten die großen Spinnen heran. Ich dachte an den Pseudo-Maahk, der sich des Roboters in seinem Nacken entledigt hatte und geflohen war. Doch war ihm die Freiheit wohl nicht sehr lange vergönnt gewesen.

Vier Spinnen zerrten Javales zu Boden. Ich konnte einen der Roboter noch mit beiden Armen zurückstoßen. Seine vorderen Gliedmaßen schlugen schmerzhaft gegen meine Ellbogen. Gleichzeitig spürte ich die Last im Nacken. Eine zweite Spinne hatte mich angesprungen. Hart krallte sie sich in meinen Rücken, und ich fürchtete schon, dass sie den Schutzanzug durchstoßen und sich ins Fleisch eingraben würde. Ein Bein umklammerte meine rechte Schulter, während ein anderes mit unwiderstehlicher Kraft auf meinen Schädel drückte.

Glaubst du, dass nun alles besser wird, du unverbesserlicher Narr? Du zeigst Schwäche.

Vielleicht war es ein Fehler gewesen, die Strahler nicht mehr einzusetzen. Ich hatte jedoch verhindern wollen, dass die Vergessene Positronik bald tödliche Mittel gegen uns einsetzte. Mein fotografisches Gedächtnis zeigte mir die toten Raumfahrer von einst überdeutlich. Eine solche Warnung durfte ich nicht so einfach ignorieren.

Eine dritte Roboterspinne kletterte über das Biest vor mir hinweg und verkrallte sich in meinen Armen. Sekunden später hingen zwei weitere Exemplare wie Kletten an mir und beraubten mich endgültig jeder Bewegungsfreiheit.

Sie zerrten mich mit sich. Wie Spinnen ein erbeutetes Insekt oder eine Raupe wegschleppten, um dieser Beute irgendwann den Saft auszusaugen. Ich schaffte es leidlich, den Kopf ein wenig anzuheben, und sah, dass es

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meinen Begleitern keinen Deut besser erging. Veloz murmelte dumpfe Verwünschungen.

Die Roboter transportierten uns ein beachtliches Stück weit die Röhre entlang, dann wich das rötlich orange Flackern endlich einem konstanten Lichtschein. Die Wände traten näher zusammen, ließen aber nicht erkennen, ob wir tiefer in die Plattform hinein verschleppt wurden oder gar zu einer Schleuse.

Veloz da Metztat schien ähnliche Gedanken zu verfolgen. »Was ist, wenn sie uns aus dem Schiff werfen?«, raunte er. »Noch dazu ohne geschlossenen Helm?«

Die Wahrscheinlichkeit dafür liegt nur bei knapp dreißig Prozent, raunte mein Extrasinn.

Danke für die Aufmunterung, gab ich zurück. Wenn du es so siehst …

Möglicherweise war das Ziel der Roboterspinnen die Positronik. Unvermittelt schien diese Hoffnung zur Gewissheit zu werden. Das Licht veränderte sich, nahm einen hellblauen Schimmer an, und vor uns tauchte eine ovale Öffnung auf, die von einem sanften Blauton umflossen wurde. Das Leuchten des Hoagh! Wenn noch ein nennenswerter Zweifel daran bestanden hätte, dass wir wirklich auf die Vergessene Plattform verschlagen worden waren, in dem Moment wäre er wie weggewischt gewesen. Ich kannte dieses Tor, das groß genug war, einen schweren Gleiter passieren zu lassen. Fartuloon und ich hatten es vor langer Zeit ungehindert durchschritten und anschließend ein dunkelblaues Leuchten wahrgenommen, das sich scheinbar bis in die Unendlichkeit erstreckt hatte. Dieses Leuchten des Hoagh, das angeblich jeden verschlang, der es unbefugt betrat, hatte uns in einer Transmitterstation nahe der beschädigten Kuppel der Zentralen Positronik abgesetzt …

Ich spürte einen grellen, stechenden Schmerz im Nacken. Instinktiv wollte ich nach hinten greifen, aber die Spinnen ließen es nicht zu. Sie erlaubten mir nicht einmal, mich aufzubäumen. Und dann kam der zweite, noch intensivere Stich. Ich hörte Veloz halb erstickt gurgeln und wusste, dass es meinen Begleitern genauso erging. Die Spinnenroboter hefteten sich an unseren Nacken – sie wollten uns endgültig in ihre Gewalt bringen, bevor sie uns durch das Tor schleppten.

Dann sind wir nicht mehr Unbefugte. Für einen Augenblick spürte ich eine dumpfe Lähmung im Rücken, aber

ebenso die vom Aktivatorchip ausgehenden belebenden Impulse. Spinnenbeine tasteten mich ab. Offenbar registrierten sie, dass sich mein

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Körper gegen die Manipulation zur Wehr setzte. Ich erhaschte einen flüchtigen Seitenblick auf Javales. Der geschlossene

Helm bewahrte ihn noch davor, dass sich die Spinnen festsetzten. Aber sie würden schnell eine Möglichkeit finden, den Schutzanzug zu überwinden.

In der nächsten Sekunde erstarrten die Spinnen. Einige richteten sich auf. In diesem Moment brach die Finsternis über uns herein, so wie eine alles erstickende, über uns zusammenschlagende Woge. Das Leuchten des Hoagh, die Stahlwände, die Spinnen … nichts davon existierte noch.

Die Plattform ist in Transition gegangen, wisperte der Extrasinn. Ständig hatte ich damit gerechnet, aber nun wollte ich genau das nicht

wahrhaben. Transitionen verliefen nahezu zeitlos – der von meinem Nacken ausstrahlende Entzerrungsschmerz schaukelte sich hingegen langsam auf. Letztlich wurde er unerträglich.

*

Eine Kugel aus Stahl, rötlich blaue Ynkon-Legierung, 150 Meter durchmessend, zusammengestaucht, verdreht, eine Konservendose. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Knapp einhundert Menschen, Männer und Frauen, Angehörige mehrerer Völker. Hilflos. Ihrer Handlungsfähigkeit beraubt und dem Tod näher als dem Leben. Opfer ihres Forschungsdrangs, ihres Wissen-Wollens … Schlaglichtartig und verzerrt waren diese Wahrnehmungen. Bilder, die festzuhalten schwer fiel, die aber dennoch ein Ganzes ergeben sollten. Vorerst taten sie es nicht.

Ein dumpfes Dröhnen in den Schläfen. Dazu Übelkeit, ein brennendes Wühlen im Leib, das langsam nach oben stieg. Wie rasend pochte das Herz gegen die Rippen. Dann stockte es – Todesangst erfasste ihn – und setzte den hämmernden Rhythmus fort.

Von irgendwoher erklangen Stimmen; Lethem verstand nicht, was sie sagten. In seinen Ohren tobte ein Orkan. Nur mühsam schaffte er es, die verklebten Lider zu öffnen. Blendende Helligkeit ließ ihm das Wasser in die Augen schießen – aber er sah wenigstens Schemen, wenn auch verzerrt.

Verzweifelt sein Versuch, die Gedanken zu ordnen. Sie wirbelten wild durcheinander, ließen sich auch von der wachsenden Ahnung naher Gefahr nicht aufhalten.

Dann spürte er die Berührung. Kräftige Finger zogen nacheinander beide Augenlider auf, danach tasteten sie über seinen Hals. Das heisere Krächzen, das er vernahm, war sein Versuch, sich zu artikulieren. Die Zunge klebte schwer am Gaumen.

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»Es wird dir gleich besser gehen. Entspanne dich, Lethem da Vokoban! Der Rematerialisationsschock war außergewöhnlich stark.« Die Stimme klang warm und einschmeichelnd, sie gehörte einem Medoroboter.

Gleich darauf ein neuerlicher Druck auf den Hals, ein kaum wahrnehmbares Zischen. Nur Sekunden vergingen, bis der Körper reagierte. Das Atmen fiel schon wesentlich leichter, die verschwommenen Konturen verdichteten sich zur gewohnten Umgebung der Zentrale.

»Ich denke, du brauchst mich nicht mehr, Lethem.« Der Pilot schaute auf, nickte knapp und fuhr sich mit beiden Händen

übers Gesicht. »Danke«, sagte er. »Gibt es Ausfälle?« »Nur wenige Verletzte«, antwortete der Medoroboter. »Wir hatten

Glück.« Dass er wir gesagt hatte, fiel Lethem erst auf, als der Roboter sich schon

um den Nächsten kümmerte. Ringsum wurde es lebendig. Befehle klangen auf, Meldungen wurden

routinemäßig und ohne jede Spur von Hektik weitergegeben. Fast alle Schiffsfunktionen hatten unter dem Transmitterdurchgang gelitten. Schon das bestätigte die extremen Umstände. Holoflächen wogten in monotonem Grau und zeigten aufblitzende Störungen. Auf den Ortungsschirmen erschienen zwar wieder Skalen und Grafiken, doch sie waren verzerrt und unvollständig.

»Anhaltender Ausfall beider Großrechner!« Die Meldung kam so schleppend, als wollte der Sprecher selbst nicht daran glauben. »Der Notverbund arbeitet zu langsam.«

Wenigstens konnten die positronischen Nebenanlagen alle absolut lebenswichtigen Funktionen auffangen.

Höchst selten wurde eine solche Redundanz überhaupt benötigt. Seit dem überraschenden Aufbau des Transmitterfelds waren erst fünf

Minuten vergangen. Lethem da Vokoban arbeitete verbissen daran, die erloschenen Funktionen seiner Station wiederherzustellen. Die benötigte, sonst extrem leistungsfähige Datenversorgung ließ ihn noch im Stich. Aber auch die anderen Kontrollstellen liefen nur zögerlich wieder an.

»Wir brauchen eine Positionsbestimmung!«, drängte der Kommandant. »Und die Überwachung des umgebenden Sektors.«

Kein angenehmer Gedanke, dass die TOSOMA vielleicht in diesem Moment von einer feindlichen Flotte eingekreist wurde. Lethem fröstelte bei der Vorstellung, dass ein fremdes Volk den Kugelraumer als ungebetenen Eindringling betrachten könnte. Womöglich waren schon etliche Hyperfunkanrufe ungehört verhallt.

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Immer noch benommen, schüttelte er den Kopf. Die Intensität des Rematerialisierungsschocks ließ befürchten, dass die TOSOMA über eine gewaltige Distanz hinweg versetzt worden war. Unter Umständen befand sie sich nicht einmal mehr in der heimischen Milchstraße. Längst zerstörte Sonnentransmitter hatten einst den Weg nach Andromeda geöffnet – die überraschende Entdeckung des Sonnendodekaeders ließ es durchaus als möglich erscheinen, dass auch in anderen Bereichen der lokalen Galaxiengruppe ähnliche Transmitter installiert worden waren.

Interkommeldungen trafen ein. Keine Schäden in den Hangars. Die Rettungssysteme weitgehend einsatzklar, hingegen keine Energieversorgung der Schutzschirmprojektoren. »Wir arbeiten daran, aber wir können keine Schätzung abgeben, wann der Fehler behoben sein wird – dafür müssen wir ihn erst lokalisieren.« Der komplette Metagrav war ausgefallen; weder im Überlichtbereich noch beim Gravohub der Sublichtkomponente ließen sich Vorhersagen treffen. Lethem da Vokoban konzentrierte seine Bemühungen deshalb auf den Gravopulsantrieb.

Endlich meldete die Abteilung Funk und Ortung ihre teilweise Funktionsfähigkeit. »Wir haben keine GALORS-Stationen in erreichbarer Nähe«, stellte Tassagol fest.

Das allein hatte noch wenig zu sagen. Zumal die weiterhin ausbleibende optische Erfassung anhaltende Systemfehler bewies.

Erst nach knapp zehn Minuten zeichnete die Distanzortung. Ungefähr das, was sich nun auf der Panoramagalerie abspielte, hatte Lethem zu sehen erwartet. Knapp zwei Millionen Kilometer entfernt torkelte die Vergessene Plattform durch den Raum. Nach wie vor wurde sie von dem fahlen Leuchten umflossen, doch ihre Rotation um zwei Achsen verriet, dass sie die Ortsversetzung keineswegs unbeschadet überstanden hatte.

»Fangen wir Funksignale auf? Einen Notruf Atlans?« »Nichts«, antwortete Tassagol. »Absolut nichts.« »Unsere Position?« »Weiterhin unbekannt.« »Wenigstens das Observatorium sollte in der Lage sein, eine Aussage zu

treffen …« »Es gibt keine Sterne!« Nur eine einzige kleine, orangefarbene Sonne, stellte Lethem da Vokoban

fest. Sie wanderte soeben in den Erfassungsbereich des Frontholos ein. Mehr war nicht zu entdecken, keine farbenprächtigen Nebel, die von Sternexplosionen zeugten, keine fernen Galaxien – nichts als endlose Leere.

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*

Hinter mir erlosch das Transmitterfeld mit einem düsteren Flackern. Ich hatte mein Ziel unbehelligt erreicht. Doch als ich den ersten Schritt vorwärts machte, spürte ich die Bedrohung deutlicher als zuvor. Ich umklammerte meine Waffe, als gäbe es kein wertvolleres Kleinod in dieser Welt. Der Strahler war auf Impuls-Dauerfeuer geschaltet. Aber nicht einmal das würde die Bestien aufhalten können.

Nach zwei weiteren Schritten blieb ich abrupt stehen. Mein Blick huschte durch die Transmitterhalle, glitt abschätzend über die haushohen Materialstapel und wanderte weiter nach oben. Kampfroboter waren auf den umlaufenden Galerien der Raumüberwachung postiert. Solange sie nicht reagierten, drohte keine unmittelbare Gefahr.

Schließlich blickte ich über die Schulter zurück. In zwei Reihen standen die Transmitter, aber bis auf wenige wären alle abgeschaltet worden. Lediglich aus drei Geräten taumelten noch Flüchtlinge hervor. Die Männer und Frauen waren am Ende ihrer Kräfte. Viele ließen sich einfach zu Boden sinken, nicht mehr als ein Häufchen Elend. Nur was sie am Leib trugen, hatten sie retten können – zu schnell und vor allem ohne jede Vorwarnung waren die Angreifer über ihre Welten gekommen. Diese Menschen hatten Verwandte verloren, Freunde, ihren Besitz. Und nicht einmal ihr eigenes Leben war sicher. Die Halle konnte nur eine Zwischenstation auf ihrer Flucht sein, denn Karahol, die Zweite Insel, wartete.

Solche Betrachtungen waren Gift für mich. Ich ging weiter, steif und mir der Blicke bewusst, die mich durchbohrten. Die Flüchtlinge sahen mich als Verantwortlichen für die Verluste der vergangenen Tage, ich hätte unsere Schiffe bedingungsloser einsetzen müssen, die Besatzungen zum Opfergang an vorderster Front treiben, auch wenn es sinnlos gewesen wäre … Aber dieses Töten und Getötet werden widerte mich an. Wenn ich eine Chance gehabt hätte, den unseligen Krieg zu beenden, ich hätte sie ergriffen.

Eine Kohorte Kampfroboter war angetreten und salutierte. Dumpf dröhnend schlugen sie sich mit den Fäusten an die Brust. Ihre Lederrüstungen wirkten alt und verbraucht, waren in vielen Schlachten mürbe geworden. »Morituri te salutant!«, brüllten sie mir entgegen. Ich blinzelte verwirrt. Trugen diese Roboter wirklich Kurzschwerter und Spieße? Das war lächerlich, geradezu absurd …

Sie sind hier! Der Gedanke traf mich mit aller Schärfe. Die Erwiderung gefror mir auf den Lippen, als die Hallenwandung jäh zu explodieren

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schien. Die massiven Stahlwände wölbten sich nach innen auf und platzten in schrillem Crescendo. »Die Bestien kommen!« Der Aufschrei verhallte in dem losbrechenden Chaos. Die Angreifer hatten ihre Körperstruktur verhärtet und tobten als lebende Geschosse durch die Halle, eine Spur der Vernichtung nach sich ziehend. Reihenweise wurde meine Kohorte niedergewalzt. Die Männer wandten sich dennoch nicht zur Flucht, sondern standen bis zum Schluss, bis die Flammen überall loderten und ihr zuckender Widerschein den Nachthimmel blutig rot färbte. Träge wälzte sich der Rauch über den Tiber, ein Leichentuch, das die sterbende Stadt mehr und mehr meinem Blick entzog.

Aber das brennende Rom interessierte mich schon lange nicht mehr. Stumm kniete ich auf dem groben Pflaster und verfluchte die Götter, die zugelassen hatten, was geschehen war.

Lis Kopf ruhte auf meinem linken Arm, mit den Fingern der Rechten streifte ich über ihr Gesicht. Voll Trauer betrachtete ich ein letztes Mal die schlanke, wohlproportionierte Gestalt, Ihre Toga war mit golden­metallischen Pailletten besetzt. Blut tränkte den Stoff; es verkrustete nur langsam über der Wunde, die der Speer gerissen hatte.

»Li«, flüsterte ich und hauchte einen Kuss auf ihr kurzes Haar, »ich werde den zur Rechenschaft ziehen, der dich getötet hat, und nicht eher Ruhe finden. Das schwöre ich.«

Atlan! Der Ruf störte meine Trauer. Ich ignorierte ihn. Vorsichtig schob ich

meine Hände unter den leblosen Leib, dann hob ich Li auf. Schwankend stand ich da, blickte von der Hügelkuppe aus über die brennende Stadt hinweg, und der Rauch ließ meine Augen tränen. Zögernd machte ich den ersten Schritt. Es fiel mir schwer, Abschied zu nehmen.

Komm zu dir, Atlan! Ich schritt den Hügel hinab, um Li den Wellen des Tiber zu übergeben.

Der Fluss sollte ihren Leichnam in eine bessere Welt tragen. Du bist ein Narr, Atlan! Erkennst du nicht, dass sich deine Erinnerungen

mit anderem vermischen? Komm endlich zu dir! Die Stimme quälte mich. Aber ich wusste nicht, wie ich diesen Dämon

aus mir vertreiben konnte … Ungläubig starrte ich auf meine leeren Arme. Eben noch hatte ich den

Leichnam getragen, doch diese Ausgeburt der Hölle hatte mir Li genommen. Ich ballte die Hände und reckte sie in den schwarzen Himmel empor. »Mars!«, schrie ich. »Zerschmettere den Dämon in mir, und dann …«

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Was würde Fartuloon sagen, könnte er dich so sehen, Gos’athor Mascaron Gonozal?

Gos’athor – Kristallprinz. Mit diesem Titel hatte mich schon seit ewiger Zeit niemand mehr angesprochen.

Das wird auch nie wieder jemand tun, wenn du nicht bald zur Besinnung kommst – du Narr!

»Für diese Unverschämtheit werde ich dich …« Das herausfordernde Gelächter entstand in mir selbst. Ich stockte in meinem Zornausbruch.

Endlich fängst du zu begreifen an. Mein Extrasinn? Eine Ewigkeit lag meine Schulung auf der Prüfungswelt

Largamenia zurück. Ich hatte den dritten Grad der ARK SUMMIA erworben, und dies war gleichbedeutend mit der Aktivierung des Extrasinns.

Ich bin kein Dämon. Ebenso wenig wie du Tamrat … »… Nevus Mercova-Ban?«, brachte ich den Satz zu Ende. Schlagartig

war alles anders; es gab kein brennendes Rom mehr, keine Bestien im erbarmungslosen Krieg mit den Tamanien der Lemurer, der ersten Menschheit. Lemuria war vor über 50.000 Jahren untergegangen, Rom existierte noch heute, war in der Vergangenheit jedoch mehrmals zerstört und wieder aufgebaut worden, und ich … Die Vergessene Plattform war in Transition gegangen. Aber der Entzerrungsschmerz war anders gewesen als bei einem normalen Hyperraumsprung. Heftiger und durchdringender. Oder waren die Roboterspinnen doch in mein Bewusstsein eingedrungen, und was ich zu erleben glaubte, war nichts anderes als der Versuch meines Unterbewusstseins, die Manipulation abzuwehren?

Das wüsste ich aber. Den Satz kannte ich. Neue Bilder fluteten in mir empor, ein verwirrendes

Kaleidoskop der Vergangenheit. Ich wollte die Arme hochreißen, das Gesicht in den Händen vergraben und mit den Fingern die Schläfen massieren – doch ich war zur Bewegungslosigkeit verdammt …

… In einer Umgebung, die ich nicht erkennen konnte. Das fiel mir erst jetzt auf. Nichts war um mich herum außer undefinierbarer Leere. Sie konnte sich auf eine Singularität beschränken, aber ebenso gut endlose Ausdehnung haben.

Endlich erkannte ich, dass ich noch in der Transition gefangen war. Der Vorgang schien sich ewig auszudehnen.

Ich habe keine andere Erklärung dafür, bestätigte mein Extrasinn. Auf keinen Fall ist dies eine normale Transition. Sie wurde beeinflusst, wird beeinflusst … Alles scheint möglich zu sein.

Page 62: Im Licht des Kristallmondes

Also waren die Ereignisse der letzten Tage noch nicht abgeschlossen. Meine merkwürdigen Visionen kamen nicht von ungefähr, sie waren eine Vermischung eigener Erinnerungen mit Gefühlen, Erlebnissen oder auch nur Visionen des Tamrates Nevus Mercova-Ban. Reagierten die Bewusstseinstransferanlage oder das Sonnendodekaeder auf die Nähe der Vergessenen Plattform? Das alles war noch nicht zu Ende. Die Schmerzen wurden wieder stärker, als zerrten unsichtbare Kräfte an mir. Kam jetzt das Ende der Transition, fiel die Plattform in den Normalraum zurück?

Die plötzlich einsetzende Schwerkraft vermittelte mir das Gefühl, in endlose Tiefe zu stürzen. Als die ersten Sonnen in meiner Einsamkeit aufleuchteten, wusste ich, dass diese Transition bald zu Ende sein würde.

*

Unter mir drehte sich die Milchstraße. Die Perspektive war nicht neu, und wer wie ich ungezählte Galaxien aus dem Leerraum gesehen hatte, für den waren das Eintauchen in den Halo und das langsame Anwachsen der funkelnden Pracht, bis sie zu einem nicht mehr überschaubaren gleißendenBand wurde, nichts Überwältigendes mehr. Was blieb, war das Gefühl, die Heimat wieder zu sehen, und das war auch nach mehr als zehntausend Jahren immer noch mit Erleichterung verbunden.

Ich näherte mich einem Kugelsternhaufen oberhalb der galaktischen Hauptebene: Omega Centauri, unverkennbar schon wegen seiner dicht gedrängt stehenden Sonnen. An die vier Millionen Sterne beherrschten ein vergleichsweise kleines und wegen dieser Population zugleich sehr extremes Gebiet.

Vielleicht hatten sogar die natürlichen Gegebenheiten die Transition der Vergessenen Plattform beeinflusst. Angesichts der Schwierigkeiten, mit denen die Raumfahrt in Omega Centauri zu kämpfen hatte, und der zum Teil schweren Hyperorkanen wäre das eine nahe liegende Erklärung gewesen. Aber daran glaubte ich nicht.

Während ich versuchte, andere Konstellationen ausfindig zu machen, veränderte sich das Bild.

Plötzlich waren mehr Sterne vor mir, und die Milchstraße wirkte kleiner und weiter entfernt. Lediglich die Perspektive blieb. Der Sternhaufen war auf ein Mehrfaches seiner Ausdehnung angeschwollen und erschien elliptisch gedehnt, ich schätzte seine Länge auf einige tausend Lichtjahre. Auf meine Erfahrung durfte ich mich in der Hinsicht verlassen. Das Gebilde war offensichtlich eine der Milchstraße vorgelagerte Kleingalaxis, die dem Schwerkraftsog nicht mehr widerstehen konnte. Sie würde eines

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Tags, fast schon zur Perlenschnur von Sternen geworden, auseinander brechen und endgültig ein Opfer der kannibalischen Gravitation werden. Irgendwann integrierten sich Sonnen und Planeten dann in die galaktischen Spiralarme. Bis auf Omega Centauri, dessen Masse eine eigene Gesetzmäßigkeit entwickelte.

Vermutlich entstand der Kugelsternhaufen aus dem Kernbereich der Kleingalaxis.

Wieder veränderte sich meine Wahrnehmung, bevor ich mir darüber klar werden konnte, ob die Transition der Plattform nicht nur den Raum, sondern womöglich gar noch die Zeit überwand.

Ich stürzte einer orangefarbenen Sonne entgegen. Weit leckten ihre Protuberanzen in den Raum hinaus … Augenblicke später durchstieß ich die treibenden Partikelwolken. Ein Meer von Rottönen umfing mich – und beinahe glaubte ich, wieder in dem Tunnel auf der Vergessenen Plattform zu sein, über mir die gewölbte Decke mit ihren Lauflichtern.

Urplötzlich wieder Schwärze. Der Weltraum. Vor mir, fast schon zum Greifen nahe, das im Sonnenlicht liegende Rund

eines Planeten. Und eine volle Mondsichel. Aber nicht der über diese Welt wandernde Mondschatten fesselte meine Aufmerksamkeit, sondern das unglaubliche Gleißen und Glitzern des kleinen Himmelskörpers. Er strahlte in überirdischem Glanz, reflektierte das Licht in Myriaden Facetten wie ein geschliffener Kristall.

Etwas Vergleichbares hatte ich nie zuvor gesehen. Rechts und links von mir entdeckte ich in der Schwärze zwei andere ferne

Sicheln, die eine zu-, die andere abnehmend. Zweifellos handelte es sich um weitere Planeten auf annähernd gleicher Umlaufbahn. In ihrer Größe erschienen die Sicheln nahezu identisch.

Obwohl ich darauf wartete, aus dieser Vision aufzuschrecken, fiel ich dem Planeten und seinem Mond weiterhin entgegen.

Page 64: Im Licht des Kristallmondes

6.

Elfeinhalb Minuten waren seit der Materialisation vergangen. »Die Lagestabilisierung ist eingeleitet!« Lethem da Vokoban atmete auf, als die Hilfstriebwerke ebenso wie der Gravopuls endlich wieder auf die Steuerimpulse ansprachen. Manövrierunfähig und ohne Schutzschirme durch einen unbekannten Raumsektor zu treiben war der Albtraum jeder Schiffsbesatzung.

Die TOSOMA hatte nur einen geringen Spin mitbekommen, eine leichte Drehung um die Horizontalachse, ganz im Gegensatz zur Vergessenen Plattform, die weiterhin einer deutlichen Taumelbewegung unterlag.

Die Abteilung Funk und Ortung meldete endlich wieder volle Einsatzbereitschaft, und nur einer der beiden Syntron-Großrechner machte noch Probleme. Aber auch sie würden in Kürze behoben sein.

»Was ist mit der Offensivbewaffnung?« Angesichts der unveränderten Nähe des schwarzen Quaders hatte die Wiederherstellung der Gefechtsbereitschaft für den Kommandanten Priorität.

»Siebzig Prozent der Energieversorgung stehen zur Verfügung!«, meldete Cisoph Tonk. »Die restlichen dreißig folgen in wenigen Minuten.«

Lethem da Vokoban hatte die Drehbewegung des Schiffs sehr schnell zum Stillstand gebracht. Die orangefarbene Sonne stand nun ruhig in der Fronterfassung, neben ihr zwei leuchtschwache Sterne. Darüber hinaus zeigte die Optik aber nur eine gleichmäßige Schwärze.

»Wo, um alles in der Welt, sind wir herausgekommen?« Khemo-Massais wachsende Ungeduld war seiner Stimme anzuhören. »Es müssen sich Anhaltspunkte finden lassen. Wo sind die galaktischen Funkfeuer? Was ist mit Radiosternen, Dunkelwolken und Quasaren? Tassagol, wann liegt endlich die Analyse vor?«

»Das sind alles nur theoretische Möglichkeiten«, antwortete der Arkonide matt.

January Khemo-Massai schwang mitsamt seinem Kontursessel herum. Auf seiner Stirn grub sich eine steile Falte ein. »Mich interessiert die Praxis.«

»Es gibt keine Sterne«, stellte Tassagol fest. »Ist die Hyperortung funktionsfähig oder ist sie es nicht?« »Sie erfasst die Sonne – ein trister K5-Typ –, die Plattform und mehrere

Planeten.« Tassagol machte eine kurze, aber bedeutungsvolle Pause. »Darüber hinaus gibt es nichts! Und wenn wir die She’Huhan-Sternengötter beschwören, nichts wird sich daran ändern. Dieses Sonnensystem scheint das einzige im Universum zu sein!«

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Jemand lachte heiser. Es klang nervös. Überhaupt hatte sich die Atmosphäre in der Zentrale verändert, sie war jetzt deutlich angespannter als noch während des Flugs durch das Sonnendodekaeder.

»Wie groß ist dieses Universum?«, fragte Lethem da Vokoban spontan. »Was heißt wie groß?« Tassagol reagierte gereizt. »Umfasst der Ortungsbereich nur das Sonnensystem – oder ist der Raum

endlos?« Tassagol schnaufte empört. »Ich weiß nicht, Lethem, was du hören

willst.« »Die Hintergrundstrahlung kann uns genügend Aufschlüsse geben, die

sich zu einem Modell umrechnen lassen und …« »Das genügt, Lethem!« Mit einer knappen Handbewegung unterbrach der

Kommandant den Redeschwall. »Wichtiger ist unsere nähere Umgebung. Dass wir hierher versetzt wurden, geschah kaum grundlos. Die Frage ist, ob die Transmitterjustierung auf diese Sonne ausgerichtet war oder ob der Transportvorgang von der Plattform beeinflusst wurde.«

»Ich tendiere zu Letzterem«, platzte der Pilot heraus. »Genau deshalb will ich jede weitere Überraschung vermeiden. –

Tassagol, bitte!« Die Aufforderung war unmissverständlich. Der Arkonide, der ebenfalls

erst gestern von der ATLANTIS übergewechselt war, nickte knapp. Er setzte zu einer Erklärung an, unterbrach sich, wischte mit einer Hand über sein Gesicht und warf einen ungläubigen Blick in die Runde. Zugleich legte er die aktuellen Ortungsdaten auf die Panoramagalerie um.

»Wir haben in ein Wespennest gestochen?«, vermutete Khemo-Massai aufgrund der Reaktion des Ortungschefs.

Tassagol stutzte. »Wenn du damit meinst, dass dieses Sonnensystem etwas Besonderes ist: So sieht es aus. Die Sonne hat einen Durchmesser von 974.000 Kilometern und eine Oberflächentemperatur von 4320 Kelvin, ist also eher unbedeutend. Aber sie ist der Mittelpunkt dieses Universums.«

Jemand lachte hell. »Der exakte Mittelpunkt«, versetzte Tassagol. »Es gibt fünf Planeten.

Alle umkreisen den Stern auf einer gemeinsamen Umlaufbahn.« »Arkon ist auch nicht der Mittelpunkt des Universums«, bemerkte eine

Stimme aus dem Hintergrund. Tasia Oduriam, die Medo-Assistentin, hatte vor wenigen Minuten mit Kontrollchecks der Zentralebesatzung begonnen. »Leider«, fügte sie trocken hinzu.

»Ich nehme doch an, Tasia«, sagte Khemo-Massai, »du spielst auf Tiga Ranton an, die drei Arkon-Welten.«

Page 66: Im Licht des Kristallmondes

»Jedes Volk sieht seine Heimatwelt oder -sonne gerne als Mittelpunkt«, antwortete die Arkonidin. »Gilt das bei euch Terranern nicht?«

Für einen kurzen Moment schien sogar January Khemo-Massai irritiert zu sein. »Das ist ein altes Weltbild und war schon vor dem Beginn des Raumfahrtzeitalters überholt«, stellte er knapp fest.

Jeder in der gemischten Besatzung kannte Tiga Ranton. Drei Planeten umkreisten die Sonne Arkon auf einer gemeinsamen Umlaufbahn und standen zueinander wie die Eckpunkte eines gleichseitigen Dreiecks. Das heißt, sie hatten Arkon in dieser Formation umrundet, bis im Jahr 2329 alter terranischer Zeitrechnung die Kriegswelt Arkon III bei einem Angriff der Blues zerstört worden war. Die nachfolgend aufgetretenen Bahnstörungen mussten immer wieder aufwendig korrigiert werden, und viele Arkoniden träumten davon, die Planetenkonstellation neu aufzubauen. Bis heute war dieses ehrgeizige Vorhaben aber nicht verwirklicht worden.

»Alle fünf Welten bilden die Eckpunkte eines gleichseitigen Fünfecks«, versetzte Tassagol. »Ihr Sonnenabstand beträgt rund 91 Millionen Kilometer, sie befinden sich damit im inneren Bereich der Ökosphäre.«

Lethem da Vokoban hatte sich erst bei der Erwähnung von Tiga Ranton auf die eingeblendeten Grafiken konzentriert. Mit einem Stirnrunzeln betrachtete er die fünf Markierungen auf der kreisrunden Umlaufbahn. »Dieses Fünfeck erinnert verblüffend an das Sonnendodekaeder. Lassen die Distanzen mathematische Gesetzmäßigkeiten erkennen? Ich meine, möglicherweise bilden die fünf Planeten in ihrer Konstellation das Empfangsfeld des Transmitters.«

»Wir bekommen keine entsprechende Energieortung.« »Das ist eher eine Frage der Abschirmung«, widersprach Lethem. »Eine

Technik, die mit Sonnen und ihren Welten jongliert, ist zweifellos in der Lage, Energiespeicher zu verbergen.«

»Wir fliegen die Planeten ohnehin unter größtmöglichem Sicherheitsaspekt an«, stellte Khemo-Massai unumwunden fest.

»Was ist mit Atlan?«, fragte Tassagol überrascht. »Ich habe ihn nicht vergessen! Wie ist unser Kurs und damit auch der

Kursvektor der Plattform?« »Ohne Korrektur werden wir bald in das Schwerefeld eines der Planeten

geraten«, sagte Lethem da Vokoban schnell. Tassagol fügte laut hinzu: »In diesem System liegt einiges im Argen. Die

Ortungen weisen aus, dass alle fünf Welten identisch sind. Das gilt für Durchmesser, Schwerkraft, Rotationsdauer …«

»Mehr nicht?«, fragte Khemo-Massai ruhig und entzog damit der rasch

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wachsenden Anspannung die Basis. Hie und da war ein leises Lachen zu vernehmen.

»Wenn die eingehenden Daten richtig sind«, stellte Tassagol fest, »gibt es auf diesen Welten jeweils nur einen Großkontinent. Form und Größe der Landmasse sind identisch. Allerdings werden nur drei Planeten bislang detailliert erfasst.«

»Fünf völlig identische Planeten?«, fragte der Pilot ungläubig. »Sie gleichen sich wirklich wie ein Ei dem anderen?«

»Mehr noch als das.« »Dann wurden sie künstlich aufgebaut?«, fuhr Lethem fort. »Ich weiß, das ist ausgesprochen interessant. Aber bitte: eins nach dem

anderen«, unterbrach der Kommandant. »Die genauen Daten, Tassagol!« Der Arkonide nickte und legte nun auch die entsprechenden Skalen auf

das Hauptholo um. Jeder konnte die drei detailliert erfassten Welten nebeneinander sehen. Es erschien in der Tat so, als wäre eine Planetenmatrix mehrfach kopiert worden. Sogar die von der Sonne beschienenen Seiten waren identisch. Momentan streifte die Beleuchtungsgrenze auf allen drei Welten den Westrand des Kontinents.

»Äquatordurchmesser jeweils 18.727 Kilometer«, erläuterte Tassagol. »Umlaufzeit um die Sonne 221 Tage, ein Tag dauert genau 22,8 Standardstunden.

Die Achsneigung beträgt minimale fünf Grad. Und zu deiner Frage von vorhin, Lethem: Ich finde keine mathematische Gesetzmäßigkeit außer dem Fünfeck an sich.«

Die optische Erfassung und das Ortungsbild wurden übereinander gelegt. Sie ergaben Deckungsgleichheit. Lediglich in einem Bildsegment zeigte sich eine Abweichung. Ein winziger, gleißend heller Fleck stand am Rand eines der Planeten.

»Was ist das?«, fragte Khemo-Massai. »Ein Mond? Aber dass er derart hell strahlt …«

»Es ist ein Mond«, bestätigte Tassagol. »Der einzige in diesem seltsamen System; keine der anderen Welten hat einen Begleiter. Der Mond steht übrigens nur knapp 64.000 Kilometer hoch. Er durchmisst 1126 Kilometer.«

Der Kommandant zögerte kurz. »Unser Kursvektor zeigt auf diese Welt?« Das war eine eher rhetorische Frage, und stockend wiederholte Khemo-Massai den Monddurchmesser.

»Stimmt etwas nicht?« Tassagol wirkte verwirrt. »Die Daten sind exakt. Ja, 1126 Kilometer, nicht mehr, aber auch nicht weniger.«

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»Ich kenne diese Zahl«, stellte January Khemo-Massai fest. »Das ist unglaublich.« Er erntete eine Reihe fragender Blicke. »So unglaublich«, fügte er hinzu, »dass ich das erst überprüfen lassen muss.«

*

»Wir werden in Kürze die Landung einleiten.« Wie aus weiter Ferne vernahm ich die abgehackt klingende, schnarrende

Stimme. Es musste der Kruuhl sein, der zu mir sprach. Er interessierte mich nicht. Ein unwilliges Brummen ausstoßend, rollte ich mich halb zusammen und kauerte mich in den Polstersitz. Der Geruch des frischen Samtbezugs ebenso wie der Metallbeschläge, die in ihrer feinen Ziselierung ein Vermögen wert waren, entführte mich wieder in meine Träume.

»Es wird Zeit, Herr. Vor uns toben heftige Gewitter.« Sollte er ruhig reden. Was interessierte mich das schlechte Wetter? Alle

Unbilden der Natur waren ein Nichts, verglichen mit den Bildern in meinem Kopf. Sie hatten mich urplötzlich überfallen, hatten meine Herzen rasen lassen und die Kapillaren verklebt. Seitdem hingen meine Seitentriebe wie welk herab.

Um mich herum war Schwärze. Nur ganz fern das Licht der Sonne, die mich am Leben erhielt. Doch so frei und losgelöst hatte ich mich nie gefühlt. Ich kann nicht sagen, woher ich dieses Wissen bezog, dass der blau und grün schimmernde Ball unter mir Vinara war, meine Heimat. Und Vadolons funkelnde Schönheit war nicht zu übersehen. Zwei ferne Sicheln, die mich an das Bild des halben Mondes erinnerten, waren Welten gleich Vinara. Zu der Zeit, als ich meine ersten Wurzeln ausgebildet hatte, wäre ich für dieses Wissen verbrannt worden, doch bis heute hatten sich diese Erkenntnisse bei den Viin durchgesetzt.

Ein stechender Schmerz schreckte mich jäh auf. Schützend zog ich den Kopf zurück und rollte die Glieder ein. Nur mit den Wurzeln schlug ich instinktiv zu. »Hör auf!«, kreischte der Kruuhl. Der Schmerz ebbte sofort ab, als er die Kieferzangen löste. »Du musst den Rettungsschirm anlegen! Ich bitte dich, Viin, tu, was ich dir sage!«

So unterschiedlich wir auch beschaffen waren, wir waren alle Viin, Kinder einer einzigen Welt. Vorsichtig lugte ich über den Kelchwulst hinweg und löste meine Wurzelfäden nacheinander.

Der Flugdiener war nur halb so groß wie ich. Seine Kieferzangen klickten nervös, beinahe ängstlich. Es wirkte kläglich, wie er die Flügeldecken spreizte und die vorderen Beinpaare spreizte. Aber das dauerte nur wenige Sekunden lang, dann rieb er sein Bein wieder über die Stimmleiste.

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»Diesmal ist es keine Notfallübung, Viin – es ist ein Notfall.« Seine Augenbüschel pendelten ruckartig.

Ich folgte seinem Blick. Niemand saß noch in dem aus edlen Hölzern gefertigten Salon. Im Hintergrund liefen zwei Vierbeiner aufgeregt hin und her und versuchten, die Frontvorhänge aus schwerem Stoff zuzuziehen. Aber die flackernden Blitze ließen sich nicht aussperren. Wie unter einer heftigen Berührung zuckte ich zusammen, denn auch die großen, von Messingarbeiten eingefassten Seitenfenster ließen das aufziehende Unwetter erkennen.

Über dem fernen Gebirge lastete ein bedrückendes Orange, die höchsten Gipfel hatten sich schon im Dunst verborgen, und der Nebel weitete sich aus. Ich sah noch die riesigen goldfarbenen Plattformen hoch oben in verschwimmender Ferne. Ihre Türmchen und Erker weckten in mir den Eindruck, zarte Pilze in den unterschiedlichsten Lebensstadien zu sehen. Leuchtende Säulen in grellem Weiß, heller als der Schein der Mittagssonne, griffen von den Turmspitzen aus in die beginnende Nacht und eilten Vadolons Facetten entgegen. Die Gewitterschwärze verschluckte all diese Pracht. Nur Schatten blieben, die für kurze Zeit über das Land huschten, bevor sie sich in der Dämmerung auflösten.

»Herr!« Weitaus vorsichtiger und zurückhaltender als eben stieß mich der Sechsbeinige mit seinen Kieferzangen an. Er zeigte sich endlich bemüht, meine Blätter nicht zu verletzen. Zweifellos wollte er Chlorophyllflecken auf den Polstern vermeiden.

Er zirpte schrill, als ich mich erhob. Aber nicht mir galt seine Reaktion, sondern der Gondel, die sich langsam zur Seite neigte. Das lauter werdende Knirschen der Verstrebungen vermischte sich mit dem Heulen des losbrechenden Sturms und den entsetzten Schreien einiger Passagiere.

»Komm mit mir!« Hastig rieb der Diener beide Hinterbeine an den Stimmleisten. Ein neuerlicher Stoß warf mich zu Boden. Feuerschein huschte an der Gondel entlang, dann hallte das schmetternde Dröhnen des Donners heran.

Unter uns lagen schon die größeren Städte, die sich an den seichten Stellen der Flussläufe ausbreiteten wie Geschwüre. Zur Linken schimmerte eine Bucht herauf, aber auch sie hüllte sich allmählich in Dunst. Ich sah die Wellenkämme draußen auf dem Meer wie weiße Linien, die der Sturm der Küste entgegenpeitschte. Dann verhängte sich die Sicht völlig.

Vor mir wühlte sich ein Echsenwesen aus den Trümmern des Tischchens hervor, den es unter sich begraben hatte. Der weit vorspringende Mund fauchte mich an: »Eine Fahrt ins Paradies, für teures Geld …« Er krächzte

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heiser. »In den Tod, sage ich dir. Das ist es, was uns noch erwartet. Diese neuen Erfindungen gehören verbrannt, ebenso wie ihre Konstrukteure.«

Der Diener zog mich weiter bis ins Heck der Gondel. Eine dünne Wand trennte uns von der nach unten führenden Treppe. Es bedurfte nur weniger Handgriffe, dann glitt die geschnitzte Tür vor uns zur Seite. Zugang zu diesem Bereich hatten die Fahrgäste erst nach der Landung.

»Schnell!«, zirpte er mir zu. Ich fragte mich, warum der Sechsbeinige das für mich tat. War mein

Trinkgeld so großzügig bemessen gewesen? Eine neue Bö fegte von der Seite heran. Ein Tau riss mit peitschendem

Knall, ich sah es vorbeizucken und gegen die Zeppelinhülle schmettern. Verstrebungen knickten ein wie dünnes Holz, und die Gondel schien plötzlich durchzusacken. Doch die Verankerungen hielten stand.

Ich war in den Treppenschacht geschleudert worden und hatte mich gerade noch am gepolsterten Handlauf abfangen können. Dicht über mir hing der massige gasgefüllte Rumpf. Flackernde Elmsfeuer huschten über die Außenspanten. Dazu die wirbelnde Schwärze der Gewitterfront. Wie ein vages, fernes Auge zeichnete sich der Mond ab. Selten hatte ich ihn so matt gesehen, nicht einmal seine Umrisse wurden deutlich.

»Komm schon!«, rief mir der Diener zu. »Wir verlieren an Höhe!« Ich stolperte die Treppen hinab. Der Prunk, der allein in die Gondel

hineingearbeitet worden war, suchte seinesgleichen. Ich spiegelte mich sogar im polierten Wandholz.

Unter uns erstreckte sich wieder Wald. Ein Ausläufer der Sumpfregion war zu erkennen. Aber das alles wurde nur schlaglichtartig von aufreißenden Wolkenschleiern offenbart.

Mein Blick fraß sich an den Propellern fest, die das Luftschiff vorwärts trieben. Sie erinnerten mich an die gewaltigen Schiffsschrauben, die ich vor kurzem im Hafen gesehen hatte. Es gab Schiffe, die mit Dampf angetrieben das Meer durchkreuzten und nicht mehr auf die Launen des Windes angewiesen waren. Auch auf dem Land fuhren lärmende und stinkende Kutschen, die sich von selbst bewegten, weil sie ihre Kraft aus tausendfachen schwachen Explosionen bezogen. Bald würden die Zugtiere überflüssig werden und viele Viin nicht mehr wissen, wie sie sich ihr tägliches Auskommen verdienen sollten. Dazu die neuen Luftschiffe, die in der Lage waren, selbst schwere Lasten schnell und sicher zu transportieren. Was ich erlebte – und mit all seiner erhabenen Schönheit in den vergangenen Tagen genossen hatte – war der Jungfernflug des neuen Prototyps. Eine schöne und aufregende neue Zeit brach auf Vinara an.

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»Hier!« Der Diener streckte mir ein umfangreiches, verschnürtes Bündel entgegen. »Befestige das an deinem Leib!«

Ich ließ mehrere Hüllblätter hängen, um ihm mein Missfallen zu zeigen. Das Bündel behagte mir nicht, es machte mir sogar Angst.

»Umschnallen!« Heftig brachte der Diener den Befehl hervor. Mit beiden Vordergliedmaßen griff er zu und half mir.

Das ohrenbetäubende Schmettern und Krachen eines einschlagenden Blitzes fegte heran. Flammen loderten ringsum, und meine Sinneshaare rollten sich ein. Ein Ruck ging durch die Gondel. Ich spürte mehr, als dass ich es hören konnte, wie das dünne Metall zerriss. Wenn sich die Sinnesfäden nicht schnell wieder aufrichteten, war ich nicht nur taub, sondern auch noch blind.

Die Gondel bäumte sich auf. Ich taumelte, dann griff der Sog nach mir. Mit unwiderstehlicher Gewalt zerrte er mich auf die geborstene Wand zu. Ich schrie und spürte noch, dass der Diener mich zurückzuhalten versuchte, dann riss die Knospe ab, die er festhielt. Ich krachte gegen die Wand, die ebenso gedankenschnell entzweibrach, und wirbelte, mich überschlagend, durch die Luft. Der Gewittersturm riss mich mit sich wie ein welkes Blatt.

*

Der tobende Lärm blieb hinter mir zurück. Vorübergehend glaubte ich zu schweben, nicht viel anders als in meinem Traum. Nur würde der Aufschlag meinen Körper zerschmettern. Über mir hing ein größer werdender Fleck funkelnder Helligkeit. Der Schein des Mondes durchbrach die Gewitterfront. Ich tauchte ein in sein helles Licht, das ich so oft am Boden genossen hatte, und spürte schier, wie sich die Knospen regenerierten.

Unter mir ragten große Felsmonolithen empor. Auf einem schmalen Felsband entdeckte ich die Zinnen einer halb verfallenen Burg. Ich konnte sogar den ausgetretenen Serpentinenpfad sehen, der an den Seen entlang in die Ebene führte.

Irgendwo dort unten würde ich sterben. Fürchtest du dich davor?

Bildete ich mir wirklich ein, dass jemand zu mir gesprochen hatte? Ein Echsenreiter? Überrascht blickte ich in fast alle Richtungen gleichzeitig, aber da war nichts.

Zieh die Reißleine! Ich verstand nicht, was die Stimme von mir wollte. Im nächsten Moment

führte ein unheimlicher Zwang meinen Greifarm. Ohne dass ich es wirklich

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beabsichtigte, tastete ich über das Bündel, das mir der Diener umgebunden hatte. Da war das Ende eines Seils.

Richtig. Zieh mit aller Kraft daran, wenn du weiterleben willst. Ein unglaublicher Ruck, als würde ich während einer Ruhephase aus dem

Boden gezerrt, riss mich in die Höhe. Meine Wurzeln schlugen haltlos um sich, aber dann sah ich dieses große, gewölbte Tuch über mir. Eine Vielzahl dünner Stricke hielt es fest. Die Luft staute sich unter diesem Tuch und bremste meinen Fall ab.

Instinktiv suchte ich nach dem langen und schlanken Rumpf des Luftschiffs und nach der Passagiergondel, aber ich entfernte mich nun schnell von der Gewitterfront. Zudem hing das Mondlicht gleißend über mir.

Nach einer Weile genoss ich das Schweben. Der Mond war zwar nur eine schmale Sichel, aber sein Schein ließ mich Dinge erkennen, die ich so noch nie wahrgenommen hatte. Blühende Felder erstreckten sich entlang des Flusses, sie waren bunte Flicken, die sich endlos aneinander reihten. Quer hindurch der Beginn der Eisenstraße, auf der sich an manchen Tagen fauchend und schnaufend das Dampfross entlangwälzte. Am Horizont die hohen Türme der großen Fabriken, über denen Tag und Nacht dichter Rauch hing.

Das Industriezeitalter hat begonnen. Fossile Brennstoffe haben Hochkonjunktur, die Eisen- und Stahlgewinnung treibt die Wirtschaft voran … Ich wunderte mich über meine eigenen Gedanken, aber zugleich spürte ich, dass sie eine tiefere Bedeutung hatten. Das alles erschien mir so seltsam vertraut, als hätte ich es schon einmal erlebt.

Nicht nur einmal. Oft. Der Boden kam näher, ich musste mich auf die Landung konzentrieren.

Die Frage war, wie ich den Aufprall mit Wurzeln abfangen sollte. Mit beiden Beinen federnd aufzukommen, war ich gewohnt, auch wenn das schon sehr lange zurücklag. Längst gab es Antigravs und Flugaggregate.

Ich war verwirrt. Fast erschien es mir, als hätte sich mein Geist gespalten. Du?, fragte ich zögernd. Wer bist du? Ich fantasierte. Oh ja, es gab unter uns Viin etliche Wesen, die sich auf zwei Beinen bewegten, aber ich hatte mich bislang nie mit ihnen identifiziert.

Ein Schatten zog über mich hinweg. Ich bemerkte den großen grauen Leib, bevor ich das kraftvolle Schlagen der Schwingen vernahm. Flüchtig sah ich den Reiter im Nacken der Flugechse, er starrte zu mir herüber und schien mir sogar etwas zuzurufen, dann war der Boden schon sehr nahe.

Knapp streifte der Fallschirm über eine Gruppe knorriger Bäume hinweg.

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Du hängst dran wie ein nasser Sack. Abfedern! Achtung … jetzt! Der Aufschlag war verheerend. Meine Wurzeln wurden gestaucht und

zum Teil abgerissen. Ich nahm zwar einen dumpfen Schmerz wahr, aber ich registrierte auch, dass dieses Fadengeflecht sehr schnell nachwachsen würde. Ich kippte vornüber und wurde von dem noch halb aufgeblähten Schirm über den Boden geschleift. Blätter und mehrere Knospen blieben abgerissen zurück.

Nein, das waren nicht meine Blätter. Ich hätte mich mit den Armen abfangen und abrollen können. Vor allem kam es darauf an, den Fallschirm loszuwerden, bevor er mich zu Tode schleifte.

Der Tentakelarm zuckte zu den Schnüren, die das Bündel festhielten. Mehrere Knoten lösten sich, ich fühlte mich nicht mehr ganz so eingeengt, aber der nächste Windstoß trieb den knatternden Schirm in unwegsames Gelände.

Mach schneller, Xyban-K’hir! Runter mit dem Rucksack! Was war das für ein Name? Vor meinem geistigen Auge entstand das

Abbild einer mannsgroßen, farbenprächtig blühenden Pflanze. Aber das war nicht ich, sondern der Körper, in dem ich mich so unvermittelt wieder gefunden hatte.

Der letzte Knoten ging auf, der Rucksack wurde schier nach vorne gerissen und schrammte über meinen Rücken. Ich blieb verkrümmt liegen und lauschte dem wilden Pochen beider Herzen.

Danke, vernahm ich eine zögernde Stimme. Du bist … kein Viin? Ich glaube, nein. Ich …

Mit kraftvollem Schwingenschlag zog die Flugechse dicht über uns hinweg. Ihre Fänge krallten sich in den Fallschirm, der sich in hohem Gestrüpp verfangen hatte. Ich hörte den Stoff reißen, aber schon strebte die Echse mit ihrem Reiter davon.

Xyban-K’hirs Wurzeln bohrten sich in den Boden. Es war ein wunderbares Gefühl, Nährstoffe und Feuchtigkeit im Überfluss zu spüren.

Endlich wurde ich mir meiner selbst bewusst. Atlantis Gonozalia, spottete mein Extrasinn. Täglich zweimal gießen. Ist

es das, wonach du dich sehnst?

*

Die Welt im Licht des Kristallmondes schien sich aufzulösen, sie verwirbelte in den Bildern eines aberwitzigen Kaleidoskops. Gesichter starrten mich an, wechselten einander ab, bevor ich mich auf sie konzentrieren konnte. Das eine wuchs aus dem anderen heraus, aber es

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waren keine bekannten Gesichter. Oder doch? Die Ausstrahlung von Macht ließ mich zusammenzucken. Mir war, als

hätte mich soeben etwas sehr Vertrautes gestreift, aber als ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, erschien mir dieser Eindruck nur noch unendlich fremd.

Sardaengar. Ein Name wie viele andere. Aber woher kannte ich ihn? Aus der Erinnerung des Pflanzenwesens?

Ein jähes Aufleuchten verdrängte alles andere. Die orangefarbene Sonne Verdran schwebte vor mir im All. Und wie Perlen aufgereiht sah ich fünf Welten ihre Sonne umkreisen.

Ich wartete immer noch auf das Ende der Transition. Der Entzerrungsschmerz hielt an. Zugleich wuchs ein beklemmendes Gefühl in mir. Dieses Gefühl

bedeutete Gefahr. Ich spürte eine unheimliche Bedrohung, ohne sie lokalisieren zu können. Die Obsidian-Kluft …

In dieser Sekunde stürzte die Vergessene Plattform in den Einsteinraum zurück.

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7.

»Da haben wir den Übeltäter!« Tassagol war nahe daran, aufzuspringen. Mit beiden Händen fuhr er sich durchs Haar, dann erst wurde er sich bewusst dass ihn etliche Augenpaare durchdringend musterten. »Eine Dunkelwolke!« stieß er wie zur Erklärung hervor.

»Etwas genauer wäre nicht schlecht« sagte der Kommandant. »Ich nehme an wir befinden uns innerhalb einer Dunkelwolke.«

Tassagol vergaß völlig, die Hände wieder aus dem Nacken nach vorne zu nehmen. Entgeistert blickte er den dunkelhäutigen Terraner an. »Die Ortung hat diese Wolke eben erst erfasst.«

»Und wenn schon. Es war zu erwarten, dass der Strahlungsdruck der Sonne das System von Wolkenmaterie freihält. Wie groß ist der Durchmesser der Blase?«

»Zwanzig Lichtminuten«, antwortete Tassagol eine Nuance leiser als zuvor. Er war offensichtlich überrascht, dass der Kommandant die neuen Ortungsergebnisse derart gelassen aufnahm. »Genau genommen 363 Millionen Kilometer« fügte er hinzu.

»Ergeben sich Hinweise auf andere Sterne in dieser Wolke? Und was ist mit Ausdehnung und Form – bringt uns das eine Positionsbestimmung ein?«

»Vorerst nur die Tatsache, dass wir inmitten einer perfekten Hohlkugel stecken.«

»Gut.« January Khemo-Massai nickte knapp. »Das heißt, dass der natürliche Strahlungsdruck nicht allein dafür verantwortlich sein kann. Auf die eine oder andere Weise wird die Kugelwandung künstlich stabilisiert.«

»Bislang liegt kein Hinweis darauf vor«, sagte der Arkonide. Der Kommandant vollführte eine wegwerfende Geste. »Einen definitiven

Hinweis auf die Dunkelwolke hatten wir vor wenigen Minuten auch noch nicht. Nur die Behauptung, dass dieses Sonnensystem das einzige im Universum zu sein scheint. Aber alles andere erschien uns wichtiger. Auf Terra gibt es ein zutreffendes Sprichwort dafür: Wir haben den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen.«

»Die Frage ist, was steckt dahinter?«, wandte Lethem da Vokoban ein. »Ich werde aus der Plattform nicht schlau. Sie stoppt inzwischen ihre Drehbewegung, aber sie leitet keine Kurskorrektur ein.«

»Dann fliegt der Quader tatsächlich den Planeten oder diesen seltsamen Mond an«, stellte Khemo-Massai fest.

»Und wir fliegen hinterher.« Der Pilot schürzte erwartungsvoll die Lippen. »Egal, ob mit oder ohne Ortungsschutz.«

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»Dieser seltsame Mond«, Tassagol nahm Khemo-Massais Formulierung auf, »reflektiert nicht nur die Sonneneinstrahlung so intensiv, als bestünde er aus geschliffenen Flächen, die Spektralauswertung deutet auf eine kristalline Oberfläche hin.«

»Ein Kristallmond …« Der Kommandant nickte knapp. »Was sagen Masse- und Dichtescans?« Tassagols hastiges Kopfschütteln entlockte ihm ein Lächeln; es sah aus, als hätte er diese Reaktion erwartet. »Sind wenigstens die exakten Daten der Dunkelwolke beizubringen? Oder versagt die Massetastung auch in dieser Richtung?«

»Die Auswertung ist angelaufen.« Khemo-Massai wandte sich wieder an den Piloten. »Wir schließen

langsam zur Plattform auf!«, befahl er. »Aber sofortiges Absetzmanöver, sobald sich Probleme abzeichnen. Keine Eigenmächtigkeiten!«

»Natürlich«, sagte Lethem da Vokoban. Ebenso gut hätte er fragen können: »Habe ich schon jemals eigenmächtig gehandelt?«

»Plattform leitet Bremsmanöver ein!«, kam die Meldung. Lethem zog die Brauen hoch, schwieg aber dazu. Beide Schiffe waren

zwischen dem Planeten mit dem Kristallmond und der Sonne materialisiert. Trotz der geringen Restgeschwindigkeit hatten sie bislang mehr als drei Viertel der Entfernung zurückgelegt. Optisch war der Mond bereits gut zu erkennen.

Lethem ließ die Geschwindigkeit der TOSOMA unverändert. Wenn die Plattform weiterhin verzögerte, würde sich der Abstand ohnehin verringern. Mit einem knappen Befehl löschte er die Vorgabe und wandte sich der Panoramagalerie zu. Ihm fiel auf, dass der Kommandant mit dem Syntron kommunizierte und zugleich den Mond nicht aus den Augen ließ.

»Doch ein Wespennest!«, rief Khemo-Massai unvermittelt. »Der Hauptrechner hat das soeben ausdrücklich bestätigt. Der Durchmesser entspricht haargenau dem eines Sporenschiffs!«

Lethem schürzte die Lippen, blickte den Kristallmond an und nickte zögernd. »Gibt es überhaupt noch Sporenschiffe?«, fragte er.

»Ich habe nicht gesagt, dass wir eines vor uns haben«, sagte der Kommandant abwehrend. »Diese Übereinstimmung ist dennoch frappierend.«

»Das ist wohl eher ein Zufall«, wandte Gulokhiz ein, der stellvertretende Leiter der Schiffsverteidigung.

»Ausgerechnet in einem solchen System, in dem alles manipuliert wurde?« Lethem schüttelte den Kopf. »Genau das kann ich nicht glauben.«

»Wir müssen uns auf weitere Überraschungen einstellen«, bestätigte der

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Kommandant. »Aber daran sind wir doch gewöhnt.« Sieben Sporenschiffe hatte es einst gegeben. Diese Spezialraumschiffe

der Mächtigen waren Kosmokratentechnologie und dazu bestimmt gewesen, Leben im Kosmos auszusäen. Ein achtes Schiff war erst vor wenigen Jahren weit außerhalb der Milchstraße entdeckt worden.

»Könnte Samkar damit zu tun haben?«, wollte Lethem wissen. »Ich meine, wenn ein Roboter der Kosmokraten seine Hände im Spiel hat, sollten wir auf sehr weitschichtige Auswirkungen gefasst sein. Atlan könnte dazu bestimmt schon mehr sagen.«

»Wenn Atlan noch am Leben ist, holen wir ihn von der Plattform«, sagte Khemo-Massai. Lethem zuckte zusammen, einige andere ebenfalls. Der Gedanke, den Aktivatorträger zu verlieren, bereitete ihnen sichtlich Unbehagen.

»Diese Dunkelwolke ist eigentlich keine!«, rief Tassagol in die entstandene beklemmende Stille. »Die Massetastung weist ein eher körniges Konglomerat aus, ungewöhnlich grob in der Struktur. Das ist eine Ansammlung von Staub und überwiegend Gesteinsbrocken. Hauptbestandteil ist Siliziumdioxid – und nun kommt das Interessante: Die Hypertaster weisen eindeutig fünfdimensionale Emissionen aus.«

»Eine Wolke aus Hyperkristallen?« »Auf den ersten Blick könnte man das Material durchaus für

Hyperkristalle halten«, bestätigte Tassagol. »Sämtliche Messwerte zeigen eindeutig vergleichbare Eigenschaften. Trotzdem passt diese Wolke nicht in die bekannten Schemata.«

»Lässt sich absehen, womit wir es dann zu tun haben?« »Obsidian!«, sagte Tassagol gedehnt. »Die Analyse ist bereits

abgesichert. Die Dunkelwolke besteht aus amorphem vulkanischen Gesteinsglas. Genau das Material, das an der Oberfläche von Lavaströmen durch rasche Abkühlung entsteht. Aber frage mich niemand, wie Obsidian in dieser extremen Masse in den Weltraum gerät.«

*

Ein vager blauer Nebel hatte meine Wahrnehmungen ausgelöscht. Er lichtete sich nur langsam, während mein bewusstes Denken wieder

einsetzte. Flüchtig glaubte ich, Samkar zu sehen, den Kosmokratenroboter, der Lis leblosen Körper davontrug. Dann erschien der Kristallmond über mir, und sein Licht empfand ich als bedrohlich und verheißungsvoll zugleich.

Was immer geschehen sein mochte, die Transition war anders verlaufen

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als geplant. Und keinesfalls in Nullzeit. Oder spielte mir mein Zeitempfinden einen Streich? Ich wusste, wie subjektiv solche Wahrnehmungen sein konnten.

Die Augen zu öffnen fiel mir schwer. Auf gewisse Weise war ich sogar überrascht, dass sich meine Umgebung nicht verändert hatte. Die Stahlwände des breiten Korridors umfingen mich, und die fahle Beleuchtung zeigte einen intensiv blauen Schimmer.

Die Nachwirkungen des Entzerrungsschmerzes klangen endlich ab. Trotzdem fühlte ich mich ausgelaugt. Als ich mich darauf konzentrierte, glaubte ich, den Aktivatorchip unter der Haut zu spüren, der die Regeneration beschleunigte.

Die Roboterspinnen umklammerten mich nach wie vor. Aber sie bewegten sich kaum noch. Ruckartig und unglaublich langsam richtete sich neben mir eine der Maschinen auf. Ihre Greifklauen schienen indes nur Zentimeterweise näher zu kommen.

Denk nicht darüber nach, nutze die Chance! Machten den Robotern ebenfalls die Nachwirkungen der Transition zu

schaffen? Bedeutete das womöglich, dass die Vergessene Plattform verletzlich geworden war?

Ich spannte die Arme an und riss sie vehement auseinander. Für einen flüchtigen Moment schienen die Klauen den Schutzanzug zu durchschneiden und mir das Fleisch von den Knochen zu reißen, aber dieser Eindruck ließ sofort wieder nach. Mein linker Arm kam frei, doch mich so weit zu verrenken, dass ich meinen Strahler erreicht hätte, schaffte ich nicht. Mit aller Kraft zerrte ich an dem Spinnenbein, das mein rechtes Handgelenk hielt. Ein dumpfes Knirschen erklang, dann hielt ich das ausgerissene Metallbein in der Hand. Ich stieß es der Spinne, die fast schon über mir war, zwischen die Kieferklauen.

Augenblicke später stand ich wieder auf den Beinen. Jeweils mehrere Roboterspinnen hielten meine Begleiter fest. Javales’ Helm hatten sie noch nicht geöffnet, aber in Veloz’ Nacken klaffte eine fingerlange Wunde. Zwei der nur faustgroßen Spinnen hatten sich dort festgesetzt.

Ein aberwitziger Gedanke durchzuckte mich: Waren diese Roboter Schmarotzer, die erst im Nacken ihres Opfers heranwuchsen? Tatsächlich erschien mir diese Vorstellung zu gewagt, obwohl nicht einmal der Logiksektor widersprach.

Meine Begleiter überwanden endlich ihre Bewusstlosigkeit. Veloz wimmerte leise, sein Blick huschte unruhig umher. Ich glaube nicht, dass er in dem Moment wirklich verstand, was er sah. Endlich bemerkte er mich,

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und Erkennen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, brachte aber nur ein gequältes Stöhnen über die Lippen. Sein Kopf fiel in den Nacken, er spannte die Schultern an – es war unverkennbar, dass ihm die Roboterspinnen zusetzten.

Entschlossen griff ich zu. Beide Exemplare hatten sich in Veloz’ Nacken festgekrallt. Ich schaffte es, die erste Spinne vorsichtig zu lösen, dann stieß Veloz mich mit einem gellenden Aufschrei schroff zur Seite.

Sein Gesicht verzerrte sich zur Grimasse. Zumindest teilweise stand er also schon unter dem fremden Einfluss. Ich schaffte es nicht mehr, auch den zweiten Roboter in seinem Nacken zu lösen, denn die anderen reagierten bereits wieder schneller. Ich wurde attackiert. Offenbar versuchten einige Spinnen, mich abzulenken, denn die übrigen Biester schleppten Javales davon.

Ich riss den Strahler hoch und feuerte. Noch waren die Roboter nicht schnell genug. Zwei Exemplare wurden beschädigt und drehten sich anschließend im Kreis. Ich sprang über sie hinweg, schoss und trat nach drei weiteren, die mich festhalten wollten, und erreichte die Gruppe mit Javales, bevor sie sich in einen Seitenkorridor zurückziehen konnten.

Mittlerweile feuerte ich nur noch auf die Stahlbeine der Spinnen, die sich als ihre verwundbarste Stelle herausgestellt hatten. Die Ersten knickten unter ihrem Opfer ein. Im Korridor war die Temperatur sprunghaft angestiegen. Aber Jorge, der seinen Schutzanzug noch geschlossen hatte, spürte davon nichts.

Die letzten drei Roboterspinnen griffen mich an. Zwei verglühten erst dicht vor mir, die dritte erledigte Javales mit mehreren Schüssen. Er blickte mich verwirrt an. In dem Moment glaubte ich, dass er während der Transition Ähnliches wie ich erlebt hatte.

»Veloz?«, fragte er. Die akustische Außenübertragung seines Anzugs war nicht aktiv, aber ich las es ihm von den Lippen ab.

Im Laufschritt eilten wir zurück. Der Historiker lag verkrümmt am Boden. Mehrere Roboterspinnen, die eben versucht hatten, ihn mit sich zu zerren, wandten sich uns zu.

Veloz da Metztat ist tot, raunte mein Extrasinn. Ich schoss, hastete an den Robotern vorbei, wurde beinahe von den

Beinen gerissen und stand neben Veloz, während Jorge die Spinnen im Schach hielt. Zwei dünne Blutfäden sickerten aus Veloz da Metztats Mundwinkeln, seine Augen waren weit aufgerissen, doch sie starrten blicklos ins Leere. Ich musste nicht erst nach seinem Puls fühlen, um zu erkennen, dass der Extrasinn Recht hatte. Ich sah keine äußere Verletzung

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außer den Wunden im Nacken, die zwar schmerzhaft, aber keineswegs tödlich gewesen sein konnten.

»Sie kommen!« Jorge Javales’ Lautsprecherstimme schreckte mich auf. Unzählige Roboter kamen den breiten Korridor entlang, eine stumme Phalanx, gegen die wir kaum bestehen konnten. Wir würden es nicht einmal schaffen, unsere Flucht durch einen Seitengang fortzusetzen.

»Komm!«, befahl ich Javales. »Weg hier!« Wir mussten Veloz’ Leichnam zurücklassen, weil er uns nur behindert

hätte. Aber das war das Schicksal, das jeder von uns irgendwann akzeptiert hatte, ohne darüber nachzudenken: irgendwo im Weltraum zurückzubleiben, tot oder schlimmer noch handlungsunfähig und unbekannten Mächten ausgeliefert.

Ist das eine neue Sentimentalität, Barbar? Ich reagierte nicht auf die Bemerkung. Wir hatten keine andere Wahl, als

uns dem Leuchten des Hoagh anzuvertrauen. Vielleicht würden wir vom Regen in die Traufe gelangen. Ich wusste es

nicht. Seite an Seite mit Jorge Javales warf ich mich durch die Toröffnung. Die Welt erlosch in einem blauen Aufflammen.

*

»Wir messen eine Strukturerschütterung an!«, meldete der Arkonide Tassagol. »Die Charakteristika deuten auf einen Transmitterschock hin.«

»Ausgangspunkt?«, fragte der Kommandant. »Eindeutig die Plattform!« Für eine oder zwei Sekunden hielt fast jeder in der Zentrale der

TOSOMA den Atem an. Der Jagdkreuzer hatte die Distanz zu dem schwarzen Quader bis auf weniger als vierzigtausend Kilometer verringert, ohne dass eine Reaktion erkennbar gewesen wäre. Wenn ausgerechnet nun ein Transmitterimpuls geortet wurde, konnte das darauf hindeuten, dass Atlan aktiv geworden war.

»Wo liegt der Endpunkt?« Genau die Frage, die January Khemo-Massai stellte, bewegte auch den

Piloten. Es war eine wilde Hoffnung, die sich sofort breit machte, die Erwartung, dass der aufgezeichnete Transmittersprung nicht über die Dunkelwolke hinausgeführt hatte.

»Das Empfangsgerät steht auf der Oberfläche eines der Planeten«, stellte Tassagol fest.

»Haben wir die Koordinaten?« »Es sieht so aus, als könnten wir den Ort bis auf hundert Kilometer genau

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eingrenzen. Beide Schockwellen überlagern sich zwar und wurden zudem von der Wolke reflektiert, aber diese Störung kann rechnerisch weitgehend eliminiert werden.«

»Ist es der Planet vor uns oder der Mond?«, wollte Lethem da Vokoban wissen. »Wenn wir mit den Shifts fliegen, dann …«

»Eine der anderen Welten«, unterbrach Tassagol. »Trotzdem ändern wir den Kurs vorerst nicht.« Der Kommandant kam

damit dem Piloten zuvor. »Ich will, dass die Funküberwachung auf die betreffende Welt konzentriert wird. Falls wirklich Atlan und seine Begleiter den Impuls ausgelöst haben, werden sie sich über Interkom melden.«

»Sofern sie von unserer Anwesenheit wissen«, wandte Lethem ein. »Falls nicht – ich melde mich freiwillig für ein Erkundungsunternehmen.«

»Das dachte ich mir. Aber wir warten ab und lassen den Quader nicht aus den Augen.«

Tassagols überraschter Ausruf brachte jeden zum Verstummen: »Das Geisterschiff entmaterialisiert!«

Die Ortungen hatten den Vorgang um Sekundenbruchteile eher erfasst, als er auch im optischen Bereich erkennbar wurde. Energieentladungen umzuckten die Plattform. Sie schienen dieses diffuse Leuchten aufreißen zu wollen, das den Quader nach wie vor umgab, nun aber starken Helligkeitsschwankungen unterlag.

»Das Schiff verblasst! Es verschwindet!« Die Vergessene Plattform war durchscheinend geworden. Aus nächster

Nähe glaubte die Besatzung der TOSOMA zu sehen, dass die Raumkrümmung aufbrach. Es war ein eigenartiger, schwer zu beschreibender Vorgang, weit eher gefühlsmäßig erfassbar als mit den menschlichen Sinnen. Wo eben noch der Quader gewesen war, gähnte das Nichts; es wirkte völlig anders als der Weltraum an sich, wie ein Durchbruch durch Raum und Zeit.

Lethem starrte auf dieses Nichts inmitten der düster werdenden Aura. Es begann zu pulsieren, schien sich aufzublähen – und spuckte den kantigen Schatten wieder aus.

»Lethem! Wenn sich das ausweitet, voller Gegenschub!« Es kostete den Piloten Überwindung, die Schaltflächen zu aktivieren. Was

nur noch dreißigtausend Kilometer vor der TOSOMA geschah, faszinierte ihn. Die Plattform schien zu atmen, sie verblasste schon wieder, aber diesmal zögernder. Beinahe zwanzig Sekunden vergingen, bis sie nur noch als Schemen sichtbar war.

»Wir müssen ihr folgen!«, wollte Lethem rufen. »Sonst sehen wir sie nie

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wieder!« Er brachte nicht einen Ton über die Lippen, denn nahezu gleichzeitig, in einem irrlichternden Aufflackern, gewann der Quader seine Stofflichkeit zurück, umflossen von bedrohlicher werdenden Entladungen, die schließlich weit in den Raum hinauszuckten.

»Die Plattform hält unverändert Kurs auf den Planeten. Ihre Geschwindigkeit sinkt ab.«

»Eigenes Bremsmanöver eingeleitet!«, meldete Lethem. »Der Quader kann nicht mehr entkommen«, sagte jemand. »Es sieht ganz

danach aus, als wäre er nach Jahrtausenden ruheloser Wanderung in diesem System gefangen.«

»Er wird es wieder versuchen«, prophezeite Khemo-Massai düster. »Und er wird mehr Energie einsetzen, oder der Aufriss im Raum wird größer werden …«

»Wie ein gefangenes Insekt, das hartnäckig gegen sein Gefängnis anrennt.«

»Nur dass unser Insekt vielleicht über die Mittel verfügt, diesen Käfig zu sprengen«, vollendete der Kommandant.

Hunderte Kilometer weit griffen die Entladungen in den Raum hinaus. Wie Protuberanzen fielen sie wieder auf den Quader zurück. Es waren unglaubliche Energiemengen, die sich entluden.

Aus dem Nichts heraus verdichteten sich schwach leuchtende Schleier vor der TOSOMA. Ein unheimliches Knistern war sogar innerhalb der autarken Zentrale zu vernehmen, als das Schiff die flackernden Schwaden durchstieß. Nach wie vor ließen sich die Schutzschirme nicht aufbauen.

»Partikeldichte steigt schnell an!« »Gegenschub!«, befahl der Kommandant. Tief im Schiff entstand ein dumpfes Dröhnen. Die auf Volllast

hochgefahrenen Triebwerke erbrachten aber nur einen Bruchteil der erhofften Schubkraft.

»Die Energie fließt ab!« »Was ist mit der Abschirmung?« »Offensichtlich ausgefallen. Die Gravitrafspeicher und das Nugas-

Hilfskraftwerk sind betroffen.« »Heftige Energieausbrüche auf der Sonne!«, meldete die Ortung.

»Riesige Flares werden abgestoßen. Die Zahl der Protuberanzen hat sich in den letzten Sekunden verzehnfacht. Extreme Strahlungsausbrüche im kurzwelligen Bereich. Wenn das anhält, dann steht dem System ein Chaos bevor.«

»Und wir stecken mittendrin. Lethem, wie schnell können wir den

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Planeten erreichen, auf dem wir Atlan vermuten?« »Bei der Triebwerksleistung ist das eine Frage von Stunden.« »Also auch keine Transitionsmöglichkeit.« Das war mehr eine

Feststellung, und der Kommandant wollte auch keine Antwort darauf, zumal Tassagol schon die nächste Meldung parat hatte. Der Arkonide war sichtbar bleich geworden, er redete stockend und unterbrach sich mehrmals.

»Die Scanner zeichnen Schockfronten im Obsidian-Wall auf. Die vielen kleinen Peaks erscheinen wie Transitionen, und wenn das stimmt, werden da draußen seit wenigen Augenblicken gewaltige Materiemengen entmaterialisiert. Der gesamte Randbereich des Systems gerät in Aufruhr.«

»Das kann unmöglich schon eine Folge der potenzierten Sonnenaktivität sein.«

»Materialisationsschocks!« Tassagols Stimme überschlug sich. »Vor uns!«

Jeder konnte sehen, was geschah. Ein Wirbel entstand. Der Weltraum hoch über der Plattform veränderte sich. Zuerst war da ein Klumpen unheilvoller Schwärze. Er rotierte, weitete sich aus und wurde länger. Ein Trichter entstand, schon mit bloßem Auge als Hunderte Kilometer messender, zuckender und sich windender Schlauch erkennbar. Düster glimmende Entladungen zeichneten sich in der Wand ab, sie machten die schnelle Rotation erst wirklich sichtbar.

Lethem da Vokoban gab weiterhin Vollschub auf die Triebwerke. Die tatsächliche Leistung war nahezu unbedeutend. Schon flammten die ersten Warnungen auf und zeigten die durchlässig werdenden Magnetfelder.

»Die Obsidianmassen materialisieren hier!« Tassagol musste brüllen, um sich noch verständlich zu machen.

Über mehrere tausend Kilometer erstreckte sich der Wirbel bereits. Wie ein Tornado zuckte er durch den Raum und näherte sich unaufhaltsam der Plattform – so als würde er von den Entladungen angezogen, die den Quader umtobten.

Noch nicht einmal eine halbe Minute war vergangen, da brach aus dem Trichter ein nicht enden wollender Materieschwall hervor. Obsidianfragmente, von Staubkorngröße bis hin zur Masse einer Space-Jet, wurden mit verheerender Gewalt auf die Plattform geschleudert. Es war ein wahrhaft kosmisches Bombardement, das den Quader vollends jeder Beobachtung entzog. Noch verglühte ein Großteil dieses Materieschauers in den zuckenden Energien, aber sobald sie durchschlugen, würde das Geisterschiff zermalmt werden.

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Unaufhörlich materialisierte Nachschub aus der Obsidianwolke. Auf einige zehntausend Kilometer Länge hatte sich der Wirbel ausgewachsen.

Lethem da Vokoban achtete nicht mehr darauf, denn die ersten Warnanzeigen erloschen wieder, als würde das Geschehen um die Plattform den Energieabfluss auf der TOSOMA verringern.

In dem Moment übertönte ein dumpfer, peitschender Knall alles andere. Weitere Schläge, von dumpfen Erschütterungen der Schiffszelle begleitet, folgten.

Vakuumeinbruch! Die Sicherheitsschotten auf allen Decks schlossen sich. Währenddessen gab es weitere Einschläge. Jeder wusste, was geschah.

Einzelne Brocken des Materiestroms wurden von dem Energiefeld der Plattform abgelenkt. Winzige Staubkörnchen ebenso wie mehrere Meter durchmessende Obsidianklumpen. Als Querschläger rasten sie durch den Raum, mit der verheerenden Wirkung eines Asteroidenfelds.

Viel zu träge reagierte die TOSOMA. Ohne die Schutzschirme war das Schiff zum Untergang verurteilt. Immer neue Einschläge waren zu vernehmen.

Raus aus dem Streubereich! Nur dieser eine Gedanke beseelte Lethem noch. Er hörte die Befehle und sich überstürzenden Meldungen, aber das alles verschwamm für ihn zu einem unentwirrbaren Chaos.

*

Wie lange er verzweifelt versucht hatte, die TOSOMA in Sicherheit zu bringen, hätte er später nicht zu sagen vermocht. Es interessierte ihn auch nicht. Irgendwann verstummte das Bombardement jedoch. Vielleicht war es die Schwerkraft des schon sehr nahen Planeten, die auf den zuckenden Schlauch einwirkte und ihn herumschwingen ließ. Jedenfalls traf der Materieschwall nicht mehr den schwarzen Quader, sondern prasselte mit zunehmender Intensität auf den Kristallmond. Lodernde Entladungen zuckten über die Mondoberfläche, grellweiße Lichtsäulen wuchsen in die Höhe und schlugen eine Brücke bis in die Atmosphäre des Planeten.

Die Vergessene Plattform schien das Chaos unbeschadet überstanden zu haben. Nur noch vereinzelte Entladungen durchzuckten ihre fahle Aura.

Die TOSOMA driftete dem Planeten entgegen, der langsam größer wurde. Ausschließlich die Hilfstriebwerke arbeiteten. Die Ortungen waren weitgehend ausgefallen, an einen auch nur partiellen Aufbau der Schutzschirme war auf lange Sicht überhaupt nicht mehr zu denken. Die Schiffshülle war an Dutzenden Stellen zum Teil großflächig perforiert, die

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dahinter liegenden Räume waren hermetisch abgeriegelt. Noch gab es keine Gewissheit, ob Menschenleben zu beklagen waren, aber die Schadensmeldungen aus allen Bereichen häuften sich. Dabei konnte die Mannschaft noch von Glück sagen, dass Speicherbänke oder Reaktoren nicht von den Obsidianbrocken durchschlagen worden waren. Die spontane Freisetzung der Energie hätte das Schiff in eine Gluthölle verwandelt.

Energiestürme tobten im planetennahen Bereich. »Wir müssen notlanden. Im Raum ist an einen Reparaturversuch nicht

einmal zu denken.« Der Kommandant bedachte den Piloten mit durchdringendem Blick. »Bekommen wir das hin? Einigermaßen wenigstens?«

Lethem zögerte, dann nickte er knapp. »Wir müssen nur heil unten ankommen«, fügte Khemo-Massai hinzu. Zehn Minuten später tauchte die TOSOMA in die Ausläufer der

Atmosphäre ein. Ein kurzer Korrekturschub verhinderte, dass sie im flachen Winkel abprallte und in Richtung des Kristallmondes raste.

Langsam sank das Schiff tiefer. Es würde den Planeten mehrmals umrunden, bevor es irgendwo auf dem Kontinent aufsetzte. Niemand machte sich Gedanken über den Landeplatz.

Die Korrekturtriebwerke arbeiteten nur noch sporadisch. Mehr als eine Lagestabilisierung bewirkten sie kaum. Das Schiff wurde schneller und zog einen Schweif ionisierter Moleküle hinter sich her. Dann war der Absturz nicht mehr zu kaschieren.

Von der Oberfläche des Planeten aus gesehen, bot sich ein atemberaubendes Schauspiel. Ein glühender Komet war in die dichten Schichten der Atmosphäre eingedrungen und stürzte als Feuerball in die Tiefe.

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8.

Niemand bemerkte die einsame Gestalt, die in den tobenden Energien des Sonnendodekaeders materialisierte. Ihr Schutzanzug bestand aus golden­metallischen Pailletten, die das Licht der Sonnen in vielfachem Reflex spiegelten. Sekundenlang war ein weiches, weibliches Gesicht zu sehen. Das rote Haar schien wie das Feuer der Sonnen auseinander zu fließen, und der Blick der rubinroten Augen schweifte in weite Ferne.

Für kurze Zeit hantierte die Frau an den schwarzen Aggregaten ihres Gürtels. Bedeutsames war geschehen, und sie hatte den Auftrag, dies zu beobachten.

Nach wenigen Minuten verschwand sie so plötzlich, wie sie zuvor erschienen war.

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Atlan und Jorge Javales schreiten durch das blaue Leuchten in der Hoffnung, auf der anderen Seite endlich Kontakt mit der TOSOMA aufnehmen zu können. Doch diese nähert sich rasend schnell einer Planetenoberfläche. Im letzten Moment gelingt ihr die Landung – und ihre Mannschaft entdeckt die

INSEL DER VERDAMMTEN Unter diesem Titel schildert der Autor Uwe Anton das weitere Schicksal

des Arkoniden Atlan und seiner Gefährten. Band zwei dieser 12-bändigen Miniserie erscheint in zwei Wochen überall im Zeitschriftenhandel.