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walker-hugh
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1.
»Vernehmt Vitu, den Geist des Lebens!«
Die Stimme echote in meinem Schädel. Da waren
noch andere Stimmen, aber sie schwiegen jetzt
ehrfürchtig.
»Ich bin das Leben. Seht mich an!«
Ich schrie unwillkürlich auf. Aus der Dunkelheit um
mich kam etwas Rotes und wuchs vor meinen Augen.
Es war ein schlagendes Herz in einem Schauer dunkler
Blutstropfen.
»Nehmt es! Es schlägt durch meinen Willen!«
Es wurde größer. Es schlug wie ein riesiger Gong,
und mit jedem Schlag spürte ich, wie der rote
Lebensstrom in meine Adern floß; wie er mich wärmte
und mir Kraft gab; wie er mich aus einer
unergründlichen Tiefe emporholte.
»Es ist gut zu leben!« sagte die Stimme.
Oh, ihr Götter, wie recht sie hatte. Kraft zu fühlen.
Den jagenden Puls. Den Taumel der Sinne ...
»Bedenkt es, wenn ihr tötet!«
Es war grausam, in diesem Augenblick daran zu
denken, aber unerbittlich kamen Bilder des Sterbens,
vor denen man die Augen nicht verschließen konnte,
weil sie hinter den Augen waren – tief in der Seele.
»Ihr, meine Freunde, habt getötet, im Rausch des
Kampfes. Aber ich verzeihe euch, weil ich weiß, daß es
Augenblicke gibt, da das Fleisch über den Verstand
triumphiert.«
Dankbarkeit war um mich. Ich wußte, daß ich nicht
allein in dieser Finsternis war. Und es war gut, nicht
allein vor dieser anklagenden Stimme zu stehen. Denn
ich hatte auch getötet. Ich erinnerte mich. Blut klebte an
meinem Schwert. Es war ein beschämendes Gefühl.
Aber dann begehrte ich auf. Ich hatte nicht um des
Tötens willen getötet, sondern im fairen Kampf, um
mich meiner Haut zu wehren.
»Du, Ubali«, sagte die Stimme, »bist nicht von
unserer Welt. Aber der Unterschied ist nicht groß, denn
das Leben ist überall in seinem Wesen gleich, im
Genuß, im Schmerz, im Geborenwerden, im Tod, in der
Erhaltung der Art. Seit du hier bist, bist du vielen
meiner Geschöpfe begegnet. Manche hast du
verstanden und sogar geliebt, andere sind dir fremd
geblieben, obwohl sie tiefer in dir waren, als je ein
anderer Mensch es sein könnte. Wieder andere hast du
getötet oder verletzt. Du hieltest sie für Tiere. Du sahst
mein Mal an ihnen, das weiße Mal meiner Gunst. Sei
nun auch du ein Tier, trage auch du mein Zeichen. Du
wirst erstaunt sein, wie gering der Unterschied
zwischen tierischem und menschlichem Leben ist. Es
wird deine Seele und dein Denken erweitern. Es sei
dein Tribut dafür, daß du auferstehen darfst.«
Mein Kopf war plötzlich leer. Nur Dunkelheit war
um mich. Eine kühle, erstickende Dunkelheit. Wasser.
Von Furcht beflügelt, begann ich mit aller Kraft nach
oben zu tauchen.
War es ein Traum – oder Erinnerung?
Nein, kein Traum! Sie hatten meinen todwunden
Körper in den Teich geworfen.
Und ich war auferstanden, wie es die Stimme gesagt
hatte. Auferstanden in der Gestalt eines schwarzen
Panthers. Ihr Götter!
Ubali, der Panther!
Wenigstens an der Hautfarbe hatte sich nichts
geändert. Ich war höchstens noch schwärzer geworden.
Ich hatte den Panther immer bewundert – seiner
Kraft und Geschmeidigkeit wegen. Nun spürte ich sie,
diese Kraft. Doch von Geschmeidigkeit keine Spur. Wir
waren nun schon eine Weile unterwegs zum Dorf, in
das sie mich bringen wollten, aber noch immer hatte
ich Mühe, einen halbwegs raubtierhaften Gang zuwege
zu bringen. Aber das Bedürfnis, mich aufzurichten und
auf zwei Beinen zu gehen, war gewaltig. So torkelte ich
ununterbrochen und fühlte mich stark an jenen Abend
in Urgor erinnert, als der Hünentrunk mich nicht
minder unsicher auf den Beinen machte.
Auch hatte ich ständig das Bedürfnis zu reden – und
erschrak vor meiner Stimme, die grollend und
fauchend den nächtlichen Dschungel beunruhigte.
Mit wir meine ich das dunkelhäutige Mädchen, das
ich erblickt hatte, bevor sie mich in den Teich warfen,
und das mich begrüßt hatte, als ich herauskam, und
acht Männer, die zu ihrem Stamm zu gehören
schienen.
Das Mädchen hieß Thamai. Sie war eine Priesterin
des Lebensgeistes, eine Vitu-peri. Sie erklärte mir, das
bedeute soviel wie vom Lebensgeist begünstigt. Sie
sprach sehr viel während des Weges zu ihrem Dorf. Ich
hatte Mühe, alles zu verstehen. Vieles begriff ich nicht.
Es lag auch daran, daß ich nicht immer aufmerksam
genug war, denn gleichzeitig spürte ich die Triebe
meines neuen Körpers. Meine Nase fing aufregende
Gerüche ein, wie ich sie nie im Dschungel vermutet
hätte.
»... war Vitu gnädig zu dir«, hörte ich das Mädchen
sagen. »Denn sie hat dich zu neuem Leben erwachen
lassen. Du gehörst nun zur Gemeinschaft der
Vitu-thaimoa.«
Ich grollte zustimmend. Ja, ich war sehr dankbar,
daß ich wieder lebte. Auch in dieser Gestalt. Jeden
Augenblick fühlte ich mich heimischer in meinem
gewaltigen Körper.
»Vielleicht«, fuhr das Mädchen fort, »wird Vitu dir
eines Tages auch deine Gestalt wiedergeben, so wie
meinen Freunden hier, die du Affen wähntest ...«
Überrascht hielt ich an.
»Oh«, sagte sie. »Du wußtest es nicht. Natürlich, du
warst der letzte, der aus dem Lebensteich kam. Wie
sollst du es auch wissen.« Sie wandte sich zu den
Männern um. »Sag ihm, wer du gewesen bist, Pyrai.«
Ich wendete mich dem Mann zu, zu dem sie
gesprochen hatte. Er war der größte von ihnen, mit
kräftigen Muskeln. Seine Züge verrieten Entschlußkraft
und Mut.
Lächelnd sagte er: »Du bist ein tapferer und
geschickter Krieger gewesen, Fremder. Doch wäre ich
dir in Menschengestalt im Kampf gegenübergetreten,
hättest du nicht so leichtes Spiel gehabt ...«
Ich fauchte überrascht.
Er mißverstand den Laut. »Nimm es nicht krumm.
Wir tragen dir nichts nach. Es war ein guter Kampf,
auch wenn er Vitu nicht gefiel. Die Götter haben es
nicht immer leicht mit uns.« Er grinste freundlich, und
die anderen nickten zustimmend.
Sie waren die Affen gewesen! Wie ich jetzt, waren
sie vorher Tiere gewesen. Jetzt verstand ich ihr
Verhalten besser. Sie hatten auch das weiße Zeichen an
Kopf und Nacken gehabt. Vitus Mal! Auch der
Leopard hatte es. Und die Gazelle ...
Die Gazelle! Ich hatte sie getötet und ihr Blut
getrunken! Wenn sie auch in Wirklichkeit menschliche
Gestalt besessen hatte, dann hatte ich menschliches
Blut getrunken. Ekel würgte mich, und mein Stöhnen
kam als Grollen aus der Kehle.
»Du erinnerst dich, nicht wahr?« sprach Thamai.
»Aber hab keine Furcht, die Vitu hat dir schon
verziehen. Du kanntest das Zeichen nicht. Jetzt trägst
du es selbst auf dem Haupt. Du mußt es achten, wo
immer du es siehst. Manchmal geschieht es auch, daß
Tiere, die sterbend in den Lebensteich fallen, in
menschlicher Gestalt auferstehen – wie diese Schlange,
die dir als Mädchen wiederbegegnet ist. Aber sie
bleiben Tiere. Ihre Gestalt bedeutet nichts. Wir haben
sie dem Teich wiedergegeben, und sie wurde wieder
die Schlange, die sie einst war. Hier ist das Dorf.
Komm, noch eine Überraschung erwartet dich.«
Das Dorf bestand aus Hütten aus den einfachen
Baustoffen, die der Wald in reichlichem Maße bot. Sie
waren jenen meines Volkes ähnlich, rund, mit
schrägen, überhängenden Dächern aus vielen
Schichten von Ästen und Laub. Aber kein Wall oder
Zaun umgab die Ansammlung der fünf oder sechs
Dutzend Hütten. Sie standen völlig frei auf einer
Lichtung und umgaben mehrere große Feuerplätze.
Dahinter aber, halb im Wald vergraben, ragte ein
größeres Gebäude über den Dorfplatz. Es war aus
großen Stämmen gefügt und besaß einen hohen Turm,
von dem aus man wohl über das ganze Dorf blicken
konnte.
Männer, Frauen und Kinder liefen uns entgegen und
begrüßten die Männer freudig, während Thamai
berichtete. Man beobachtete mich nicht ohne Scheu,
aber auch nicht unfreundlich.
Die Nacht mußte noch jung sein, denn außer drei
großen Feuern, an denen Fleisch gebraten wurde und
mehrere dampfende Kessel hingen, brannten auch
viele Fackeln. Kaum jemand schien zu schlafen.
Während sich die Neuankömmlinge an die Feuer
begaben, um herzhaft zuzulangen und von ihren
sicherlich interessanten Erfahrungen aus ihrem
Affendasein berichteten, bat mich Thamai, ihr in eine
der Hütten zu folgen. Ich tat es gern, denn für mich
war alles ungewohnt, und ich fühlte mich plötzlich
sehr einsam unter all den fröhlichen Menschen. Ich
konnte nicht sprechen, selbst meine Gesten verstanden
sie nicht. Ich fand es unmöglich, so zu nicken oder den
Kopf zu schütteln, daß sie sicher waren, ich meinte ja
oder nein. Der Körper des Panthers war nicht gebaut
für die Gesten der Menschen. Vielleicht würde ich mit
der Zeit lernen, wie das Raubtier zu handeln, das ich
nun war. Ein wenig, kam es mir vor, fühlte ich es
bereits. Der Duft gebratenen Fleisches, der mir noch
vor wenigen Stunden als einer der schönsten
erschienen war, kümmerte mich jetzt wenig. Es
verlangte mich nach rohem Fleisch.
Thamai schien mir nun mein einziges wirkliches
Glied zu den Menschen. Sie schien zu wissen, was ich
fühlte und welche Fragen mich quälten. Ich durfte sie
nicht verlieren. Sicher war auch Pyrai mein Freund.
Und Freunde brauchte ich. Ich war voller Lebensdrang,
aber wie ein Neugeborenes.
In der Hütte war es dunkel, aber meine Augen
gewöhnten sich rasch daran. Sie kamen mit viel
weniger Licht aus. Ein Mädchen hatte sich verschlafen
von ihrem Lager erhoben und sah mir neugierig
entgegen. Sie hatte keine Furcht vor mir. Ich dachte,
daß ein weißer Fleck auf einem schwarzen Fell
sicherlich sehr auffallend sein mußte.
Sie war noch sehr jung, aber ich sah sofort die
Ähnlichkeit mit Thamai. Ihre Augen waren lebhafter,
ihr Mund voller, aber davon abgesehen besaß sie
dieselben schönen, ebenmäßigen Züge, die kleine, ein
wenig flache Nase, das energische Kinn. Sie gefiel mir.
Dabei stellte ich mir insgeheim eine andere Frage:
nämlich die, wie mir wohl eine Panthergefährtin
gefallen würde. Aber ich hatte vorerst keine Zeit,
darüber allzu gründlich nachzudenken, denn Thamai
sagte: »Das ist Ubali, Schwester. Er war der
Unbekannte, der dich für eine gute Beute hielt. Ubali,
das ist Sibile, meine Schwester. Du erinnerst dich an
die Gazelle, die du getötet hast, nicht wahr?«
Ich senkte grollend den Kopf.
»Du konntest es nicht wissen«, sagte das Mädchen
rasch. »Vitu hat uns gesagt, daß du ein Fremder bist.
Aus einer anderen Welt. Ich bin dir nicht gram, Ubali.
Du hast mein Blut getrunken. Das verbindet uns, und
ich fühle, daß keine Gewalt in deinem Herzen ist. Laß
uns Freunde sein.«
Ich wollte nicken, zustimmen, aber was kam, war
eine heftige Bewegung mit der Pranke, vor der ich
mich selber gefürchtet hätte. Das Mädchen kam
furchtlos zu mir, legte ihre kleine Hand auf meinen
Kopf und klopfte mich freundschaftlich auf die
Schulter.
Das war ein seltsames Gefühl. Nicht unerfreulich,
aber ich wollte, ich wäre der alte Ubali gewesen und
hätte ihr sagen können, daß ich mich über ihre
Freundschaft freute.
Die beiden Mädchen verstanden mich auch so.
Worüber ich sehr froh war.
Die Mädchen gaben mir zu verstehen, daß es sie
glücklich machen würde, wenn ich bei ihnen bliebe,
solange mir menschliche Gesellschaft angenehm wäre,
und nichts tat ich lieber. Die meisten, sagten sie, wären
früher oder später der menschlichen Gesellschaft
überdrüssig und führten ein freies Leben im
Dschungel, je mehr die tierischen Triebe
überhandnahmen. Die meisten hätten auch Gefährten
gefunden. Und Kinder, die solchen Verbindungen
zwischen Tiermenschen entsprungen wären, hätten
immer in menschlicher Gestalt das Licht der Welt
erblickt.
Sie sagten mir allerdings auch – und sie schien die
Tatsache mehr zu bekümmern als mich im
Augenblick –, daß sie seit Jahren kein Pantherweibchen
in dieser Gegend gesehen hätten, und daß sie nichts
von einer Thaimoa-Frau wüßten, die die Gestalt eines
Panthers erhalten hätte.
Sie waren wirklich besorgt um mich. Thamai hatte
von den Affen auch mein Schwert und meinen Dolch
erhalten. Beides, zusammen mit meinem Gürtel,
bewahrte sie in der Hütte auf.
Es schien mir manchmal, während sie sprach, daß
Thamai vor etwas Angst hatte, und daß ihr mein
Schutz sehr angenehm wäre.
Hätte ich ihr nur sagen können, wie gern ich sie
beschützte!
Ich erfuhr eine ganze Menge über das Dorf. Und vor
der Hütte zu liegen, in die Feuer und die fröhlichen
Gesichter der Menschen zu starren und den Stimmen
der beiden Mädchen zu lauschen, ließ mich für eine
Weile vergessen, was mit mir geschehen war.
Einmal fiel ein dunkler Schatten über den Eingang.
Eine hohe Gestalt stand vor uns. Er begrüßte Thamai
und ihre Schwester sehr höflich, mich aber musterte er
mit düsterem Blick.
»Das ist Ukandar, der oberste Vitu-peri. Er würde
nichts lieber sehen als mich an seiner Seite«, flüsterte
Thamai, als er gegangen war. »Aber er ist mir
unheimlich. Er ist vielen im Dorf unheimlich. Er ist
sehr mächtig. Als oberster der dreißig Vitu-peris
unseres Dorfes wird er von vielen als Günstling der
Göttin Vitu geachtet, und er versteht es, diesen
Glauben weidlich zu nutzen. Ukandar ist sehr alt. Es
gibt manche, die behaupten, er sei einer der ersten
Thaimoa, den die Göttin aus einem Stier schuf. Zum
Dank baute er ihr diesen Tempel.« Sie deutete auf das
große Gebäude am Rand des Dschungels. »Aber er ist
nicht so alt, daß die alten Legenden auf ihn zuträfen.
Mein Vater konnte sich erinnern, daß das Volk der
Vitu-thaimoa schon alt war, als Ukandar die Herrschaft
übernahm. An sich riß, pflegte mein Vater zu sagen.
Aber die solches zu erzählen wußten, sind heute nicht
mehr unter uns.«
Sie starrte sinnend in die Flammen. Ich verstand
noch immer nicht ganz, was es mit diesen Vitu-peris
auf sich hatte, in welcher Weise sie begünstigt waren.
Lebten sie länger?
Ukandar war so etwas wie ein Priester, wenn ich
Thamais Worte richtig verstand. Der oberste dazu. Ich
hatte schon viele seinesgleichen kennengelernt. Es war
etwas Dämonisches an ihm, das vielen fanatischen
Priestern eigen war, denen ihr Amt Macht bedeutete
und einen Thron, von dem aus sie auf die Sterblichen
herabblicken konnten.
Es gefiel mir nicht, und Thamais Worte verstärkten
diesen Eindruck noch. Ich würde mich um ihn
kümmern.
Sie seufzte. »Ich bin sehr froh, daß Vitu dir neues
Leben gegeben hat. Es ist lange her, daß ein Fremder
zu unserem Volk kam. Eines Tages wirst du mir
vielleicht erzählen können, wie die Welt jenseits dieses
Dschungels aussieht.« Ihre Hand fuhr in einer
nachdenklichen Geste über mein Fell. Ein Schauer rann
meinen Rücken hinab, und ich schloß die Augen.
»Ich wünschte, ich hätte dich gefunden, statt Rylais
Horde.«
Sie schwieg, aber ihre Hand blieb auf mir ruhen. Wir
starrten in die schwatzende Menge an den Feuern, zu
der sich auch Sibile gesellt hatte.
Manchmal warfen sie Blicke zu mir herüber, in
denen Neugier lag.
Männer und Frauen gleichermaßen waren in
einfache Felle gekleidet, meist nur um die Lenden. Ich
sah keine Waffen an ihnen. Womit sie auf die Jagd
gingen, konnte ich nicht feststellen. Vielleicht hatten sie
ihre Waffen in den Hütten. Aber nach der Einfachheit
ihres Lebens zu schließen, würde ihr Handwerk nicht
sehr ausgebildet sein. Es war möglicherweise auch
unnötig. Viele der Tiere waren Verwandelte aus ihren
Reihen. Vielleicht jagten sie auch für sie. Sicherlich aber
würden sie sie rechtzeitig vor einer Gefahr warnen.
Ungeahnte Möglichkeiten lagen in solch einem
Zusammenleben. Sicher konnten die Thaimoa es sich
leisten, so sorglos und unbewaffnet in diesem
ungeschützten Dorf am Feuer zu sitzen.
Im Dschungel meiner Heimat hätte es eine tödliche
Gefahr bedeutet.
Der Mond stand tief am Himmel. Ich sah ihn zum
erstenmal. Und noch etwas sah ich – vielleicht als
einziger von allen:
Das hohe Gebäude des Tempels warf einen dunklen
Schatten über die Menschen.
2.
Ich schlief nicht in dieser Nacht. Bis lange nach
Mitternacht lag ich vor Thamais Hütte und lauschte
den Menschen. Nur langsam und vereinzelt verließen
sie die Feuer. Schalen mit einem Getränk kreisten, das
eine berauschende Wirkung zu haben schien, denn
einen oder zwei trugen sie in ihre Hütten. Sie stellten
auch keine Wachen auf.
Schließlich aber war alles still, die Feuer erloschen,
ebenso wie die Fackeln vor den Hütten. Nur jenseits,
aus den kleinen Fensteröffnungen des Tempels, die wie
die Schießscharten einer Burg anmuteten, drang noch
flackerndes Licht.
Ukandar schlief noch nicht.
Ich erhob mich, streckte mich gähnend, warf einen
Blick zurück in die Hütte, in der die beiden Mädchen
regelmäßig atmeten, und machte mich auf den Weg
durch das Dorf. Das Mondlicht war angenehm. Ein
Hungergefühl quälte mich. Ich wußte, daß jetzt die Zeit
für mich war, zu jagen. Aber erst wollte ich mir den
Tempel ansehen.
Der Pantherteil in mir wurde auf eine kleine
Einzäunung aufmerksam, in denen sich unruhig Tiere
bewegten. Geduckt schlich ich näher. Langsam begann
ich mich an meinen neuen Körper zu gewöhnen. Wie
lautlos er war!
Ich erreichte das Gehege und sah, daß es Ziegen
waren. Ein halbes Dutzend etwa. Ich sah sie mir genau
an. Sie trugen kein Zeichen am Kopf. Sie waren keine
Verwandelten. Dennoch unterdrückte ich meinen
Jagdinstinkt. Die Thaimoa würden es bestimmt nicht
gern sehen, wenn ich ihre Ziegen schlug, die sie mit
Milch und Käse versorgten.
Ich zügelte meine Freßlust. Kein Wunder, daß mein
Appetit geweckt war. An den Feuern hatten sie den
ganzen Abend lang geschmaust, daß es eine Lust war,
ihnen zuzusehen. Der Berg von Fleischresten und
Knochen, den sie neben dem Feuer für mich häuften,
war gut gemeint, aber er interessierte mich nicht sehr.
Es widerstrebte mir einfach, angenagte Knochen und
Abfall zu vertilgen. Ich war kein Hund. Aber sie
schienen aus Erfahrung zu wissen, daß mich Braten
nicht mehr locken würde. Ich wollte jagen.
Vor dem Tempel standen zwei Männer Wache, was
mir seltsam vorkam. Wenn nirgends im Dorf Wachen
standen, warum dann hier? Was wollte Ukandar so
Wichtiges schützen?
Oder wollte er nur etwas verbergen?
Die Männer rührten sich nicht. Ich machte, daß ich
von der Lichtung kam, wo man mich in dieser
mondhellen Nacht schon von weitem sehen mußte.
Ob mich die beiden bereits bemerkt hatten, ließ sich
nicht feststellen. Ich hoffte nicht. Vielleicht gab es auf
der rückwärtigen Seite einen Weg, unbemerkt an den
Tempel heranzukommen. Es interessierte mich
ungemein, was in dem Gebäude vorging.
Ich verließ das Dorf. Den Drang, mich aufzurichten,
verlor ich allmählich. Mit einigen Sätzen versuchte ich
herauszufinden, wie schnell ich sein konnte. Es war
beeindruckend. Der Dschungel lockte mit aller Macht.
Jede Faser dieses mächtigen Körpers sehnte sich nach
einem Streifzug durch den nächtlichen Wald. Nur
mühsam unterdrückte ich das Verlangen und pirschte
mich an den Tempel heran.
Das Fundament war auf Steinen errichtet, auf
mächtigen Brocken, die sie irgendwo von den Bergen
hergebracht haben mußten, denn hier war der Boden
weich. Ich konnte mich allerdings nicht entsinnen,
während meiner Wanderung über die Prärie Berge
gesehen zu haben. Vielleicht gab es sie weiter im
Norden, wo Dunst und Wolken sie dem Auge des
Wanderers verbargen.
Die Palisadenwände waren oft ausgebessert worden.
Es gab Stämme, die schienen sehr alt, andere hell und
frisch, aber viel war in der Dunkelheit nicht zu
erkennen. Mehrere kleine Fensteröffnungen waren von
flackerndem Licht erhellt. Ich hörte Stimmen, unter
ihnen Ukandars, die ich als einzige kannte.
Ich versuchte, mich an der Wand aufzurichten, und
obwohl ich immer das Bedürfnis danach gehabt hatte,
erwies es sich nun als recht schwierig. Ich wollte
vermeiden, mich mit den Pranken gegen die Wand zu
stemmen, denn es schien mir möglich, daß es drinnen
jemand hören könnte. Ich kam mir vor wie ein Hund,
der Männchen machte, und ich lachte ärgerlich. Meine
Pantherkehle verwandelte das Lachen in ein
verräterisch lautes Knurren, das ich rasch sein ließ.
Humor war offensichtlich nicht unbedingt eine
pantherische Gefühlsregung. Es gab da ein paar Dinge,
die ich erst mal allein für mich auf einer einsamen
Lichtung ausprobieren sollte, bevor ich das ganze Dorf
in Aufruhr versetzte.
Sie schienen mein Knurren nicht gehört zu haben.
Nachdem auch nach geraumer Weile kein Kopf in einer
der Öffnungen erschien, um nachzusehen, wagte ich
mich erneut hoch. Durch die Öffnung sah ich Ukandar.
Zwei Männer standen bei ihm, mit dem Rücken zu
mir. Ich konnte sie nicht erkennen. Aber ich sah, daß
Ukandar ein kleines Gefäß in der Hand hielt, in das er
ein dunkles Pulver schüttete. Als er fertig war, wandte
er sich an die Männer:
»Er wird morgen kommen, um von Vitus Wasser zu
trinken. Tut es ihm hinein. Aber er darf nichts merken.
Er ist mißtrauisch. Er weiß, daß er der letzte ist. Er hat
Angst. Also Vorsicht.«
Die Männer nickten und verließen den Raum. Ich
ließ mich zu Boden sinken. Ich zweifelte nicht, daß ich
Zeuge eines hinterhältigen Planes geworden war.
Aber was konnte ich tun? Ich mußte sehen, wer die
beiden Männer waren. Ich konnte nicht reden und
Thamai davon erzählen. Und ich wußte nicht, auf wen
sie es abgesehen hatten. Aber wenn ich morgen in der
Nähe dieser Männer blieb und sie beobachtete, konnte
ich vielleicht selbst noch eingreifen.
So geräuschlos wie möglich eilte ich um den Tempel
herum und starrte über den freien Platz. Von den
beiden Männern war nichts zu sehen. Auch die
Wachtposten waren verschwunden. Nur der Priester
selbst stand im Eingang seines Tempels und sah mich
kalt an.
Wußte er, daß ich ihn belauscht hatte?
Eines war mir von diesem Augenblick an klar – daß
ich einen gefährlichen Feind hatte.
Diese erste Nacht im Dschungel war ein ungeheures
Erlebnis. Ich legte alles Menschliche ab und begann
mich einzufühlen in den Körper, als wäre er schon
immer mein eigener gewesen. Ich lehnte mich
sozusagen zurück und beobachtete, wie die Reflexe
und Instinkte arbeiteten. Ich fing an zu begreifen, was
wichtig war, und welche Dinge mich nur als Mensch
interessierten, aber für mein Pantherdasein nicht von
Bedeutung waren. Ich sah den Dschungel in zwei
Bildern. Eines, das ich mir als Ubali machte, und eines,
ein tieferes, das ich als Panther gewann.
Während ich auf Beutesuche durch den Dschungel
schlich, dachte ich nicht mehr an Ukandars Plan und
das Dorf. Das konnte warten, bis ich satt zurückkam.
Jetzt war es zu gefährlich, Gedanken nachzuhängen.
Mein Verstand tat sich mit den Reflexen und Instinkten
zusammen. Ich war kein zweifaches Wesen mehr. Ich
verschmolz.
Die Geräusche um mich waren mir vertraut. Fast
augenblicklich war mir klar, ob ein Rascheln in den
Büschen Gefahr bedeutete oder Beute oder keins von
beiden war. Ich erkannte bald, daß es sehr wenige
Gefahren für mich gab. Ich war der mächtigste. Ich war
der König dieses Dschungels. Ich nahm nicht immer
den Weg auf dem Boden, sondern kletterte über
niedrige Bäume, deren starke Äste ineinander
verwachsen waren und streckenweise ein richtiges
Stockwerk bildeten. Ich scheuchte eine Familie von
Affen auf, kleinere Tiere als Rylai und seine Männer
gewesen waren, und schlug meine erste Beute. Ich
hatte mich jedoch erst versichert, daß sie nicht Vitus
Zeichen trug.
Im Widerstreit der Gefühle verschlang ich sie bis auf
die größeren Knochen und hatte den Eindruck, daß der
Dschungel um mich den Atem anhielt bei dem weithin
knirschenden Geräusch. Das hungrige Raubtier, das ich
war, fand die Beute sehr schmackhaft. Mir war das
Ganze ein wenig zu roh und blutig, obwohl ich mich
recht gut daran erinnerte, daß ich am Tag zuvor das
Herzblut einer Gazelle getrunken hatte. Aber auch das
war unter einem inneren Zwang geschehen. Nun war
es jedoch so, daß ich mich daran gewöhnen mußte. Ich
fraß, hin und her gerissen, zwischen Ekel und
Wohlbehagen. Ich hoffte, daß der Ekel mit der Zeit
schwinden würde, je mehr ich davon vergaß, was mir
als Mensch einst schmackhaft erschienen war. Dem
Panther in mir war jedenfalls das gebratene Fleisch
wenig reizvoll erschienen.
Der Affe hatte meinen größten Hunger gestillt, aber
ich war bei weitem noch nicht satt. Es eilte nicht mehr
so. Ich dachte sogar daran, ins Dorf zurückzukehren
und irgendeine Möglichkeit auszudenken, um Thamai
auf den Plan des Priesters hinzuweisen.
Aber auf dem halben Rückweg überwog der
Jagdtrieb wieder. Ich streunte tiefer in den Dschungel.
Einmal fing ich die Witterung eines anderen Raubtiers
auf. Ich spürte ihm nicht nach. Es war noch zu früh,
mich mit einem Rivalen zu beschäftigen. Ich fühlte
mich noch zu unsicher. Auf einer Lichtung stieß ich auf
wilde Schweine. Sie liefen nicht in blinder Angst
davon, sondern versuchten mich durch wildes,
angriffslustiges Gehabe abzuschrecken. Vielleicht hätte
der Panther tatsächlich das Weite gesucht, um
irgendwo eine leichtere Beute aufzustöbern, die ihm
weniger Mühe machte, aber ich wußte, daß es nur eine
Finte war. Und ich schnappte mir eines.
Das war schon eher eine Mahlzeit nach meinem
Geschmack.
Danach kam ich an einen Bach, in dem ich meinen
Durst stillte. Während ich halb im Wasser stand, kam
mir ein Gedanke.
Wenn das Wasser des Teiches mich verwandelt
hatte, mochte es mich auch wieder zurückverwandeln.
Es war jedenfalls einen Versuch wert. Schließlich war
die Schlange auch als Mädchen auferstanden, und
hatte Thamai nicht gesagt, die hätten sie wieder dem
Wasser übergeben, wonach sie wieder eine Schlange
geworden wäre. Also was lag näher, als daß das
gleiche mit mir geschah?
Ich kannte den Weg. In meiner neuen Gestalt fand
ich es nicht schwer, mich im Dschungel zu orientieren.
Ich erreichte den Teich bald darauf. Er lag still und
verlassen in der Dunkelheit. Und er sah seltsam
verzaubert aus, denn der sternenübersäte Himmel
spiegelte sich darin und gab ihm einen Schimmer von
Helligkeit. Unwillkürlich hielt ich an. Er strömte etwas
Göttliches aus. Etwas, das Ehrfurcht forderte und
Kräfte ahnen ließ, die in dem Spiegel seiner Oberfläche
schlummerten und in seiner schwarzen Tiefe.
Wie unter einem Bann bewegte ich mich darauf zu.
Es war schwer, daran zu glauben, man könnte in dieses
Wasser steigen, und nichts würde geschehen. Ein
Dämon mußte auf den Frevler lauern. Aber ich
überwand diese Furcht, die mich immer vor allem
Magischen erfüllt hatte.
Ich stieg hinein und brach diesen Spiegel in langsam
hinauswandernde Ringe. Dann ließ ich mich sinken.
Der Panther hatte wenig Freude mit diesem Bad.
Unbehagen, Ärger, Angst und eine Reihe anderer
unerfreulicher Empfindungen überfluteten mich
förmlich. Immerhin fühlte ich dabei auch, daß ich, ich
selbst blieb, daß der Panther nichts Fremdes in mir
war, das mich zu verdrängen suchte.
Sondern daß ich dieser Panther war. Ich allein. Was
mir zu schaffen machte, waren nur meine
menschlichen Erinnerungen. Erinnerungen an Gefühle,
Gewohnheiten, kleine Dinge.
In der tiefen Dunkelheit unter Wasser sprach keine
Stimme zu mir. Vitu schwieg. Ich blieb trotz meiner
protestierenden Instinkte unten, bis meine Lungen
nach Luft schrien. Dann tauchte ich noch und
durchbrach keuchend und knurrend die Oberfläche.
Es war nichts geschehen. Ich schwamm ans Ufer
und schüttelte das Wasser aus meinem Fell.
Ein Geräusch versetzte mich in höchste
Angriffsbereitschaft. Es war ein Geräusch, das mein
Raubtierinstinkt nicht sofort einordnen konnte.
Eine Gestalt kam mir über die kleine Lichtung
entgegen. In der Dunkelheit sah ich sofort den weißen
Streifen Vitus auf ihrem Schädel.
Aber es war eine höchst merkwürdige Gestalt, wie
ich sie zuvor noch nie gesehen hatte. Sie ging aufrecht
auf zwei Beinen, die fast menschlich anmuteten. Doch
diese Beine und der ganze Körper waren mit einem
dunklen Fell bewachsen. Auch der Oberkörper wirkte
noch durchaus menschlich, und die langen behaarten
Arme endeten in Fingern, an denen statt der Nägel
Krallen wuchsen. Der mächtige Schädel aber war
furchterregend. Er besaß die scharfen Zähne eines
Wolfes. Aber das Erschreckende daran war, daß der
Rachen, die glühenden Augen, die fliehende Stirn,
selbst die spitzen Ohren trotz ihres wölfischen
Aussehens noch immer eine Spur menschlicher Züge
trugen.
Ein Knurren kam aus dem Rachen. Das Wesen ballte
seine Fäuste. Es schien mir eine hilflose Geste. Etwas
mußte während seiner Verwandlung geschehen sein,
durchzuckte es mich. Vielleicht war der Tiermensch bei
Vitu in Ungnade gefallen. Vielleicht war es die Strafe
für alle, die das Leben mißachteten.
Er konnte ebensowenig sprechen wie ich. Auch
unsere Gedanken fanden einander nicht. Wir starrten
uns nur an. Sein Blick wanderte zum Teich. Sicher
befand sich in diesem furchtbaren Körper ein Wesen,
das denken konnte, sonst hätte es wohl nicht das
Zeichen Vitus getragen. Das bewegte Wasser verriet
ihm, daß ich aus dem Teich gestiegen war.
Er schüttelte unwillig den Kopf. Dann wandte er
sich um und verschwand im Dickicht.
Eine ganze Weile starrte ich ihm in die Dunkelheit
nach, bevor ich mich, enttäuscht über meinen
vergeblichen Versuch und von Unbehagen über diese
Begegnung erfüllt, auf den Weg zurück zum Dorf
machte.
Ich erreichte es, als die Morgendämmerung die
letzten Sterne verblassen ließ. Es war alles still.
Satt, aber nicht zufrieden mit meinem ersten
nächtlichen Ausflug legte ich mich vor Thamais Hütte
nieder und schloß die Augen. Ich hatte Katzen immer
ob ihrer Art zu ruhen beneidet.
Die verrücktesten Wünsche gehen manchmal in
Erfüllung.
3.
Das Dorf wurde langsam wach, als die Sonne aufging.
Eine Schar Männer und Frauen und ein halbes
Dutzend Kinder verließen die Hütten mit einfachen
Ackergeräten und begaben sich auf die kleinen Felder
jenseits des Dorfes. Die Ziegen wurden gemolken,
nachdem sie beim Anblick der ersten wachen
Bewohner ein lautes Gemecker angestimmt hatten.
Männer machten sich auf den Weg in den Dschungel.
Sie hatten große Bogen bei sich und lange Stöcke, die
sie mit kleinen Pfeilen luden. Das waren also ihre
Jagdwaffen.
Sie nickten mir freundlich zu, als sie sich auf den
Weg machten, um die Fleischvorräte des Dorfes zu
ergänzen. Ich folgte ihnen ein Stück, kehrte dann aber
um. Die Beobachtung des Dorfes war nun wichtiger.
Wenn ich mich schon niemandem mitteilen konnte,
wollte ich wenigstens versuchen, soviel wie möglich zu
erfahren. Vielleicht gab mir Vitu eines Tages meine
Gestalt wieder, dann würde mir dieses Wissen von
Nutzen sein.
Als ich zurückkam, waren auch die beiden Mädchen
wach. Sie freuten sich, mich zu sehen, und meine
Freude war nicht geringer.
Thamai erklärte mir, daß sie bis zum Mittag im
Tempel zu tun habe, denn heute sei der Tag, da viele
der Alternden Vitus Trank zu sich nehmen würden,
der ihnen Kraft und Jugend gab. Das werde in
regelmäßigen Abständen getan.
Dabei fiel mir auf, daß ich tatsächlich kaum einen
alten Mann oder eine alte Frau im Dorf gesehen hatte.
Die ältesten waren in den besten Jahren. Mit dem
Trank hielten sie sich also jung.
Der Trank war das Wasser einer kleinen Quelle, die
im Innern des Tempels aus der Erde sprudelte. Das
gefiel mir gar nicht, denn diejenigen, die trinken
wollten, würden sich in den Tempel begeben, und ich
hatte das Gefühl, daß es Schwierigkeiten geben würde,
was meinen Einlaß betraf. Ich hatte in dem Tempel
nichts verloren. Aber wie sollte ich Ukandars Plan
rechtzeitig durchkreuzen, wenn sie mich nicht
hineinließen.
Es blieb nur eine Hoffnung: daß Thamai mich
mitnahm und trotz aller Proteste des Oberpriesters auf
meiner Anwesenheit bestand.
Thamai erklärte mir auch, daß das Wasser des
Teiches, wenn Vitu es wollte, voll heilender Kräfte war,
daß selbst Todkranke wieder gesund geworden waren.
Ich zweifelte nicht an ihren Worten. Es war so vieles
geschehen, das wie Zauberei anmutete. Ich hatte mich
auf dem Rückweg zum Dorf so erfrischt und kraftvoll
gefühlt, daß es sicherlich nicht nur mit der Mahlzeit zu
erklären war. Das Wasser des Teiches war sehr
belebend gewesen.
Ich erfuhr, daß Thamai die einzige weibliche
Vitu-peri war, aber daß sie nicht wie alle übrigen
Priester in dem geräumigen Tempel wohnte, sondern
es vorgezogen hatte, mit den anderen Thaimoa im Dorf
zu leben. Das hatte ihr viel Zuneigung eingebracht. Die
Menschen kamen mit ihren Sorgen zu ihr, und meist
wußte sie zu helfen, während Ukandar wie ein König
herrscht und alle seine Macht fühlen ließ. Er herrschte
in Vitus Namen, und es gab viele, die ihn fürchteten.
Doch sie gehorchten. Vitu war ihr Allgeist, ihre einzige
Göttin, die sehr deutlich zeigte, wie sie über das Volk
der Thaimoa wachte. Wenn etwas in ihrem Namen
geschah, dann wagte niemand, es anzuzweifeln. Wer
wußte schon etwas von den Wegen und Prüfungen der
Götter. Ukandar verstand dies wohl zu nutzen.
Als hätte sie meine stumme Frage geahnt, erklärte
mir Thamai endlich auch, warum die Vitu-peri
Begünstigte waren. Sie verwandelten sich nämlich
nicht in Tiere, wenn Vitu ihnen im Teich des Lebens ein
neues Leben gewährte.
Sie mußten alle ziemlich alt sein. Vielleicht auch
Thamai. Kein Wort war bisher noch vom Tod gefallen –
vom endgültigen Tod. Gab es ihn überhaupt? Sie
hatten nicht viel Nachwuchs. Kaum ein Dutzend
Kinder hatte ich im Dorf gesehen. Unter anderen
Gegebenheiten wäre solch ein Stamm zum Aussterben
verurteilt gewesen.
Ich hielt mich dicht an Thamais und Sibiles Seite, als
sie zum Tempel gingen.
»Du willst mit?« fragte sie verwundert am
Tempeleingang, als ich nicht von ihrer Seite wich.
Ich knurrte zustimmend.
»Ich weiß nicht, ob das gehen wird«, sagte sie
zweifelnd. »Ukandar ließ noch nie einen in Tiergestalt
in den Tempel, wenn nicht triftige Gründe vorlagen ...«
Ich schüttelte unwillig den Kopf.
»Ich denke, er ist neugierig, Schwester«, warf Sibile
ein. »Er ist ein Fremder. Daß Vitu ihm noch ein Leben
gab, obwohl er gegen ihr Volk kämpfte, beweist, daß
sie ihm gut gesinnt ist. Sicher ist es auch ihr Wille, daß
er alles über uns erfährt, damit er nicht länger ein
Fremder bleibt. Nicht wahr, Ubali, du willst kein
Fremder bleiben?«
Ich knurrte erneut.
»Gut, gut«, sagte Thamai lachend. »Wir werden
Ukandar schon überzeugen. Er weiß, daß er sich
unbeliebt macht, wenn er mir einen Wunsch abschlägt.
Und er will ja meine Gunst gewinnen.«
Wir gingen ins Innere.
Der Raum war groß, fast so groß wie die
Audienzhalle in Myra, aber dunkel, denn durch die
kleinen Fensteröffnungen fiel nur spärliches Licht.
Auch die beiden Fackeln an der gegenüberliegenden
Wand vermochten ihn nicht aufzuhellen. Zwei der
Unterpriester eilten geschäftig hin und her und
schöpften Wasser aus einer leise plätschernden Quelle
in kleine Schalen und stellten sie auf einen Altartisch.
Er war aus starken Stämmen gefügt und ohne Zier,
oder Figur und dergleichen.
Der Raum war noch ziemlich leer, aber nach und
nach strömten die Dorfbewohner herein. Die beiden
Priester sahen mich unwillig an, unternahmen aber
nichts. Ein wenig später begab sich einer durch einen
Fellvorhang in einen Hinterraum. Vermutlich war es
das Zimmer, das ich in der Nacht beobachtet hatte.
Aber ich mochte mich auch irren.
Der Tempel war ziemlich groß und besaß eine ganze
Anzahl Räume.
Kurz darauf erschien Ukandar selbst und musterte
mich mit demselben kalten Blick, mit dem er mich auch
des Nachts schon bedacht hatte.
Ich setzte mich.
Er deutete das ganz richtig als Geringschätzung und
Herausforderung und biß sich wütend auf die Lippen.
»Ich nehme an, du hast wichtige Gründe, ihn
hierherzubringen, Thamai«, sagte er mit mühsam
unterdrücktem Ärger.
»Es ist Vitus Wille, Ukandar«, erwiderte sie.
»Vitus Wille?« Er sah sie erstaunt an, als wollte er
sagen: Und ich weiß nichts davon? Ich, ihr oberster
Priester?
»Vitu hätte ihn nicht zu einem Thaimoa gemacht,
wenn sie nicht auch gewollt hätte, daß er mit unseren
Gebräuchen vertraut wird. Wie soll er Vitu verstehen
und danken, wenn wir ihm unser Wissen verweigern?«
erklärte das Mädchen.
Ukandar lenkte ein. »Ja, das mag sein, Thamai. Ich
vergaß, daß er ein Fremder ist. Aber du weißt, wie ich
über die Verwandelten denke. Vitu würde ihnen nicht
die Gestalt eines Tieres geben, wenn sie nicht auch
wollte, daß sie ein solches Leben führen – draußen im
Dschungel, wo sie lernen und Läuterung erfahren.
Nicht hier im Dorf, wo sie nie ganz frei von allem
Menschlichen werden.« Er deutete auf mich und sagte
bestimmt: »Er mag also lernen, was es über uns zu
erfahren gibt. Aber dann wird er gehen, wie es das
Gesetz verlangt!«
»Welches Gesetz, Ukandar? Vitus? Oder deines?«
fragte Thamai nicht ohne Kälte.
Er wandte sich brüsk um und verschwand im
Hinterzimmer. Ich fragte mich, ob er fürchtete, daß ich
etwas von seinem Plan wußte. Warum war er sonst so
erpicht, mich aus dem Dorf zu haben? Vielleicht
änderte er seinen Plan. Hier in diesem stillen Raum zu
sitzen und zu grübeln, war kein sehr pantherisches
Verhalten. Es war einer jener Augenblicke, da ich
vergaß, daß ich keine menschliche Gestalt mehr hatte.
Sibile legte ihren Arm um meinen Hals. »Wir haben
gewonnen«, flüsterte sie triumphierend.
Immer mehr füllte sich der große Raum. Die
Menschen saßen in kleinen Gruppen am Boden auf
geflochtenen Binsenmatten. Manche unterhielten sich
leise, andere starrten nur einfach nach vorn zur Quelle.
Ganz vorn bildete sich ebenfalls eine Reihe von
Sitzenden. Das waren wohl diejenigen, die den Trank
einnahmen. Unter ihnen mußte sich auch das Opfer
befinden. Irgendwie mußte ich näher heran.
Die Gelegenheit ergab sich, als Thamai nach vorn
ging und sich zu den Priestern gesellte. Der Beginn
stand kurz bevor, das war deutlich von allen Mienen
abzulesen. Ich folgte Thamai, und Sibile hastete hinter
uns her.
Aber es klappte nicht so gut, wie ich es mir
gewünscht hätte. Vier oder fünf Priester stellten sich
uns in den Weg. »Halt! Zurück ...!«
Thamai tat, als ob sie erst jetzt bemerkte, daß ich
gefolgt war. »Tut mir leid, Ubali«, sagte sie
entschuldigend. Weiter darfst du nicht. Sibile, bleib bei
ihm, bis ich zurück bin.«
»Gern, Schwester.«
Ich setzte mich wieder, um Thamai zu erkennen zu
geben, daß ich ihre Anordnung nicht mißachten
würde. Ich befand mich nun in der Nähe der ersten
Reihe, aber doch so weit dahinter, daß ich keines der
Gesichter sehen konnte. Ich hätte sie mir gerne
angesehen. Immerhin war ich nahe genug, daß ich den
Priestern auf die Finger sehen konnte.
Gleich darauf trat Ukandar vor die Versammelten
und hielt eine schwülstige Rede über die einfachen
Dinge, die diese Menschen bewegten.
Daß es ein gutes Jahr gewesen sei, daß Vitu ihnen
wohlgesinnt sei – und, kurz zusammengefaßt, daß das
alles mehr oder weniger sein Verdienst gewesen sei.
Das alles nahmen die Versammelten schweigend auf.
Ich fragte mich, ob Ukandars Macht vielleicht auch
darin begründet war, daß er allein bestimmen konnte,
wer von dem Wunderwasser trank.
Dann erklärte Thamai der Menge meine
Anwesenheit im Dorf und auch im Tempel, und das
war sehr klug von ihr. Die Versammelten murmelten
zustimmend, während der Oberpriester wütend im
Hintergrund stand. Aber er konnte sich schlecht
darüber hinwegsetzen, daß die Menge mich vorerst in
ihrer Mitte aufgenommen hatte.
Natürlich war das letzte Wort noch nicht
gesprochen. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, daß ich
hier als Haustier aufgenommen war.
So einfach wie die Menschen waren, so ohne
äußerlichen Prunk war auch die Andacht zu Vitus
Ehren. Ein Gebet wurde gesprochen, das mir zeigte,
wie sehr die Menschen mit ihrer Lebensgöttin
verbunden waren und wie gegenwärtig sie sie in allem
fühlten, was sie taten und waren und je sein würden.
Und in meiner augenblicklichen Lage konnte ich nicht
umhin, auch ein wenig davon zu spüren.
Dann begann die Verteilung des Wassers. Vier der
Priester taten es gleichzeitig, unter ihnen Thamai.
Entmutigt ließ ich meinen Blick hin und her wandern.
Es war unmöglich, alle gleichzeitig zu beobachten.
Eigentlich waren es nur drei, denn um Thamai
brauchte ich mich nicht zu kümmern.
Sie schritten jeder mit einer Schale des Wassers zu
den nun Knienden der ersten Reihe, knieten sich zu
ihnen und hielten ihnen die Schale entgegen. Diese
nahmen sie, tranken einen Schluck daraus, reichten sie
zurück, tauchten die Hände ein und wuschen damit ihr
Gesicht.
Damit war der einfache Ritus beendet, und die
Priester begaben sich an den Tisch zurück, um neue
Schalen zu holen.
Bis jetzt war nichts geschehen. Ich überlegte
verzweifelt, wie es geschehen könnte. Ich behielt auch
den Tisch im Auge, aber niemand machte sich an den
vollen Schalen zu schaffen. War das Gift bereits
drinnen? Nein, nur zwei der Priester waren
eingeweiht. Zu leicht hätte es geschehen können, daß
die Schale an den Falschen kam.
Jetzt näherten sie sich der zweiten Gruppe, und der
gleiche Ritus begann. Wiederum war nichts
Verdächtiges zu bemerken. Sechs Männer und ein
Mädchen waren noch übrig. Das Mädchen schied aus.
Sie hatten von einem Mann gesprochen.
Sie kamen auf die nächsten vier zu, welche tranken
und die Schalen zurückreichten. Als sie die Hände
eintauchten, um sie für die Waschung zu benetzen, sah
ich plötzlich an der Brust eines der Priester einen
kleinen Lederbeutel an einem Riemen baumeln. Er sah
aus wie ein Amulett, darum hatte ich ihn nicht
beachtet.
Und dann sah ich mit Entsetzen, daß der Beutel
bereits offen war ...
Mit zwei Sätzen schnellte ich meinen geschmeidigen
Körper über die Sitzenden hinweg, ohne auf die Rufe
der überraschten Sibile zu achten. Ich erreichte die
Knienden und sprang den Priester an, der zurückflog
und gegen den Tisch prallte, während die Schale in
hohem Bogen gegen die Wand fiel und zerbrach. Aber
ich sah, daß es bereits zu spät war. Der Kniende, der
wie ein jung aussehender Greis wirkte, hatte bereits
getrunken und sich gewaschen.
Ein Aufschrei war durch die Menge gegangen.
Selbst Thamai starrte mich entsetzt an. In den Augen
des Knienden las ich Furcht.
Wutschnaubend stürzte Ukandar auf mich zu. Er
winkte seinen Priestern, von denen einer einen Stock
brachte und ihn drohend schwang. Offenbar hatten sie
vor, mich hinauszuprügeln. Das war kein Abgang nach
meinem Geschmack. Ich knurrte drohend und fletschte
die Zähne. Das hielt sie auf. Voller Genugtuung sah ich
die Furcht in ihren Augen. Nur Ukandar konnte sich
vor Wut kaum beherrschen.
»Thamai!« drohte er. »Er hat den Tempel entweiht!
Bring ihn hinaus, bevor ein Unglück geschieht ...!«
Dabei starrte er mich haßerfüllt an. Aber ich glaubte,
Triumph in seinen Augen zu sehen – was mich in
meiner Meinung bestärkte, daß ich bereits zu spät
gekommen war.
»Bitte, geh hinaus, Ubali«, sagte Thamai traurig. Ich
sah, daß sie nicht begriff, was geschehen war. Aber ich
entdeckte Verwunderung in ihrem Gesicht, als sie sich
dem Knienden zuwandte.
Auch ich sah ihn mir an, bevor ich mich in
Bewegung setzte. An ihm hatte sich nichts verändert.
Nur seine Furcht war größer geworden.
Die Versammelten machten mir rasch Platz, als ich
hinauslief. In ihren Mienen war Erstaunen. Wie konnte
ein Fremder so undankbar sein und ihre Andacht
stören!
Im Freien schüttelte ich mich. Ich war froh, all den
starrenden Augen entkommen zu sein.
»Ubali!«
Sibile eilte hinter mir her. »Ubali! Was hast du dir
dabei gedacht? Nun sind alle böse auf dich. Und auf
Thamai auch! Was war nur los? Ausgerechnet während
Onkel Thanas an der Reihe war ...!«
Ich gab mich zerknirscht und hoffte, daß es auch
einem Panther möglich war, zerknirscht auszusehen.
Aber meine Gedanken beschäftigten sich mit dieser
Neuigkeit. Ihr Onkel also! Sagte Thamai nicht, daß
auch ihrem Vater etwas zugestoßen wäre? Und
Ukandar hatte gesagt, er wäre der letzte. Der letzte ...
wovon?
Aber mit Onkel Thanas war nichts geschehen. Ich
hatte nichts entdecken können. Vielleicht war der
Beutel bereits bei den ersten oder zweiten vier leer
gewesen. Mutlos schüttelte ich den Kopf. Ich konnte
nur abwarten und die Augen offenhalten. Aber es war
gefährlich geworden. Ukandar wußte nun, daß ich von
seinen Plänen Wind bekommen hatte.
Wenn ich nur hätte reden können ...!
Aber ich war in diesem Käfig aus Muskeln und
schwarzem Fell allein mit meinen Gedanken und
Fragen. Ich konnte nur darauf warten, daß jemand auf
die Idee kam, mir meine stummen Fragen zu
beantworten.
Sibile wich nicht von meiner Seite. Ich konnte spüren,
daß sie eine tiefe Zuneigung zu mir gefaßt hatte – ein
seltsamer Umstand, wenn man bedachte, daß ich sie
vor kurzem getötet hatte. Aber diese Menschen
dachten anders. Es fiel ihnen leichter, zu verzeihen.
Und dann schien das Blut, ihr Blut, das ich getrunken
hatte, Bande zwischen uns zu knüpfen, die sie
deutlicher fühlte als ich.
Ich erfuhr viel aus ihrem Leben. Ich lauschte allen
ihren Worten sehr aufmerksam – in der Hoffnung,
dabei auch auf Antworten auf meine Fragen oder
wenigstens Andeutungen zu stoßen. Sie war achtzig
Regenzeiten alt. So rechnete man hier die Zeit. Ein
genaues Bild konnte ich mir daraus allerdings nicht
machen, selbst wenn ich ein Jahr für eine Regenzeit
nahm. Denn ich wußte nicht, wie lange ein Jahr
dauerte, wie viele Tage das waren. Außerdem mochte
es ebensogut zwei oder drei Regenzeiten in einem
solchen Zeitraum geben, wie wir ihn das myranische
Jahr nannten. Ich hätte sie auf ein wenig mehr als ein
Dutzend Sommer geschätzt, aber dieses beinahe noch
kindliche Aussehen mochte sie dem Wasser Vitus
verdanken.
Sie war durch einen fallenden Baum schwer verletzt
worden, und Vitu hatte ihr in ihrer Güte ein weiteres
Leben als Gazelle beschert, das sie zwei Regenzeiten
lang geführt hatte, bevor ich kam und erneut ihr Leben
nahm.
Ich hoffte, sie würde mir auch von ihrer Familie
erzählen, aber außer daß sie erwähnte, daß Thamai viel
älter sei als sie, ließ sie sich nicht darüber aus.
Sie bat mich, sie einmal in den Dschungel
mitzunehmen, wogegen ich nichts einzuwenden hatte.
Es erschien mir nicht allzu gefährlich. Die Menschen
hier waren mit den Dschungel aufgewachsen, hatten
ihn meist schon selbst als Tiere erlebt. In meiner
Begleitung war sie jedenfalls sicherer als allein.
Als Thamai vom Tempel zurückkam, war sie sehr
nachdenklich, daß selbst Sibile sie verwundert frage:
»Was hast du, Schwester?«
Thamai schüttelte den Kopf. »Es wird Kummer
geben mit Ubali«, erklärte sie.
»Wegen des Vorfalls im Tempel?«
Thamai nickte. »Ukandar will ihn aus dem Dorf
jagen, wenn nötig mit Gewalt.«
»Das wird er nicht wagen!«
»Wer weiß. Er war sehr erregt. Ich verstehe diese
Ablehnung nicht. Es muß irgend etwas zwischen ihm
und Ubali vorgefallen sein, nicht wahr, Ubali.«
Ich versuchte zu nicken, aber es wurde nichts
Rechtes.
»Wenn du nur sprechen könntest«, seufzte sie. Das
war genau mein Wunsch. »Ich habe Vitu befragt, aber
sie hat mir nicht geantwortet. Was soll ich nur tun?«
»Willst du dich Ukandar beugen?« fragte Sibile
entsetzt.
»Ich fürchte, ich werde es müssen ...«
»Niemals, Schwester. Viele im Dorf wären dann
seiner Willkür ausgeliefert. Er weiß sehr wohl, daß Vitu
dich als ihre Priesterin liebt, weil du ihr Volk liebst. Er
wird nicht so weit gehen, Vitus Zorn auf sich zu laden.
Außerdem begehrt er dich. Nein, Schwester, er mag
drohen oder vielleicht sogar heimlich etwas gegen
Ubali unternehmen, aber er wird nicht wagen,
öffentlich gegen dich vorzugehen. Zu leicht könnte er
sein Gesicht verlieren. Vertraue auf Vitu, Thamai. Laß
Ubali nicht vorgehen.«
Nachdenklich blickte sie Sibile an. »Du hast recht.
Und abgesehen davon, daß wir unseren schwarzen
Freund ins Herz geschlossen haben, gibt es auch noch
ein paar andere Gründe. Ubali weiß etwas. Er hat das
im Tempel nicht ohne Grund getan. Daß es gerade
Onkel Thanas war, erscheint mir besonders
bedeutungsvoll. Er ist der letzte der Alten, aus der Zeit
von Vaters Regentschaft.« Sie setzte sich und stützte
ihre Stirn in die Hände. »Ich habe nie verstanden,
warum eine so gütige Seele wie Vater zum Paria
wurde. Vielleicht gibt es Dinge, die auch über die
Macht Vitus hinausgehen. Aber sicher ist es nicht, wie
Ukandar immer behauptete, daß Parias ihr Schicksal,
dem Zorn der Göttin zu verdanken hätten.« Sie wandte
sich mir zu. »Parias, mußt du wissen, sind halb
Mensch, halb Tier. Sie leben tief im Dschungel, aber
manchmal kann man sie sehen. Es heißt, daß sie von
einem unmenschlichen Hunger befallen sind und nicht
davor zurückschrecken, auch Menschen anzufallen –
oder Verwandelte, die das Zeichen Vitus tragen.«
Dann war die unheimliche Gestalt, der ich am Teich
begegnet war, ein Paria gewesen.
»Ukandar wird jedes Mittel nützen, um das Dorf
gegen Ubali aufzuhetzen«, fuhr Thamai fort. »Es wird
nicht leicht werden. Aber eines machte mich stutzig. Er
verkündete vor versammelter Menge, daß Vitu erzürnt
über diesen Frevel sein werde, und daß es nicht in
seiner Macht läge, es abzuwenden, wenn der
bedauernswerte Thanas das Opfer ihres Zorns wäre. So
als ... erwartete er, daß mit Thanas etwas geschähe. Oh,
Vitu, er ist ein Teufel.« Sie schluchzte. »Onkel Thanas
war sehr bedrückt, als er den Tempel verließ. Er hatte
Angst. Er sagte mir, daß er schon lange Angst habe, seit
dem Tag, da Vater ...« Sie brach ab.
Ich hatte plötzlich einen phantastischen Einfall: Wie,
wenn Ukandar es gewesen war, der dafür gesorgt
hatte, daß seine Gegner zu Parias wurden? Wenn ich es
recht verstanden hatte, war vor ihm Thamais Vater der
Anführer dieses Volkes gewesen. Dieses Mittel im
Trank mochte dafür verantwortlich sein. Es war nur
eine Vermutung, aber sie schien mir mit jedem
Augenblick wahrscheinlicher. Wenn Thanas einst im
Gefolge des alten Herrschers gewesen war, dann war
ihm vielleicht so manches aufgefallen, das Ukandar
nun fürchten mußte, trotz der langen Zeit, die
dazwischen lag. Offenbar hatte der Priester bereits alle
anderen beseitigt, wenn Thanas der letzte war. Nach
ihm gab es keine Zeugen mehr über die alte Zeit, und
Ukandar konnte den Mythos seiner seit Anbeginn
bestehenden Herrschaft ohne Schwierigkeiten zur
Tatsache erheben. Daran lag ihm sicher, denn er mußte
seine Macht festigen.
Aber nun war nichts zu tun, als abzuwarten. Wenn
Thanas zum Paria wurde, gab es für mich keinen
Zweifel mehr.
An diesem Nachmittag wurde ich Zeuge einer
Auseinandersetzung zwischen Thamai und Ukandar.
Er kam mit einem Dutzend seiner Priester zu ihrer
Hütte und erklärte, während aus den meisten Hütten
Neugierige herüberblickten: »Ich sehe, Thamai, daß du
deinen schwarzen Liebling noch immer bei dir hast,
obwohl er Vitus Zorn auf sich geladen hat ...«
Er war sich aber auch durchaus meines Zornes
bewußt, denn er gab seinen Männern ein Zeichen,
worauf sie ihre Blasrohre auf mich richteten. Ich war
sicher, daß ich die Hälfte von ihnen erledigen konnte,
aber der Gedanke, gespickt wie ein Borstenvieh aus
dem Kampf hervorzugehen, war nicht sehr angenehm.
Auch konnte ich nicht sicher sein, ob ihre Pfeile nicht
vergiftet waren. Und letztlich war ich hilflos, wenn ich
erst tot war. Der Priester würde es sicher zu verhindern
suchen, daß ich zum Lebensteich gebracht wurde. Ich
wußte auch nicht, ob Vitu mir ein neues Leben
gewähren würde.
So verhielt ich mich vorerst ruhig und wartete ab.
Doch wenn sie sich an Thamai vergriffen ...!
»Vitus Zorn?« fragte Thamai. »Davon hat sie mir
nichts gesagt, Ukandar. Nein, ich glaube nicht, daß
Vitu dem Fremden zürnt. Welchen Grund hätte sie
wohl?«
»Der Frevel, den er in ihrem Tempel begangen hat
...«, begann der Priester.
»In eurem Tempel, meinst du wohl«, widersprach
Thamai scharf. »Vitus Tempel ist der Himmel und die
Erde, der Dschungel und das Herz, das in uns allen
schlägt. Oder denkst du wahrhaftig, das düstere Haus,
das du auf ihrer Quelle errichtet hast, könnte die
Menschen dem Lebensgeist näherbringen, als die
Sonne oder die Sterne es vermögen. Es ist nichts weiter
als ein Käfig, Ukandar, in den du die Menschen und
die Götter sperren möchtest, um über sie zu herrschen.
Mit den Menschen mag dir das gelingen. Hast du keine
Furcht, Ukandar? Keine Ehrfurcht?«
Der Priester funkelte sie wütend an. »Du bist deines
Vaters Tochter«, sagte er mühsam beherrscht. »Eines
Tages werden meine Sinne frei von dir sein. Besinne
dich rechtzeitig, ob du deine Gunst vergeuden willst.«
Nach diesen Worten gab er seinen Männern ein
Zeichen und wandte sich wortlos ab. Wir starrten
ihnen nach, bis sie im Tempel verschwanden.
»Du bist über dich hinausgewachsen«, frohlockte
Sibile.
»Mit Vitus Hilfe«, erwiderte Thamai mit ernstem
Gesicht. »Ich bin sicher, das war noch nicht alles. Lauf,
sag Rylai Bescheid. Auf ihn kann ich mich verlassen. Er
mag in meine Hütte kommen.«
Sie lächelte, als Sibile die Hütte verlassen hatte. »Ich
habe deine Augen beobachtet, Ubali. Du hättest ihn am
liebsten verschlungen.«
Ich knurrte zustimmend.
Sie kam auf mich zu. »Ich lasse dich nicht fort«,
erklärte sie. »Eines Tages wirst du reden können. Dann
werden wir uns vieles sagen.« Ihre Hand berührte
mich mit impulsiver Zuneigung. Wenigstens deutete
ich es so.
Es war schade, daß der Panther so wenig Gefallen
an ihr fand. Aber es war verständlich, denn die
Gefährtin seiner Vorstellungen hätte dem guten alten
Ubali auch nicht besonders gefallen.
Was jedenfalls noch von Ubali vorhanden war, war
sehr von Thamai eingenommen.
4.
Es war deutlich zu sehen, daß Rylai auf Thamais Seite
stand. Er verehrte sie fast wie eine Göttin. Und er hatte
beide Augen auf Sibile geworfen. Das war wohl auch
der Grund, warum er so schnell zur Stelle gewesen
war, als ich die Gazelle tötete. Er hatte über sie
gewacht. Eine Gazelle war ein recht hilfloses Tier, und
es gab auch Raubtiere im Dschungel, die Vitus Zeichen
nicht trugen.
Wie weit sie seine Gefühle erwiderte, konnte ich
nicht erkennen. Sie mochte ihn. Aber er war ein halber
Riese, und in seiner Gegenwart wirkte sie noch
kindlicher.
Er fürchtete Ukandar nicht, aber er war kein Narr,
der die Gefahr nicht sah. Er besaß großen Einfluß im
Dorf. Viele der Jäger, erklärte er, würden für ihn
durchs Feuer gehen. Daran hatte auch seine
Abwesenheit nichts geändert.
Er versprach, Ukandar im Auge zu behalten und
sich auch um Thanas zu kümmern, den Thamai in
großer Gefahr wähnte. Mir war nicht klar, welche Art
von Gefahr das sein sollte. Das Gift im Trank, warum
wirkte es nicht? Hatte der Anschlag doch nicht auf ihn
stattgefunden? Oder wäre einer der nächsten an der
Reihe gewesen? Dann hatte ich vielleicht doch
rechtzeitig eingegriffen!
An diesem Abend ging ich früher auf Jagd, und ich
nahm Sibile mit. Sie hatte einen Bogen bei sich. Ich
hatte bereits gesehen, daß sie sehr geschickt damit
umzugehen verstand.
Wir streiften durch den abendlichen Wald. Ich
beschloß, meinen eigenen Beutezug auf später zu
verschieben. Es mochte kein sehr erbaulicher Anblick
für sie sein, wenn ich meine Beute riß. Als sie müde
wurde, trug ich sie auf dem Rücken. Es war eine
angenehme Wärme, die von ihrem Körper kam. Ich
spürte ihr Gewicht kaum, aber ich spürte ihr Herz, wie
es vor Aufregung schlug, wenn ich mit mächtigen
Sätzen über Hindernisse hinwegsetzte.
Als wir gegen Mitternacht ins Dorf zurückkamen,
herrschte große Aufregung. Thanas war ein Unglück
zugestoßen. Ein Raubtier – Ukandar, der behauptete, es
gesehen zu haben, beschwor, es sei ein Paria gewesen
hatte Thanas angefallen und übel zugerichtet. Thamai
untersuchte ihn und erklärte, daß es nicht mehr
genüge, die Wunden zu versorgen. Thanas müsse in
die Obhut der Göttin Vitu.
Sie ließ sofort alle Vorbereitungen treffen. Eine
kleine Gruppe, bestehend aus Ukandar und einigen
Priestern, Rylai und seinen Jägern und Thamai, trug
den Schwerverletzten hinaus zum Teich des Lebens.
Dort wurde er dem Wasser übergeben.
Aus den Gesprächen entnahm ich, daß es Stunden
dauern würde, bis Vitu ihn wieder freigab. Ich nahm
die Gelegenheit für einen raschen Jagdausflug wahr.
Als ich eine Stunde später satt zurückkam, hatte sich
noch nichts ergeben.
Erst gegen Morgen war es soweit. Thamai war die
erste, die es spürte. Sie hatte längere Zeit bereits in sich
versunken dagesessen. Ich dachte mir, daß sie bereit
war, mit Vitu zu sprechen, wenn die Göttin sie anhörte.
Sie sagte: »Thanas ist auf dem Wege zu uns. Laßt
uns ihn empfangen.« Dann schritt sie, noch mehr
abwesend, zum Teich. Ich ging an ihrer Seite. Auch die
Männer hatten sich erhoben. Alle starrten gespannt auf
die reglose Oberfläche des Teiches. Vermutlich waren
sie neugierig, welche Gestalt Vitu dem Mann gegeben
hatte. Einige der Priester kamen mit den Fackeln nahe
heran, damit genügend Licht auf die auftauchende
Gestalt fallen konnte.
Bald darauf sahen wir einen Schemen auftauchen.
Dann brach spritzend die Oberfläche, und ein Kopf
erschien, der manchen der Umstehenden aufschreien
ließ.
Ich spürte selbst einen Schauder unter dem Fell,
während meine Gedanken hinausschrien, daß der
Priester ein Schurke war. Aber niemand hörte mich.
Alle starrten auf das Ungeheuer, das aus dem Wasser
stieg und triefend auf uns zutaumelte. Das Ungeheuer,
das einst Thanas gewesen war.
Es sah aus wie ein Mensch und doch nicht wie ein
Mensch. Wie der eine Paria, den ich gesehen hatte, ging
er aufrecht. Sein Körper war schuppig wie der einer
Echse. Das Gesicht war schmal, die so menschlich
wirkenden Augen saßen seitlich. Sie waren ohne Lider.
Sein Mund war der eines Raubfisches mit spitzen,
sägeartigen Zähnen.
Er sah uns entgegen, ein wenig seitlich, um uns mit
diesen Augen wahrnehmen zu können, aber er mußte
halb blind sein.
»Willkommen ...«, begann Thamai und brach
erstickt ab.
Der arme Teufel öffnete die Arme hilflos. Er schien
noch nicht ganz zu begreifen, was mit ihm geschehen
war.
»Seht!« triumphierte Ukandar und deutete mit der
Fackel auf die Gestalt. »Seht Vitus Zorn! So wird es
allen ergehen, die das Wort ihrer Priester mißachten.
Oder es wird Unschuldige treffen, wie Thanas ...!«
Die erbärmliche Hilflosigkeit und Ukandars
grausamer Triumph waren es, die mich handeln ließen.
Ich konnte mir nicht denken, daß es zu ertragen sei, als
solch ein Ungeheuer zu leben. Ich würde eine zweite
Chance wählen oder sterben. Und ich traf die Wahl in
diesem Augenblick für Thanas. Mit einem Grollen
sprang ich vor und riß die Gestalt zu Boden, bevor
mich jemand aufhalten konnte. Ich spürte seine Kiefer
an meiner Schulter zuschnappen. Es war nur ein
Reflex. Bevor er erkannte, was geschah, brach ich sein
Genick mit einem einzigen Biß.
Das Knirschen, das in der atemlosen Stille
unüberhörbar war, brach den Bann. Während Rylai
und die Jäger unentschlossen auf Thamai blickten,
stürmte Ukandar mit einem Wutschrei vorwärts. Er
hielt aber inne, als ich von der leblosen Gestalt abließ
und mich ihm mit einem knurrenden Laut zuwandte.
Ich hatte gute Lust, ihn anzuspringen und seinen
Schädel zwischen meinen Kiefern zu zermalmen. Aber
in diesem Moment eilten ihm die Priester zu Hilfe und
hoben ihre Blasrohre an die Lippen. Ich wartete nicht.
Ich hoffte, daß sie Thanas in den Teich zurückwarfen.
Es war zumindest eine Chance für ihn. Ich war
ziemlich sicher, daß Thamai dafür sorgen würde.
Ukandar, das schwor ich mir, würde ich mir noch
vornehmen.
Der Dschungel nahm mich schützend auf, bevor
einer ihrer Pfeile mich treffen konnte.
Ich blieb noch eine Weile in der Nähe der Lichtung
und sah zu, was sie taten. Es kam zu einer
Auseinandersetzung zwischen Ukandar und Thamai,
in deren Verlauf Rylai und seine Jäger offen Thamais
Partei ergriffen und verlangten, daß Thanas erneut
dem Teich übergeben werde. Der Streit begann fast
handgreiflich zu werden, denn die Priester bestanden
darauf, den Paria ins Dorf zu bringen, damit jeder
sehen könne, daß Vitu zürnte, so wie Ukandar es
vorausgesehen hatte.
Es war ein übler Trick, und ich versprach mir,
diesem Priester eines Tages das Genick zu brechen.
Die beiden Parteien einigten sich schließlich darauf,
den Leichnam unter Bewachung bis zum Morgen
liegen zu lassen, und wer ihn sehen wollte, könne
hierherkommen.
Thamai wollte mit ihrem Onkel kein Risiko
eingehen. Ich erfuhr dabei auch, daß Tote, die nicht
innerhalb eines Tages in den Teich kamen, von Vitu
nicht mehr mit einem neuen Leben bedacht wurden.
Ich war sehr froh, daß Rylai sofort eingegriffen
hatte, als ich Sibile für ein leckeres Abendessen hielt.
Ich sah nun, wie wichtig es war, daß die Verwandelten
im Dschungel aufeinander achteten.
Ich hätte gern gewußt, welche Gedanken Thamai
bewegten. Ob sie verstand, daß ich es nur getan hatte,
weil es mir unerträglich erschien; und weil ich dem
Teufelspriester den Triumph nicht gönnte? Ob sie mir
zürnte?
Die Ungewißheit nagte an mir.
Ich lag die ganze Nacht in der Nähe des Teiches und
beobachtete die Feuer. Nicht viele kamen aus dem
Dorf, um den toten Paria zu sehen. Es gab keine
Gelegenheit, unbemerkt an Thamai heranzukommen.
Ich sah wohl, daß sie manchmal zum Dschungelrand
blickte. Aber auch sie konnte die Lichtung nicht
verlassen, ohne daß die Priester es bemerkt hätten.
Schließlich aber sah ich, daß sie mit Rylai sprach, der
bald darauf die Lichtung verließ. Ich schlich mich in
seine Nähe und hörte ihn bald darauf leise nach mir
rufen.
»Ubali!«
Mit einem leisen knurrenden Laut gab ich mich zu
erkennen, so daß er nicht erschrak, als ich neben ihm
aus den Büschen kam.
»Ubali«, sagte er hastig, »ich weiß nicht, was das
alles bedeutet. Aber Thamai versteht deine Tat. Sie
weiß, was sie tut, und solange sie dich verteidigt,
werde auch ich es tun. Thamai bat mich, dich zu
warnen. Komm nicht ins Dorf und weiche den
Priestern aus. Sie wollen dich einem Gottesurteil
unterziehen, und das hat noch keiner überlebt. Es wäre
dir dann auch ein neues Leben versagt. Also meide das
Dorf und die Priester. Thamai wird morgen nacht hier
sein. Vitu mit dir, Freund.«
Damit war er verschwunden. Und ich war
erleichtert, wenn sich auch meine Lage ernstlich
verschlimmert hatte.
Gegen Morgen, als niemand mehr aus dem Dorf
kam, zog sich Ukandar zurück. Er nahm die meisten
seiner Priester mit. Nur zwei ließ er zurück, die die
weiteren Geschehnisse beobachten sollten, die ihn
offenbar nicht mehr selbst interessierten. Vielleicht
hatte er es aber auch eilig, neue Teufeleien
auszuhecken. Ich hatte gute Lust, ihm
nachzuschleichen, aber dann war es mir doch zu
gefährlich. Im Augenblick hatte ich für meine
frevlerische Tat wahrscheinlich das ganze Dorf zum
Feind. Außerdem interessierte mich, was mit Thanas
geschehen würde. Ob Vitu ihm ein neues Leben gab,
und welches.
Ich suchte mir einen sicheren Beobachtungsplatz
und sah, wie Thamai und Rylais Jäger den Leichnam in
das Wasser trugen. Es war kurz vor Sonnenaufgang,
und ich beschloß, ein wenig zu schlafen. Es gab nicht
viel, das ich versäumen konnte. Thamai und die
Männer saßen stumm auf der Lichtung. Ich wußte, sie
würden die nächsten Stunden auf Thanas
Auferstehung warten.
Zweimal wurde ich wach. Das erstemal durch ein
Geräusch aus dem Dschungel, das aber zu weit weg
war, um eine Gefahr zu bedeuten; das zweitemal durch
die Jäger, die auf der Lichtung ein Feuer entfacht
hatten und irgendein Beutetier auf einen Spieß
schoben, um es zu braten. Ich blieb wach, bis es
gebraten war, und sie sich ans Essen machten, wozu sie
nach einigem Hin und Her auch die beiden Priester
einluden.
Dann nahm ich meinen Schlummer wieder auf,
diesmal nur für kurze Zeit, bis Thamai verkündete, daß
es soweit sei.
Ich starrte gebannt auf das Wasser, wie die anderen
auch.
Da ich auf den Ästen eines Baumes lag, sah ich
früher als die anderen die auftauchende Gestalt.
Verschwommen kam sie aus der Tiefe empor. Es war
Thanas in seiner menschlichen Gestalt.
Thamai war sehr glücklich darüber. Das hörte ich an
ihrer Stimme, als sie ihrem Onkel den traditionellen
Gruß zurief:
»Willkommen, Thanas!«
Sie lief ihm entgegen und umarmte ihn, während
Rylai und seine Männer ihn umringten und mit Fragen
bestürmten. Die beiden Priester verließen rasch den
Ort. Sie hatten es eilig, Ukandar die Botschaft von der
Auferstehung Thanas zu bringen.
Ich war sehr froh darüber, daß Thamai glücklich
war. Nun, da die Priester verschwunden waren, schien
es mir gefahrlos, die Lichtung zu betreten. Ich kam
langsam näher, und sie bemerkten mich erst, als ich die
Gruppe fast erreicht hatte. Aus Rylais Augen waren
alle Zweifel verschwunden. Er verstand nun auch, was
ich gewollt hatte. Thanas faßte es noch immer nicht
ganz, daß der Alptraum, den er eben noch gehabt
hatte, vorüber war. Thamai umarmte mich und drückte
mir einen Kuß auf die feuchte Nase. In Shi-but wäre
das eine Tat gewesen, die man über die Grenzen des
Landes hinaus gerühmt hätte. Nicht Ubali, sondern
einen Panther zu küssen!
»Vitu hat zu mir gesprochen«, erklärte Thanas. »Sie
billigt Ubalis Tat, weil sie aus Mitleid und gerechtem
Zorn geschah. Aber der Tod kann mich nicht heilen.
Ich werde meine Gestalt nicht lange behalten. Es ist
einer unter uns, der mit Vitus Kräften spielt. Und der
Tag ... wird kommen ... da er dafür ... bezahlen ... muß
...«
Die Worte waren immer mühsamer aus seinem
Mund gekommen. Nun brach er ab und krümmte sich
wie unter einem plötzlichen Schmerzanfall. Er schrie
auf. Dann begann er sich zu verwandeln. Die
Umstehenden wichen entsetzt zurück. Schuppen
überzogen seine Haut. Sein Schädel verformte sich.
»Geht ... weg ...« Die Stimme war kaum mehr
vernehmlich, die Worte fast unverständlich. Das
häßliche Fischmaul schloß und öffnete sich einige Male
in stummer Qual. Die Augen traten hervor.
Ich war der einzige, der ihn in diesem Augenblick
nicht fürchtete. Die anderen, Thamai eingeschlossen,
hatten sich in sicherem Abstand begeben. Zuviel hatte
man ihnen über die Tollwut der Parias erzählt, und ich
konnte mir auch denken, wer diesen Unsinn verbreitet
hatte. Kein anderer als Ukandar, der vermeiden wollte,
daß seine einstigen Opfer ihm wieder in die Quere
kamen.
Thanas berührte mich und sah mich bittend an. Er
bot mir seine Kehle zum tödlichen Biß.
Aber ich wußte, daß es sinnlos war. Seine
Auferstehung würde wieder nur kurz sein. Nur Vitu
konnte ihm helfen.
Er wußte es auch. Er schüttelte seinen verformten
Schädel in stummer Abwehr. Dann wandte er sich um
und verschwand im Dschungel.
Sehr bedrückt begaben sich schließlich alle zum Dorf
zurück. Thamai versprach, am Abend
wiederzukommen. Im Augenblick war sie zu
erschüttert und zu müde von der durchwachten Nacht,
um klar denken zu können. Sie beschlossen jedoch,
Ukandar und den Priestern diesen Vorfall zu
verschweigen und ihn in dem Glauben zu lassen,
Thanas wäre Mensch geblieben. Thamai würde
berichten, daß Thanas von Vitu den Auftrag erhalten
hätte, die anderen Parias aufzusuchen, um ihnen eine
Botschaft zu überbringen.
Ich hielt das für einen sehr guten Gedanken. Leider
konnte ich ihnen nicht sagen, wie gut. Ukandar würde
ganz schön ins Schwitzen kommen, wenn die anderen
Parias tatsächlich durch sein Gift entstanden waren.
Ich vertrieb mir den Morgen damit, auf die Jagd zu
gehen und mir den Magen zu füllen. Dabei hoffte ich,
auf Thanas zu stoßen oder auf einen anderen der
Parias. Schließlich trieb ich mich wieder in der Nähe
der Lichtung herum, in der Hoffnung, daß vielleicht
Sibile auftauchte, um mir Neuigkeiten zu berichten.
Aber sicher fürchtete sie, damit die Priester auf meine
Spur zu bringen.
Am frühen Nachmittag pirschte ich mich an das
Dorf heran, soweit es der Wald gestattete. Reges
Treiben herrschte, und mehrere Gruppen verließen mit
ihren Jagdwaffen die Lichtung. Das konnte nur
bedeuten, daß sie nach mir suchten, vermutlich in
Ukandars Auftrag. Rylais Trupp war der erste. Hatte er
sich auch Ukandar angeschlossen? Ich konnte es mir
nicht vorstellen. Er ging auf diese Weise wohl nur einer
offenen Auseinandersetzung aus dem Weg.
Ich zog mich zurück und suchte den tieferen
Dschungel auf. Meine Schulter schmerzte seit
geraumer Weile. Ich sah, daß der Schmerz von Thanas
Biß herrührte. Die scharfen Fischzähne waren tief
eingedrungen. Soviel ich aus den Augenwinkeln
erkennen konnte, sah die Wunde nicht gut aus. Ich
versuchte, sie mit dem Maul zu erreichen und
sauberzulecken, aber ich erreichte sie nur zum Teil.
Meine Bemühungen linderten auch den Schmerz
kaum. Mir blieb auch nicht viel Zeit. Den ganzen
Nachmittag verbrachte ich damit, den Jagdtrupps
auszuweichen. Es war nicht sehr schwer, aber doch
sehr ermüdend. Ich geriet immer tiefer in den
unbekannten Dschungel, wo ich nicht nur die Jäger
zum Feind hatte. Ich begegnete auch kaum noch
Verwandelten. Hier begann die wirkliche Wildnis.
Bald war mir klar, daß mein Treffen mit Thamai ins
Wasser fallen würde. Der Schmerz war fast
unerträglich. Mein ganzer Körper brannte. Ich hatte
Fieber. Ich brauchte Ruhe. Die Jägerkette zu
durchbrechen, wäre in jedem Fall ein Risiko gewesen.
Ich wußte, daß ich es in diesem Zustand nicht schaffen
würde. Ich hoffte, daß sie die Treibjagd mit Einbruch
der Dunkelheit abbrachen und mir ein wenig Ruhe
gönnten. Sie wußten nichts von meiner Wunde. Sie
konnten nicht wissen, daß ich am Ende war.
Ich mußte entkommen. Ukandar wollte mich aus
dem Weg haben. Wenn sie mich aufstöberten, würden
sie mich abschießen wie einen tollen Hund und als
Mahlzeit für die Geier liegenlassen.
Ich konnte aber auch ziemlich sicher sein, daß sie
dafür sorgen würden, daß ich an den Lebensteich nicht
mehr herankam. Weder lebend noch tot.
Aber es gab noch diesen zweiten Teich, in dem die
Schlange sich verwandelt hatte. Sie würden nicht
erwarten, daß ich ihn kannte. Nur Rylai und seine
Männer hatten mich dort gesehen. Waren sie noch auf
meiner Seite?
Egal. Ich mußte es versuchen. Thamai hatte gesagt,
das Wasser hätte auch eine heilende Wirkung. Ich
brauchte nun Vitus Hilfe.
Erst als die Dunkelheit bereits ziemlich
fortgeschritten war, blieben die Geräusche der Jäger
hinter mir zurück. Bald darauf sah ich mehrere Feuer
im Dschungel. Sie richteten sich für die Nacht ein.
Erschöpft kroch ich unter einige Büsche. Ich war
halb taub und blind. Alles brannte in mir, und die
Bißwunde schmerzte so unerträglich, daß ich mir am
liebsten die Schulter aus dem Leib gerissen hätte. Ich
fiel in einen Erschöpfungsschlaf und war sehr dankbar
dafür.
Ich erwachte, wie es mir schien, Augenblicke später
durch ein stampfendes Geräusch, das den Boden
erzittern ließ. Ich fühlte mich besser. Der Schmerz war
da, aber gedämpfter. Die ganze Schulter fühlte sich kalt
und tot an. Aber ich konnte den Vorderlauf ohne
Schwierigkeit bewegen. Das Fieber hatte sich
ausgebrannt.
Es mußte doch eine ganze Weile vergangen sein,
denn der Mond stand nun hoch am Himmel. Aber er
gab nicht viel von seinem Licht, hier unten zwischen
den Bäumen. Ich starrte angespannt in die Dunkelheit
vor mir, aber selbst meine Katzenaugen sahen nichts.
Dann kam das Geräusch wieder. Etwas bewegte sich
dort vorn und kam stetig näher. Es mußte etwas sehr
Mächtiges sein, daß sein Schritt den Boden erzittern
ließ.
Ich richtete mich auf, um fluchtbereit zu sein. Für
einen Kampf fühlte ich mich nicht kräftig genug. Ich
stand sogar ziemlich schwankend auf den Beinen.
Im nächsten Augenblick brach etwas Riesiges durch
die Büsche. Ein gewaltiger Körper, dessen genaue
Form in der Dunkelheit nur schwer zu erkennen war,
kam mit stampfenden Bewegungen durch die Bäume
auf mich zu. Er erinnerte mich an die Echsen in den
Sümpfen Shi-buts, nur war er viel größer. Er war halb
aufgerichtet, und so ging er auch, mit kurzen Armen,
Hindernisse aus dem Weg räumend, während ein
mächtiger Schwanz gegen die Stämme peitschte, daß
ein Beben durch den Wald ging. Kein Zweifel, was da
auf mich zukam, war eine riesige Echse.
Ich machte, daß ich aus ihrem Weg kam. Sollten die
Jäger sich mit ihr beschäftigen! Das brachte mich auf
einen Gedanken. Wenn es mir gelang, die Echse auf die
Männer zuzulocken, dann mochte sich mir während
des Kampfes eine Möglichkeit bieten, durchzubrechen
und den Teich zu erreichen.
Ich gab ein knurrendes Fauchen von mir, um den
Riesen auf mich aufmerksam zu machen. Er reagierte
sofort. Offenbar war er sehr hungrig. Der Koloß
wankte auf mich zu. Als er nahe genug war, sprang ich
auf und bewegte mich einige Schritte in die Richtung
der Jäger. Gleich darauf war ich sicher, daß mich die
Echse entdeckt hatte. Sie gab einen Laut von sich, der
wie ein unterdrückter Donner klang, dann stampfte sie
weiter in meine Richtung. Ihr Schädel kam tiefer, um
den Boden in Augenschein zu nehmen. Das mächtige
Gebiß öffnete sich.
Ich sprang durch das Gebüsch. Sie folgte. Vor mir
hörte ich die aufgeregten Stimme der Jäger. Nun war es
Zeit, mich aus dem Staub zu machen. Zwei der Feuer
waren deutlich zu erkennen. Ich war bereits sehr nahe.
Die Echse kam wie ein Ungewitter hinter mir her. Ich
hielt direkt auf das Feuer zu. Ich hatte ihre
Geschwindigkeit unterschätzt. Der Boden bebte. Kiefer
knirschten über mir.
Dann war ich über dem Feuer zwischen den
aufgeregt durcheinanderlaufenden Menschen. Ich weiß
nicht, ob mich überhaupt einer wahrnahm, denn der
Kopf des Untiers schwankte drohend über dem
Lagerplatz. Seine kurzen Vorderklauen kamen herab.
Als ich durch war, vernahm ich schrille Schreie hinter
mir. Todesschreie. Flüche. Kampflärm. Der Vormarsch
des Untiers hatte aufgehört.
Ich konnte ziemlich sicher sein, daß die in der Nähe
lagernden Jäger ihren Gefährten zu Hilfe kommen
würden. Ich interessierte sie im Augenblick sicher
nicht. Das gab mir einen guten Vorsprung. Die Echse
würde sie beschäftigen, bis sie entweder satt war oder
tot, und das mochte eine Weile dauern.
Ich hoffte, daß nicht Rylais Männer die Opfer waren.
Gesichter hatte ich in der Eile keine erkennen können.
Meine Schulter schmerzte wieder heftiger. Das taube
Gefühl verschwand und verwandelte meine ganze
linke Seite in eine Waberlohe. Oh, ihr Götter, wie das
brannte!
Lange Zeit hörte ich noch die Schreie und Geräusche
hinter mir, aber nach und nach verklangen sie. Ich
hatte mehrere Stunden Weges vor mir, und ich war
bald nicht mehr sicher, ob ich es schaffen würde. Das
Fieber begann wieder. Bald schüttelten mich Feuer und
eisige Kälte, und der Weg verschwamm vor meinen
Augen.
Mein Rachen hing hechelnd offen. Ich rang nach
Luft. Nur der Gedanke, daß ich sterben würde, wenn
ich mich nun fallen ließ, um auszuruhen, trieb mich
vorwärts. Ich durfte nicht anhalten. Meine einzige
Hoffnung war der Teich, und niemand würde mir
helfen, ihn zu erreichen. Ich mußte es ganz alleine tun.
Mehrere Stunden lief ich halb blind durch den
Dschungel. Ich wäre eine leichte Beute für jeden
Räuber gewesen, der sich die Mühe gemacht hätte, sich
eine Weile an meine Spur zu hängen. Aber der
Dschungel war wie leergefegt.
An den letzten Teil des Weges habe ich keine
Erinnerung mehr. Ich weiß, daß ich taumelte und mich
kaum auf den Beinen halten konnte. Schließlich brach
ich zusammen, erhob mich wieder, kroch auf dem
Bauch vorwärts. Ich war nicht mehr bei Sinnen. Von
irgendwoher vernahm ich Stimmen, doch das mochte
bereits ein Traum sein; es mochten die Wächter des
ewigen Tores sein, die mich kommen sahen. Der
Kampf war zu Ende.
5.
Aus der Tiefe unter mir, oder aus der Höhe über mir –
ich hatte das Gefühl, zu schweben; Es war nichts über
mir und unter mir – kam eine Stimme, die ich schon
einmal vernommen hatte.
Vitus Stimme, weiblich, geheimnisvoll, ohne
menschliche Regung.
»Du bist früh gekommen, Ubali. Früher als
erwartet.«
»Du hast mich erwartet?«
»Ich erwarte alle, Ubali. Früher oder später kommen
alle zu mir, und ich gebe ihnen ein neues Leben durch
die Kraft des Wassers. Auch du sollst ein neues Leben
haben. Mein Volk braucht dich. Es ist gut, daß du früh
gekommen bist. Eine Gefahr nähert sich aus der Prärie,
der mein wenig kampferprobtes Volk nicht gewachsen
ist. Ein Mann namens Darraco ist von einem Mann
deiner Welt überlistet worden. Nun zieht er eine
blutige Rachespur, wohin er geht. Er hat diese
Richtung eingeschlagen. Nimm Leben aus meiner
Hand, Ubali und sei dem Volk der Vitu-thaimoa ein
Helfer, Fremder, der du an der Seite von Königen
gefochten hast.«
»Und Ukandar?« riefen meine Gedanken. »Was soll
mit ihm geschehen ...?«
Aber niemand antwortete mir. Vitu hatte mich
verlassen. Die Leere um mich füllte sich, wurde kalt
und schwer – Wasser.
Ich begann mich zu bewegen. Ich stieß mit kräftigen
Schwimmbewegungen nach oben, dem Licht zu. Ich
durchbrach die Oberfläche und atmete tief ein. Es war
heller Tag, fast Mittag.
Rasch sah ich mich um. Die Ufer des kleinen Teiches
waren leer. Hatte ich es wirklich allein geschafft? Oder
hatte Vitu mir geholfen, weil sie meine Hilfe brauchte?
Ich schwamm ans Ufer, und plötzlich wurde ich mir
der braunen Arme bewußt, meiner eigenen,
angestammten Haut. Ich stürmte aus dem Wasser. Kein
Zweifel. Der alte Ubali war wieder unter den
Lebenden. Ich streckte mich, spürte die Muskeln, die
warme Sonne auf der nackten Haut. Ah, welch ein
Gefühl!
Vitu sei Dank! Ich war auferstanden – wenn auch
vielleicht nur für eine Schlacht.
Aber nun galt es, vorsichtig zu sein. Ukandar würde
das Offensichtliche vermuten, wenn er mich sah. Ich
durfte ihm keine Gelegenheit geben, etwas gegen mich
zu unternehmen. Als erstes mußte ich mich möglichst
unauffällig mit Thamai in Verbindung setzen. Ich
brauchte auch meine Waffen wieder, die sich in ihrer
Hütte befanden. Ich mußte Gelegenheit haben, das
Thaimoa-Volk von der Gefahr zu überzeugen, auf die
Vitu mich hingewiesen hatte. Das konnte nur mit
Thamais Hilfe gelingen. Und dann mußte ich
versuchen, Rylai und seine Männer, die einzigen, auf
die ich mich vielleicht verlassen konnte, dafür zu
gewinnen, daß sie mit mir auf einen Erkundungszug
gingen. Wir konnten nicht früh genug etwas über
Darracos Stärke erfahren. Er war der Anführer der
Wolkenreiter, soviel hatte ich von Larkin erfahren.
Dabei dachte ich schaudernd an das Abenteuer mit
dem Baumvolk, das für ihn ein so tragisches Ende
genommen hatte.
Nun sollte ich also doch diesen Darraco
kennenlernen. Aber wenn er tatsächlich auf Wolken
geritten kam mit seiner Streitmacht, dann würde es
sehr schwer werden, ihm etwas anzuhaben. Wir
würden einen guten Plan brauchen.
Was hatte Vitu noch gesagt? Ein Mann aus meiner
Welt hätte Darraco hereingelegt? Mein Herz schlug
höher. Das konnte nur einer sein, Dragon, mein König.
Ich würde ihn vielleicht wiedersehen – früher, als ich
erwartet hatte.
Ich war sehr zufrieden, wie sich die Dinge
entwickelt hatten.
Ich beobachtete das Dorf.
Ein Dutzend Männer und Frauen arbeiteten an den
Feuern. Sie bereiteten das Essen zu. Der Anblick
machte mich hungrig, und der Duft von gebratenem
Fleisch ließ mir förmlich das Wasser im Mund
zusammenlaufen. Einige eilten zwischen den Hütten
hin und her. Es war praktisch unmöglich, unbemerkt
ins Dorf zu gelangen.
Thamai oder Sibile konnte ich nirgends entdecken.
Wie konnte ich sie nur erreichen? Ich sah mir ihre
Hütte an. Im Eingang sah ich eine Bewegung. Jemand
war drin. Gut.
Ich mußte es von der Tempelseite her versuchen.
Rasch umrundete ich das Dorf und gelangte
unbemerkt an die Rückseite des Tempels. Aber hier
war es noch unmöglicher, ungesehen an Thamais Hütte
heranzukommen. Die Tempelwachen mußten mich
bemerken. Dann sah ich das Ziegengehege. Auch dort
blieb mir nur die Wahl eines offenen Spaziergangs
durch das Dorf, wenn ich nicht bis zum Abend warten
wollte. Und das wollte ich nicht.
Aber dort würden mich die Priester nicht bemerken.
Ich war ein Schwarzer unter Schwarzen.
Ich erreichte die Ziegenweide und verharrte eine
Weile hinter dem Zaun des Geheges. Die am Feuer
kümmerten sich nicht darum, was hinter ihnen an den
Hütten geschah. Ich wartete einen stillen Augenblick
ab, dann marschierte ich los. Ich ging ohne Hast,
wandte mich jedoch halb ab, daß sie nicht gleich mein
Gesicht sahen.
Niemand nahm von mir Notiz. Erst kurz vor
meinem Ziel kam ein Mädchen aus einer Hütte. Es war
zu spät, den Arm vor das Gesicht zu heben. Sie sah
mich voll an, erschrocken erst, dann schien ihr zu
dämmern, wer ich sein könnte.
»Vitus Geist«, entfuhr es ihr. Dann nahm sie mich
völlig überraschend an der Hand. »Komm.«
Ich folgte ihr. In ihrer Begleitung war ich
unauffälliger. Sie führte mich direkt zu Thamais Hütte
und schob mich hinein. Dann sah sie sich um und
nickte befriedigt. »Niemand hat uns bemerkt. Thamai,
sieh mal, wen ich dir bringe.«
Thamai und Sibile hatten aufgeblickt, als ich im
Eingang erschien.
Aber die Sonne blendete sie wohl, und mein Gesicht
lag im Schatten, so daß sie mich nicht gleich erkannten.
Erst als das Mädchen mich nach drinnen schob, sahen
sie, wen sie vor sich hatten. Mit einem Freudenruf
sprangen sie auf und stürmten auf mich zu, um mich
anzufassen, ob ich auch wirklich aus Fleisch und Blut
wäre.
»Vorsicht«, warnte das Mädchen von der Tür her.
»Wer ist es, Loa?«
Hastig antwortete Loa: »Ukandar. Es sieht so aus, als
ob er zu dir will, Thamai ...«
Thamai sah mich angstvoll an. »Was tun wir nur?«
»Endlich handeln«, sagte ich. Ich entdeckte meine
Waffen neben Thamais Lager. Für Schwert und Gürtel
war es zu spät. So nahm ich nur den Dolch und harrte
hinter dem Eingang. In der Dunkelheit der Hütte
würde er mich nicht gleich bemerken. Und dann war es
zu spät.
Ukandar schob Loa zur Seite. »Ich störe ...«, begann
er.
Ich ließ ihn nicht ausreden. Ich trat hinter ihn,
umfaßte ihn mit der Linken und drückte ihm beide
Arme an den Leib. Bevor er sich wehren konnte, setzte
ich ihm den Dolch an die Kehle.
»Ein kleiner Schnitt genügt«, sagte ich halblaut, »um
dich verbluten zu lassen, Ukandar. Und Vitu ist nicht
gut auf dich zu sprechen.«
Er erstarrte in meinen Arm. »Ich sehe, wir verstehen
uns«, fuhr ich fort. »Loa, laß uns allein. Es ist besser,
wenn du nichts mit der Sache zu tun hast. Unser
Freund hier ist rachsüchtig. Sibile, geh vor die Hütte
und warne uns, wenn sich jemand nähert.«
»Ja, Ubali«, sagte sie, und ihre Augen glänzten. Es
gefiel ihr, den alten Teufel so hilflos in meiner Hand zu
sehen.
Als sie verschwunden war, stieß ich Ukandar
vorwärts und ließ ihn los. Er stürzte zu Boden. Thamai
wich zur Seite. Sie sah angstvoll auf Ukandar.
Der Priester rappelte sich hoch, um wütend auf mich
loszuspringen. Aber der Dolch in meiner Rechten ließ
ihn zurückschrecken.
»Das wirst du Hund teuer bezahlen!« fauchte er nur
mühsam beherrscht.
Ich trat drohend einen Schritt näher. »Du hast die
falsche Einstellung, Priester. Allein dieser ruhigen
Hand verdankst du es, daß du noch lebst. Es juckt mich
verdammt, deine schändliche Kehle durchzuschneiden.
Vitu würde nicht einen Finger für dich rühren, das
weißt du, nicht wahr? Du hast ihre Kräfte mißbraucht.
Sie wird dich richten, und ich will ihr nicht vorgreifen,
wenn du mich nicht dazu zwingst. Aber ich werde dich
töten, wenn du mir den geringsten Anlaß dazu gibst.
Ich schwöre es dir bei allen Göttern!« sagte ich gepreßt.
Und er sah mir an, daß es mir verdammt ernst war.
Angstvoll wich er zurück. Plötzlich war er ein
erbärmliches Bündel.
Thamai sah mich mit großen Augen an. »Weißt du
auch, was du tust?« stand darin zu lesen. Ich nickte ihr
beruhigend zu. Jetzt war mein Augenblick gekommen,
und ich würde ihn nützen. Ich fühlte mich stark mit
Vitu an meiner Seite.
Ich ließ mein Opfer nicht aus den Augen. »Thamai,
bring mir meinen Gürtel und das Schwert.«
Sie brachte es mir. Ich gab ihr den Dolch. »Laß ihn
nicht aus den Augen. Stoß zu, wenn er sich rührt. Vitu
wird dir deshalb nicht zürnen.«
Rasch legte ich den Gurt um und befestigte das
Schwert. Dann nahm ich Thamai den Dolch wieder aus
der Hand.
»Du mußt wissen«, sagte ich zu ihr, »daß die Parias
nichts mit Vitus Zorn zu tun haben. Sie sind ganz allein
sein Werk.« Ich deutete auf den Priester.
»Sein Werk?« fragte sie fassungslos.
Ich nickte. »Er bedient sich einer anderen Kraft
Vitus, eines Giftes, das er heimlich in das Wasser tut,
das die Gläubigen trinken ...«
»Dann ist Onkel Thanas durch sein ...«, begann sie
tonlos. Schmerz und Grimm erstickten ihre Stimme. Sie
ballte die Fäuste und starrte den Priester an. »Warum
Thanas?« flüsterte sie. »Ukandar, warum Thanas?«
»Weil er der letzte war«, sagte ich hart. Ich wies mit
dem Kopf zu ihm hin. »Das waren seine eigenen
Worte, als ich ihn belauschte ...«
Sie sah mich an. »Du hast ihn belauscht? Dann
wußtest du, was im Tempel geschehen würde?«
»Ja, aber ich bemerkte es zu spät. Thanas hatte schon
getrunken, als ich den leeren Beutel an der Brust des
Priesters entdeckte ...«
»Diese Verleumdung wirst du noch bereuen«,
zischte Ukandar.
»Ich an deiner Stelle würde mich nicht reizen«,
erklärte ich ruhig. »Was ich gehört habe, habe ich
gehört. Und Vitu wird zur rechten Zeit meine Worte
bestätigen.« Das war eine ziemliche Lüge, denn dessen
war ich mir gar nicht sicher. Aber sie beeindruckte
Ukandar, der inzwischen überzeugt war, daß Vitu
mich zu ihrem besonderen Günstling erkoren haben
mußte, wenn alle seine Pläne fehlschlugen.
»Der letzte ...«, sann Thamai.
»Es scheint mir nicht schwer zu erraten«, sagte ich.
»Wie ich es mir denke, nach allem, was ich so erfahren
habe, ist es wohl der letzte aus deines Vaters Gefolge.
Der letzte, der noch genug von der alten Zeit weiß, um
die Lügen des Oberpriesters aufdecken zu können.«
»Ich rate dir, hüte deine ...«, zischte Ukandar und
verstummte, als ich drohend den Dolch hob.
Thamais Augen wurden weit. »Natürlich. Dann hat
er auch Vater und die anderen ...« Sie verstummte. Mit
einem erstickten Schrei warf sie sich auf ihn, bevor ich
es verhindern konnte.
»Du Bestie!« keuchte sie und trommelte mit ihren
Fäusten auf ihn ein.
Ukandar sah sofort seine Chance, aber ich sah sie
noch schneller. Als er Thamai packte und herumriß,
um sie als Schild vor sich zu halten, war ich bereits an
seiner Seite, faßte seinen Arm und drehte ihn herum.
Es gab einen Aufschrei, der Sibile hereinlockte. Dann
ein Knirschen, als der Arm aus dem Gelenk sprang,
dann lag Ukandar wimmernd auf dem Boden,
während Thamai wie eine Katze aus seiner Reichweite
glitt.
»Ich rate dir, das nicht noch einmal zu versuchen«,
sagte ich kalt. »Oder, bei Vitu, du wirst der nächste
Paria sein, und ich könnte mir vorstellen, daß die
Göttin mit dir besondere Pläne hat. Du wirst jetzt
hinausgehen und verkünden, daß dem Volk der
Vitu-thaimoa große Gefahr droht, und daß Vitu mich
zum neuen obersten Priester und Herrscher über das
Volk der Thaimoa bestimmt hat.«
Mit schmerzverzerrtem Gesicht funkelte er mich an.
»Das werde ich niemals tun. Eher werde ich ...«
»Was?« fragte ich ihn. Mit einem Schritt war ich bei
ihm und setzte ihm den Dolch an die Kehle. »Sterben,
Ukandar? Ist es das, was du willst ...?«
Stöhnend versuchte er sich freizumachen. »Nein«,
keuchte er.
Ich gab ihn frei. »Oder Vitus Zorn auf dich laden?«
»Pah! Vitus Zorn. Sie hat nichts mit dir zu schaffen,
du dahergelaufener Schurke. Du willst nichts weiter als
die Herrschaft, und dazu ist dir jedes Mittel recht ...!«
»Wie dir einst, Ukandar?« fragte ich nicht ohne
Spott.
Er verstummte und umklammerte jammernd seinen
Arm.
»Geh zum Eingang«, befahl ich ihm scharf. »Und
wenn du noch ein wenig an deinem Leben hängst,
gehst du keinen Schritt weiter. Laß dir den verletzten
Arm nicht anmerken. Und verkünde laut und deutlich,
daß du eine Versammlung im Tempel einberufst. In
einer Stunde. Vorwärts!« Ich gab ihm einen Stoß. Er
taumelte vorwärts und starrte mich haßerfüllt an.
»Vorwärts. Worauf wartest du? Daß ich meine
Absicht ändere? Und sei gewarnt. Ich bin ein Meister
im Werfen dieser Waffe. Ich treffe ein Blatt auf zwanzig
Schritt.«
Er trat in den Eingang und rief den Männern am
Feuer zu, daß sie überall im Dorf verkünden sollten,
daß in einer Stunde eine wichtige Versammlung im
Tempel stattfände. Dann zog ich ihn nach innen, bevor
er auf dumme Gedanken kommen konnte.
»Thamai, kannst du Rylai erreichen?«
Sie nickte aufgeregt.
»Hol ihn her.«
Ich atmete auf, als sie draußen war. Ich wollte sie
vor allem außer Gefahr haben.
»Du bist ein Narr, daß du den Tempel als
Versammlungsort wählst«, lachte Ukandar höhnisch.
»Es soll alles seine Ordnung haben«, erwiderte ich.
Als Rylai kam, hieß ich ihn: »Ukandar festhalten!«
An seinem Gesichtsausdruck wußte ich, daß Thamai
ihm alles berichtet hatte. Ich brauchte mich also nicht
erst mit langen Vorreden aufzuhalten.
Dann nahm ich Ukandars ausgerenkten Arm und
drehte ihn erneut mit einem Ruck, der dem Priester
einen Schrei entlockte. Dann saß der Arm wieder fest in
der Schulter. Das war ein Trick, den ich von Partho
gelernt hatte.
Erschöpft lehnte sich Ukandar an die Wand,
während Rylai grinste. Er schien es zu genießen, den
Priester ein wenig leiden zu sehen.
Ich fragte ihn rundheraus: »Kann ich auf dich
zählen, Rylai?«
»Ich bin an Thamais Seite«, erwiderte er.
Ich blickte Thamai fragend an. »Und wem gilt deine
Gunst, Thamai?«
»Oh, Ubali. Wie Vitus Gunst gilt sie dir. Ich vertraue
dir. Ich fühle aus ganzem Herzen, daß du unserem
Volk helfen wirst ...«
»Weibergeschwätz«, knurrte der Priester.
Ich kümmerte mich nicht um ihn. Ich nickte Thamai
dankbar zu. »Wie viele Männer sind dir ergeben?«
fragte ich den Jäger.
Er zuckte die Achseln. »Zwanzig ...«
»Auf die du dich unbedingt verlassen kannst?«
»Auf die ich mich verlassen kann. Und viele werden
auf Thamai hören, wenn die Priester erst ohne Macht
sind. Ich glaube nicht, daß es Schwierigkeiten geben
wird, wenn das Dorf erkannt hat, daß Ukandar und
seine Schergen ausgespielt haben. Vertraue auf Vitu,
mein Freund.«
»Ich vertraue auf meine Kraft, Rylai. Und wenn
Freunde mir helfen oder gar die Götter, dann ist es
willkommen. Wir werden alle Kräfte brauchen. Nicht
für den hier ...« Ich deutete auf den Priester. »Sondern
für eine Gefahr, die uns droht. Ruf deine Freunde
zusammen, Rylai. Wir wollen uns mit unserem Freund
hier in den Tempel begeben.«
Kurz nachdem Rylai die Hütte verlassen hatte, kam
Sibile herein. »Mehrere Priester sind auf dem Weg
hierher.«
»Wieviele?«
»Fünf.«
Ich nickte. »Rasch, verschwinde, Sibile. Bleib in
Rylais Nähe. Weiche nicht von seiner Seite. Geh
schon!«
Der dringliche Ton wirkte. »Ja«, sagte sie hastig.
Eine Spur von Furcht war in ihren Augen, und das war
gut so. Sie würde in der Nähe des Jägers bleiben. Ich
wußte, wenn die Priester eines der beiden Mädchen in
die Finger bekamen, wäre das fatal für mich. Es würde
mich zumindest Ukandar kosten. Darum sagte ich zu
Thamai: »Du solltest auch gehen. Es wäre sicherer für
dich bei den Jägern.«
»Nein, ich bleibe bei dir«, sagte sie entschlossen. Ich
sah, daß ich sie nicht davon abbringen würde.
»Dann rasch. Setz dich. Hier, links von mir. Und du
auch, Priester. Und sag deinen Freunden, daß alles in
Ordnung ist und daß wir noch etwas zu besprechen
haben. Wenn es Ärger gibt, bist du der erste, der ihn
hat.« Ich schob meinen Arm halb hinter ihn und
drückte die Dolchspitze in seine Seite, so daß er sich
unter dem Druck steif aufrichtete.
Gleich darauf erschienen die Priester im Eingang.
Sie sahen Ukandar friedlich bei uns sitzen. Freilich half
ich dieser Friedlichkeit mit dem Dolch kräftig nach. Sie
kamen alle fünf ins Innere, und es wurde ziemlich eng.
Ich hatte Mühe, einerseits Ukandar im Auge zu
behalten und andererseits darauf zu achten, daß sie
Thamai nicht zu nahe kamen.
Sie nickten grüßend, als wir keine Anstalten
machten, uns zu erheben.
»Was ist mit dieser Versammlung, die du einberufen
läßt?« fragte einer den Oberpriester.
»Es geschieht auf Wunsch Vitus ... und Ubalis.« Er
deutete mit dem Kopf in meine Richtung. Jetzt erst
bemerkten sie, wer hier saß. Sie starrten mich
überrascht an. Ich las deutliches Mißtrauen in ihren
Zügen.
»Es gibt eine wichtige Botschaft Vitus zu
verkünden«, erklärte ich.
Ihr Blick wanderte zu Ukandar. In dem Augenblick
hörte ich draußen Rylai mit seinen Männern kommen
und atmete innerlich auf. Auch Ukandar merkte, daß
jeder weitere Trick Selbstmord sein würde, deshalb
sagte er rasch: »Bereitet alles vor. Geht jetzt.«
Die Priester nickten und verließen die Hütte. Mit
Verwunderung sahen sie die Jäger aufmarschieren,
aber ohne Ukandars Führung würden sie nichts
unternehmen. Und daß sie nichts zu seiner Befreiung
tun konnten, wenn sie Verdacht geschöpft hatten,
dafür würde ich sorgen.
Rylai erschien, an seiner Seite Sibile.
»Alles bereit, Ubali«, meldete er.
»Gut.«
»Übrigens ...« Er zögerte. Dann gab er sich einen
Stoß. »Damit du erkennst, daß ich dir wirklich ergeben
bin, will ich dir sagen, daß ich es war, der dich halbtot
fand. Wir hatten dich erwartet. Außer uns kanntest nur
du diesen abgelegenen Teich. Früher oder später,
dachten wir, würdest du dorthin zurückkehren. Wir
trugen dich ans Wasser und übergaben dich Vitu.« Er
grinste. »Es scheint mir das Beste, das ich in den letzten
beiden Leben getan habe.«
Impulsiv ergriff ich seinen Arm. »Ja, ich sehe, ich
habe wirklich einen Freund ...«
»Verräter!« zischte Ukandar.
Der Jäger würdigte ihn keines Blickes.
»Wer waren die Männer, die im Wald nach mir
jagten?«
»Seine ... Schergen«, erklärte Rylai.
»Du meinst, die Priester?«
Er nickte. »Und ein paar andere, die ihm am liebsten
die Füße küssen würden«, erklärte er verachtungsvoll.
»Gab es keine Toten beim Kampf mit der Echse?«
»Das weißt du?« fragte er verwundert.
Ich grinste. »Ich lockte das Teufelsvieh auf ihren
Lagerplatz.«
Er lachte schallend. Dann berichtete er: »Vier von
den Priestern erwischte es. Für einen war alles zu spät.
Drei brachten sie zurück zum Teich. Da sie Peris sind,
verwandelten sie sich natürlich nicht. Aber es war
trotzdem eine verdiente Strafe, denn wenn uns auch
der Tod nicht schreckt, so fürchten wir doch das
Sterben, und die Ungewißheit, ob sich wieder alles
zum Guten wenden wird.«
Einer von Rylais Jägern erschien. »Sie sind alle im
Tempel«, berichtete er.
»Dann werden wir jetzt auch gehen«, bestimmte ich.
»Thamai, du bleibst an meiner Seite. Rylai, laß Sibile
nicht aus den Augen. Es ist möglich, daß die Priester
ein paar kleine Tricks vorbereitet haben. An Ukandars
Statt würde ich hoffen, daß sie es nicht getan haben.
Nehmt ihn in die Mitte.«
Ohne Schwierigkeiten erreichten wir den Tempel.
Wir betraten ihn durch den Vordereingang. Das
erschien mir sicherer, weil ich diesen Weg kannte. Wir
schlängelten uns durch die Menge, ohne daß die Jäger
den Priester aus ihrer Mitte ließen.
Ich gab Rylai einige Anweisungen, und er postierte
unauffällig Männer in der Nähe der Hintertüren, um
uns vor einem Überraschungsangriff der Priester zu
schützen. Thamai, Ukandar und ich nahmen an dem
Holztisch Platz, während Rylai seine Männer verteilte.
Gleich darauf öffneten sich die Türen, und die Priester
wurden zur Verwunderung der Anwesenden in den
Tempelraum getrieben, wo sie sich zwischen den
Versammelten niederlassen mußten. Es war wohl das
erstemal, daß sie das Ganze sozusagen aus dem
Zuschauerraum beobachteten.
Als sich das Raunen beruhigt hatte, zwang ich
Ukandar zum Aufstehen. »Deine Ansprache, Priester.
Du weißt, was du zu sagen hast. Oder hättest du lieber,
daß ich eine Rede halte ... über Parias zum Beispiel ...?«
Wütend trat er schließlich vor die Menge und hob
die Arme, bis es ganz still wurde. Es fiel ihm sehr
schwer, die Worte zu finden, aber er wußte, daß er
ausgespielt hatte. Die Möglichkeit, die ich ihm bot, war
bei weitem der beste Abgang.
»Hört mich an, Thaimoa«, sagte er endlich. »Es ist
Vitus Wille, daß der Fremde an meine Stelle tritt, und
ich beuge mich dem Willen der Göttin. Gewährt ihr
ihm die Gunst, so wie Vitu sie ihm gewährt.«
Er verbeugte sich würdevoll, während die
Versammelten seine Worte zu begreifen versuchten.
Peris und Thaimoa gleichermaßen riefen aufgeregt
durcheinander, bis der ganze Tempel wie die Ratshalle
in Myra widerhallte. Schließlich trat Thamai vor und
bat um Ruhe, die nach und nach eintrat. Sie bestätigte,
was Ukandar gesagt hatte. Ich stand in der Gunst
Vitus, sei ihr Werkzeug. Und meinen Anordnungen sei
unbedingt Folge zu leisten. Daß Thamai sich für mich
einsetzte, entschied die Schlacht für mich. Und die
Tatsache wohl auch, daß ich einen heimlichen
Tyrannen von seinem Thron gestürzt hatte.
Ich hielt eine kurze Rede über meine Herkunft,
meine Taten und die fernen Reiche, die ich gesehen
hatte. Das beeindruckte sie tief. Ich brauchte nicht
aufzuschneiden. Die Leute dieses kleinen Dorfes hatten
seit uralter Zeit nichts als einander und den Dschungel
gekannt. Vitu und die Lebensteiche hielten sie
unerbittlich. Das Abenteuer, das da draußen locken
mochte, brachte den sicheren Tod – ohne
Wiedergeburt. Die wenigen, die ausgebrochen waren,
waren nie mehr wiedergekommen.
Danach verkündete ich die Botschaft von Vitu und
gab damit sogleich den Grund, warum Vitu einen
Haudegen wie mich zum Herrscher über ihr Volk
machte.
Der Anmarsch einer Horde von Plünderern stand
bevor, die keine Gnade kannten. Was den Thaimoa
fehlte, waren kampferprobte Männer – erprobt im
Kampf, Mensch gegen Mensch. Die wollte ich
versuchen, aus ihnen zu machen, wenn überhaupt
noch soviel Zeit blieb.
Nach einem Augenblick der Stille, stürmten sie mit
Fragen auf mich ein, von denen ich viele nicht
beantworten konnte. Noch nicht. Ich wußte nicht, wie
stark der Feind war, wie nah er sich schon befand.
Keiner hatte je den Namen Darraco gehört, und ich
hielt es für besser, die Möglichkeit, daß sie vielleicht
auf Wolken herangeritten kamen, vorerst noch zu
verschweigen, bis unsere Kundschafter Genaueres
erfahren hatten.
Ich löste die Versammlung auf. Ich tat es leichten
Herzens, weil ich deutlich erkannt hatte, daß das
Thaimoa-Volk einverstanden war mit Vitus Wahl. Ich
würde es schon aufstacheln, sich zu wehren.
Es gab noch viele Vorbereitungen zu treffen.
Ukandar kam in sicheren Gewahrsam in seinem
eigenen Tempel. Die Gefahr, daß er rückfällig wurde,
sobald wir ihm den Rücken wandten, war allzu groß.
Auch die übrigen Priester ließ ich von Männern
überwachen, die Rylais Vertrauen genossen.
Unter Rylais Leitung wurden acht Unterführer
ausgewählt, denen jeweils eine gewisse Anzahl Männer
und Frauen des Dorfes unterstehen sollten.
Dann befahl ich, alle Verwandelten ins Dorf zu
holen – auch die Parias, wenn das möglich war. Ich
wußte, der Dschungel war unser starker Punkt. Wenn
wir geschickt zu Werk gingen, würde er für Darraco
zur tödlichen Falle werden.
Larkin und die Wolkenreiter. Auf Feinde wie diese
mußte ich mich einstellen. Eine Horde von Männern,
die den Kampf zu ihrem Tagewerk gemacht hatten.
Piraten der Luft und des Landes.
Eines war klar: Auf einen Nahkampf durften wir
uns nicht einlassen. Gegen Schwerter vermochten die
Thaimoa nichts auszurichten. Meines war das erste, das
sie zu Gesicht bekommen hatten. Dabei waren sie
handwerklich nicht ungeschickt. Die meisten der
Dinge, die sie benützten, waren aus Holz, Ton oder
Stein hergestellt. Als Material für die Jagdwaffen
verwendeten sie hauptsächlich Bein, das sie mit Stein
bearbeitet, bis es so scharf und spitz war wie mancher
Dolch. Sie hatten messerartige Geräte zum Häuten und
Zerlegen des Wildes, Nadeln aus Bein, ebenso
Pfeilspitzen und Speerspitzen. Der Wald gab ihnen
alles, was sie brauchten. Nach Metallen hatten sie nie
gesucht. Sie brauchten sie nicht. Das Handwerk eines
Schmiedes war ihnen fremd. Wohl hatten sie meine
Waffen bewundert, wie auch die Härte des Eisens.
Aber das einzige, wozu sie sich eine solche Waffe
gewünscht hätten, wäre für den Kampf gegen die
Echsen gewesen, die gelegentlich in ihr Gebiet
einbrachen. Jene Untiere, wie mir in der vergangenen
Nacht eines begegnet war. Gegen ihre harte
Schuppenhaut waren die Knochenwaffen ziemlich
wirkungslos.
Sie hatten bisher ein sehr abgeschiedenes Leben
geführt. Das würde nun aufhören, ob sie den Kampf
gegen Darraco gewannen oder verloren. Ihr Leben
würde sich wandeln. Es wandelte sich durch meinen
Einfluß bereits ein wenig.
Seltsam war nur das goldene Amulett, das Thamai
zu zeremoniellen Anlässen trug. Es war kunstvoll
geschmiedet. Es wäre selbst am Hof von Myra ein
Prunkstück gewesen, einer edlen Dame würdig, wenn
man es dort auch als frivol empfunden hätte, den
Schmuck statt eines Kleidungsstücks zu tragen.
Ich schickte noch am selben Tag zwei
Kundschaftertrupps aus, je ein Dutzend Männer; einen
in nordöstlicher Richtung, den zweiten weiter nördlich.
Sie sollten sofort Melder zurückschicken, wenn sie auf
etwas stießen, das nach Darracos Streitmacht aussah.
Sie sollten laufend beobachten, ohne selbst etwas zu
unternehmen, ohne gesehen zu werden, und jede
Bewegung des Feindes melden.
In der Zwischenzeit bereitete ich die Thaimoa
moralisch auf den Kampf vor, und nicht nur moralisch.
Während die Frauen unter Anleitung einiger Kundiger
Blasrohre, Pfeile und Bogen herzustellen begannen und
ein Teil der Männer in den Dschungel ausschwärmte,
um die Verwandelten ins Dorf zu bringen, berief ich
eine Versammlung der Unterführer ein. Nicht im
Tempel, sondern an einem der Lagerfeuer. Ich setzte
Rylai als meinen Stellvertreter ein, dessen Befehle wie
meine zu befolgen seien. Wir besprachen eine Reihe
von Plänen, die mich in ihren Augen wohl zum
größten Feldherrn aller Zeiten machten. Aber es waren
alles Pläne von mir, die sie einen wie den anderen
begeistert aufnahmen. Mit jedem neuen Plan stieg ihre
Zuversicht. Ich sah bald, daß ich strategisch von ihnen
keine Hilfe erwarten konnte. Sie hatten noch nie gegen
einen menschlichen Feind gekämpft. Ich war ganz auf
mich allein gestellt. Das einzige, das sie mir zu bieten
hatten, war ihr Vertrauen und ihre Bereitwilligkeit zu
kämpfen.
Nun konnte sich zeigen, was ich von Partho gelernt
hatte.
6.
Obwohl ich vorhatte, den Feind im Dschungel
abzufangen und um jeden Preis vom Dorf
fernzuhalten, war ich vorsichtig genug, auch das Dorf
zu befestigen. Aber Thamai meinte, es wäre nicht gut,
sich im Dorf zur letzten Verteidigung einzurichten.
Besser wäre Vitus Teich. Denn wenn wir lange genug
aushielten, würde Vitu unseren Toten sicher ein neues
Leben gewähren. Auch könnten dort die Wunden mit
dem Lebenswasser geheilt werden.
Sie meinte, daß niemand dem Dorf nachtrauern
würde, wenn diese Barbaren es vernichteten, denn die
einfachen Hütten konnten überall im Dschungel
errichtet werden.
Das beschwor zwar die Gefahr herauf, daß der Teich
in die Hände des Feindes fiel, wenn er uns besiegte,
während er ihn sonst vielleicht gar nicht entdeckt hätte,
aber es bot uns auch viele Vorteile.
Andererseits waren wir auf der Lichtung des Teichs
ziemlich schutzlos. Das einfachste war wohl, am
Waldrand Fallgruben auszuheben. Aber wir brauchten
eine Wand aus Stämmen, eine Palisade. Mit den
einfachen Werkzeugen der Thaimoa war das nicht
mehr rechtzeitig zu schaffen. An den Tempel, dem
einzigen Gebäude aus Stämmen, hatten sie Jahre
gebaut.
Es gab nur einen Weg. Wir mußten uns Werkzeug
vom Feind verschaffen!
Am Abend kamen drei Dutzend Verwandelte ins
Lager, das wir bereits am Teich aufgeschlagen hatten.
Ein Dutzend von ihnen waren große Menschenaffen,
wie Rylai und seine Männer gewesen waren. Sie
konnten uns sowohl bei der Arbeit als auch im Kampf
helfen. Sie waren willig genug, als sie den Grund
erfuhren. Den übrigen rieten wir, im Lager zu bleiben –
oder wenigstens in der Nähe – und einen Vorrat von
Futter anzulegen.
Die Jäger waren die halbe Nacht unterwegs. Wir
brauchten einen größeren Fleischvorrat, den die Frauen
brieten und räucherten, um ihn haltbarer zu machen.
Die Aushebung der Gruben schritt voran. Zwei
Parias kamen nachts ins Lager und blieben. Sie
verstanden worum es ging. Sie hielten sich abseits, und
langsam schwand die angelernte Furcht vor ihnen, als
die Thaimoa sahen, daß sie sich friedlich verhielten.
Am Morgen kam der erste Späher zurück. Er
meldete aufgeregt, daß sie ein gewaltiges Lager am
Waldrand entdeckt hatten, das diesem Darraco
gehören mußte. Hunderte von Männern und Frauen
lagerten dort, alle mit langen Messern bewaffnet und
mit noch längeren Speeren. Sie machten vorerst keine
Anstalten, das Lager abzubrechen. Es hatte den
Anschein, als wären sie ziemlich ausgehungert und
darauf bedacht, erst einmal ihre Mägen zu füllen, denn
die Prärie, von der sie kamen, beherbergte kein Wild.
»Hast du Wolken gesehen?« fragte ich ihn. »Waren
irgendwo in der Nähe seines Lagers Wolken?«
»Wolken?«
»Ja«, sagte ich ungeduldig. »Ich kämpfte bereits
einmal gegen einige von ihnen. Da ritten sie auf
Wolken über die Prärie.«
»Nein, Wolken konnten wir keine sehen, obwohl wir
einen guten Blick auf ihr Lager hatten.«
Ich ballte nachdenklich die Fäuste. Hatten sie sie
verloren? War das der Trick, mit dem sie hereingelegt
worden waren? Hatte vielleicht der König die Wolken
befreit?
Möglich war es. Nun verstand ich auch, warum sie
eine Gefahr für die Thaimoa bedeuteten. Sie waren zu
Fuß unterwegs. Sie mußten durch den Dschungel. Mit
den Wolken wären sie darüber hinweggeflogen.
»Sobald du ausgeruht bist, bringst du mich zum
Lager.«
Er nickte. »Laß mich etwas essen, dann können wir
gleich aufbrechen.«
Rylai wollte mit, aber er sah ein, daß er hier
gebraucht wurde. Thamai aber ließ es sich nicht
nehmen. Alle meine Warnungen vor den Gefahren
beeindruckten sie nicht. Sie wollte den Feind mit
eigenen Augen sehen.
Waren sie überhaupt unsere Feinde? dachte ich
plötzlich. Vielleicht gab es einen Weg, sich mit ihnen zu
einigen. Aber ich beschloß, mit einem Urteil zu warten,
bis ich sie gesehen hatte. Die Männer, die ich getroffen
hatte, waren ganz offenbar von der Sorte gewesen, die
sich nahm, was ihr gefiel, ohne lange um Erlaubnis zu
fragen.
Nun, ich hatte ohnehin vorgehabt, mit diesem
Darraco zu reden. Immerhin schuldete er mir noch ein
Leben.
Wenig später brachen wir auf; der Späher, einer von
Rylais Männern, Thamai und ich. Wir gönnten uns nur
eine kurze Rast und erreichten spät nachts unsere
Spähertrupps. Sie waren sehr froh, daß ich kam, denn
sie wußten nicht recht, was sie tun sollten. Einer ihrer
Männer, Erano, war den Fremden während eines
Jagdzugs in die Hände gefallen. Sie hatten ihn mit ins
Lager geschleppt.
Wir schlichen an den Waldrand, äußerst vorsichtig,
denn Darraco mußte nun wissen, daß er nicht allein
hier war. Er würde wenigstens verstärkte Wachen
aufgestellt haben.
Das Lager war wirklich beeindruckend. Gut ein
Dutzend Feuer brannten zwischen den Zelten. Es war
größer als unser Dorf. Viel größer.
Thamai schnappte überrascht nach Luft, als sie es
sah. »Dagegen sollen wir kämpfen?« flüsterte sie.
»Wir haben den Dschungel auf unserer Seite«, sagte
ich beruhigend. »Diese Männer sind gewohnt, auf
Wolken anzugreifen, zuzuschlagen und wieder zu
verschwinden. Jetzt sind sie zu Fuß. Wenn sie den
Dschungel betreten, wird es ein langer Weg für sie
werden.«
Aber ich wußte gut genug, daß der Dschungel nicht
der entscheidende Teil war, denn Larkin hatte auch in
dem wilden Dschungel jenseits der Prärie sein Leben
teuer verkauft.
»Wann haben sie Erano gefaßt?« fragte ich Mirin,
den Anführer des Spähtrupps.
»Kurz vor Sonnenuntergang, als sie von der Jagd
zurückkamen. Er bemerkte sie zu spät.«
»Seitdem habt ihr nichts von ihm gesehen?«
»Nein, und nichts gehört. Sie haben ihn ins Lager
gebracht.«
»Dann werden sie ihn ausquetschen«, sagte ich.
»Ausquetschen?« wiederholte Mirin.
»Ja. Sie werden ihn foltern, bis er ihnen sagt, was sie
wissen wollen.«
»Vitus Fluch!« entfuhr es ihm. »Er wird nichts
sagen!«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen. Es gibt
Methoden, die selbst einen Stummen zum Reden
bringen. Aber vielleicht haben sie sich noch nicht die
Zeit dazu genommen. Wir müssen versuchen, ihn so
rasch wie möglich zu befreien.«
»Aus diesem Lager? Wie stellst du dir das vor?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Sie sind hellhäutiger. Du würdest sofort auffallen«,
warnte Thamai. »Am Ende werden sie dich foltern wie
Erano.« Sie ergriff meinen Arm. »Ubali, du darfst nicht
gehen. Laß mich gehen.«
»Um Vitus willen, nein!« entfuhr es mir. »Was
wolltest du erreichen? Dann wären nur zwei
Gefangene in ihrer Hand. Oder besser drei«, fügte ich
hinzu.
»Drei?« fragte sie.
»Ja, ich«, erwiderte ich. »Mir wären dann die Hände
gebunden. Denn ich würde selbst Vitu verkaufen, um
dich wieder freizubekommen ...«
»Still«, flüsterte Mirin. »Da kommt jemand.«
Wir sahen zwei Gestalten zwischen den Zelten
hervorkommen und auf den Waldrand zugehen. Sie
kamen genau in unsere Richtung.
»Die könnten wir fangen, was meinst du?« flüsterte
ich Mirin zu.
»Ja.«
»Aber nicht töten«, warnte ich. »Nur am Schreien
hindern. Wir werden sie austauschen.«
»Guter Gedanke.«
Als sie an uns vorbeikamen, zischte ich: »Fertig?«
Wir sprangen. Ich bekam meinen gut an der Kehle
zu fassen und drückte zusammen, bevor er schreien
konnte. Ich zog ihn zu Boden und drückte ihm das
Messer an die Kehle. »Keinen Laut!«
Er gehorchte und rührte sich nicht, während ich
nach seinem Gürtel tastete und einen Dolch herauszog
und ihn Thamai zuwarf.
In diesem Augenblick erklang hinter mir ein
gurgelnder Schrei. Er brach ab.
Als ich herumfuhr, sah ich Mirin mit einem blutigen
Dolch in der Hand.
»Vitu ... vergib mir«, stammelte Mirin. »Ich rang mit
ihm ... und hatte seine Waffe plötzlich in der Faust ...
Ich ...«
»Hör auf, um Vergebung zu jammern!« herrschte ich
ihn an. »Wir werden noch eine ganze Menge von
denen ...«
Ein harter Schlag gegen den Nacken warf mich nach
vorn. Gleich darauf hörte ich Thamai spitz aufschreien.
Halb betäubt vernahm ich rasche Schritte und Brechen
im Unterholz. Und während ich noch mühsam
versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, erklang
ein erneuter Schrei.
»Thamai!« entfuhr es Mirin.
Ich kam torkelnd hoch und sah eine Bewegung vor
mir in den Büschen. Thamai tauchte auf und stürzte
auf mich zu. »Vitu sei Dank«, keuchte sie erleichtert,
als ich sie in den Armen fing. Ich schüttelte die
Benommenheit ab.
»Dir ist nichts geschehen?« murmelte ich.
»Nein. Oh, Ubali ... ich dachte, er hätte eine Waffe,
und du wärest ...«
»War wohl nur die Faust«, brummte ich. »Aber er
hat einen verdammt harten Schlag. Wir müssen hier
weg. Die müssen taub sein, wenn sie nichts gehört
haben. Außerdem ist einer entkommen ...«
»Nicht weit«, sagte Thamai.
Ich starrte sie an. »Ist er tot?«
»Ich weiß es nicht. Er stand nicht mehr auf.«
»Seht mal ...!« rief Mirin.
Flackernde Lichter kamen auf den Wald zu.
»Vitu! Sie haben uns bemerkt!« flüsterte Thamai.
»Vorwärts! In der Dunkelheit finden sie uns nicht so
leicht. Aber nicht zu den ändern, sonst kriegen sie uns
vielleicht alle.«
Mirin eilte voran. Ich schob Thamai hinter ihm her
und folgte. Der Wald war erfüllt von Rufen und
Flüchen, als sie gleich darauf die Leiche fanden. Es sah
aus, als wollten sie den Wald anzünden. Wenigstens
fünfzig Männer mußten hinter uns her sein, und sie
kamen rasch in unsere Richtung. Mit den Fackeln
fanden sie den Weg leichter als wir in der Finsternis.
Bald war klar, daß wir ihnen nicht entkommen
würden.
»Thamai, lauf weiter!« keuchte ich. »Wenn wir
Glück haben, geben sie sich mit uns zufrieden ...«
»Niemals, Ubali ... mein Liebster ... dein Schicksal ist
auch meins ...«
»Du mußt Hilfe holen, Thamai. Lauf! Dreh dich
nicht um. Lauf!«
Aufatmend sah ich, daß sie gehorchte. »Halt ein,
Mirin. Es hat keinen Zweck. Thamai hat allein die
besseren Chancen.«
Keuchend hielten wir an und sahen Thamai
zwischen den Bäumen verschwinden, als hinter uns die
ersten Verfolger auftauchten. Als sie uns stehen sahen,
hielten sie ebenfalls an und warteten, bis ein Großteil
der Verfolger zu ihnen gestoßen war. Dann kamen sie
auf uns zu.
»Wirf die Waffe weg«, flüsterte ich Mirin zu und
warf meinen Dolch auf den Boden. »Es sind zu viele
zum Kämpfen. Und ich möchte ganz gern mit Darraco
sprechen.«
Auch Mirin warf seine Waffe weg – höchst ungern,
wie ich erkennen konnte.
Wir leisteten keinen Widerstand, als sie uns
umringten. Sie hatten verwegene Gesichter, und sie
blickten uns feindselig an. »Noch ein paar von der
Sorte«, stellte einer fest. »Darraco wird verdammt
neugierig sein.«
»Velco ist tot. Wir sollten kurzen Prozeß mit ihnen
machen!«
»Dann wärest du der nächste, mit dem Darraco
kurzen Prozeß macht. Du weißt, daß er die Beute erst
sehen will, bevor er sie verteilt.« Der Sprecher grinste.
»Vielleicht verteilt er sie gerecht auf
zweihundertfünfundachtzig gleich Stücke, was meint
ihr?«
Die Bande schob uns vorwärts. Ich ahnte, daß es
nicht besonders gut um uns stand. Aber wenigstens
war Thamai in Sicherheit.
Sie stießen uns mit viel Gejohle in das hellerleuchtete
Lager. Von den Feuern starrten sie uns entgegen. Sie
sprangen auf, um genau zu sehen, was ihre Kameraden
da eingefangen hatten. Viele Gesichter waren finster,
und ich sah auch gleich warum. Man hatte inzwischen
den Toten gebracht und auf den freien Platz vor einem
der Zelte gelegt. Am nächsten Feuer saß der zweite. Er
hatte eine blutende Wunde an der Schulter, die zwei
Frauen gerade verbanden.
Wir wurden vor das Zelt gestoßen. Der Eingang
öffnete sich, und ein grobschlächtiger narbenbedeckter
Mann trat heraus. Seine tiefliegenden Augen musterten
die Szene kalt. Der dunkle Bart und das fast schwarze
schulterlange Haar ließen seine Haut heller erscheinen
als die der übrigen. Aber die Blässe mochte auch von
einer inneren Erregung herrühren, die nichts Gutes
ahnen ließ.
Ich zweifelte nicht, daß ich Darraco vor mir hatte.
Ich sah die Grausamkeit und Unbeugsamkeit in seinen
Zügen, und ich wußte, daß der Kampf unvermeidbar
war, wenn das Volk der Thaimoa überleben wollte.
Hier war einer, der zu nehmen gewohnt war – um
jeden Preis.
Die Männer in der unmittelbaren Nähe
verstummten. Ich sah, daß auch sie ihn fürchteten.
Vielleicht, dachte ich einen Augenblick lang, wäre der
Kampf zu vermeiden, wenn ich ihn tötete! Er war die
treibende Kraft hinter der ganzen Schar.
Zweihundertfünfundachtzig hatte der eine gesagt. Fast
doppelt so viele, wie wir waren. Aber er stand zu weit
weg. Ich hätte ihn nie lebend erreicht. Aber ich spürte,
daß ohne ihn dieser führerlose Haufen nur halb so
stark sein würde; ein Gedanke, an den ich mich
erinnern würde.
»Habt ihr ihn getötet?« Er deutete auf den Toten zu
seinen Füßen.
Ich zuckte die Achseln. »Er war zu unvorsichtig.«
Einen Augenblick schien es, als ob er lächelte. Dann
fixierte er uns erneut. »Wieviele seid ihr?«
»Erwartest du darauf eine Antwort, Darraco?«
erwiderte ich.
Wenn er überrascht war darüber, daß ich seinen
Namen wußte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken.
»Noch nicht«, sagte er und es klang, als ob er wüßte,
daß wir später reden würden. Das erfüllte mich mit
Unbehagen.
Er nickte Mirin zu. »Einen wie dich haben wir
bereits hier. Aber du«, wandte er sich an mich, »bist ein
anderer Vogel. Wo bist du her?«
»Ich kam aus dem Osten geflogen«, erklärte ich
nicht ohne Spott, und es war nicht einmal gelogen. »Ich
heiße Ubali, und es ist gut, wenn du es dir merkst.«
Er betrachtete mich neugierig.
»Wenn du nach Süden ziehst«, fuhr ich laut fort,
»wirst du auf elf deiner Männer stoßen, die du vermißt.
Ich habe sie erschlagen. Nur einer folgte mir in den
Dschungel der wilden Pflanzen, Larkin. Ich rettete ihm
das Leben, weil es mir klug schien, daß du mir ein
Leben schuldest. Aber am Schluß war der Dschungel
stärker.« Ich zuckte bedauernd die Schultern. Dann
fuhr ich fort: »Ich bin der Herrscher des Volkes der
Vitu-thaimoa. Ich bin gekommen, um mit dir zu
reden.«
Das hatte er offenbar nicht erwartet. Schließlich
nickte er und winkte seinen Männern. »Bringt sie ins
Zelt.«
Sie stießen uns vorwärts. Das Zelt war sehr groß.
Meine Augen brauchten einen Augenblick, um sich an
die Helligkeit zu gewöhnen, die sechs Fackeln zu
unserer Linken erzeugten. Von dort kam auch ein
Stöhnen.
»Erano!« entfuhr es Mirin.
Er war an zwei gekreuzte Holzbalken gefesselt und
offenbar nicht ganz bei Sinnen, obwohl er Mirins
Stimme vernommen zu haben schien, denn er
versuchte, den Kopf zu heben, was aber mißlang. Quer
über Brust und Bauch, hinab bis auf die Schenkel,
zogen sich tiefe Peitschennarben, die schwarz von
geronnenem Blut waren.
Ich hielt Mirin fest, als er auf ihn zueilen wollte.
»Er hat nicht viel geredet«, erklärte Darraco
ungerührt. »Aber das braucht er nun nicht mehr. Ihr
werdet an seiner Stelle meine Neugierde befriedigen.«
Er gab ein Zeichen. Einer der Männer ging zu dem
Gefesselten und stieß ihm ein Messer in die Brust.
Mirin schrie auf. »Feiger Mörder!« Er wollte mit
geballten Fäusten auf Darraco los, und der Mann hinter
ihm hob seine Klinge zum Stoß in den Rücken. Aber
ich riß Mirin zurück. Dieser feige, sinnlose Mord war
mir selbst an die Nieren gegangen, und ich mußte an
mich halten.
»Geduld«, sagte ich zu Mirin. »Er weiß noch nicht,
daß er für alles bezahlen wird.«
Das beeindruckte Darraco indes nicht. Mit einem
spöttischen Lächeln deutete er auf eine Bank. »Setzt
euch, Majestät«, meinte er höhnisch. Dann sahen wir
stumm zu, wie sie den toten Erano losbanden und aus
dem Zelt schafften. Mirin starrte zähneknirschend auf
die Männer.
Erneut winkte Darraco. Die Männer ergriffen Mirin
und banden den sich heftig Wehrenden an das Kreuz.
Ein Riese von einem Mann trat mit einer Peitsche vor.
»Na, Moltos«, meinte Darraco. »Wirst du mit ihm
besser zurechtkommen?«
Der Riese holte aus und schlug zu.
Mirin schrie nicht. Er stöhnte nicht einmal. Diese Art
von Gewalt und Schmerz war für ihn völlig
unbegreiflich. Er sog Luft ein, und seine Augen
wurden weit. Seine Muskeln spannten sich einen
Moment.
Moltos zuckte die Achseln. »Wird nicht viel besser
sein mit ihm«, sagte er und beobachtete Mirins Haut,
aus der Blut zu sickern begann.
Ich versuchte unbeteiligt zu wirken.
»Nun, Majestät«, meinte Darraco, »berührt euch das
Schicksal eurer Untertanen nicht?«
»Der einzelne bedeutet nichts«, erklärte ich mit
gespielter Gleichgültigkeit. »Es wäre mir recht, wenn
wir jetzt endlich mit Vernunft reden könnten ... ohne
diesen Pöbel und ohne diesen primitiven Spektakel.«
Dabei deutete ich um mich. Dann fuhr ich fort: »Der
Dschungel ist das Reich meines Volkes. Ich kam, um
dir folgendes zu sagen, Darraco: Ziehst du nach
Nordwesten, so magst du in Frieden gehen. Ziehst du
nach Süden zur Küste, so magst du auch in Frieden
gehen. Setzt du aber den Fuß in diesen Teil des
Dschungels, so wirst du jeden Schritt mit Blut
bezahlen.«
Einen Augenblick funkelte er mich wütend an, dann
hatte er sich wieder in der Gewalt. »Interessant«, stellte
er spöttisch fest. »Deines wird in jedem Fall
mitfließen.«
»Wie ich schon sagte, der einzelne bedeutet nichts.«
Er schien bereit, das zu glauben. Vielleicht hätte er
meine Gleichgültigkeit nur für gespielt gehalten, aber
erst Eranos und nun Mirins stumme Duldung der
Folter ließ ihn ahnen, daß er so nicht zum Ziel kommen
würde. Aber ihm, für den das Töten offenbar das Mittel
für alles gewesen war, fiel es schwer, einen anderen
Weg zu finden.
Wütend sagte er: »Ich bin müde. Schafft sie in
sicheren Gewahrsam. Ihr haftet mit eurem Kopf für sie,
ist das klar?«
Die Männer nickten nicht übermäßig erfreut.
»Wir werden morgen eine Entscheidung treffen.
Macht schon. Laßt mich allein!«
Sie banden Mirin los und fesselten ihm die Hände
auf den Rücken, mir ebenfalls, dann schoben sie uns
hinaus. Nach einem kurzen Palaver schickten sie einen
fort, der kurz darauf mit einer Axt und einem großen
Pfahl zurückkam. Sie suchten einen günstigen Platz vor
einem der Feuer aus, wo sie uns gut sehen konnten,
und schlugen den Pfahl tief in den weichen
Prärieboden. Wir mußten uns setzen und wurden
Rücken an Rücken an den Pfahl gebunden. Danach
begaben sie sich ans Feuer zurück und nahmen ihr
unterbrochenes Essen wieder auf, wobei sie
gelegentliche Blicke zu uns herüberwarfen.
Es würde eine ungemütliche Nacht werden. Aber
vorerst konnten wir gar nichts unternehmen; nur
hoffen, daß Mirins Männer sich klug verhielten.
Langsam brannten die Feuer nieder. Darraco ließ sich
nicht mehr blicken. Einmal glaubte ich am Lagerrand
einen Schrei zu vernehmen, aber es mochte auch nur
ein Laut aus dem Dschungel gewesen sein. Der
Dschungel war nachts voller Leben.
Auch einige der Männer am Feuer hoben die Köpfe
und lauschten, zuckten aber nach einem Augenblick
die Achseln. Das Lager war gut bewacht. Sie nahmen
ihr Palaver wieder auf. Lange nach Mitternacht
verschwanden schließlich auch die letzten in den
Zelten, bis auf zwei Wachtposten, die offenbar
vorhatten, die ganze Nacht mit uns zu verbringen. Es
war eine aussichtslose Lage, und ich fluchte still in
mich hinein. Mirin ging es nicht anders.
»Können wir gar nichts tun?« flüsterte er.
»Hast du Ideen?«
»Nein.«
»Warum hilft Vitu uns nicht?«
»Die Götter helfen dem, der sich selbst hilft. Noch
leben wir. Diese Stricke sind zu gut geschnürt. Kannst
du deine aufbekommen?«
»Ich habe es noch nicht versucht..«
»Bei den Göttern, Mann«, fluchte ich, »worauf
wartest du, daß Vitu erscheint und sie dir persönlich
aufknüpft?«
»Haltet den Mund!« sagte der eine Posten drohend.
Ich spürte, wie Mirin an seinen Fesseln zu arbeiten
begann, aber ich hatte wenig Hoffnung, selbst wenn sie
nur halb so gut geschnürt waren wie meine. Und
warum sollten sie nur halb so gut geschnürt sein?
Nach einer Weile gab er es keuchend auf. »Geht
nicht.«
Ich brummte zustimmend.
»Erano wird endgültig sterben, wenn wir ihn nicht
rechtzeitig zum Teich bringen.«
»Wann spätestens?«
»Morgen nacht.«
»Hast du gesehen, wohin sie ihn gebracht haben?«
»Nein.«
»Dann werden wir ihn nicht finden. Wenn sie ihn in
den Dschungel brachten, wie ich glaube, dann haben
die Ameisen nicht viel mehr als die Knochen übrig
gelassen ...«
»Von uns wird auch nicht viel mehr übrigbleiben.«
»Vielleicht«, stimmte ich zu. »Aber bis dahin halten
wir die Hände in Bewegung, daß sie nicht absterben. Es
mag der Augenblick kommen, da wir sie brauchen.«
Er gab keine Antwort, aber ich spürte gelegentlich,
wie er seine Hände kräftig drehte und wand. Der
Wachtposten direkt vor uns hatte den Kopf auf die
Knie gestützt. Es war nicht zu erkennen, ob er schlief.
Der zweite, der ein wenig abseits saß, starrte mit
müden Augen in die letzte Glut.
»Sie haben seltsame Kleider«, flüsterte Mirin nach
einer Weile. »Ich habe noch nie dergleichen gesehen.«
»Wolle und Leinen«, erklärte ich.
»Was ist das?«
»Gewebter Faden. Da kommt jemand.«
Zwei Gestalten kamen vom Lagerrand her auf die
Feuerstelle zu. Ein Mann und ein Mädchen. Das
Gesicht des Mädchens war tief im Schatten eines
Tuches. Sie ließen sich schweigend bei den anderen
beiden nieder.
»He, Masco«, sagte einer der Wachen, »du scheinst
ja mächtig in Fahrt.« Er lachte.
Masco, der Neuankömmling, warf ein paar kleine
Äste in die Glut. Grinsend erwiderte er: »Vallie ist das
beste Stück, das ich jemals erbeutete.« Er drückte das
Mädchen an sich. »Und wißt ihr, sie findet es auch
nicht übel.« Er blies in die Glut, bis kleine Flammen
hochsprangen. »Wir sind noch nicht müde. Wenn ihr
wollt, könnt ihr euch ein paar Stunden aufs Ohr legen.
Wir wecken euch, wenn wir schlafen gehen.«
»Das ist ein Wort, Masco. Aber laßt sie nicht aus den
Augen. Ich glaube, Darraco hat einiges mit denen vor.«
»Keine Angst«, meinte Masco und stieß seinen
Dolch vor sich in die Erde.
»Mir gefällt‘s nicht«, meinte der zweite
Wachtposten.
»Ah, komm schon. Wir lassen die beiden
Turteltauben allein«, sagte der erste grinsend.
Der andere zuckte die Achseln. »Na gut, es ist auch
deine Haut.« Er erhob sich ebenfalls. »Da hinten ist
noch Brennholz.« Er gähnte. »Ich bin wirklich
verdammt müde. Ich hoffe, ihr haltet es eine Weile aus.
Viel kann nicht passieren. Darraco hat die Wachen
verdoppeln lassen. Sieht so aus, als ob ihm die
Fremden nicht geheuer wären.«
Damit verschwanden die beiden zwischen den
Zelten. Masco und das Mädchen saßen schweigend,
während das Feuer wieder niederbrannte. Masco
machte keine Anstalten, Holz nachzulegen. Das
Mädchen war auch von ihm weggerückt, und ich hatte
das Gefühl, daß etwas nicht ganz stimmte.
Das Mädchen kam plötzlich mit einem Dolch aus
den Falten ihres Gewandes und erhob sich, während
Masco scheinbar unbeteiligt sitzen blieb. Sie hockte sich
neben uns und schob das Tuch ein wenig zurück, so
daß ich ihr Gesicht erkennen konnte. Nur mit Mühe
konnte ich einen überraschten Ausruf zurückhalten.
»Still«, flüsterte sie.
Auch Mirin hatte sie erkannt. »Thamai«, stieß er
hervor. »Vitu sei Dank!«
»Still!« sagte sie erneut. Dann gab sie meinen Mund
frei und schnitt die Fesseln durch. »Bleibt noch sitzen,
bis ich fort bin. Dann folgt mir.«
»Was ist mit Masco?« fragte ich.
»Er mag hierbleiben. Er wird uns nicht verraten. Wir
haben sein Mädchen.«
»Darraco wird ihn töten«, sagte ich. »Sag ihm, daß er
mit uns kommen soll.«
Sie nickte und begab sich wieder ans Feuer,
während wir unsere Handgelenke rieben, damit das
Blut wieder durchfloß. Thamai redete auf Masco ein,
der mehrmals den Kopf schüttelte, schließlich aber
nickte. Er kam zu uns. »Garantiert ihr uns das Leben,
mir und Vallie?«
»Würden wir dich sonst mitnehmen?« erwiderte ich.
»Um mich auszufragen ...«
»Dazu würde uns auch Vallie genügen«, meinte ich.
Ich deutete auf die Axt, die nicht weit vom Feuer lag.
»Wir brauchen zwei oder drei von diesen Äxten.
Kannst du sie beschaffen?«
Er nickte nach einem Augenblick. Er wußte, er hatte
sich auf ein tödliches Spiel eingelassen, um sein
Mädchen zu retten. Auf die Äxte kam es auch nicht
mehr an. Es war gut, daß er nicht wußte, wie sehr wir
sie brauchten.
Thamai sah unruhig, daß Masco in der Dunkelheit
verschwand. Sie kam zu mir. »Was hat das zu
bedeuten? Wir müssen fort.« Ich erkannte, daß sie
Angst hatte.
Thamai brachte mir die Axt, mit der der Pfahl in die
Erde getrieben worden war.
Ich nahm sie in die Hand. Ah, es war beruhigend,
sie zu halten. »Damit werden wir uns eine Festung
bauen. Ich wünschte, wir hätten auch noch einige von
den Schwertern und Dolchen ...«
»Wir dürfen nicht mehr lange warten«, warnte sie.
»Wir haben einen der Wachtposten niedergeschlagen.
Wenn er wieder aufwacht ...«
»Du warst sehr tapfer«, sagte ich.
Einen Augenblick schmiegte sie sich an mich. Ich
wollte sie küssen, aber Mirin flüsterte plötzlich:
»Vorsicht!«
Gleich darauf hörte ich Schritte aus seiner Richtung.
Ich dachte, es wäre Masco. Sehen konnte ich nichts, da
ich mit dem Rücken zu ihm saß. Thamais Augen
wurden weit. Ich wandte mich um. Die Gestalt war in
der Dunkelheit schwer zu erkennen. Aber es war nicht
Masco, soviel war sicher. Langsam nahm ich die Hände
hinter mich, als wären sie noch gefesselt. Vielleicht sah
er die Bewegung in der Dunkelheit nicht. Aber er sah
Thamai neben uns, und er sah niemanden am Feuer.
»He, Masco«, rief er halblaut. Es war die Stimme
eines unserer Wachtposten, der offenbar nach dem
Rechten sehen wollte. Als Masco nicht antwortete,
fluchte er leise.
»Ruf ihn her«, flüsterte ich.
Thamai winkte ihm. »He ...!«
Er kam näher, ein wenig mißtrauisch. »Wo ist
Masco?«
Sie zuckte die Achseln und deutete hinter sich in die
Dunkelheit.
Er stand gleich darauf neben uns. »Siehst sie dir
wohl ganz genau an, wie?«
Sie erhob sich und ging ans Feuer zurück, dessen
schwache Glut wie ein rotes Auge in der Dunkelheit
war. Als er sich umwandte und ihr nachblickte, erhob
ich mich geräuschlos und zog ihm das flache Blatt der
Axt über den Schädel. Ein dumpfer Laut war alles. Von
ihm kam kein Geräusch. Ich hielt ihn fest, daß er nicht
zusammenklappen konnte. Das Waffengeräusch hätte
sicher jemanden geweckt. Ich begann seinen Gürtel zu
öffnen. Mirin war ebenfalls auf den Beinen.
Gemeinsam zogen wir ihn aus und nahmen ihm die
Waffen ab. Dann befahl ich Mirin, die Kleider
anzuziehen. Das war aber nicht so einfach, weil er, der
er noch nie so etwas getragen hatte, mit den
Beinkleidern nicht zurechtkam. Doch schließlich
klappte es.
Ich war heilfroh, als endlich Masco auftauchte. Er
hatte zwei Äxte bei sich. Und er wurde blaß, als er
erkannte, was sich während seiner Abwesenheit alles
zugetragen hatte. Wir ließen ihm keine Zeit, darüber
nachzudenken. Ich winkte in Richtung des Waldes.
Mirin nahm ihm eine der Äxte ab.
Thamai eilte voran, Masco hinter ihr. Ich schob
Mirin hinterher und folgte. Wir liefen geduckt
zwischen den Zelten hindurch. Thamai deutete auf
eine reglose Gestalt im Gras. Der niedergeschlagene
Posten. Ich hielt kurz an und nahm ihm Schwert und
zwei Dolche ab. Dann hatte ich Mühe, wieder
aufzuholen. Ich sah sie undeutlich ziemlich weit vor
mir laufen. Im nächsten Augenblick wäre ich fast gegen
sie geprallt.
»Posten«, zischte Masco und deutete nach vorn, wo
sich undeutlich zwei Gestalten gegen den helleren
Himmel abhoben. »Wir müssen sie umgehen.«
Das kostete uns einige Zeit, und ich war schon
reichlich unruhig. Jeden Moment erwartete ich, daß
unser zweiter Wächter auftauchte und feststellte, daß
wir verschwunden waren. Jeden Moment erwartete
ich, den Tumult hinter uns losbrechen zu hören.
Doch unangefochten erreichten wir den Waldrand.
Wir gönnten uns keine Rast. Thamai führte uns. Ihrer
Zielsicherheit nach zu schließen mußten die Männer
Mirins in der Nähe lagern. Wenig später gab Thamai
ein Zeichen. Wir hielten an. Sie lauschte und nickte.
Auf ein leises Pfeifen kam Antwort. Gleich darauf
umringten uns erleichtert grinsende Gestalten und
führten uns zu ihrem kleinen Lagerplatz. Noch jemand
war sehr erleichtert über unser Kommen – ein
schwarzhaariges Mädchen, das sich in Thamais
Lendenfell ziemlich nackt zu fühlen schien. Als sie
Masco entdeckte, sprang sie ihm mit ausgebreiteten
Armen entgegen.
Während Thamai Vallie die Kleider zurückgab,
entledigte sich auch Mirin hastig der ungewohnten
Sachen.
Er war sichtlich froh, sie loszuwerden. Die Männer
sahen ihm grinsend zu.
»Gefällt sie dir nicht, deine neue Häuptlingstracht?«
meinte einer spöttisch.
»Wir werden sie vielleicht noch brauchen«,
murmelte er und schnürte sie zusammen.
Dann zählten wir die Waffen, die wir erbeutet
hatten. Vier Dolche, zwei Schwerter, nicht gerechnet
Mascos Bewaffnung, und drei Äxte. Ganz gut für den
Anfang. Und es gab noch eine Neuigkeit: Sie hatten
Eranos Leiche gefunden. Drei Männer aus dem zweiten
Spähtrupp waren seit mehreren Stunden unterwegs,
um sie an den Teich zu schaffen.
Ich befahl Mirin, weiter jede Bewegung Darracos ins
Lager zu melden. Dann brach ich mit Thamai auf.
Masco und Vallie schlossen sich uns an. Sie wollten fort
von Darracos Lager, wo sie nur der Tod erwartete,
denn Darraco duldete kein Versagen und noch weniger
einen Verrat, auch wenn er aus der Not heraus
geschah, das Mädchen zu retten. Sie wollten nach
Süden, das Meer erreichen, ein Boot bauen und nach
Westen segeln, um die Küste zu erreichen, an der
Vallies Dorf lag.
7.
Zwei Dinge glaubte ich erkannt zu haben: Darraco
besaß tatsächlich keine Wolken mehr. Er war mit
seinen Leuten zu Fuß unterwegs, und das war für ihn
sicher eine gewaltige Umstellung. Er würde also
ziemlich hilflos sein. Und König Dragon befand sich
offenbar nicht mehr in der Gegend hier. Die Chancen
standen stark dafür, daß er sich mit einer
Wanderwolke auf den Weg gemacht hatte. Wohin?
Zum Weltentor zurück? Oder zu Danilas Stamm?
Und ich saß hier fest! Ich verdrängte den
entmutigenden Gedanken rasch. Es galt nun,
lebenswichtigere Dinge zu tun. Ich zweifelte nicht
daran, daß Darraco angreifen würde.
Vielleicht gelang es uns, ihn in die Irre zu führen.
Dieser Gedanke beschäftigte mich während des ganzen
Rückwegs. Wenn wir es klug anstellten, fand er das
Dorf gar nicht. Wir konnten ihn in Dutzende von
Hinterhalten locken.
Wir legten eine kurze Rast ein, denn Masco und
Vallie ermüdeten rascher als wir. Ich versuchte, von
Masco etwas über König Dragon zu erfahren und
bekam schließlich aus ihm heraus, daß ein Weißer mit
braunem Haar und einem sonderbaren Amulett
Darraco hereingelegt habe. Nun war alles klar. Aber
wohin der Fremde mit der Wolke Aerula-thane
verschwunden sei, das wußte auch er nicht. Bei dem
König befanden sich jedenfalls noch der einstige
Prophet Darracos, Umkathel, und seine Tochter Priapa,
sowie ein Mädchen, das mit dem Fremden gekommen
war.
Dieser Fremde habe offenbar über besondere Kräfte
verfügt, denn die riesige Wolke gehorchte ihm, ohne
daß er sie mit Speeren zu lenken brauchte.
Sie nannten sich Piraten. Piraten der Lüfte. Aber
damit war es nun vorbei, da ihnen der Fremde die
Wolken genommen hatte. Ich erfuhr auch ein wenig
über Masco selbst. Wie viele der Piraten war er als
Kind geraubt worden und dann bei ihnen geblieben.
Erst lockte ihn das abenteuerliche Leben, aber oft kam
er sich vor wie ein Gefangener. Es gab keine Flucht aus
Darracos Bande. Noch nie hatte es einer geschafft. Mit
den Wolken fanden sie sie überall und töteten sie
unbarmherzig als Verräter. Erst Vallie, Valeria, die aus
einem Dorf an der Küste geraubt wurde, hatte das
Leben wieder erträglicher gemacht. Aber Vallie war
noch nicht lange bei den Piraten, und geraubte
Mädchen gehörten, besonders während der ersten Zeit
nicht einem allein. Die beiden liebten einander, und
griffen mit beiden Händen nach der Fluchtmöglichkeit,
die sich ihnen jetzt bot.
Wir hatten Glück gehabt. Hätten wir einen von
Darracos loyalen Männern erwischt, so hätte dieser
sicherlich Thamai ins Lager gebracht und wäre
geradewegs zu Darraco mit ihr, statt uns zur Flucht zu
verhelfen. Um das Mädchen, das Mirins Männer als
Geisel festhielten, hätte er sich nicht gekümmert. Für
die meisten Piraten waren geraubte Mädchen nur
Beutestücke.
Ich war sehr froh über Mascos Einstellung. Das
machte es mir leichter, ihn gehen zu lassen, wie ich es
ihm versprochen hatte. Von ihm brauchten wir nichts
zu befürchten.
Wir erreichten das Dorf am späten Nachmittag. Da
Masco bis zum Morgen bleiben und dann weiterziehen
wollte, gaben wir ihm eine der Hütten. Von Vitus Teich
allerdings wollten wir ihn fernhalten. Das Dorf war fast
leer, aber er stellte keine Fragen. Wahrscheinlich dachte
er folgerichtig, daß die meisten als Späher oder Jäger
unterwegs waren. Auch hielt er dieses eine Dorf sicher
nicht für das einzige der Thaimoa, und ich hatte nicht
vor, ihn eines Besseren zu belehren. Ich begann ihn zu
mögen. Aber ich hatte kein Vertrauen zu ihm.
Mit Thamai begab ich mich zum Teich. Rylai war
sehr froh, uns wiederzusehen. Wir berichteten ihm,
was wir gesehen hatten und gaben ihm die Äxte und
zwei Dolche, die seinen Männern gute Werkzeuge sein
würden. Er war sehr angetan von den Äxten,
besonders, als ich ihm zeigte, wie rasch ein Stamm
damit zu fällen und von Ästen zu befreien war. Aber
ich warnte ihn davor, den Boden damit aufzugraben,
denn die Axtblätter würden sehr rasch stumpf und
schartig werden, und wir hatten nichts, um sie zu
schärfen.
Weitere Verwandelte waren eingetroffen, und
sieben Parias befanden sich im Lager, einer
furchterregender als der andere, aber friedlich und
dankbar dafür, daß niemand mehr vor Entsetzen vor
ihnen davonlief. Es fehlte noch immer ein halbes
Dutzend, wie mir Thamai versicherte, unter ihnen
Talohe, ihr Vater.
Die Fallgruben waren fast fertig und erstreckten sich
den gesamten Waldrand entlang. Sie waren noch
ungetarnt.
Ich berief eine Versammlung der Unterführer ein
und berichtete allen, was wir erlebt und gesehen
hatten, und was ich zu Darraco gesagt hatte.
Es waren ein paar bange Gesichter unter ihnen, als
sie die Zahl der Piraten vernahmen, aber alle hießen es
gut, daß ich dem Piratenführer gedroht hatte.
Dann berichtete ich ihnen meinen Plan, die Piraten,
wenn sie unsere Warnung nicht ernstnahmen, tief in
den Dschungel zu locken und sie immer wieder aus
dem Verborgenen anzugreifen, bis sie aufgaben. Wenn
alles klappte, so wie ich es mir dachte, könnte man sie
bis in das Gebiet der Echsen locken.
»Und wie stellst du dir das vor?« fragte Rylai ein
wenig zweifelnd. »Wir sind zu wenige.«
»Oh, wir werden uns auf keinen offenen Kampf
einlassen. Ich könnte mir denken, daß sie auffälligen
Spuren folgen, daß wir in den Bäumen auf sie warten
und mit einem Pfeilhagel überraschen und wieder
verschwinden, bevor sie sich davon erholt haben. Und
während sie uns verfolgen, greift ein anderer Trupp
ihre Nachhut an. Natürlich wird es Opfer geben. Kein
Kampf ist ohne Verluste zu führen und zu gewinnen.«
»Und es gibt keinen friedlichen Weg?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich fürchte nein. Und Vitu
hat es ebenfalls erkannt. Die Piraten sind immer auf
Beute aus. Aber jetzt ist es für sie nicht mehr einfach
nur ein Raubzug, jetzt sind sie von allem abgeschnitten,
vergißt er die Niederlage nicht, die er erlitten hat. Es
wird Blut fließen. Ihr habt an Erano gesehen, daß er
sinnlos Blut vergißt.«
Er nickte nachdenklich, während die Unterführer
abwarteten. Daß ich Rylais Entgegnungen zu
entkräften vermochte, ließ in ihnen sichtlich die
Vorstellung wachsen, daß ich alles reiflich überlegt
hätte. Gewiß, ich hatte es eine ganze Weile überlegt.
Aber reiflich genug?
»Was tun wir hier?« meinte Rylai.
»Wir errichten ein paar Palisaden, hinter denen man
sich verschanzen kann und Deckung findet ...«
»Palisaden ...? Was meinst du damit?«
»Wände aus Baumstämmen, ähnlich den Wänden
des Tempels. Dahinter finden die Frauen und Kinder
Schutz, und die Verwundeten und Toten, die wir dem
Teich übergeben müssen.«
»Bleibt uns soviel Zeit?«
»Ich weiß es nicht. Wenn alle mithelfen, schaffen wir
es bestimmt. Mit den Äxten wird es nicht so schwierig
sein. Wir werden nichts unternehmen, solange sie nicht
den ersten Schritt tun. Dann werden wir sie noch
einmal nachdrücklich warnen. Danach bedeutet es
Kampf.«
Er nickte bedächtig. Dann sah er mich lange an. »Ich
fürchte dich ein wenig, Ubali, Freund. Du bist so
anders als wir. Es ist soviel Bereitschaft zur Gewalt in
dir. Aber ich weiß, daß du nicht sinnlos tötest. Und es
wäre nicht Vitus Wille, daß du für die Thaimoa
kämpfst, wenn Böses in dir wäre.«
»Es liegt nicht daran, daß ich anders bin«, erwiderte
ich. »Ihr habt das Böse auch in euresgleichen. Der Tod
ist weniger grausam als das, was aus Ukandars
Händen kommt.«
Er nickte zustimmend. »Du hast recht. Verzeih
meine ... Überheblichkeit, mein Freund.«
»Wir haben alle Furcht, Rylai«, sagte ich.
8.
Als wir ins Dorf zurückkamen, dachte ich zum
erstenmal daran, daß dies meine erste geruhsame
Nacht mit Thamai sein würde – in menschlicher
Gestalt!
Vielleicht auch meine letzte. Aber es schien mir, daß
wir noch ein oder zwei Tage Zeit haben. Darraco
würde sein Lager nicht vorschnell abbrechen. Vielleicht
schickte er eine Vorhut. Das war es, was ich hoffte.
Masco und Vallie begannen sich sehr wohl im Dorf
zu fühlen. Ihre Geschichte hatte weitgehend die Runde
gemacht, und kaum einer im Dorf begegnete ihnen
feindselig. Sie hatten, wenn auch nicht ganz freiwillig,
es ermöglicht, mich und Mirin zu befreien, und der
Umstand, daß sie beide von den Piraten geraubt
worden waren, trug viel dazu bei, daß allgemein Anteil
an ihrem Schicksal genommen wurde.
Als wir abends an den Feuern saßen, wurde Masco
stürmisch gebeten, aus seinem abenteuerlichen Leben
zu erzählen, was er auch bereitwillig tat. Er spürte, daß
dies nichts mit Ausfragen über den Feind zu tun hatte,
sondern einfache Neugier auf das Unbekannte war. Er
erkannte sehr bald, daß diese Menschen noch nie aus
ihrem Dschungelreich hinausgekommen waren. Es
konnte ihm nicht verborgen bleiben, daß sie mehr oder
weniger der Vergangenheit angehörten, daß
Jahrhunderte an ihnen spurlos vorübergegangen
waren. Sie schmiedeten nicht einmal Eisen,
verwendeten Bein und Felle für Werkzeug und
Bekleidung. Aber sie waren freundlich. Seit langem
war niemand freundlich zu ihm und seinem Mädchen
gewesen. Er begann sich geborgen zu fühlen, und ich
hatte das Gefühl, daß es ihm am Morgen schwerfallen
würde, weiterzuziehen.
Er erzählte ausführlich, während alle gespannt
lauschten. Auch wir, Thamai und ich, saßen am Feuer,
und obwohl ich selbst weit herumgekommen bin,
konnte ich mich dem Bann seiner Geschichte nicht
entziehen.
Es war eine seltsame Welt, und das Leben der
fliegenden Piraten war von ungemeinem Reiz. Ich hatte
ja auch schon erkannt, wie wundersam es war, zu
fliegen, und die Welt wie einen bunten Teppich unter
sich vorbeiziehen zu sehen, mit den Bergen so groß wie
Kieselsteine und den Flüssen als kleine silberne Striche.
Thamai war es schließlich, die mich fortzog vom
Feuer. Ihre Hand war warm und lebendig in der
meinen, ihre Augen dunkel wie Vitus Teich.
Sie zog mich zwischen die Hütten hinaus auf die
Lichtung, abseits vom flackernden Schein der Feuer.
»Hier«, sagte sie plötzlich. »Das Gras ist ganz weich.
Komm, mein Liebster, laß uns den Himmel ansehen.«
»Den Himmel«, wiederholte ich verwundert. Sie
legte sich auf den Rücken, und nach einem Augenblick
tat ich es ihr gleich.
»Was bedeutet dir der Himmel?« fragte ich sie.
»Der einzige Ausweg aus diesem Wald«, seufzte sie.
»Die einzige Freiheit.«
»Und die Prärie? Hast du nie die Prärie gesehen?«
»Doch, aber sie ist so weit ... und leblos. Man ist so
schutzlos auf ihr. Es gibt nichts, wo man sich verbergen
könnte. Nein, sie ist keine Freiheit.«
»Denken alle Thaimoa so wie du?«
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Nein, sie lieben den
Dschungel. Sie träumen nicht. Du wirst fortgehen,
nicht wahr? Wenn dies alles vorüber ist?« fragte sie
unvermittelt.
Ich wandte mich ihr zu und betrachtete sie. »Ja«,
erwiderte ich. »Und ich wünschte, du würdest mit mir
kommen, Thamai.«
Sie sah mich an. »Du würdest mich mitnehmen ...?«
Ich nickte. »In meiner Heimat sagt man: Du hast
mein Herz, Gefährtin, meine Hände und meine Welt!
Was soviel bedeutet wie: wir haben einen
gemeinsamen Pfad, und mögen die Götter uns sicher
geleiten, so lange er währt ...«
Sie legte die Arme um mich, und ich wußte in
diesem Augenblick, daß ich sie niemals hier
zurücklassen würde.
»Ja, Ubali, ich möchte diesen Pfad mit dir gehen.«
»Es ist ein weiter Weg, Thamai. Er führt durch
tausend Gefahren und hat vielleicht nie ein Ende, denn
ich bin auf der Suche nach meinem König. Wir
kommen aus einer anderen Welt, und wenn es uns
gelingt, dorthin zurückzukehren, wirst du dein Volk
nicht wiedersehen. Sie werden noch leben, wenn wir
längst tot sind. Vitu wird nicht die Kraft haben, uns
dort zu beschützen, wo wir hingehen. Liebst du mich
und die Freiheit genug dafür?«
»Ja, ich liebe dich genug dafür«, flüsterte sie und zog
mich an sich.
Das Gras war warm, und die Nachtluft angenehm
kühl, wie der Wind eines großen schwarzen Fächers. Es
war etwas von einer willkommenen Geborgenheit auf
dieser Lichtung zu spüren, mit dem Geschrei der
Nachtvögel, den Geräuschen des Dschungels, dem
fernen Schein der Lagerfeuer und dem halbverwehten
Klang menschlicher Stimmen um uns.
Ich schlief schlecht den Rest der Nacht. Mirin und
seine Männer besaßen wenig Erfahrung. Alles
mögliche mochte inzwischen geschehen sein.
Bei Sonnenaufgang brach ich mit drei Dutzend
Männern auf. Ich wollte nicht länger abwarten. Ich
wollte mit eigenen Augen sehen, was geschah.
Wir begegneten am Vormittag einem Späher, der auf
dem Weg zu uns war. Mirin meldete uns, daß eine
Vorhut von dreißig Männern in den Dschungel
eingedrungen sei. Das Lager sei aber noch nicht
abgebrochen worden. Der Bote meinte, die Piraten
könnten höchstens ein oder zwei Stunden hinter ihm
sein.
Er hatte recht. Wir sahen sie eine Stunde später. Sie
schlichen vorsichtig durch den Dschungel. Wir ließen
sie an uns vorüber und folgten ihnen unbemerkt.
Als sie Rast machten, verteilte ich meine Männer im
Dickicht und gab ihnen genaue Anweisungen.
Dann trat ich zu ihnen auf den Lagerplatz. Die
Überraschung hätte nicht größer sein können. Sie
sprangen erschrocken auf. Ich zeigte ihnen meine
leeren Hände, um ihnen klarzumachen, daß ich in
Frieden kam und mit ihnen reden wollte. Ich hatte
bereits gesehen, wer der Anführer war, und wandte
mich an ihn.
»Wie lautet dein Auftrag?«
Er sah mich erstaunt und spöttisch an. »Du denkst
doch nicht, daß ich dir das auf die Nase binden werde,
Schwarzhaut ...«
»Es wäre besser«, sagte ich drohend. »Ich habe
eurem Anführer deutlich zu verstehen gegeben, daß
wir sein Eindringen in diesen Dschungel nicht
gestatten werden.«
»Nun hört euch das an«, meinte der Pirat höhnisch.
»Als ob ein Zweifel bestünde, wer hier wem etwas
gestattet. Was meint ihr, ob wir ihm seine schwarze
Haut abziehen und sehen, wie blaß er darunter ist?«
Die Männer lachten schallend.
Ich ließ mich nicht beirren. »Ihr werdet umkehren
und Darraco folgende Botschaft ...«
Er unterbrach mich. »Darraco empfängt keine
Botschaften, nur Beute. Und du scheinst mir ein recht
passables Stück, tot oder lebendig, ganz wie du willst.«
Bei diesen Worten zog er sein Schwert und hielt mir die
Klingenspitze an die Brust. »Fesselt ihn!«
Bevor die Männer aufspringen konnten, hob ich die
Hand ein wenig – das verabredete Zeichen.
Ein kurzer gefiederter Pfeil steckte plötzlich in seiner
Kehle. Der Mann sah mich erstaunt an, und seine
Gefährten stierten nicht minder überrascht auf den
Todesboten, der so lautlos gekommen war.
Dann brach er röchelnd zusammen und lag still.
Ich stand abwartend. Einer starrte mich an, weiß vor
Wut. Er riß seinen Dolch aus dem Gürtel. Mit einem
Aufschrei griff er sich an die Schulter, aus der ein Pfeil
ragte. Ein zweiter fuhr ihm in die Brust. Er brach
schreiend zusammen.
Bleich vor Entsetzen starrten mich die Männer an.
»Du kannst uns nicht alle fertigmachen, verdammte
Schwarzhaut. Und wenn wir dich erst in den Fingern
haben, wollen wir sehen, ob deine Freunde noch zu
schießen wagen. Vorwärts, Männer! Packt ihn!«
Ich rührte mich nicht, um nicht in die Schußlinie zu
geraten. Ein wahrer Hagel von Pfeilen erfüllte die Luft.
Ein Dutzend Männer ging zu Boden, andere sprangen
leicht verwundet in Deckung. Der ganze Platz war vom
Schreien und Stöhnen der Verletzten und Sterbenden
erfüllt. Ich sprang nun ebenfalls in Deckung. Es war
besser gelaufen als erwartet – und doch auch
schlechter. Ich wollte nicht töten, aber sie hatten mir
keine Wahl gelassen. Ich hoffte, daß sie wenigstens
nicht umsonst gestorben waren und daß Darraco etwas
daraus lernte.
»Ergebt euch!« rief ich. »Ihr habt keine Chance. Wir
haben euch umzingelt. Ergebt euch, oder wollt ihr, daß
noch mehr sterben?«
Einen Augenblick regte sich nichts, dann kamen sie
mit vorgestreckten, leeren Händen aus den Büschen
und standen abwartend da. Ihre braunen Gesichter
waren blaß. Sie blickten ängstlich um sich. Zwölf von
ihnen schienen unverletzt. Zwei weitere taumelten
blutüberströmt zu ihnen.
»Der erste geht nach links zwischen die Bäume«,
befahl ich und trat zwischen sie.
Der am weitesten links stand, gehorchte. Als er
zwischen den Bäumen verschwunden war, nahmen ihn
meine Männer in Empfang und fesselten ihn. Dann
schickte ich den zweiten los. Es gab keine
Zwischenfälle. Zu sehr saß ihnen der Schreck in den
Gliedern. Schließlich hatten wir sie alle
aneinandergeschnürt – bis auf einen.
»Du wirst Darraco berichten, was geschehen ist. So
wird es allen ergehen, die unser Reich betreten. Wenn
er diese Männer wiederhaben will, dann soll er
schnellstens dieses Gebiet verlassen.«
Der Mann nickte. Möglicherweise standen seine
Überlebenschancen nicht sehr gut, wenn er Darraco mit
dieser Botschaft gegenübertrat, aber das war seine
Sache. Ich gab ihm zwei meiner Männer mit, um
sicherzugehen, daß er die Meldung auch wirklich
überbrachte. Sie sollten ihn bis an das Lager
heranbringen und dann Verbindung mit Mirin
aufnehmen und ihn unterrichten.
»Was tun wir mit den Toten?«
»Wir lassen sie liegen«, sagte ich bestimmt. »Der
Dschungel wird sich um sie kümmern.
Es gefiel meinen Männern nicht, das war deutlich zu
sehen. Ich hatte sie soweit, daß sie töteten. Aber den
endgültigen Tod zu geben, davor scheuten sie zurück.
»Vitu wird uns zürnen«, meinte einer.
»Es ist in Vitus Sinn«, widersprach ich. »Wie stellt
ihr euch das überhaupt vor? Wenn ihr sie in den Teich
werft, und sie erhalten tatsächlich ein neues Leben, was
hätte sich dann wohl geändert? Selbst als Tiere wären
sie eure Feinde, und ihr müßtet sie wieder töten. Wir
haben Krieg! Wir haben ihn nicht gewollt. Wir wehren
uns nur unserer Haut. Aber diese Männer sind das
Töten gewöhnt. Sie haben nicht viel anderes getan in
ihrem Leben als Töten und Rauben, Morden und
Brennen. Wenn sie einmal dieses phantastische
Geheimnis des Teiches kennen, werden sie nicht ruhen,
bis sie ihn besitzen. Sie werden ihn sich mit Gewalt
nehmen, wie sie alles mit Gewalt genommen haben.
Ihre Zahl ist größer als unsere. Nur so können wir das
ausgleichen.«
Sie nickten schließlich zustimmend, aber mit halbem
Herzen.
»Es ist Vitus Wille«, sagte ich fest, »daß diese
Fremden von hier fortgehen oder sterben. Es ist ihre
Wahl. Diese Männer selbst müssen sie treffen.«
»Was soll mit den Gefangenen geschehen?«
»Wir nehmen sie mit. Wenn Darraco das Lager
abbricht und weiterzieht, mag er sie wiederhaben.
Wenn nicht, mag Vitu über sie entscheiden.«
Das stellte sie zufrieden.
Wir machten uns eine weitere Stunde auf den Weg
zu Mirins Versteck. Dann ließen wir die Gefangenen
unter Bewachung zurück und erreichten am späten
Mittag den Waldrand. Mirin berichtete, daß unser Bote
in Darracos Lager verschwunden war und daß sich
seither noch nichts getan hatte.
Wir beobachteten das Lager den ganzen Nachmittag,
doch es regte sich nichts. Es kamen allerdings auch
keine ihrer Jäger in den Wald. Es mußte ihnen zu
gefährlich scheinen.
Am frühen Abend beschloß ich aufzubrechen, um
eine Falle vorzubereiten, in die Mirin Darracos Männer
locken sollte, wenn sie einen neuen Vorstoß in den
Dschungel machten.
Meine Sorge um die zurückgelassenen Gefangenen
erwies sich als unbegründet. Sie waren noch alle gut
verschnürt und ein wenig von den Fliegen zerstochen,
sonst aber wohlauf. Wir schlugen ein Lager auf,
machten Feuer und versorgten uns und die
Gefangenen. Ich stellte mehrere Wachen in genügender
Entfernung auf, um rechtzeitig gewarnt zu sein, wenn
sich etwas Unvorhergesehenes ereignete.
Gegen Mitternacht kam einer von Mirins Boten und
brachte uns die beunruhigende Nachricht, daß gut
zehn Dutzend Piraten in den Dschungel eingedrungen
seien. Es wurde also Ernst. Meine Männer wirkten von
dieser Nachricht leicht mitgenommen, so daß ich
grinsen mußte. Nun begannen sie endlich die tödliche
Gefahr zu sehen, in der wir alle schwebten. Wir hatten
nicht einmal die Hälfte hier. Bei Rylai befanden sich
vielleicht noch zwei Dutzend kampffähige Männer im
Dorf.
Der Bote hatte wahrscheinlich keinen großen
Vorsprung. Wir durften keine Zeit verlieren!
Ich schickte zwei Boten ins Dorf, um Rylai zu
warnen. Es war leicht möglich, daß von uns keiner
überlebte. Ich gab mich keinen Träumen hin.
Rasch erklärte ich meinen Plan. Wir zwangen die
Gefangenen, ihre Kleider abzulegen. Dann bearbeiteten
wir ihre helle Haut mit Erde, bis sie dunkel aussah,
und gaben ihnen Felle. So setzten wir sie um das Feuer
und fesselten sie. Die herankommenden Piraten
würden erst im letzten Augenblick erkennen, daß es
ihre eigenen Leute waren. Da saßen sie schon in der
Falle. Ein Teil wenigstens.
Ich schickte den Boten zurück zu Mirin, um ihn zu
unterrichten. Den Gefangenen am Feuer machten wir
klar, daß wir sie beim geringsten verdächtigen Laut
töten würden. Einen Mann ließ ich bei ihnen. Er sollte
das Feuer von Zeit zu Zeit schüren, damit es weit zu
sehen war.
Dann teilte ich meine Männer. Ein Dutzend behielt
ich bei mir. Zu uns würden jeden Augenblick die
beiden Vorhuttrupps stoßen. Die übrigen zwei
Dutzend schickte ich dem Feind entgegen. Sie sollten
sich rechtzeitig in den Bäumen verstecken, die Piraten
vorüberziehen lassen und erst zu schießen beginnen,
wenn wir es taten, wenn also die Falle zu war. Ich
untersagte ihnen, sich auf einen Nahkampf
einzulassen. Dazu waren sie zu ungeübt. Wenn die
Lage aussichtslos wurde, sollten sie die Flucht
ergreifen. Aber auf keinen Fall in Richtung des Dorfes.
Von dort mußten wir die Piraten unter allen
Umständen fernhalten.
Während zwei Dutzend meiner Männer loszogen,
verbargen wir uns auf den Bäumen rund um das
Lager. Wril, einer von Rylais Männern blieb am Feuer.
Er würde auf mein Zeichen warten und dann
verschwinden. Zwei der Männer, die ich bei mir
behalten hatte, besaßen Bogen, die anderen hatten
Blasrohre, und ich war in dieser Lage sehr angetan von
ihrer heimtückischen Wirksamkeit. Einen der
Blasrohrschützen behielt ich bei mir. Es war ein junger
Bursche namens Saron, dessen Treffsicherheit mir
besonders aufgefallen war. Wenn kein anderes Mittel
half, wollte ich Darraco erledigen – wenn es sein
mußte, durch einen Schuß aus dem Hinterhalt. Ich war
sicher, daß dies weiteres Blutvergießen verhindern
würde. Ohne ihn würden seine Männer vielleicht
friedlich nach Nordwesten weiterziehen.
Es dauerte nicht lange, und der erste Spähtrupp
tauchte auf. Rasch verteilte ich die zwölf Männer auf
den Bäumen. Ich erfuhr, daß Mirin sich beim zweiten
Trupp befand und dafür sorgte, daß der Feind eine
deutliche Spur hatte. Er und seine Männer tauchten
kurz darauf auf. Sie waren ziemlich erschöpft. Der
Feind war dicht hinter ihnen. Zwei waren von Pfeilen
verwundet worden. Offensichtlich hatte auch Darraco
erkannt, daß er gegen einen unsichtbaren Gegner
nichts mit Schwertern ausrichten würde.
Ich schickte die Verwundeten gleich weiter ins Dorf,
wo sie sich mit dem heilenden Wasser behandeln
konnten. Mirins restliche Männer beorderte ich ein
Stück weiter, wo sie ebenfalls in den Bäumen Posten
beziehen sollten, um einzugreifen, falls dem Feind ein
Durchbruch gelang.
Kaum war Mirin verschwunden, als die Vorhut des
Feindes auftauchte. Ich gab Weril das Zeichen. Er legte
noch kräftig Holz aufs Feuer, damit wir gut Licht
hatten. Dann verschwand er.
Einer der Gefangenen wollte aufspringen, aber
meine Männer handelten rasch. Zwei Pfeile bohrten
sich ihm in die Brust, daß er ohne Laut zusammensank.
Die anderen wagten keine Bewegung.
Die Vorhut – es war in der Dunkelheit schlecht
abzuschätzen, wie viele es waren – hatte offenbar das
Feuer bemerkt und pirschte sich vorsichtig heran. Bald
konnten wir die ersten im Feuerschein ausmachen. Wir
zählten zehn, aber es waren mehr.
Was dann geschah, mußte meinen Männern mit
letzter Deutlichkeit klarmachen, daß von den Piraten
keine Gnade zu erwarten war.
Sie schlichen an das Lager heran und schöpften
keinen Verdacht. Sie vermuteten uns dort. Sie dachten
gar nicht daran, daß es ihre eigenen Männer sein
könnten. Ein Hagel von Pfeilen spickte den Lagerplatz.
Sie hatten ohne Warnung geschossen.
Keiner überlebte. Die Männer am Feuer sanken
schreiend zusammen, während die Angreifer
hinstürzten, um Überlebenden den Garaus zu machen.
Da erst merkten sie, daß sie ihre eigenen Leute
umgebracht hatten. Ein Wutgeheul ertönte, das
sicherlich die Hauptmacht warnte. Ich hoffte nur, daß
meine Männer nicht die Nerven verloren.
Dann gab ich das Zeichen zum Angriff. Ein Hagel
der kleinen tödlichen Rohrpfeile mähte die
Piratenvorhut nieder. Es geschah so lautlos und rasch,
daß die wenigen Überlebenden der ersten Salve viel zu
spät merkten, was geschah. Die zweite Salve folgte.
Dann rührte sich nichts mehr unter uns.
Ich sah, wie kurz darauf einige meiner Männer ihre
Verstecke verließen und den Toten die Waffen
abzunehmen begannen. Ich fühlte mich nicht ganz
wohl dabei. Aber nichts geschah. Die Hauptmacht
hatte sicherlich den Tumult vernommen – auf jeden
Fall aber das Geheul. Vermutlich berieten sie, was zu
tun sei. Sie würden auf eine Meldung der Vorhut
warten. Wenn die nicht kam, was würden sie dann
tun? Diese Frage quälte mich.
Eine gute Stunde geschah nichts. Dann erschien
einer von meinen Männern, die die Nachhut angreifen
sollten. Er war sehr aufgeregt.
»Wir konnten nicht angreifen«, stieß er hervor. »Wir
waren mitten unter ihnen. Sie hätten uns sofort
entdeckt. Die Hauptmacht lagerte direkt unter uns. Die
Nachhut kam dazu. Sie hatten alle das Geheul gehört
und wollten abwarten. Wir konnten alles genau hören.
Dieser Darraco vermutete sofort eine Falle. Sie müssen
etwa achtzig sein. Und ihnen ist der Dschungel nicht
geheuer. Sie wären am liebsten umgekehrt. Aber dann
lief ihnen Ukandar in die Arme ...«
»Ukandar?« entfuhr es mir. »Täuschst du dich auch
nicht?«
Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein, sicher nicht.«
»So muß er geflohen sein«, murmelte ich.
»Hör weiter zu, Ubali«, drängte er. »Sie nahmen
Ukandar nicht gefangen, sondern er ist jetzt einer der
ihren. Er behauptete, er wolle sich an seinem Volk
rächen. Wenn sie ihn in ihren Reihen aufnähmen,
würde er ihnen das Dorf zeigen, das halbleer sei. Da
nahmen sie ihn auf. Sie sind gleich aufgebrochen.«
»Dann müssen wir hinterher!« Fluchend rief ich die
Männer zusammen und erklärte ihnen die Lage. Die
gewonnenen Waffen wurden verteilt. Wir zählten mit
den Gefangenen fünfunddreißig Tote.
Aber die Übermacht war noch immer erdrückend.
Im Eilmarsch setzten wir hinterher. Nach einer
Stunde hatten wir sie knapp vor uns. Bis zum Dorf
waren es noch immer etwa drei Stunden Weg. Wir
mußten versuchen, sie zu überholen, um Ukandar zu
erledigen.
War er erst zum Schweigen gebracht, konnten wir
sie vielleicht doch noch in eine falsche Richtung locken.
Wir brauchten sehr lange, um die Piratenschar zu
überholen. Wir mußten einen weiten Bogen machen, da
die Späher links und rechts ausgefächert hatten.
Vermutlich trauten sie auch Ukandar nicht
vorbehaltlos. Aber dann endlich hatten wir sie hinter
uns und legten uns in den Hinterhalt. Ich schickte
einen weiteren Boten ins Dorf.
Die Männer wies ich an, eine Vorhut, oder
Spähertrupps ruhig durchzulassen. Die konnten Mirins
Leute hinter uns abfangen. Die Hauptmacht mußte so
auseinandergerissen werden, daß sie völlig in
Verwirrung geriet. Drei der besten Blasrohrschützen
postierte ich in meiner Nähe. Sie sollten sich um
niemanden kümmern, nur um Ukandar und Darraco.
Mir war klar, daß diese beiden nun fallen mußten,
wenn wir unser Dorf retten wollten.
Dann marschierten die ersten unter uns durch. Es
handelte sich nur um einzelne Späher. Um sie
brauchten wir uns nicht zu kümmern. Sie blickten sich
sehr mißtrauisch um und musterten die Bäume.
Vermutlich hatten sie bereits Nachricht über das
Schicksal ihrer Vorhut erhalten.
Dann kamen die ersten der Hauptmacht. Auch sie
marschierten sehr vorsichtig. Der große Haufen f
olgte – in der Mitte Ukandar und, von einem dichten
Ring aus Männern umgeben, Darraco.
Ich machte die Schützen auf ihre Ziele aufmerksam.
Sie nickten und setzten die langen Rohre an die Lippen.
Ich stieß den Vogelschrei aus, der das Angriffsignal
war. Im nächsten Augenblick war die Nacht von
Schwirren erfüllt. Schreie kamen von unten. Ich sah
befriedigt, wie Ukandar sich an den Hals griff und zu
Boden fiel. Der Mann vor Darraco taumelte zurück und
schrie gleich darauf auf, als ihn ein zweiter Pfeil traf,
aber für Darraco bestimmt gewesen war.
Darraco duckte sich tiefer und hielt den Körper des
Toten wie einen Schild über sich. Dann sprang er ins
Unterholz in Deckung wie die meisten anderen auch.
Bis auf die Toten war der Boden leergefegt.
Einige Bogen begannen zu singen, aber sie schossen
aufs Geratewohl, denn sie konnten uns in den Bäumen
kaum sehen.
Dann herrschte Stille – bis auf ein langanhaltendes
Stöhnen, das plötzlich abbrach.
In der Stille hörten wir weit hinter uns Mirins
Männer, die die Späher überfielen. Schreie, die rasch
verklangen.
Darraco mußte glauben, wir hätten uns bereits so
weit zurückgezogen. Er wußte nicht, daß wir uns
geteilt hatten. Er rief Befehle, und seine Männer
strömten aus dem Dickicht und stürmten vorwärts, um
den Spähern zu Hilfe zu kommen.
Wir bedachten sie mit einem erneuten Pfeilhagel. Es
war schwer, in der Finsternis Ziele zu finden. Das
spärliche Mondlicht zeigte nicht viel mehr als Schatten.
Dennoch kündeten zahlreiche Schmerzensschreie, daß
eine Anzahl der Pfeile traf.
Dann war wieder alles still, der Dschungel scheinbar
leergefegt.
Wir warteten reglos, während der Mond über den
Horizont sank, und der Dschungel immer finsterer
wurde. Aber bald kam die Morgendämmerung und
brachte eine neue vage Helligkeit.
Langsam wurde es Morgen.
Ich gab das Zeichen zum Rückzug. Nach und nach
verschwanden wir von unseren Bäumen. Wir hätten
Affen alle Ehre gemacht, obwohl es nicht ganz lautlos
vor sich ging. Es war ziemlich schwierig, sich in der
Dunkelheit in den Bäumen zu bewegen, noch dazu
möglichst leise. Darraco wagte sich jedenfalls nicht aus
seinem Versteck.
So schien es mir. Doch ich hatte Darraco
unterschätzt.
Er hatte ebenfalls die Dunkelheit genützt, und er
hatte unsere Absicht vorausgesehen.
9.
Wir zogen uns zurück bis zu dem Punkt, an dem ich
Mirin vermutete. Wir hatten den Boden erreicht und
bewegten uns vorsichtig weiter nach hinten. Hinter uns
war nichts zu vernehmen. Die Piraten mußten noch in
ihrer Deckung liegen.
Plötzlich stolperte ich über eine menschliche Gestalt.
Ein Toter. Er war noch warm. Und er war nackt wie
unsere Männer. Das Blasrohr neben ihm bestätigte
meine Vermutung. Hier lag einer von Mirins Männern.
Aber er konnte noch nicht lange hier liegen.
»Langsam«, flüsterte ich. »Hier stimmt etwas nicht.«
In diesem Augenblick kam ein Schrei aus dem
Unterholz zu unserer Rechten. »Ubali, eine Fal ...
aa-aahhh!«
Der Schrei brach gurgelnd ab.
Dann war alles um uns voller Gestalten.
Schreie, Keuchen, Flüche, Verwünschungen ...
Nun hatte ich das, was ich zu vermeiden gesucht
hatte: ein Handgemenge, in dem meine Männer
niedergemäht würden. Aber ich hatte keine Zeit,
darüber nachzudenken. Ich hatte mein Schwert in der
Rechten, den Dolch in der Linken und einen Baum im
Rücken. Ich sah die Gestalten vage vor mir. Meine
Klinge biß zwei oder drei, bevor ich selbst einen Stich
im Schenkel abbekam, für den mein Dolch sich rächte.
Die Dunkelheit machte alle ziemlich gleich. Sie war uns
ein guter Helfer. Gute und schlechte Fechter hatten die
gleichen Schwierigkeiten, weil sie nichts sahen. Wir
hatten eine Menge Waffen von der Vorhut erbeutet,
und rechts und links erkannte ich an den Geräuschen,
daß sie gute Verwendung fanden. Die Männer mochten
nicht viel vom Umgang mit Schwertern verstehen, aber
sie teilten kraftvolle Hiebe aus, unter denen so mancher
Pirat zu Boden ging.
Aber die Übermacht war erdrückend.
Der Jäger neben mir ging schreiend zu Boden, und
ich streckte seinen Gegner mit einem einzigen Hieb
nieder. Mein Dolch fand einen weiteren Körper in der
Finsternis, der lautlos fiel. Dann nahm ich mein
Schwert in beiden Händen und stapfte in die
angreifende Schar. Hier waren wir verloren. Die Feinde
waren vor und hinter uns.
»Wir müssen durch!« brüllte ich.
»Vorwärts. Folgt mir!«
Wenn ich gedacht hatte, von meinen Männern
wären die meisten bereits gefallen, so mußte ich erfreut
feststellen, daß mein Ruf nicht ohne Wirkung blieb. Die
Piraten bekamen keine Gelegenheit, mir in den Rücken
zu fallen. Die Thaimoa schossen auf, und unser
plötzlicher Vormarsch brachte die Reihen vor uns ins
Wanken. Sie standen einander ohnehin im Weg, aber
nun drängten die Vordersten zurück und trampelten
die hinteren nieder. Ein Tumult begann, den ich
weidlich ausnützte. Mit wütenden Schwertstreichen
nach links und rechts öffnete ich eine Gasse. Etwas
stach in meine Seite, aber ich spürte den Schmerz
kaum. Ein Schlag auf den Rücken ließ mich
vorwärtstaumeln. Es brannte wie glühendes Eisen, und
ich spürte das Blut herabrinnen. Ich fuhr herum. Der
Jäger hinter mir verschwand unter den trampelnden
Füßen, aber schon schloß der nächste auf und sprang in
die Lücke.
Wir waren nicht mehr viele, das sah ich mit diesem
kurzen Blick. Vielleicht gab es noch versprengte
Gruppen. Aber jene, die sich mir angeschlossen hatten,
waren nur noch ein halbes Dutzend. Und noch immer
ließ der Ansturm der Feinde nicht nach, obwohl sie vor
unseren Klingen niedersanken.
Die Arme ermüdeten langsam. Das erschöpfte
Keuchen meiner Gefährten sagte mir deutlich genug,
daß der Kampf für uns zu Ende ging.
Fluchend warf ich mich mit letzter Kraft vorwärts,
und die Mauer der Angreifer öffnete sich.
»Durch«, keuchte ich. »Bei allen Parias, wir sind
durch!«
»Noch nicht ganz, Schwarzhaut«, sagte eine Stimme.
Eine dunkle Gestalt trat mir in den Weg.
Darraco!
Meine Männer prallten gegen mich. Der feindliche
Sturm hatte momentan nachgelassen, als Darracos
Stimme erscholl. Aber jeden Augenblick mochten sie
vorwärtsdrängen, um uns den Todesstoß zu versetzen.
»Ring bilden!« murmelte ich.
Sie gehorchten. Es war gut, den Rücken gedeckt zu
wissen.
»Sind genug tot? Soll es unter uns beiden
ausgehandelt werden?« rief ich Darraco zu.
Er lachte. »Nein. Dazu stehen die Chancen für euch
zu schlecht.«
»Dann hast du deine noch nicht überdacht«,
erwiderte ich, aber, das beeindruckte ihn nicht.
»Genug geredet, Schwarzhaut ...«
Einer meiner Männer schrie auf, taumelte zur Seite
und fiel, mit einem Pfeil in der Brust.
»Auf den Boden!« brüllte ich. Aber ich gab den Rat
nicht für mich. Während die Männer sich fallen ließen,
schnellte ich vor und bohrte dem überraschten Darraco
die Klinge bis ans Heft in den Leib.
»Ein Leben für ein Leben!« schrie ich.
Er kippte nach hinten, und ich mit ihm, und das
Schwert bohrte sich in die Erde wie ein großer Nagel.
Ich sah, daß Darraco noch lebte, sein Schwert zu
heben versuchte und kraftlos zurücksank. Er stieß
einen markerschütternden Schrei aus – und starb.
Einen Augenblick war Totenstille.
Dann, während meine letzten vier Gefährten
aufsprangen, löste sich ein einziger Wutschrei von den
Lippen der Piraten. Sie stürmten vorwärts wie eine
Rotte wilder Bestien.
Ich riß Darraco das Schwert aus der leblosen Hand,
ließ meine Männer an mir vorbei und wich nicht
zurück, als die Piraten herankamen. Meine
Entschlossenheit bremste die vorderen gerade genug,
daß die hinteren gegen sie prallten. In dem Gedränge
zuckte meine Klinge vor und zeichnete zwei mit einem
roten Mal des Todes. Sie fielen den Nachdrängenden
vor die Füße, die stolperten und leichte Beute selbst für
meine müden Arme waren.
Doch der Ansturm war zu heftig. Ich mußte zurück.
Einer der Jäger ging neben mir zu Boden. Blieben noch
drei. Wie lange?
Es war zu eng, um das Schwert noch wirkungsvoll
zu gebrauchen, so verschaffte ich mir mit einem letzten
gewaltigen Hieb Luft und riß den Dolch aus dem
Gürtel. Ich riß einen der Gegner an mich und hielt ihn
wie einen Schild vor mich. Er schrie auf, als sich ein
halbes Dutzend Klingen in seinen Leib bohrten. Die
Klingen seiner eigenen Kameraden.
Ich ließ den Sterbenden los und wich rasch zurück.
In dieser Bewegung traf mich ein geschleuderter Dolch
mit solcher Wucht an der Schulter, daß ich hintenüber
ins Dickicht stürzte.
Während ich mich mühsam erhob, kamen sie mit
Triumphgeheul auf mich zu. Der Dolch entfiel meiner
Faust. Der Arm war wie gelähmt. Das war das Ende,
durchzuckte es mich.
Da geschah etwas Seltsames, etwas, mit dem ich am
allerwenigsten gerechnet hätte.
Die Angreifer prallten zurück wie vor einer
unsichtbaren Mauer. Sie stürzten vor meine Füße.
Kleine Blasrohrpfeile ragten aus ihren Körpern.
Aus der Dämmerung des Dschungels tauchten wie
aus einem Traum die dunklen Gestalten von Thaimoas
auf. Sie stürmten vor, auf die verblüffte Schar der
Piraten zu, setzten erneut die Rohre an den Mund.
Schreiend brach ein halbes Dutzend Piraten
zusammen. Sie waren vielleicht noch dreißig, und sie
sahen sich einer fast ebenso starken Gruppe gegenüber,
die sich nun hinter Bäumen in Deckung warf und
wieder ihre tödlichen Pfeile auf den Weg schickte.
Diese dritte Salve brach den Widerstand der Piraten
endgültig. Einen Moment war ein heilloses
Durcheinander von fliehenden und sterbenden
Männern.
Ich versuchte, den Dolch aus meiner Schulter zu
reißen. Ich schaffte es auch, dabei wurde mir schwarz
vor den Augen. Jemand fing mich.
»Sieht so aus, als wären wir gerade im rechten
Augenblick gekommen«, sagte eine vertraute Stimme.
»Rylai, dich müssen die Götter schicken«, murmelte
ich.
»Eine davon ist Thamai«, meinte er. Er ließ mich
vorsichtig zu Boden gleiten. Jetzt, da die Gefahr
vorüber schien, fühlte ich eine abgrundtiefe Schwäche.
»Bleib ruhig liegen, mein Freund«, sagte Rylai. »Du
hast viel Blut verloren. Ich komme wieder.«
Die nächsten Eindrücke waren die von Schmerzen –
und von Thamais Stimme.
Sie sagte: »Nein, Vater. Das Wasser schließt diese
Wunden nicht mehr. Sie sind zu tief. Er ist bereits zu
weit am Rand des Lebens. Nur Vitu kann ihm noch
helfen ...«
Und eine männliche Stimme, die ich nicht kannte,
sagte beruhigend: »Hab keine Angst, mein Kind, er hat
soviel für unser Volk getan. Sicher wird Vitu ihm ein
neues Leben gewähren. Ja, ich bin ganz sicher.«
»Ich hoffe es, Vater. Ich hoffe es so sehr.«
»Liebst du diesen Mann?«
»Ja, ich liebe ihn, Vater. Mein Blut für seines. Mein
Herz für seines ...«
Da kam wieder die Dunkelheit.
Schließlich dieses bereits vertraute Gefühl von
Eingeschlossensein in kalter Nässe.
Der Teich!
Und Vitus Stimme: »Es ist viel getötet worden. Der
Tod ist wie Gift in allen Herzen. Es wird lange währen,
bis es aus der Erinnerung gewaschen ist. Der Tod
kostet mich soviel Kraft. Ich bin müde, Fremder, müde
...«
Ich tauchte auf und fühlte, daß Wasser nicht mein
Lieblingselement war. Mein Körper arbeitete sich
hastig ans Ufer. Dort stand ich vor einer Menge Leute.
Oh, ihr Götter! Nein!
Ich starrte auf die großen schwarzen Pranken und
knurrte verzweifelt. Vitu, ist das dein Dank?
Ein Pantherleben für das eines Kriegers. Es war ein
Leben – mehr als Sterbliche erwarten durften! Aber in
diesem Augenblick wünschte ich, tot zu sein. Wie sollte
ich es nur ertragen? Dieses Herz, das unter dem
schwarzen Fell schlug ... es schlug für Thamai.
Sie sah mich mit erschreckten Augen an. Dann kam
sie auf mich zugelaufen und schlang die Arme um
mich.
Tierliebend waren sie hier wenigstens.
Und ich war ja nicht der einzige. Alle die Männer,
die mit mir gekämpft hatten und an meiner Seite
gefallen waren, unter ihnen auch Mirin – sie erstanden
als Verwandelte. Sie empfanden es vielleicht nicht so.
Sie waren sehr alt, nach der Zeit meiner Welt
gerechnet, vielleicht Hunderte von Jahren. Sie hatten
sicher viele solche Leben hinter sich, als Menschen und
als Verwandelte. Sie nahmen es, wie es kam. Sie
würden hier weitere Hunderte von Jahren leben. Was
bedeutete es für sie, ein paar Sommer oder Regenzeiten
als Leoparden, Gazellen, Affen, Bären zu verbringen.
Zeit bedeutete für sie sicher nicht soviel wie für mich.
Denn ich wollte keine Unsterblichkeit. Ich wollte
nicht bei lebendigem Leib hier verwesen in dieser
Einsamkeit und Abgeschiedenheit. Sie erschienen mir
im Grunde nicht glücklicher oder unglücklicher als das
Baumvolk.
Die Welt außerhalb ihres Dorfes gab es für sie nicht.
Aber für mich! Sie war meine Welt. Und sie hätte
Thamais Welt sein können. Unsere Welt. Der Pfad, den
wir gemeinsam gehen wollten.
Vielleicht sollte ich Geduld lernen. Aber wie sollte
ich Geduld haben auf der Suche nach meinem König.
Ich war ihm so nah gewesen.
Es war teuflisch, nicht sprechen zu können! Tausend
Dinge auf der Zunge zu haben und sie niemandem
sagen zu können.
Ein Mädchen zu lieben und ... ein Panther zu sein.
Eine große Beratung fand statt, was mit den toten
Piraten geschehen solle. Ihr eingefleischtes Denken ließ
gar keine andere Möglichkeit zu, als sie Vitu
anzuvertrauen. Und ich konnte ihnen nicht
einhämmern in ihre so lebensfreundlichen Schädel, daß
sie damit ihre eigenen Grabstätten errichteten.
Ich lief fauchend umher und versuchte sie
niederzubrüllen. Aber Fauchen und Brüllen sind keine
guten verständlichen Gründe. Sie erkannten zwar, daß
ich dagegen war, aber sie erklärten mir ihren
Standpunkt. Und für sie war es so viel leichter.
Man wagte zwar nicht, die Piraten mit den eigenen
Toten zusammen in den Teich zu werfen. Irgendeine
Scheu hielt sie davor zurück. Vielleicht, weil sie
fürchteten, von dem Bösen würde etwas auf sie
übergreifen. Ich hätte ihnen sagen können, daß der
ganze Teich davon vergiftet würde. Das hätten sie
vielleicht begriffen.
Aber nicht in meiner Sprache.
Talohe, Thamaias und Sibiles Vater, ein würdiger,
trotz seines jugendlichen Aussehens alt wirkender
Herr, rief mich zu sich, und Thamai stellte ihn mir
freudestrahlend vor. Die Dankbarkeit des Mannes war
ein wenig Balsam auf meine wunde Seele. Ich erfuhr,
daß alle Parias ihre menschliche Gestalt
wiederbekommen hätten und daß dies nur mit
Ukandars Tod zusammenhängen könne.
Jedenfalls war Ukandar der letzte, den sie dem Teich
übergeben würden. Sie hatten Angst, ihr altes Los
könnte wieder beginnen. Aber sie brachten es auch
nicht fertig, ihn einfach für alle Zeiten tot sein zu
lassen. In ihren Augen war es das größte Verbrechen,
und kein Haß, keine Rache, keine Furcht entschuldigte
es.
Sie waren Narren. Einfache, liebenswerte Narren.
Nur etwa zwei Dutzend der Piraten hatten den
Kampf überlebt und waren geflohen. Rylai und seine
Männer beobachteten das Lager. Die Piraten waren
noch immer eine stattliche Anzahl von fast
zweihundert, aber der größere Teil davon waren
Frauen und Kinder. Nach Darracos Tod war es wohl
auch um ihre Einigkeit nicht gut bestellt. Nein, sie
würden keinen Angriff mehr wagen. Sie würden
weiterziehen. Dies war die zweite Schlappe, die sie
erlitten hatten. Das reichte ihnen für eine Weile. Ohne
die Wolken waren sie nicht mehr als Nomaden.
Vielleicht würden sie sich irgendwo niederlassen.
Ich konnte mich durchaus mit ihnen vergleichen. Ich
hatte auch nicht viel Auswahl. Ich konnte mich hier
niederlassen und darauf hoffen, daß es vielleicht in ein
paar Jahren mit einer neuerlichen Verwandlung
klappte.
Wie lange lebte so ein Panther? Ich hatte keine
Ahnung. Es war beunruhigend.
Am Nachmittag lagen alle Leichen der Piraten vor
dem Teich. Hundertzweiunddreißig, wie mir Sibile
vorzählte. Und einer, der abseits lag – Ukandar.
Ich fragte mich, als was diese Piraten wieder
auftauchen würden. Ich hoffte, als etwas Genießbares;
etwas mit gutem, saftigem Fleisch. Ich würde
wenigstens nicht hungern.
Aber bevor sie damit beginnen konnten, die ersten
dem Teich zu übergeben, begann das Wasser unruhig
zu werden. Die glatte Oberfläche kräuselte sich. Kleine
Wellen plätscherten an das Ufer. Das war noch nie
geschehen, meinten alle, und starrten gebannt auf den
Teich. Die Luft war völlig ruhig. Der Aufruhr konnte
nur aus dem Innern, aus der unergründlichen,
dunkelgrünen Tiefe kommen.
Nur Talohe schien zu wissen, was es bedeutete.
»Vitu wird zu uns allen sprechen«, murmelte er.
Mit einemmal öffnete sich das Wasser, und ein
strahlendes Nebelgebilde tauchte daraus hervor, als
würde das Wasser kochen. Dann schwebte es eine
Manneshöhe über dem Wasser. Es war eine Gestalt,
aber dieses funkelnde Nebelkleid, das sie trug, ließ
nicht erkennen, ob sie männlich oder weiblich war. Mir
erschien sie nicht einmal menschlich.
Ein Geist – der in diesem Wasser herrschte, um
Leben zu geben. Ich hatte noch nie dergleichen
gesehen. Diese Welt mußte den Göttern näher sein, daß
sie zu den Menschen sprachen ...
Die wohlbekannte Stimme Vitus hob an zu
sprechen. Ich weiß nicht, ob sie nur in den Gedanken
war oder wirklich sprach, aber sie war so deutlich zu
vernehmen, als spräche jemand neben mir.
»Volk der Thaimoa, daß ihr das Leben so achten
wollt nach alldem, was geschehen ist, daß ihr sogar
euren Feinden diese Möglichkeit einräumen wollt, das
gibt mir Vertrauen in die Zukunft und beweist mir, daß
eure Herzen trotz aller Gewalt rein geblieben sind.
Aber dies ist ein Fluch, der vor euch liegt.« Ein
funkelnder Arm wies auf die ausgebreiteten Toten. »Ihr
Leben würde neuen Tod bedeuten, neue Gewalt, bis
schließlich doch ein Schatten auf euren Seelen wäre.
Übergebt sie nicht diesem Wasser, das in ihnen nur den
Tod wieder lebendig machen würde. Begrabt sie in der
Erde. Und vergeßt sie. Es hat sie nie gegeben. So möge
es sein. Auch Ukandar soll tot bleiben. Er hat meinen
Gesetzen zuwidergehandelt. Er hat das Leben
mißbraucht. Er ist schlimmer als sie. Er mag ihr
Schicksal teilen. Wagt es nicht, dieses Wasser des
Lebens zu beschmutzen.«
Das Schimmern verschwand. Ein Schleier von Nebel
senkte sich langsam auf das Wasser hinab und wurde
eins mit ihm.
Während die meisten anderen Verwandelten wieder in
den Dschungel hinauszogen, weil sie dieses freie Leben
gewöhnt waren, blieb ich mit Mirin im Dorf und sah
dem mühseligen Begräbnis zu. Sie verwendeten zum
Teil die Fallgruben, aber die reichten nicht.
Fast das ganze Dorf beteiligte sich an den Arbeiten.
Es war ohnehin sehr geschrumpft. Mehr als die Hälfte
der Männer waren im Kampf gefallen und hatten im
Teich ihre Gestalt verwandelt. Aber man war
zuversichtlich. Es hatte auch schon früher schwere
Zeiten wie diese gegeben, mit Plagen und Krankheiten.
Vitu würde ihre Hand über sie halten, wie sie es immer
tat – auch wenn sie sich manchmal seltsamer
Hilfsmittel bediente, wie dieses fremden schwarzen
Mannes Ubali.
Ich hätte gern gegrinst, aber es wurde nur ein
Fletschen der Zähne daraus. Es war etwas sehr
Beeindruckendes am Gleichmut und Vertrauen dieser
Menschen.
Masco und Vallie befanden sich noch immer im
Dorf. Sie wollten gerne bleiben, und das war etwas,
daß der neue Rat am nächsten Tag billigen oder
ablehnen würde.
Sie hatten alle Äußerlichkeiten abgelegt. Ihre Haut
war heller als die der Thaimoa, aber die Sonne würde
sie nach und nach bräunen. Selbst Vallie schien sich
daran gewöhnt zu haben, ohne Kleidung zu leben. Ich
konnte mir nicht vorstellen, daß sie für immer bleiben
wollten. Wer einmal das Abenteuer und die Vielfalt der
Welt gesehen hat, der vergräbt sich nicht irgendwo,
auch nicht für eine Ewigkeit.
Aber eine Weile – um zur Ruhe zu kommen, die
alten Ängste loszuwerden und Frieden zu genießen,
wie es ihn vielleicht sonst nirgends auf dieser Welt gab
(und auf allen anderen auch, wie ich glaube), ja das
war ein Geschenk der Götter für einen, den nichts
vorwärtstrieb ...
Ich beneidete sie fast ein wenig um die Möglichkeit,
einander zu lieben, die mir verwehrt war.
Aber war sie verwehrt? Die Liebe der Sinne in jedem
Fall. Ich spürte nicht den Funken einer Leidenschaft,
wenn ich Thamai ansah. Dieser schwarze
Raubtierkörper empfand es nicht. Er brauchte andere
Reize. Pantherweibchen etwa.
Aber dennoch spürte ich im Herzen, daß mich etwas
unwiderstehlich zu Thamai hinzog. Es war für mich
leichter, denn ich sah sie als das geliebte Mädchen vor
mir. Aber wie mußte es für sie sein. Sie sah nur ein
Tier.
Doch ich konnte es an ihren Blicken erkennen, daß
sie nicht aufgehört hatte, für mich zu fühlen.
Ich begab mich zu Rylais Männern, um das Lager der
Piraten zu beobachten. Sie hatten es bereits zum
Großteil abgebrochen. Es sah alles nach Aufbruch aus.
Nach hastigem Aufbruch.
Vieles würde zurückbleiben, da sie nicht alles tragen
konnten und keine Lasttiere hatten. Manches
Brauchbares würde für die Thaimoa dabei sein.
So ganz unberührt gingen sie aus diesem
Zusammentreffen nicht hervor. Neugier war in ihnen
geweckt – wie in Thamai.
Als ich am Abend des nächsten Tages ins Dorf
zurückkam, hatte das gewohnte Leben bereits
weitgehend wieder begonnen.
Talohe und seine alten Ratsmitglieder, die Ukandar
nach und nach aus dem Weg geräumt hatte, wurden
einstimmig zu den Oberhäuptern gewählt.
Masco und Vallie waren sehr glücklich, weil es
ihnen gestattet worden war, zu bleiben.
Und noch jemand war glücklich und aufgeregt.
Thamai berichtete mir freudestrahlend, daß Vitu zu
ihr gesprochen hätte.
»Vitu wird uns helfen, Ubali, mein Liebster«,
sprudelte sie nur so heraus. »Wir müssen zu ihr
kommen, dann wird sie dir deine wahre Gestalt
wiedergeben. Oh, Ubali!« Sie legte die Arme um
meinen Hals und barg ihren Kopf hinter meinen
Ohren, ein Gefühl, das sogar den Panther in mir mit
Behagen erfüllte, ganz abgesehen von der frohen
Botschaft.
»Wir müssen zur Pforte ihres inneren Reiches. Der
Weg ist sehr schwierig und voller Gefahren, und nur
wer starken Herzens ist und von Liebe erfüllt, der wird
diesen Weg finden. Wir werden ihn finden, nicht wahr,
mein Liebster? Wir werden ihn finden.«
Ja, dachte ich, das werden wir, Thamai, und wenn
wir die ganze Welt danach absuchen müßten!
ENDE
Nach Ubalis Abenteuern im Reich der Tiermenschen
blenden wir zu Dragon um. Der Atlanter, der in
Aerula-thane, der durch sein Eingreifen befreiten
Wanderwolke, zugleich einen verläßlichen
Weggenossen und ein schnelles Transportmittel
gefunden hat, verläßt Odalik und seine
Stammesgenossen schon nach kurzem Aufenthalt. Der
Grund für Dragons Aufbruch ist DAS ERBE DES
TRÄUMERS ...
DAS ERBE DES TRÄUMERS so lautet auch der
Titel des nächsten Dragon-Bandes, der ebenfalls von
Hans Kneifel geschrieben wurde.