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Im Reich der Tiermenschen

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1.

»Vernehmt Vitu, den Geist des Lebens!«

Die Stimme echote in meinem Schädel. Da waren

noch andere Stimmen, aber sie schwiegen jetzt

ehrfürchtig.

»Ich bin das Leben. Seht mich an!«

Ich schrie unwillkürlich auf. Aus der Dunkelheit um

mich kam etwas Rotes und wuchs vor meinen Augen.

Es war ein schlagendes Herz in einem Schauer dunkler

Blutstropfen.

»Nehmt es! Es schlägt durch meinen Willen!«

Es wurde größer. Es schlug wie ein riesiger Gong,

und mit jedem Schlag spürte ich, wie der rote

Lebensstrom in meine Adern floß; wie er mich wärmte

und mir Kraft gab; wie er mich aus einer

unergründlichen Tiefe emporholte.

»Es ist gut zu leben!« sagte die Stimme.

Oh, ihr Götter, wie recht sie hatte. Kraft zu fühlen.

Den jagenden Puls. Den Taumel der Sinne ...

»Bedenkt es, wenn ihr tötet!«

Es war grausam, in diesem Augenblick daran zu

denken, aber unerbittlich kamen Bilder des Sterbens,

vor denen man die Augen nicht verschließen konnte,

weil sie hinter den Augen waren – tief in der Seele.

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»Ihr, meine Freunde, habt getötet, im Rausch des

Kampfes. Aber ich verzeihe euch, weil ich weiß, daß es

Augenblicke gibt, da das Fleisch über den Verstand

triumphiert.«

Dankbarkeit war um mich. Ich wußte, daß ich nicht

allein in dieser Finsternis war. Und es war gut, nicht

allein vor dieser anklagenden Stimme zu stehen. Denn

ich hatte auch getötet. Ich erinnerte mich. Blut klebte an

meinem Schwert. Es war ein beschämendes Gefühl.

Aber dann begehrte ich auf. Ich hatte nicht um des

Tötens willen getötet, sondern im fairen Kampf, um

mich meiner Haut zu wehren.

»Du, Ubali«, sagte die Stimme, »bist nicht von

unserer Welt. Aber der Unterschied ist nicht groß, denn

das Leben ist überall in seinem Wesen gleich, im

Genuß, im Schmerz, im Geborenwerden, im Tod, in der

Erhaltung der Art. Seit du hier bist, bist du vielen

meiner Geschöpfe begegnet. Manche hast du

verstanden und sogar geliebt, andere sind dir fremd

geblieben, obwohl sie tiefer in dir waren, als je ein

anderer Mensch es sein könnte. Wieder andere hast du

getötet oder verletzt. Du hieltest sie für Tiere. Du sahst

mein Mal an ihnen, das weiße Mal meiner Gunst. Sei

nun auch du ein Tier, trage auch du mein Zeichen. Du

wirst erstaunt sein, wie gering der Unterschied

zwischen tierischem und menschlichem Leben ist. Es

wird deine Seele und dein Denken erweitern. Es sei

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dein Tribut dafür, daß du auferstehen darfst.«

Mein Kopf war plötzlich leer. Nur Dunkelheit war

um mich. Eine kühle, erstickende Dunkelheit. Wasser.

Von Furcht beflügelt, begann ich mit aller Kraft nach

oben zu tauchen.

War es ein Traum – oder Erinnerung?

Nein, kein Traum! Sie hatten meinen todwunden

Körper in den Teich geworfen.

Und ich war auferstanden, wie es die Stimme gesagt

hatte. Auferstanden in der Gestalt eines schwarzen

Panthers. Ihr Götter!

Ubali, der Panther!

Wenigstens an der Hautfarbe hatte sich nichts

geändert. Ich war höchstens noch schwärzer geworden.

Ich hatte den Panther immer bewundert – seiner

Kraft und Geschmeidigkeit wegen. Nun spürte ich sie,

diese Kraft. Doch von Geschmeidigkeit keine Spur. Wir

waren nun schon eine Weile unterwegs zum Dorf, in

das sie mich bringen wollten, aber noch immer hatte

ich Mühe, einen halbwegs raubtierhaften Gang zuwege

zu bringen. Aber das Bedürfnis, mich aufzurichten und

auf zwei Beinen zu gehen, war gewaltig. So torkelte ich

ununterbrochen und fühlte mich stark an jenen Abend

in Urgor erinnert, als der Hünentrunk mich nicht

minder unsicher auf den Beinen machte.

Auch hatte ich ständig das Bedürfnis zu reden – und

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erschrak vor meiner Stimme, die grollend und

fauchend den nächtlichen Dschungel beunruhigte.

Mit wir meine ich das dunkelhäutige Mädchen, das

ich erblickt hatte, bevor sie mich in den Teich warfen,

und das mich begrüßt hatte, als ich herauskam, und

acht Männer, die zu ihrem Stamm zu gehören

schienen.

Das Mädchen hieß Thamai. Sie war eine Priesterin

des Lebensgeistes, eine Vitu-peri. Sie erklärte mir, das

bedeute soviel wie vom Lebensgeist begünstigt. Sie

sprach sehr viel während des Weges zu ihrem Dorf. Ich

hatte Mühe, alles zu verstehen. Vieles begriff ich nicht.

Es lag auch daran, daß ich nicht immer aufmerksam

genug war, denn gleichzeitig spürte ich die Triebe

meines neuen Körpers. Meine Nase fing aufregende

Gerüche ein, wie ich sie nie im Dschungel vermutet

hätte.

»... war Vitu gnädig zu dir«, hörte ich das Mädchen

sagen. »Denn sie hat dich zu neuem Leben erwachen

lassen. Du gehörst nun zur Gemeinschaft der

Vitu-thaimoa.«

Ich grollte zustimmend. Ja, ich war sehr dankbar,

daß ich wieder lebte. Auch in dieser Gestalt. Jeden

Augenblick fühlte ich mich heimischer in meinem

gewaltigen Körper.

»Vielleicht«, fuhr das Mädchen fort, »wird Vitu dir

eines Tages auch deine Gestalt wiedergeben, so wie

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meinen Freunden hier, die du Affen wähntest ...«

Überrascht hielt ich an.

»Oh«, sagte sie. »Du wußtest es nicht. Natürlich, du

warst der letzte, der aus dem Lebensteich kam. Wie

sollst du es auch wissen.« Sie wandte sich zu den

Männern um. »Sag ihm, wer du gewesen bist, Pyrai.«

Ich wendete mich dem Mann zu, zu dem sie

gesprochen hatte. Er war der größte von ihnen, mit

kräftigen Muskeln. Seine Züge verrieten Entschlußkraft

und Mut.

Lächelnd sagte er: »Du bist ein tapferer und

geschickter Krieger gewesen, Fremder. Doch wäre ich

dir in Menschengestalt im Kampf gegenübergetreten,

hättest du nicht so leichtes Spiel gehabt ...«

Ich fauchte überrascht.

Er mißverstand den Laut. »Nimm es nicht krumm.

Wir tragen dir nichts nach. Es war ein guter Kampf,

auch wenn er Vitu nicht gefiel. Die Götter haben es

nicht immer leicht mit uns.« Er grinste freundlich, und

die anderen nickten zustimmend.

Sie waren die Affen gewesen! Wie ich jetzt, waren

sie vorher Tiere gewesen. Jetzt verstand ich ihr

Verhalten besser. Sie hatten auch das weiße Zeichen an

Kopf und Nacken gehabt. Vitus Mal! Auch der

Leopard hatte es. Und die Gazelle ...

Die Gazelle! Ich hatte sie getötet und ihr Blut

getrunken! Wenn sie auch in Wirklichkeit menschliche

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Gestalt besessen hatte, dann hatte ich menschliches

Blut getrunken. Ekel würgte mich, und mein Stöhnen

kam als Grollen aus der Kehle.

»Du erinnerst dich, nicht wahr?« sprach Thamai.

»Aber hab keine Furcht, die Vitu hat dir schon

verziehen. Du kanntest das Zeichen nicht. Jetzt trägst

du es selbst auf dem Haupt. Du mußt es achten, wo

immer du es siehst. Manchmal geschieht es auch, daß

Tiere, die sterbend in den Lebensteich fallen, in

menschlicher Gestalt auferstehen – wie diese Schlange,

die dir als Mädchen wiederbegegnet ist. Aber sie

bleiben Tiere. Ihre Gestalt bedeutet nichts. Wir haben

sie dem Teich wiedergegeben, und sie wurde wieder

die Schlange, die sie einst war. Hier ist das Dorf.

Komm, noch eine Überraschung erwartet dich.«

Das Dorf bestand aus Hütten aus den einfachen

Baustoffen, die der Wald in reichlichem Maße bot. Sie

waren jenen meines Volkes ähnlich, rund, mit

schrägen, überhängenden Dächern aus vielen

Schichten von Ästen und Laub. Aber kein Wall oder

Zaun umgab die Ansammlung der fünf oder sechs

Dutzend Hütten. Sie standen völlig frei auf einer

Lichtung und umgaben mehrere große Feuerplätze.

Dahinter aber, halb im Wald vergraben, ragte ein

größeres Gebäude über den Dorfplatz. Es war aus

großen Stämmen gefügt und besaß einen hohen Turm,

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von dem aus man wohl über das ganze Dorf blicken

konnte.

Männer, Frauen und Kinder liefen uns entgegen und

begrüßten die Männer freudig, während Thamai

berichtete. Man beobachtete mich nicht ohne Scheu,

aber auch nicht unfreundlich.

Die Nacht mußte noch jung sein, denn außer drei

großen Feuern, an denen Fleisch gebraten wurde und

mehrere dampfende Kessel hingen, brannten auch

viele Fackeln. Kaum jemand schien zu schlafen.

Während sich die Neuankömmlinge an die Feuer

begaben, um herzhaft zuzulangen und von ihren

sicherlich interessanten Erfahrungen aus ihrem

Affendasein berichteten, bat mich Thamai, ihr in eine

der Hütten zu folgen. Ich tat es gern, denn für mich

war alles ungewohnt, und ich fühlte mich plötzlich

sehr einsam unter all den fröhlichen Menschen. Ich

konnte nicht sprechen, selbst meine Gesten verstanden

sie nicht. Ich fand es unmöglich, so zu nicken oder den

Kopf zu schütteln, daß sie sicher waren, ich meinte ja

oder nein. Der Körper des Panthers war nicht gebaut

für die Gesten der Menschen. Vielleicht würde ich mit

der Zeit lernen, wie das Raubtier zu handeln, das ich

nun war. Ein wenig, kam es mir vor, fühlte ich es

bereits. Der Duft gebratenen Fleisches, der mir noch

vor wenigen Stunden als einer der schönsten

erschienen war, kümmerte mich jetzt wenig. Es

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verlangte mich nach rohem Fleisch.

Thamai schien mir nun mein einziges wirkliches

Glied zu den Menschen. Sie schien zu wissen, was ich

fühlte und welche Fragen mich quälten. Ich durfte sie

nicht verlieren. Sicher war auch Pyrai mein Freund.

Und Freunde brauchte ich. Ich war voller Lebensdrang,

aber wie ein Neugeborenes.

In der Hütte war es dunkel, aber meine Augen

gewöhnten sich rasch daran. Sie kamen mit viel

weniger Licht aus. Ein Mädchen hatte sich verschlafen

von ihrem Lager erhoben und sah mir neugierig

entgegen. Sie hatte keine Furcht vor mir. Ich dachte,

daß ein weißer Fleck auf einem schwarzen Fell

sicherlich sehr auffallend sein mußte.

Sie war noch sehr jung, aber ich sah sofort die

Ähnlichkeit mit Thamai. Ihre Augen waren lebhafter,

ihr Mund voller, aber davon abgesehen besaß sie

dieselben schönen, ebenmäßigen Züge, die kleine, ein

wenig flache Nase, das energische Kinn. Sie gefiel mir.

Dabei stellte ich mir insgeheim eine andere Frage:

nämlich die, wie mir wohl eine Panthergefährtin

gefallen würde. Aber ich hatte vorerst keine Zeit,

darüber allzu gründlich nachzudenken, denn Thamai

sagte: »Das ist Ubali, Schwester. Er war der

Unbekannte, der dich für eine gute Beute hielt. Ubali,

das ist Sibile, meine Schwester. Du erinnerst dich an

die Gazelle, die du getötet hast, nicht wahr?«

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Ich senkte grollend den Kopf.

»Du konntest es nicht wissen«, sagte das Mädchen

rasch. »Vitu hat uns gesagt, daß du ein Fremder bist.

Aus einer anderen Welt. Ich bin dir nicht gram, Ubali.

Du hast mein Blut getrunken. Das verbindet uns, und

ich fühle, daß keine Gewalt in deinem Herzen ist. Laß

uns Freunde sein.«

Ich wollte nicken, zustimmen, aber was kam, war

eine heftige Bewegung mit der Pranke, vor der ich

mich selber gefürchtet hätte. Das Mädchen kam

furchtlos zu mir, legte ihre kleine Hand auf meinen

Kopf und klopfte mich freundschaftlich auf die

Schulter.

Das war ein seltsames Gefühl. Nicht unerfreulich,

aber ich wollte, ich wäre der alte Ubali gewesen und

hätte ihr sagen können, daß ich mich über ihre

Freundschaft freute.

Die beiden Mädchen verstanden mich auch so.

Worüber ich sehr froh war.

Die Mädchen gaben mir zu verstehen, daß es sie

glücklich machen würde, wenn ich bei ihnen bliebe,

solange mir menschliche Gesellschaft angenehm wäre,

und nichts tat ich lieber. Die meisten, sagten sie, wären

früher oder später der menschlichen Gesellschaft

überdrüssig und führten ein freies Leben im

Dschungel, je mehr die tierischen Triebe

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überhandnahmen. Die meisten hätten auch Gefährten

gefunden. Und Kinder, die solchen Verbindungen

zwischen Tiermenschen entsprungen wären, hätten

immer in menschlicher Gestalt das Licht der Welt

erblickt.

Sie sagten mir allerdings auch – und sie schien die

Tatsache mehr zu bekümmern als mich im

Augenblick –, daß sie seit Jahren kein Pantherweibchen

in dieser Gegend gesehen hätten, und daß sie nichts

von einer Thaimoa-Frau wüßten, die die Gestalt eines

Panthers erhalten hätte.

Sie waren wirklich besorgt um mich. Thamai hatte

von den Affen auch mein Schwert und meinen Dolch

erhalten. Beides, zusammen mit meinem Gürtel,

bewahrte sie in der Hütte auf.

Es schien mir manchmal, während sie sprach, daß

Thamai vor etwas Angst hatte, und daß ihr mein

Schutz sehr angenehm wäre.

Hätte ich ihr nur sagen können, wie gern ich sie

beschützte!

Ich erfuhr eine ganze Menge über das Dorf. Und vor

der Hütte zu liegen, in die Feuer und die fröhlichen

Gesichter der Menschen zu starren und den Stimmen

der beiden Mädchen zu lauschen, ließ mich für eine

Weile vergessen, was mit mir geschehen war.

Einmal fiel ein dunkler Schatten über den Eingang.

Eine hohe Gestalt stand vor uns. Er begrüßte Thamai

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und ihre Schwester sehr höflich, mich aber musterte er

mit düsterem Blick.

»Das ist Ukandar, der oberste Vitu-peri. Er würde

nichts lieber sehen als mich an seiner Seite«, flüsterte

Thamai, als er gegangen war. »Aber er ist mir

unheimlich. Er ist vielen im Dorf unheimlich. Er ist

sehr mächtig. Als oberster der dreißig Vitu-peris

unseres Dorfes wird er von vielen als Günstling der

Göttin Vitu geachtet, und er versteht es, diesen

Glauben weidlich zu nutzen. Ukandar ist sehr alt. Es

gibt manche, die behaupten, er sei einer der ersten

Thaimoa, den die Göttin aus einem Stier schuf. Zum

Dank baute er ihr diesen Tempel.« Sie deutete auf das

große Gebäude am Rand des Dschungels. »Aber er ist

nicht so alt, daß die alten Legenden auf ihn zuträfen.

Mein Vater konnte sich erinnern, daß das Volk der

Vitu-thaimoa schon alt war, als Ukandar die Herrschaft

übernahm. An sich riß, pflegte mein Vater zu sagen.

Aber die solches zu erzählen wußten, sind heute nicht

mehr unter uns.«

Sie starrte sinnend in die Flammen. Ich verstand

noch immer nicht ganz, was es mit diesen Vitu-peris

auf sich hatte, in welcher Weise sie begünstigt waren.

Lebten sie länger?

Ukandar war so etwas wie ein Priester, wenn ich

Thamais Worte richtig verstand. Der oberste dazu. Ich

hatte schon viele seinesgleichen kennengelernt. Es war

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etwas Dämonisches an ihm, das vielen fanatischen

Priestern eigen war, denen ihr Amt Macht bedeutete

und einen Thron, von dem aus sie auf die Sterblichen

herabblicken konnten.

Es gefiel mir nicht, und Thamais Worte verstärkten

diesen Eindruck noch. Ich würde mich um ihn

kümmern.

Sie seufzte. »Ich bin sehr froh, daß Vitu dir neues

Leben gegeben hat. Es ist lange her, daß ein Fremder

zu unserem Volk kam. Eines Tages wirst du mir

vielleicht erzählen können, wie die Welt jenseits dieses

Dschungels aussieht.« Ihre Hand fuhr in einer

nachdenklichen Geste über mein Fell. Ein Schauer rann

meinen Rücken hinab, und ich schloß die Augen.

»Ich wünschte, ich hätte dich gefunden, statt Rylais

Horde.«

Sie schwieg, aber ihre Hand blieb auf mir ruhen. Wir

starrten in die schwatzende Menge an den Feuern, zu

der sich auch Sibile gesellt hatte.

Manchmal warfen sie Blicke zu mir herüber, in

denen Neugier lag.

Männer und Frauen gleichermaßen waren in

einfache Felle gekleidet, meist nur um die Lenden. Ich

sah keine Waffen an ihnen. Womit sie auf die Jagd

gingen, konnte ich nicht feststellen. Vielleicht hatten sie

ihre Waffen in den Hütten. Aber nach der Einfachheit

ihres Lebens zu schließen, würde ihr Handwerk nicht

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sehr ausgebildet sein. Es war möglicherweise auch

unnötig. Viele der Tiere waren Verwandelte aus ihren

Reihen. Vielleicht jagten sie auch für sie. Sicherlich aber

würden sie sie rechtzeitig vor einer Gefahr warnen.

Ungeahnte Möglichkeiten lagen in solch einem

Zusammenleben. Sicher konnten die Thaimoa es sich

leisten, so sorglos und unbewaffnet in diesem

ungeschützten Dorf am Feuer zu sitzen.

Im Dschungel meiner Heimat hätte es eine tödliche

Gefahr bedeutet.

Der Mond stand tief am Himmel. Ich sah ihn zum

erstenmal. Und noch etwas sah ich – vielleicht als

einziger von allen:

Das hohe Gebäude des Tempels warf einen dunklen

Schatten über die Menschen.

2.

Ich schlief nicht in dieser Nacht. Bis lange nach

Mitternacht lag ich vor Thamais Hütte und lauschte

den Menschen. Nur langsam und vereinzelt verließen

sie die Feuer. Schalen mit einem Getränk kreisten, das

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eine berauschende Wirkung zu haben schien, denn

einen oder zwei trugen sie in ihre Hütten. Sie stellten

auch keine Wachen auf.

Schließlich aber war alles still, die Feuer erloschen,

ebenso wie die Fackeln vor den Hütten. Nur jenseits,

aus den kleinen Fensteröffnungen des Tempels, die wie

die Schießscharten einer Burg anmuteten, drang noch

flackerndes Licht.

Ukandar schlief noch nicht.

Ich erhob mich, streckte mich gähnend, warf einen

Blick zurück in die Hütte, in der die beiden Mädchen

regelmäßig atmeten, und machte mich auf den Weg

durch das Dorf. Das Mondlicht war angenehm. Ein

Hungergefühl quälte mich. Ich wußte, daß jetzt die Zeit

für mich war, zu jagen. Aber erst wollte ich mir den

Tempel ansehen.

Der Pantherteil in mir wurde auf eine kleine

Einzäunung aufmerksam, in denen sich unruhig Tiere

bewegten. Geduckt schlich ich näher. Langsam begann

ich mich an meinen neuen Körper zu gewöhnen. Wie

lautlos er war!

Ich erreichte das Gehege und sah, daß es Ziegen

waren. Ein halbes Dutzend etwa. Ich sah sie mir genau

an. Sie trugen kein Zeichen am Kopf. Sie waren keine

Verwandelten. Dennoch unterdrückte ich meinen

Jagdinstinkt. Die Thaimoa würden es bestimmt nicht

gern sehen, wenn ich ihre Ziegen schlug, die sie mit

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Milch und Käse versorgten.

Ich zügelte meine Freßlust. Kein Wunder, daß mein

Appetit geweckt war. An den Feuern hatten sie den

ganzen Abend lang geschmaust, daß es eine Lust war,

ihnen zuzusehen. Der Berg von Fleischresten und

Knochen, den sie neben dem Feuer für mich häuften,

war gut gemeint, aber er interessierte mich nicht sehr.

Es widerstrebte mir einfach, angenagte Knochen und

Abfall zu vertilgen. Ich war kein Hund. Aber sie

schienen aus Erfahrung zu wissen, daß mich Braten

nicht mehr locken würde. Ich wollte jagen.

Vor dem Tempel standen zwei Männer Wache, was

mir seltsam vorkam. Wenn nirgends im Dorf Wachen

standen, warum dann hier? Was wollte Ukandar so

Wichtiges schützen?

Oder wollte er nur etwas verbergen?

Die Männer rührten sich nicht. Ich machte, daß ich

von der Lichtung kam, wo man mich in dieser

mondhellen Nacht schon von weitem sehen mußte.

Ob mich die beiden bereits bemerkt hatten, ließ sich

nicht feststellen. Ich hoffte nicht. Vielleicht gab es auf

der rückwärtigen Seite einen Weg, unbemerkt an den

Tempel heranzukommen. Es interessierte mich

ungemein, was in dem Gebäude vorging.

Ich verließ das Dorf. Den Drang, mich aufzurichten,

verlor ich allmählich. Mit einigen Sätzen versuchte ich

herauszufinden, wie schnell ich sein konnte. Es war

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beeindruckend. Der Dschungel lockte mit aller Macht.

Jede Faser dieses mächtigen Körpers sehnte sich nach

einem Streifzug durch den nächtlichen Wald. Nur

mühsam unterdrückte ich das Verlangen und pirschte

mich an den Tempel heran.

Das Fundament war auf Steinen errichtet, auf

mächtigen Brocken, die sie irgendwo von den Bergen

hergebracht haben mußten, denn hier war der Boden

weich. Ich konnte mich allerdings nicht entsinnen,

während meiner Wanderung über die Prärie Berge

gesehen zu haben. Vielleicht gab es sie weiter im

Norden, wo Dunst und Wolken sie dem Auge des

Wanderers verbargen.

Die Palisadenwände waren oft ausgebessert worden.

Es gab Stämme, die schienen sehr alt, andere hell und

frisch, aber viel war in der Dunkelheit nicht zu

erkennen. Mehrere kleine Fensteröffnungen waren von

flackerndem Licht erhellt. Ich hörte Stimmen, unter

ihnen Ukandars, die ich als einzige kannte.

Ich versuchte, mich an der Wand aufzurichten, und

obwohl ich immer das Bedürfnis danach gehabt hatte,

erwies es sich nun als recht schwierig. Ich wollte

vermeiden, mich mit den Pranken gegen die Wand zu

stemmen, denn es schien mir möglich, daß es drinnen

jemand hören könnte. Ich kam mir vor wie ein Hund,

der Männchen machte, und ich lachte ärgerlich. Meine

Pantherkehle verwandelte das Lachen in ein

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verräterisch lautes Knurren, das ich rasch sein ließ.

Humor war offensichtlich nicht unbedingt eine

pantherische Gefühlsregung. Es gab da ein paar Dinge,

die ich erst mal allein für mich auf einer einsamen

Lichtung ausprobieren sollte, bevor ich das ganze Dorf

in Aufruhr versetzte.

Sie schienen mein Knurren nicht gehört zu haben.

Nachdem auch nach geraumer Weile kein Kopf in einer

der Öffnungen erschien, um nachzusehen, wagte ich

mich erneut hoch. Durch die Öffnung sah ich Ukandar.

Zwei Männer standen bei ihm, mit dem Rücken zu

mir. Ich konnte sie nicht erkennen. Aber ich sah, daß

Ukandar ein kleines Gefäß in der Hand hielt, in das er

ein dunkles Pulver schüttete. Als er fertig war, wandte

er sich an die Männer:

»Er wird morgen kommen, um von Vitus Wasser zu

trinken. Tut es ihm hinein. Aber er darf nichts merken.

Er ist mißtrauisch. Er weiß, daß er der letzte ist. Er hat

Angst. Also Vorsicht.«

Die Männer nickten und verließen den Raum. Ich

ließ mich zu Boden sinken. Ich zweifelte nicht, daß ich

Zeuge eines hinterhältigen Planes geworden war.

Aber was konnte ich tun? Ich mußte sehen, wer die

beiden Männer waren. Ich konnte nicht reden und

Thamai davon erzählen. Und ich wußte nicht, auf wen

sie es abgesehen hatten. Aber wenn ich morgen in der

Nähe dieser Männer blieb und sie beobachtete, konnte

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ich vielleicht selbst noch eingreifen.

So geräuschlos wie möglich eilte ich um den Tempel

herum und starrte über den freien Platz. Von den

beiden Männern war nichts zu sehen. Auch die

Wachtposten waren verschwunden. Nur der Priester

selbst stand im Eingang seines Tempels und sah mich

kalt an.

Wußte er, daß ich ihn belauscht hatte?

Eines war mir von diesem Augenblick an klar – daß

ich einen gefährlichen Feind hatte.

Diese erste Nacht im Dschungel war ein ungeheures

Erlebnis. Ich legte alles Menschliche ab und begann

mich einzufühlen in den Körper, als wäre er schon

immer mein eigener gewesen. Ich lehnte mich

sozusagen zurück und beobachtete, wie die Reflexe

und Instinkte arbeiteten. Ich fing an zu begreifen, was

wichtig war, und welche Dinge mich nur als Mensch

interessierten, aber für mein Pantherdasein nicht von

Bedeutung waren. Ich sah den Dschungel in zwei

Bildern. Eines, das ich mir als Ubali machte, und eines,

ein tieferes, das ich als Panther gewann.

Während ich auf Beutesuche durch den Dschungel

schlich, dachte ich nicht mehr an Ukandars Plan und

das Dorf. Das konnte warten, bis ich satt zurückkam.

Jetzt war es zu gefährlich, Gedanken nachzuhängen.

Mein Verstand tat sich mit den Reflexen und Instinkten

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zusammen. Ich war kein zweifaches Wesen mehr. Ich

verschmolz.

Die Geräusche um mich waren mir vertraut. Fast

augenblicklich war mir klar, ob ein Rascheln in den

Büschen Gefahr bedeutete oder Beute oder keins von

beiden war. Ich erkannte bald, daß es sehr wenige

Gefahren für mich gab. Ich war der mächtigste. Ich war

der König dieses Dschungels. Ich nahm nicht immer

den Weg auf dem Boden, sondern kletterte über

niedrige Bäume, deren starke Äste ineinander

verwachsen waren und streckenweise ein richtiges

Stockwerk bildeten. Ich scheuchte eine Familie von

Affen auf, kleinere Tiere als Rylai und seine Männer

gewesen waren, und schlug meine erste Beute. Ich

hatte mich jedoch erst versichert, daß sie nicht Vitus

Zeichen trug.

Im Widerstreit der Gefühle verschlang ich sie bis auf

die größeren Knochen und hatte den Eindruck, daß der

Dschungel um mich den Atem anhielt bei dem weithin

knirschenden Geräusch. Das hungrige Raubtier, das ich

war, fand die Beute sehr schmackhaft. Mir war das

Ganze ein wenig zu roh und blutig, obwohl ich mich

recht gut daran erinnerte, daß ich am Tag zuvor das

Herzblut einer Gazelle getrunken hatte. Aber auch das

war unter einem inneren Zwang geschehen. Nun war

es jedoch so, daß ich mich daran gewöhnen mußte. Ich

fraß, hin und her gerissen, zwischen Ekel und

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Wohlbehagen. Ich hoffte, daß der Ekel mit der Zeit

schwinden würde, je mehr ich davon vergaß, was mir

als Mensch einst schmackhaft erschienen war. Dem

Panther in mir war jedenfalls das gebratene Fleisch

wenig reizvoll erschienen.

Der Affe hatte meinen größten Hunger gestillt, aber

ich war bei weitem noch nicht satt. Es eilte nicht mehr

so. Ich dachte sogar daran, ins Dorf zurückzukehren

und irgendeine Möglichkeit auszudenken, um Thamai

auf den Plan des Priesters hinzuweisen.

Aber auf dem halben Rückweg überwog der

Jagdtrieb wieder. Ich streunte tiefer in den Dschungel.

Einmal fing ich die Witterung eines anderen Raubtiers

auf. Ich spürte ihm nicht nach. Es war noch zu früh,

mich mit einem Rivalen zu beschäftigen. Ich fühlte

mich noch zu unsicher. Auf einer Lichtung stieß ich auf

wilde Schweine. Sie liefen nicht in blinder Angst

davon, sondern versuchten mich durch wildes,

angriffslustiges Gehabe abzuschrecken. Vielleicht hätte

der Panther tatsächlich das Weite gesucht, um

irgendwo eine leichtere Beute aufzustöbern, die ihm

weniger Mühe machte, aber ich wußte, daß es nur eine

Finte war. Und ich schnappte mir eines.

Das war schon eher eine Mahlzeit nach meinem

Geschmack.

Danach kam ich an einen Bach, in dem ich meinen

Durst stillte. Während ich halb im Wasser stand, kam

Page 22: Im Reich der Tiermenschen

mir ein Gedanke.

Wenn das Wasser des Teiches mich verwandelt

hatte, mochte es mich auch wieder zurückverwandeln.

Es war jedenfalls einen Versuch wert. Schließlich war

die Schlange auch als Mädchen auferstanden, und

hatte Thamai nicht gesagt, die hätten sie wieder dem

Wasser übergeben, wonach sie wieder eine Schlange

geworden wäre. Also was lag näher, als daß das

gleiche mit mir geschah?

Ich kannte den Weg. In meiner neuen Gestalt fand

ich es nicht schwer, mich im Dschungel zu orientieren.

Ich erreichte den Teich bald darauf. Er lag still und

verlassen in der Dunkelheit. Und er sah seltsam

verzaubert aus, denn der sternenübersäte Himmel

spiegelte sich darin und gab ihm einen Schimmer von

Helligkeit. Unwillkürlich hielt ich an. Er strömte etwas

Göttliches aus. Etwas, das Ehrfurcht forderte und

Kräfte ahnen ließ, die in dem Spiegel seiner Oberfläche

schlummerten und in seiner schwarzen Tiefe.

Wie unter einem Bann bewegte ich mich darauf zu.

Es war schwer, daran zu glauben, man könnte in dieses

Wasser steigen, und nichts würde geschehen. Ein

Dämon mußte auf den Frevler lauern. Aber ich

überwand diese Furcht, die mich immer vor allem

Magischen erfüllt hatte.

Ich stieg hinein und brach diesen Spiegel in langsam

hinauswandernde Ringe. Dann ließ ich mich sinken.

Page 23: Im Reich der Tiermenschen

Der Panther hatte wenig Freude mit diesem Bad.

Unbehagen, Ärger, Angst und eine Reihe anderer

unerfreulicher Empfindungen überfluteten mich

förmlich. Immerhin fühlte ich dabei auch, daß ich, ich

selbst blieb, daß der Panther nichts Fremdes in mir

war, das mich zu verdrängen suchte.

Sondern daß ich dieser Panther war. Ich allein. Was

mir zu schaffen machte, waren nur meine

menschlichen Erinnerungen. Erinnerungen an Gefühle,

Gewohnheiten, kleine Dinge.

In der tiefen Dunkelheit unter Wasser sprach keine

Stimme zu mir. Vitu schwieg. Ich blieb trotz meiner

protestierenden Instinkte unten, bis meine Lungen

nach Luft schrien. Dann tauchte ich noch und

durchbrach keuchend und knurrend die Oberfläche.

Es war nichts geschehen. Ich schwamm ans Ufer

und schüttelte das Wasser aus meinem Fell.

Ein Geräusch versetzte mich in höchste

Angriffsbereitschaft. Es war ein Geräusch, das mein

Raubtierinstinkt nicht sofort einordnen konnte.

Eine Gestalt kam mir über die kleine Lichtung

entgegen. In der Dunkelheit sah ich sofort den weißen

Streifen Vitus auf ihrem Schädel.

Aber es war eine höchst merkwürdige Gestalt, wie

ich sie zuvor noch nie gesehen hatte. Sie ging aufrecht

auf zwei Beinen, die fast menschlich anmuteten. Doch

diese Beine und der ganze Körper waren mit einem

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dunklen Fell bewachsen. Auch der Oberkörper wirkte

noch durchaus menschlich, und die langen behaarten

Arme endeten in Fingern, an denen statt der Nägel

Krallen wuchsen. Der mächtige Schädel aber war

furchterregend. Er besaß die scharfen Zähne eines

Wolfes. Aber das Erschreckende daran war, daß der

Rachen, die glühenden Augen, die fliehende Stirn,

selbst die spitzen Ohren trotz ihres wölfischen

Aussehens noch immer eine Spur menschlicher Züge

trugen.

Ein Knurren kam aus dem Rachen. Das Wesen ballte

seine Fäuste. Es schien mir eine hilflose Geste. Etwas

mußte während seiner Verwandlung geschehen sein,

durchzuckte es mich. Vielleicht war der Tiermensch bei

Vitu in Ungnade gefallen. Vielleicht war es die Strafe

für alle, die das Leben mißachteten.

Er konnte ebensowenig sprechen wie ich. Auch

unsere Gedanken fanden einander nicht. Wir starrten

uns nur an. Sein Blick wanderte zum Teich. Sicher

befand sich in diesem furchtbaren Körper ein Wesen,

das denken konnte, sonst hätte es wohl nicht das

Zeichen Vitus getragen. Das bewegte Wasser verriet

ihm, daß ich aus dem Teich gestiegen war.

Er schüttelte unwillig den Kopf. Dann wandte er

sich um und verschwand im Dickicht.

Eine ganze Weile starrte ich ihm in die Dunkelheit

nach, bevor ich mich, enttäuscht über meinen

Page 25: Im Reich der Tiermenschen

vergeblichen Versuch und von Unbehagen über diese

Begegnung erfüllt, auf den Weg zurück zum Dorf

machte.

Ich erreichte es, als die Morgendämmerung die

letzten Sterne verblassen ließ. Es war alles still.

Satt, aber nicht zufrieden mit meinem ersten

nächtlichen Ausflug legte ich mich vor Thamais Hütte

nieder und schloß die Augen. Ich hatte Katzen immer

ob ihrer Art zu ruhen beneidet.

Die verrücktesten Wünsche gehen manchmal in

Erfüllung.

3.

Das Dorf wurde langsam wach, als die Sonne aufging.

Eine Schar Männer und Frauen und ein halbes

Dutzend Kinder verließen die Hütten mit einfachen

Ackergeräten und begaben sich auf die kleinen Felder

jenseits des Dorfes. Die Ziegen wurden gemolken,

nachdem sie beim Anblick der ersten wachen

Bewohner ein lautes Gemecker angestimmt hatten.

Männer machten sich auf den Weg in den Dschungel.

Page 26: Im Reich der Tiermenschen

Sie hatten große Bogen bei sich und lange Stöcke, die

sie mit kleinen Pfeilen luden. Das waren also ihre

Jagdwaffen.

Sie nickten mir freundlich zu, als sie sich auf den

Weg machten, um die Fleischvorräte des Dorfes zu

ergänzen. Ich folgte ihnen ein Stück, kehrte dann aber

um. Die Beobachtung des Dorfes war nun wichtiger.

Wenn ich mich schon niemandem mitteilen konnte,

wollte ich wenigstens versuchen, soviel wie möglich zu

erfahren. Vielleicht gab mir Vitu eines Tages meine

Gestalt wieder, dann würde mir dieses Wissen von

Nutzen sein.

Als ich zurückkam, waren auch die beiden Mädchen

wach. Sie freuten sich, mich zu sehen, und meine

Freude war nicht geringer.

Thamai erklärte mir, daß sie bis zum Mittag im

Tempel zu tun habe, denn heute sei der Tag, da viele

der Alternden Vitus Trank zu sich nehmen würden,

der ihnen Kraft und Jugend gab. Das werde in

regelmäßigen Abständen getan.

Dabei fiel mir auf, daß ich tatsächlich kaum einen

alten Mann oder eine alte Frau im Dorf gesehen hatte.

Die ältesten waren in den besten Jahren. Mit dem

Trank hielten sie sich also jung.

Der Trank war das Wasser einer kleinen Quelle, die

im Innern des Tempels aus der Erde sprudelte. Das

gefiel mir gar nicht, denn diejenigen, die trinken

Page 27: Im Reich der Tiermenschen

wollten, würden sich in den Tempel begeben, und ich

hatte das Gefühl, daß es Schwierigkeiten geben würde,

was meinen Einlaß betraf. Ich hatte in dem Tempel

nichts verloren. Aber wie sollte ich Ukandars Plan

rechtzeitig durchkreuzen, wenn sie mich nicht

hineinließen.

Es blieb nur eine Hoffnung: daß Thamai mich

mitnahm und trotz aller Proteste des Oberpriesters auf

meiner Anwesenheit bestand.

Thamai erklärte mir auch, daß das Wasser des

Teiches, wenn Vitu es wollte, voll heilender Kräfte war,

daß selbst Todkranke wieder gesund geworden waren.

Ich zweifelte nicht an ihren Worten. Es war so vieles

geschehen, das wie Zauberei anmutete. Ich hatte mich

auf dem Rückweg zum Dorf so erfrischt und kraftvoll

gefühlt, daß es sicherlich nicht nur mit der Mahlzeit zu

erklären war. Das Wasser des Teiches war sehr

belebend gewesen.

Ich erfuhr, daß Thamai die einzige weibliche

Vitu-peri war, aber daß sie nicht wie alle übrigen

Priester in dem geräumigen Tempel wohnte, sondern

es vorgezogen hatte, mit den anderen Thaimoa im Dorf

zu leben. Das hatte ihr viel Zuneigung eingebracht. Die

Menschen kamen mit ihren Sorgen zu ihr, und meist

wußte sie zu helfen, während Ukandar wie ein König

herrscht und alle seine Macht fühlen ließ. Er herrschte

in Vitus Namen, und es gab viele, die ihn fürchteten.

Page 28: Im Reich der Tiermenschen

Doch sie gehorchten. Vitu war ihr Allgeist, ihre einzige

Göttin, die sehr deutlich zeigte, wie sie über das Volk

der Thaimoa wachte. Wenn etwas in ihrem Namen

geschah, dann wagte niemand, es anzuzweifeln. Wer

wußte schon etwas von den Wegen und Prüfungen der

Götter. Ukandar verstand dies wohl zu nutzen.

Als hätte sie meine stumme Frage geahnt, erklärte

mir Thamai endlich auch, warum die Vitu-peri

Begünstigte waren. Sie verwandelten sich nämlich

nicht in Tiere, wenn Vitu ihnen im Teich des Lebens ein

neues Leben gewährte.

Sie mußten alle ziemlich alt sein. Vielleicht auch

Thamai. Kein Wort war bisher noch vom Tod gefallen –

vom endgültigen Tod. Gab es ihn überhaupt? Sie

hatten nicht viel Nachwuchs. Kaum ein Dutzend

Kinder hatte ich im Dorf gesehen. Unter anderen

Gegebenheiten wäre solch ein Stamm zum Aussterben

verurteilt gewesen.

Ich hielt mich dicht an Thamais und Sibiles Seite, als

sie zum Tempel gingen.

»Du willst mit?« fragte sie verwundert am

Tempeleingang, als ich nicht von ihrer Seite wich.

Ich knurrte zustimmend.

»Ich weiß nicht, ob das gehen wird«, sagte sie

zweifelnd. »Ukandar ließ noch nie einen in Tiergestalt

in den Tempel, wenn nicht triftige Gründe vorlagen ...«

Ich schüttelte unwillig den Kopf.

Page 29: Im Reich der Tiermenschen

»Ich denke, er ist neugierig, Schwester«, warf Sibile

ein. »Er ist ein Fremder. Daß Vitu ihm noch ein Leben

gab, obwohl er gegen ihr Volk kämpfte, beweist, daß

sie ihm gut gesinnt ist. Sicher ist es auch ihr Wille, daß

er alles über uns erfährt, damit er nicht länger ein

Fremder bleibt. Nicht wahr, Ubali, du willst kein

Fremder bleiben?«

Ich knurrte erneut.

»Gut, gut«, sagte Thamai lachend. »Wir werden

Ukandar schon überzeugen. Er weiß, daß er sich

unbeliebt macht, wenn er mir einen Wunsch abschlägt.

Und er will ja meine Gunst gewinnen.«

Wir gingen ins Innere.

Der Raum war groß, fast so groß wie die

Audienzhalle in Myra, aber dunkel, denn durch die

kleinen Fensteröffnungen fiel nur spärliches Licht.

Auch die beiden Fackeln an der gegenüberliegenden

Wand vermochten ihn nicht aufzuhellen. Zwei der

Unterpriester eilten geschäftig hin und her und

schöpften Wasser aus einer leise plätschernden Quelle

in kleine Schalen und stellten sie auf einen Altartisch.

Er war aus starken Stämmen gefügt und ohne Zier,

oder Figur und dergleichen.

Der Raum war noch ziemlich leer, aber nach und

nach strömten die Dorfbewohner herein. Die beiden

Priester sahen mich unwillig an, unternahmen aber

nichts. Ein wenig später begab sich einer durch einen

Page 30: Im Reich der Tiermenschen

Fellvorhang in einen Hinterraum. Vermutlich war es

das Zimmer, das ich in der Nacht beobachtet hatte.

Aber ich mochte mich auch irren.

Der Tempel war ziemlich groß und besaß eine ganze

Anzahl Räume.

Kurz darauf erschien Ukandar selbst und musterte

mich mit demselben kalten Blick, mit dem er mich auch

des Nachts schon bedacht hatte.

Ich setzte mich.

Er deutete das ganz richtig als Geringschätzung und

Herausforderung und biß sich wütend auf die Lippen.

»Ich nehme an, du hast wichtige Gründe, ihn

hierherzubringen, Thamai«, sagte er mit mühsam

unterdrücktem Ärger.

»Es ist Vitus Wille, Ukandar«, erwiderte sie.

»Vitus Wille?« Er sah sie erstaunt an, als wollte er

sagen: Und ich weiß nichts davon? Ich, ihr oberster

Priester?

»Vitu hätte ihn nicht zu einem Thaimoa gemacht,

wenn sie nicht auch gewollt hätte, daß er mit unseren

Gebräuchen vertraut wird. Wie soll er Vitu verstehen

und danken, wenn wir ihm unser Wissen verweigern?«

erklärte das Mädchen.

Ukandar lenkte ein. »Ja, das mag sein, Thamai. Ich

vergaß, daß er ein Fremder ist. Aber du weißt, wie ich

über die Verwandelten denke. Vitu würde ihnen nicht

die Gestalt eines Tieres geben, wenn sie nicht auch

Page 31: Im Reich der Tiermenschen

wollte, daß sie ein solches Leben führen – draußen im

Dschungel, wo sie lernen und Läuterung erfahren.

Nicht hier im Dorf, wo sie nie ganz frei von allem

Menschlichen werden.« Er deutete auf mich und sagte

bestimmt: »Er mag also lernen, was es über uns zu

erfahren gibt. Aber dann wird er gehen, wie es das

Gesetz verlangt!«

»Welches Gesetz, Ukandar? Vitus? Oder deines?«

fragte Thamai nicht ohne Kälte.

Er wandte sich brüsk um und verschwand im

Hinterzimmer. Ich fragte mich, ob er fürchtete, daß ich

etwas von seinem Plan wußte. Warum war er sonst so

erpicht, mich aus dem Dorf zu haben? Vielleicht

änderte er seinen Plan. Hier in diesem stillen Raum zu

sitzen und zu grübeln, war kein sehr pantherisches

Verhalten. Es war einer jener Augenblicke, da ich

vergaß, daß ich keine menschliche Gestalt mehr hatte.

Sibile legte ihren Arm um meinen Hals. »Wir haben

gewonnen«, flüsterte sie triumphierend.

Immer mehr füllte sich der große Raum. Die

Menschen saßen in kleinen Gruppen am Boden auf

geflochtenen Binsenmatten. Manche unterhielten sich

leise, andere starrten nur einfach nach vorn zur Quelle.

Ganz vorn bildete sich ebenfalls eine Reihe von

Sitzenden. Das waren wohl diejenigen, die den Trank

einnahmen. Unter ihnen mußte sich auch das Opfer

befinden. Irgendwie mußte ich näher heran.

Page 32: Im Reich der Tiermenschen

Die Gelegenheit ergab sich, als Thamai nach vorn

ging und sich zu den Priestern gesellte. Der Beginn

stand kurz bevor, das war deutlich von allen Mienen

abzulesen. Ich folgte Thamai, und Sibile hastete hinter

uns her.

Aber es klappte nicht so gut, wie ich es mir

gewünscht hätte. Vier oder fünf Priester stellten sich

uns in den Weg. »Halt! Zurück ...!«

Thamai tat, als ob sie erst jetzt bemerkte, daß ich

gefolgt war. »Tut mir leid, Ubali«, sagte sie

entschuldigend. Weiter darfst du nicht. Sibile, bleib bei

ihm, bis ich zurück bin.«

»Gern, Schwester.«

Ich setzte mich wieder, um Thamai zu erkennen zu

geben, daß ich ihre Anordnung nicht mißachten

würde. Ich befand mich nun in der Nähe der ersten

Reihe, aber doch so weit dahinter, daß ich keines der

Gesichter sehen konnte. Ich hätte sie mir gerne

angesehen. Immerhin war ich nahe genug, daß ich den

Priestern auf die Finger sehen konnte.

Gleich darauf trat Ukandar vor die Versammelten

und hielt eine schwülstige Rede über die einfachen

Dinge, die diese Menschen bewegten.

Daß es ein gutes Jahr gewesen sei, daß Vitu ihnen

wohlgesinnt sei – und, kurz zusammengefaßt, daß das

alles mehr oder weniger sein Verdienst gewesen sei.

Das alles nahmen die Versammelten schweigend auf.

Page 33: Im Reich der Tiermenschen

Ich fragte mich, ob Ukandars Macht vielleicht auch

darin begründet war, daß er allein bestimmen konnte,

wer von dem Wunderwasser trank.

Dann erklärte Thamai der Menge meine

Anwesenheit im Dorf und auch im Tempel, und das

war sehr klug von ihr. Die Versammelten murmelten

zustimmend, während der Oberpriester wütend im

Hintergrund stand. Aber er konnte sich schlecht

darüber hinwegsetzen, daß die Menge mich vorerst in

ihrer Mitte aufgenommen hatte.

Natürlich war das letzte Wort noch nicht

gesprochen. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, daß ich

hier als Haustier aufgenommen war.

So einfach wie die Menschen waren, so ohne

äußerlichen Prunk war auch die Andacht zu Vitus

Ehren. Ein Gebet wurde gesprochen, das mir zeigte,

wie sehr die Menschen mit ihrer Lebensgöttin

verbunden waren und wie gegenwärtig sie sie in allem

fühlten, was sie taten und waren und je sein würden.

Und in meiner augenblicklichen Lage konnte ich nicht

umhin, auch ein wenig davon zu spüren.

Dann begann die Verteilung des Wassers. Vier der

Priester taten es gleichzeitig, unter ihnen Thamai.

Entmutigt ließ ich meinen Blick hin und her wandern.

Es war unmöglich, alle gleichzeitig zu beobachten.

Eigentlich waren es nur drei, denn um Thamai

Page 34: Im Reich der Tiermenschen

brauchte ich mich nicht zu kümmern.

Sie schritten jeder mit einer Schale des Wassers zu

den nun Knienden der ersten Reihe, knieten sich zu

ihnen und hielten ihnen die Schale entgegen. Diese

nahmen sie, tranken einen Schluck daraus, reichten sie

zurück, tauchten die Hände ein und wuschen damit ihr

Gesicht.

Damit war der einfache Ritus beendet, und die

Priester begaben sich an den Tisch zurück, um neue

Schalen zu holen.

Bis jetzt war nichts geschehen. Ich überlegte

verzweifelt, wie es geschehen könnte. Ich behielt auch

den Tisch im Auge, aber niemand machte sich an den

vollen Schalen zu schaffen. War das Gift bereits

drinnen? Nein, nur zwei der Priester waren

eingeweiht. Zu leicht hätte es geschehen können, daß

die Schale an den Falschen kam.

Jetzt näherten sie sich der zweiten Gruppe, und der

gleiche Ritus begann. Wiederum war nichts

Verdächtiges zu bemerken. Sechs Männer und ein

Mädchen waren noch übrig. Das Mädchen schied aus.

Sie hatten von einem Mann gesprochen.

Sie kamen auf die nächsten vier zu, welche tranken

und die Schalen zurückreichten. Als sie die Hände

eintauchten, um sie für die Waschung zu benetzen, sah

ich plötzlich an der Brust eines der Priester einen

kleinen Lederbeutel an einem Riemen baumeln. Er sah

Page 35: Im Reich der Tiermenschen

aus wie ein Amulett, darum hatte ich ihn nicht

beachtet.

Und dann sah ich mit Entsetzen, daß der Beutel

bereits offen war ...

Mit zwei Sätzen schnellte ich meinen geschmeidigen

Körper über die Sitzenden hinweg, ohne auf die Rufe

der überraschten Sibile zu achten. Ich erreichte die

Knienden und sprang den Priester an, der zurückflog

und gegen den Tisch prallte, während die Schale in

hohem Bogen gegen die Wand fiel und zerbrach. Aber

ich sah, daß es bereits zu spät war. Der Kniende, der

wie ein jung aussehender Greis wirkte, hatte bereits

getrunken und sich gewaschen.

Ein Aufschrei war durch die Menge gegangen.

Selbst Thamai starrte mich entsetzt an. In den Augen

des Knienden las ich Furcht.

Wutschnaubend stürzte Ukandar auf mich zu. Er

winkte seinen Priestern, von denen einer einen Stock

brachte und ihn drohend schwang. Offenbar hatten sie

vor, mich hinauszuprügeln. Das war kein Abgang nach

meinem Geschmack. Ich knurrte drohend und fletschte

die Zähne. Das hielt sie auf. Voller Genugtuung sah ich

die Furcht in ihren Augen. Nur Ukandar konnte sich

vor Wut kaum beherrschen.

»Thamai!« drohte er. »Er hat den Tempel entweiht!

Bring ihn hinaus, bevor ein Unglück geschieht ...!«

Dabei starrte er mich haßerfüllt an. Aber ich glaubte,

Page 36: Im Reich der Tiermenschen

Triumph in seinen Augen zu sehen – was mich in

meiner Meinung bestärkte, daß ich bereits zu spät

gekommen war.

»Bitte, geh hinaus, Ubali«, sagte Thamai traurig. Ich

sah, daß sie nicht begriff, was geschehen war. Aber ich

entdeckte Verwunderung in ihrem Gesicht, als sie sich

dem Knienden zuwandte.

Auch ich sah ihn mir an, bevor ich mich in

Bewegung setzte. An ihm hatte sich nichts verändert.

Nur seine Furcht war größer geworden.

Die Versammelten machten mir rasch Platz, als ich

hinauslief. In ihren Mienen war Erstaunen. Wie konnte

ein Fremder so undankbar sein und ihre Andacht

stören!

Im Freien schüttelte ich mich. Ich war froh, all den

starrenden Augen entkommen zu sein.

»Ubali!«

Sibile eilte hinter mir her. »Ubali! Was hast du dir

dabei gedacht? Nun sind alle böse auf dich. Und auf

Thamai auch! Was war nur los? Ausgerechnet während

Onkel Thanas an der Reihe war ...!«

Ich gab mich zerknirscht und hoffte, daß es auch

einem Panther möglich war, zerknirscht auszusehen.

Aber meine Gedanken beschäftigten sich mit dieser

Neuigkeit. Ihr Onkel also! Sagte Thamai nicht, daß

auch ihrem Vater etwas zugestoßen wäre? Und

Ukandar hatte gesagt, er wäre der letzte. Der letzte ...

Page 37: Im Reich der Tiermenschen

wovon?

Aber mit Onkel Thanas war nichts geschehen. Ich

hatte nichts entdecken können. Vielleicht war der

Beutel bereits bei den ersten oder zweiten vier leer

gewesen. Mutlos schüttelte ich den Kopf. Ich konnte

nur abwarten und die Augen offenhalten. Aber es war

gefährlich geworden. Ukandar wußte nun, daß ich von

seinen Plänen Wind bekommen hatte.

Wenn ich nur hätte reden können ...!

Aber ich war in diesem Käfig aus Muskeln und

schwarzem Fell allein mit meinen Gedanken und

Fragen. Ich konnte nur darauf warten, daß jemand auf

die Idee kam, mir meine stummen Fragen zu

beantworten.

Sibile wich nicht von meiner Seite. Ich konnte spüren,

daß sie eine tiefe Zuneigung zu mir gefaßt hatte – ein

seltsamer Umstand, wenn man bedachte, daß ich sie

vor kurzem getötet hatte. Aber diese Menschen

dachten anders. Es fiel ihnen leichter, zu verzeihen.

Und dann schien das Blut, ihr Blut, das ich getrunken

hatte, Bande zwischen uns zu knüpfen, die sie

deutlicher fühlte als ich.

Ich erfuhr viel aus ihrem Leben. Ich lauschte allen

ihren Worten sehr aufmerksam – in der Hoffnung,

dabei auch auf Antworten auf meine Fragen oder

wenigstens Andeutungen zu stoßen. Sie war achtzig

Page 38: Im Reich der Tiermenschen

Regenzeiten alt. So rechnete man hier die Zeit. Ein

genaues Bild konnte ich mir daraus allerdings nicht

machen, selbst wenn ich ein Jahr für eine Regenzeit

nahm. Denn ich wußte nicht, wie lange ein Jahr

dauerte, wie viele Tage das waren. Außerdem mochte

es ebensogut zwei oder drei Regenzeiten in einem

solchen Zeitraum geben, wie wir ihn das myranische

Jahr nannten. Ich hätte sie auf ein wenig mehr als ein

Dutzend Sommer geschätzt, aber dieses beinahe noch

kindliche Aussehen mochte sie dem Wasser Vitus

verdanken.

Sie war durch einen fallenden Baum schwer verletzt

worden, und Vitu hatte ihr in ihrer Güte ein weiteres

Leben als Gazelle beschert, das sie zwei Regenzeiten

lang geführt hatte, bevor ich kam und erneut ihr Leben

nahm.

Ich hoffte, sie würde mir auch von ihrer Familie

erzählen, aber außer daß sie erwähnte, daß Thamai viel

älter sei als sie, ließ sie sich nicht darüber aus.

Sie bat mich, sie einmal in den Dschungel

mitzunehmen, wogegen ich nichts einzuwenden hatte.

Es erschien mir nicht allzu gefährlich. Die Menschen

hier waren mit den Dschungel aufgewachsen, hatten

ihn meist schon selbst als Tiere erlebt. In meiner

Begleitung war sie jedenfalls sicherer als allein.

Als Thamai vom Tempel zurückkam, war sie sehr

nachdenklich, daß selbst Sibile sie verwundert frage:

Page 39: Im Reich der Tiermenschen

»Was hast du, Schwester?«

Thamai schüttelte den Kopf. »Es wird Kummer

geben mit Ubali«, erklärte sie.

»Wegen des Vorfalls im Tempel?«

Thamai nickte. »Ukandar will ihn aus dem Dorf

jagen, wenn nötig mit Gewalt.«

»Das wird er nicht wagen!«

»Wer weiß. Er war sehr erregt. Ich verstehe diese

Ablehnung nicht. Es muß irgend etwas zwischen ihm

und Ubali vorgefallen sein, nicht wahr, Ubali.«

Ich versuchte zu nicken, aber es wurde nichts

Rechtes.

»Wenn du nur sprechen könntest«, seufzte sie. Das

war genau mein Wunsch. »Ich habe Vitu befragt, aber

sie hat mir nicht geantwortet. Was soll ich nur tun?«

»Willst du dich Ukandar beugen?« fragte Sibile

entsetzt.

»Ich fürchte, ich werde es müssen ...«

»Niemals, Schwester. Viele im Dorf wären dann

seiner Willkür ausgeliefert. Er weiß sehr wohl, daß Vitu

dich als ihre Priesterin liebt, weil du ihr Volk liebst. Er

wird nicht so weit gehen, Vitus Zorn auf sich zu laden.

Außerdem begehrt er dich. Nein, Schwester, er mag

drohen oder vielleicht sogar heimlich etwas gegen

Ubali unternehmen, aber er wird nicht wagen,

öffentlich gegen dich vorzugehen. Zu leicht könnte er

sein Gesicht verlieren. Vertraue auf Vitu, Thamai. Laß

Page 40: Im Reich der Tiermenschen

Ubali nicht vorgehen.«

Nachdenklich blickte sie Sibile an. »Du hast recht.

Und abgesehen davon, daß wir unseren schwarzen

Freund ins Herz geschlossen haben, gibt es auch noch

ein paar andere Gründe. Ubali weiß etwas. Er hat das

im Tempel nicht ohne Grund getan. Daß es gerade

Onkel Thanas war, erscheint mir besonders

bedeutungsvoll. Er ist der letzte der Alten, aus der Zeit

von Vaters Regentschaft.« Sie setzte sich und stützte

ihre Stirn in die Hände. »Ich habe nie verstanden,

warum eine so gütige Seele wie Vater zum Paria

wurde. Vielleicht gibt es Dinge, die auch über die

Macht Vitus hinausgehen. Aber sicher ist es nicht, wie

Ukandar immer behauptete, daß Parias ihr Schicksal,

dem Zorn der Göttin zu verdanken hätten.« Sie wandte

sich mir zu. »Parias, mußt du wissen, sind halb

Mensch, halb Tier. Sie leben tief im Dschungel, aber

manchmal kann man sie sehen. Es heißt, daß sie von

einem unmenschlichen Hunger befallen sind und nicht

davor zurückschrecken, auch Menschen anzufallen –

oder Verwandelte, die das Zeichen Vitus tragen.«

Dann war die unheimliche Gestalt, der ich am Teich

begegnet war, ein Paria gewesen.

»Ukandar wird jedes Mittel nützen, um das Dorf

gegen Ubali aufzuhetzen«, fuhr Thamai fort. »Es wird

nicht leicht werden. Aber eines machte mich stutzig. Er

verkündete vor versammelter Menge, daß Vitu erzürnt

Page 41: Im Reich der Tiermenschen

über diesen Frevel sein werde, und daß es nicht in

seiner Macht läge, es abzuwenden, wenn der

bedauernswerte Thanas das Opfer ihres Zorns wäre. So

als ... erwartete er, daß mit Thanas etwas geschähe. Oh,

Vitu, er ist ein Teufel.« Sie schluchzte. »Onkel Thanas

war sehr bedrückt, als er den Tempel verließ. Er hatte

Angst. Er sagte mir, daß er schon lange Angst habe, seit

dem Tag, da Vater ...« Sie brach ab.

Ich hatte plötzlich einen phantastischen Einfall: Wie,

wenn Ukandar es gewesen war, der dafür gesorgt

hatte, daß seine Gegner zu Parias wurden? Wenn ich es

recht verstanden hatte, war vor ihm Thamais Vater der

Anführer dieses Volkes gewesen. Dieses Mittel im

Trank mochte dafür verantwortlich sein. Es war nur

eine Vermutung, aber sie schien mir mit jedem

Augenblick wahrscheinlicher. Wenn Thanas einst im

Gefolge des alten Herrschers gewesen war, dann war

ihm vielleicht so manches aufgefallen, das Ukandar

nun fürchten mußte, trotz der langen Zeit, die

dazwischen lag. Offenbar hatte der Priester bereits alle

anderen beseitigt, wenn Thanas der letzte war. Nach

ihm gab es keine Zeugen mehr über die alte Zeit, und

Ukandar konnte den Mythos seiner seit Anbeginn

bestehenden Herrschaft ohne Schwierigkeiten zur

Tatsache erheben. Daran lag ihm sicher, denn er mußte

seine Macht festigen.

Aber nun war nichts zu tun, als abzuwarten. Wenn

Page 42: Im Reich der Tiermenschen

Thanas zum Paria wurde, gab es für mich keinen

Zweifel mehr.

An diesem Nachmittag wurde ich Zeuge einer

Auseinandersetzung zwischen Thamai und Ukandar.

Er kam mit einem Dutzend seiner Priester zu ihrer

Hütte und erklärte, während aus den meisten Hütten

Neugierige herüberblickten: »Ich sehe, Thamai, daß du

deinen schwarzen Liebling noch immer bei dir hast,

obwohl er Vitus Zorn auf sich geladen hat ...«

Er war sich aber auch durchaus meines Zornes

bewußt, denn er gab seinen Männern ein Zeichen,

worauf sie ihre Blasrohre auf mich richteten. Ich war

sicher, daß ich die Hälfte von ihnen erledigen konnte,

aber der Gedanke, gespickt wie ein Borstenvieh aus

dem Kampf hervorzugehen, war nicht sehr angenehm.

Auch konnte ich nicht sicher sein, ob ihre Pfeile nicht

vergiftet waren. Und letztlich war ich hilflos, wenn ich

erst tot war. Der Priester würde es sicher zu verhindern

suchen, daß ich zum Lebensteich gebracht wurde. Ich

wußte auch nicht, ob Vitu mir ein neues Leben

gewähren würde.

So verhielt ich mich vorerst ruhig und wartete ab.

Doch wenn sie sich an Thamai vergriffen ...!

»Vitus Zorn?« fragte Thamai. »Davon hat sie mir

nichts gesagt, Ukandar. Nein, ich glaube nicht, daß

Vitu dem Fremden zürnt. Welchen Grund hätte sie

Page 43: Im Reich der Tiermenschen

wohl?«

»Der Frevel, den er in ihrem Tempel begangen hat

...«, begann der Priester.

»In eurem Tempel, meinst du wohl«, widersprach

Thamai scharf. »Vitus Tempel ist der Himmel und die

Erde, der Dschungel und das Herz, das in uns allen

schlägt. Oder denkst du wahrhaftig, das düstere Haus,

das du auf ihrer Quelle errichtet hast, könnte die

Menschen dem Lebensgeist näherbringen, als die

Sonne oder die Sterne es vermögen. Es ist nichts weiter

als ein Käfig, Ukandar, in den du die Menschen und

die Götter sperren möchtest, um über sie zu herrschen.

Mit den Menschen mag dir das gelingen. Hast du keine

Furcht, Ukandar? Keine Ehrfurcht?«

Der Priester funkelte sie wütend an. »Du bist deines

Vaters Tochter«, sagte er mühsam beherrscht. »Eines

Tages werden meine Sinne frei von dir sein. Besinne

dich rechtzeitig, ob du deine Gunst vergeuden willst.«

Nach diesen Worten gab er seinen Männern ein

Zeichen und wandte sich wortlos ab. Wir starrten

ihnen nach, bis sie im Tempel verschwanden.

»Du bist über dich hinausgewachsen«, frohlockte

Sibile.

»Mit Vitus Hilfe«, erwiderte Thamai mit ernstem

Gesicht. »Ich bin sicher, das war noch nicht alles. Lauf,

sag Rylai Bescheid. Auf ihn kann ich mich verlassen. Er

mag in meine Hütte kommen.«

Page 44: Im Reich der Tiermenschen

Sie lächelte, als Sibile die Hütte verlassen hatte. »Ich

habe deine Augen beobachtet, Ubali. Du hättest ihn am

liebsten verschlungen.«

Ich knurrte zustimmend.

Sie kam auf mich zu. »Ich lasse dich nicht fort«,

erklärte sie. »Eines Tages wirst du reden können. Dann

werden wir uns vieles sagen.« Ihre Hand berührte

mich mit impulsiver Zuneigung. Wenigstens deutete

ich es so.

Es war schade, daß der Panther so wenig Gefallen

an ihr fand. Aber es war verständlich, denn die

Gefährtin seiner Vorstellungen hätte dem guten alten

Ubali auch nicht besonders gefallen.

Was jedenfalls noch von Ubali vorhanden war, war

sehr von Thamai eingenommen.

4.

Es war deutlich zu sehen, daß Rylai auf Thamais Seite

stand. Er verehrte sie fast wie eine Göttin. Und er hatte

beide Augen auf Sibile geworfen. Das war wohl auch

der Grund, warum er so schnell zur Stelle gewesen

Page 45: Im Reich der Tiermenschen

war, als ich die Gazelle tötete. Er hatte über sie

gewacht. Eine Gazelle war ein recht hilfloses Tier, und

es gab auch Raubtiere im Dschungel, die Vitus Zeichen

nicht trugen.

Wie weit sie seine Gefühle erwiderte, konnte ich

nicht erkennen. Sie mochte ihn. Aber er war ein halber

Riese, und in seiner Gegenwart wirkte sie noch

kindlicher.

Er fürchtete Ukandar nicht, aber er war kein Narr,

der die Gefahr nicht sah. Er besaß großen Einfluß im

Dorf. Viele der Jäger, erklärte er, würden für ihn

durchs Feuer gehen. Daran hatte auch seine

Abwesenheit nichts geändert.

Er versprach, Ukandar im Auge zu behalten und

sich auch um Thanas zu kümmern, den Thamai in

großer Gefahr wähnte. Mir war nicht klar, welche Art

von Gefahr das sein sollte. Das Gift im Trank, warum

wirkte es nicht? Hatte der Anschlag doch nicht auf ihn

stattgefunden? Oder wäre einer der nächsten an der

Reihe gewesen? Dann hatte ich vielleicht doch

rechtzeitig eingegriffen!

An diesem Abend ging ich früher auf Jagd, und ich

nahm Sibile mit. Sie hatte einen Bogen bei sich. Ich

hatte bereits gesehen, daß sie sehr geschickt damit

umzugehen verstand.

Wir streiften durch den abendlichen Wald. Ich

beschloß, meinen eigenen Beutezug auf später zu

Page 46: Im Reich der Tiermenschen

verschieben. Es mochte kein sehr erbaulicher Anblick

für sie sein, wenn ich meine Beute riß. Als sie müde

wurde, trug ich sie auf dem Rücken. Es war eine

angenehme Wärme, die von ihrem Körper kam. Ich

spürte ihr Gewicht kaum, aber ich spürte ihr Herz, wie

es vor Aufregung schlug, wenn ich mit mächtigen

Sätzen über Hindernisse hinwegsetzte.

Als wir gegen Mitternacht ins Dorf zurückkamen,

herrschte große Aufregung. Thanas war ein Unglück

zugestoßen. Ein Raubtier – Ukandar, der behauptete, es

gesehen zu haben, beschwor, es sei ein Paria gewesen

hatte Thanas angefallen und übel zugerichtet. Thamai

untersuchte ihn und erklärte, daß es nicht mehr

genüge, die Wunden zu versorgen. Thanas müsse in

die Obhut der Göttin Vitu.

Sie ließ sofort alle Vorbereitungen treffen. Eine

kleine Gruppe, bestehend aus Ukandar und einigen

Priestern, Rylai und seinen Jägern und Thamai, trug

den Schwerverletzten hinaus zum Teich des Lebens.

Dort wurde er dem Wasser übergeben.

Aus den Gesprächen entnahm ich, daß es Stunden

dauern würde, bis Vitu ihn wieder freigab. Ich nahm

die Gelegenheit für einen raschen Jagdausflug wahr.

Als ich eine Stunde später satt zurückkam, hatte sich

noch nichts ergeben.

Erst gegen Morgen war es soweit. Thamai war die

erste, die es spürte. Sie hatte längere Zeit bereits in sich

Page 47: Im Reich der Tiermenschen

versunken dagesessen. Ich dachte mir, daß sie bereit

war, mit Vitu zu sprechen, wenn die Göttin sie anhörte.

Sie sagte: »Thanas ist auf dem Wege zu uns. Laßt

uns ihn empfangen.« Dann schritt sie, noch mehr

abwesend, zum Teich. Ich ging an ihrer Seite. Auch die

Männer hatten sich erhoben. Alle starrten gespannt auf

die reglose Oberfläche des Teiches. Vermutlich waren

sie neugierig, welche Gestalt Vitu dem Mann gegeben

hatte. Einige der Priester kamen mit den Fackeln nahe

heran, damit genügend Licht auf die auftauchende

Gestalt fallen konnte.

Bald darauf sahen wir einen Schemen auftauchen.

Dann brach spritzend die Oberfläche, und ein Kopf

erschien, der manchen der Umstehenden aufschreien

ließ.

Ich spürte selbst einen Schauder unter dem Fell,

während meine Gedanken hinausschrien, daß der

Priester ein Schurke war. Aber niemand hörte mich.

Alle starrten auf das Ungeheuer, das aus dem Wasser

stieg und triefend auf uns zutaumelte. Das Ungeheuer,

das einst Thanas gewesen war.

Es sah aus wie ein Mensch und doch nicht wie ein

Mensch. Wie der eine Paria, den ich gesehen hatte, ging

er aufrecht. Sein Körper war schuppig wie der einer

Echse. Das Gesicht war schmal, die so menschlich

wirkenden Augen saßen seitlich. Sie waren ohne Lider.

Sein Mund war der eines Raubfisches mit spitzen,

Page 48: Im Reich der Tiermenschen

sägeartigen Zähnen.

Er sah uns entgegen, ein wenig seitlich, um uns mit

diesen Augen wahrnehmen zu können, aber er mußte

halb blind sein.

»Willkommen ...«, begann Thamai und brach

erstickt ab.

Der arme Teufel öffnete die Arme hilflos. Er schien

noch nicht ganz zu begreifen, was mit ihm geschehen

war.

»Seht!« triumphierte Ukandar und deutete mit der

Fackel auf die Gestalt. »Seht Vitus Zorn! So wird es

allen ergehen, die das Wort ihrer Priester mißachten.

Oder es wird Unschuldige treffen, wie Thanas ...!«

Die erbärmliche Hilflosigkeit und Ukandars

grausamer Triumph waren es, die mich handeln ließen.

Ich konnte mir nicht denken, daß es zu ertragen sei, als

solch ein Ungeheuer zu leben. Ich würde eine zweite

Chance wählen oder sterben. Und ich traf die Wahl in

diesem Augenblick für Thanas. Mit einem Grollen

sprang ich vor und riß die Gestalt zu Boden, bevor

mich jemand aufhalten konnte. Ich spürte seine Kiefer

an meiner Schulter zuschnappen. Es war nur ein

Reflex. Bevor er erkannte, was geschah, brach ich sein

Genick mit einem einzigen Biß.

Das Knirschen, das in der atemlosen Stille

unüberhörbar war, brach den Bann. Während Rylai

und die Jäger unentschlossen auf Thamai blickten,

Page 49: Im Reich der Tiermenschen

stürmte Ukandar mit einem Wutschrei vorwärts. Er

hielt aber inne, als ich von der leblosen Gestalt abließ

und mich ihm mit einem knurrenden Laut zuwandte.

Ich hatte gute Lust, ihn anzuspringen und seinen

Schädel zwischen meinen Kiefern zu zermalmen. Aber

in diesem Moment eilten ihm die Priester zu Hilfe und

hoben ihre Blasrohre an die Lippen. Ich wartete nicht.

Ich hoffte, daß sie Thanas in den Teich zurückwarfen.

Es war zumindest eine Chance für ihn. Ich war

ziemlich sicher, daß Thamai dafür sorgen würde.

Ukandar, das schwor ich mir, würde ich mir noch

vornehmen.

Der Dschungel nahm mich schützend auf, bevor

einer ihrer Pfeile mich treffen konnte.

Ich blieb noch eine Weile in der Nähe der Lichtung

und sah zu, was sie taten. Es kam zu einer

Auseinandersetzung zwischen Ukandar und Thamai,

in deren Verlauf Rylai und seine Jäger offen Thamais

Partei ergriffen und verlangten, daß Thanas erneut

dem Teich übergeben werde. Der Streit begann fast

handgreiflich zu werden, denn die Priester bestanden

darauf, den Paria ins Dorf zu bringen, damit jeder

sehen könne, daß Vitu zürnte, so wie Ukandar es

vorausgesehen hatte.

Es war ein übler Trick, und ich versprach mir,

diesem Priester eines Tages das Genick zu brechen.

Die beiden Parteien einigten sich schließlich darauf,

Page 50: Im Reich der Tiermenschen

den Leichnam unter Bewachung bis zum Morgen

liegen zu lassen, und wer ihn sehen wollte, könne

hierherkommen.

Thamai wollte mit ihrem Onkel kein Risiko

eingehen. Ich erfuhr dabei auch, daß Tote, die nicht

innerhalb eines Tages in den Teich kamen, von Vitu

nicht mehr mit einem neuen Leben bedacht wurden.

Ich war sehr froh, daß Rylai sofort eingegriffen

hatte, als ich Sibile für ein leckeres Abendessen hielt.

Ich sah nun, wie wichtig es war, daß die Verwandelten

im Dschungel aufeinander achteten.

Ich hätte gern gewußt, welche Gedanken Thamai

bewegten. Ob sie verstand, daß ich es nur getan hatte,

weil es mir unerträglich erschien; und weil ich dem

Teufelspriester den Triumph nicht gönnte? Ob sie mir

zürnte?

Die Ungewißheit nagte an mir.

Ich lag die ganze Nacht in der Nähe des Teiches und

beobachtete die Feuer. Nicht viele kamen aus dem

Dorf, um den toten Paria zu sehen. Es gab keine

Gelegenheit, unbemerkt an Thamai heranzukommen.

Ich sah wohl, daß sie manchmal zum Dschungelrand

blickte. Aber auch sie konnte die Lichtung nicht

verlassen, ohne daß die Priester es bemerkt hätten.

Schließlich aber sah ich, daß sie mit Rylai sprach, der

bald darauf die Lichtung verließ. Ich schlich mich in

Page 51: Im Reich der Tiermenschen

seine Nähe und hörte ihn bald darauf leise nach mir

rufen.

»Ubali!«

Mit einem leisen knurrenden Laut gab ich mich zu

erkennen, so daß er nicht erschrak, als ich neben ihm

aus den Büschen kam.

»Ubali«, sagte er hastig, »ich weiß nicht, was das

alles bedeutet. Aber Thamai versteht deine Tat. Sie

weiß, was sie tut, und solange sie dich verteidigt,

werde auch ich es tun. Thamai bat mich, dich zu

warnen. Komm nicht ins Dorf und weiche den

Priestern aus. Sie wollen dich einem Gottesurteil

unterziehen, und das hat noch keiner überlebt. Es wäre

dir dann auch ein neues Leben versagt. Also meide das

Dorf und die Priester. Thamai wird morgen nacht hier

sein. Vitu mit dir, Freund.«

Damit war er verschwunden. Und ich war

erleichtert, wenn sich auch meine Lage ernstlich

verschlimmert hatte.

Gegen Morgen, als niemand mehr aus dem Dorf

kam, zog sich Ukandar zurück. Er nahm die meisten

seiner Priester mit. Nur zwei ließ er zurück, die die

weiteren Geschehnisse beobachten sollten, die ihn

offenbar nicht mehr selbst interessierten. Vielleicht

hatte er es aber auch eilig, neue Teufeleien

auszuhecken. Ich hatte gute Lust, ihm

nachzuschleichen, aber dann war es mir doch zu

Page 52: Im Reich der Tiermenschen

gefährlich. Im Augenblick hatte ich für meine

frevlerische Tat wahrscheinlich das ganze Dorf zum

Feind. Außerdem interessierte mich, was mit Thanas

geschehen würde. Ob Vitu ihm ein neues Leben gab,

und welches.

Ich suchte mir einen sicheren Beobachtungsplatz

und sah, wie Thamai und Rylais Jäger den Leichnam in

das Wasser trugen. Es war kurz vor Sonnenaufgang,

und ich beschloß, ein wenig zu schlafen. Es gab nicht

viel, das ich versäumen konnte. Thamai und die

Männer saßen stumm auf der Lichtung. Ich wußte, sie

würden die nächsten Stunden auf Thanas

Auferstehung warten.

Zweimal wurde ich wach. Das erstemal durch ein

Geräusch aus dem Dschungel, das aber zu weit weg

war, um eine Gefahr zu bedeuten; das zweitemal durch

die Jäger, die auf der Lichtung ein Feuer entfacht

hatten und irgendein Beutetier auf einen Spieß

schoben, um es zu braten. Ich blieb wach, bis es

gebraten war, und sie sich ans Essen machten, wozu sie

nach einigem Hin und Her auch die beiden Priester

einluden.

Dann nahm ich meinen Schlummer wieder auf,

diesmal nur für kurze Zeit, bis Thamai verkündete, daß

es soweit sei.

Ich starrte gebannt auf das Wasser, wie die anderen

Page 53: Im Reich der Tiermenschen

auch.

Da ich auf den Ästen eines Baumes lag, sah ich

früher als die anderen die auftauchende Gestalt.

Verschwommen kam sie aus der Tiefe empor. Es war

Thanas in seiner menschlichen Gestalt.

Thamai war sehr glücklich darüber. Das hörte ich an

ihrer Stimme, als sie ihrem Onkel den traditionellen

Gruß zurief:

»Willkommen, Thanas!«

Sie lief ihm entgegen und umarmte ihn, während

Rylai und seine Männer ihn umringten und mit Fragen

bestürmten. Die beiden Priester verließen rasch den

Ort. Sie hatten es eilig, Ukandar die Botschaft von der

Auferstehung Thanas zu bringen.

Ich war sehr froh darüber, daß Thamai glücklich

war. Nun, da die Priester verschwunden waren, schien

es mir gefahrlos, die Lichtung zu betreten. Ich kam

langsam näher, und sie bemerkten mich erst, als ich die

Gruppe fast erreicht hatte. Aus Rylais Augen waren

alle Zweifel verschwunden. Er verstand nun auch, was

ich gewollt hatte. Thanas faßte es noch immer nicht

ganz, daß der Alptraum, den er eben noch gehabt

hatte, vorüber war. Thamai umarmte mich und drückte

mir einen Kuß auf die feuchte Nase. In Shi-but wäre

das eine Tat gewesen, die man über die Grenzen des

Landes hinaus gerühmt hätte. Nicht Ubali, sondern

einen Panther zu küssen!

Page 54: Im Reich der Tiermenschen

»Vitu hat zu mir gesprochen«, erklärte Thanas. »Sie

billigt Ubalis Tat, weil sie aus Mitleid und gerechtem

Zorn geschah. Aber der Tod kann mich nicht heilen.

Ich werde meine Gestalt nicht lange behalten. Es ist

einer unter uns, der mit Vitus Kräften spielt. Und der

Tag ... wird kommen ... da er dafür ... bezahlen ... muß

...«

Die Worte waren immer mühsamer aus seinem

Mund gekommen. Nun brach er ab und krümmte sich

wie unter einem plötzlichen Schmerzanfall. Er schrie

auf. Dann begann er sich zu verwandeln. Die

Umstehenden wichen entsetzt zurück. Schuppen

überzogen seine Haut. Sein Schädel verformte sich.

»Geht ... weg ...« Die Stimme war kaum mehr

vernehmlich, die Worte fast unverständlich. Das

häßliche Fischmaul schloß und öffnete sich einige Male

in stummer Qual. Die Augen traten hervor.

Ich war der einzige, der ihn in diesem Augenblick

nicht fürchtete. Die anderen, Thamai eingeschlossen,

hatten sich in sicherem Abstand begeben. Zuviel hatte

man ihnen über die Tollwut der Parias erzählt, und ich

konnte mir auch denken, wer diesen Unsinn verbreitet

hatte. Kein anderer als Ukandar, der vermeiden wollte,

daß seine einstigen Opfer ihm wieder in die Quere

kamen.

Thanas berührte mich und sah mich bittend an. Er

bot mir seine Kehle zum tödlichen Biß.

Page 55: Im Reich der Tiermenschen

Aber ich wußte, daß es sinnlos war. Seine

Auferstehung würde wieder nur kurz sein. Nur Vitu

konnte ihm helfen.

Er wußte es auch. Er schüttelte seinen verformten

Schädel in stummer Abwehr. Dann wandte er sich um

und verschwand im Dschungel.

Sehr bedrückt begaben sich schließlich alle zum Dorf

zurück. Thamai versprach, am Abend

wiederzukommen. Im Augenblick war sie zu

erschüttert und zu müde von der durchwachten Nacht,

um klar denken zu können. Sie beschlossen jedoch,

Ukandar und den Priestern diesen Vorfall zu

verschweigen und ihn in dem Glauben zu lassen,

Thanas wäre Mensch geblieben. Thamai würde

berichten, daß Thanas von Vitu den Auftrag erhalten

hätte, die anderen Parias aufzusuchen, um ihnen eine

Botschaft zu überbringen.

Ich hielt das für einen sehr guten Gedanken. Leider

konnte ich ihnen nicht sagen, wie gut. Ukandar würde

ganz schön ins Schwitzen kommen, wenn die anderen

Parias tatsächlich durch sein Gift entstanden waren.

Ich vertrieb mir den Morgen damit, auf die Jagd zu

gehen und mir den Magen zu füllen. Dabei hoffte ich,

auf Thanas zu stoßen oder auf einen anderen der

Parias. Schließlich trieb ich mich wieder in der Nähe

Page 56: Im Reich der Tiermenschen

der Lichtung herum, in der Hoffnung, daß vielleicht

Sibile auftauchte, um mir Neuigkeiten zu berichten.

Aber sicher fürchtete sie, damit die Priester auf meine

Spur zu bringen.

Am frühen Nachmittag pirschte ich mich an das

Dorf heran, soweit es der Wald gestattete. Reges

Treiben herrschte, und mehrere Gruppen verließen mit

ihren Jagdwaffen die Lichtung. Das konnte nur

bedeuten, daß sie nach mir suchten, vermutlich in

Ukandars Auftrag. Rylais Trupp war der erste. Hatte er

sich auch Ukandar angeschlossen? Ich konnte es mir

nicht vorstellen. Er ging auf diese Weise wohl nur einer

offenen Auseinandersetzung aus dem Weg.

Ich zog mich zurück und suchte den tieferen

Dschungel auf. Meine Schulter schmerzte seit

geraumer Weile. Ich sah, daß der Schmerz von Thanas

Biß herrührte. Die scharfen Fischzähne waren tief

eingedrungen. Soviel ich aus den Augenwinkeln

erkennen konnte, sah die Wunde nicht gut aus. Ich

versuchte, sie mit dem Maul zu erreichen und

sauberzulecken, aber ich erreichte sie nur zum Teil.

Meine Bemühungen linderten auch den Schmerz

kaum. Mir blieb auch nicht viel Zeit. Den ganzen

Nachmittag verbrachte ich damit, den Jagdtrupps

auszuweichen. Es war nicht sehr schwer, aber doch

sehr ermüdend. Ich geriet immer tiefer in den

unbekannten Dschungel, wo ich nicht nur die Jäger

Page 57: Im Reich der Tiermenschen

zum Feind hatte. Ich begegnete auch kaum noch

Verwandelten. Hier begann die wirkliche Wildnis.

Bald war mir klar, daß mein Treffen mit Thamai ins

Wasser fallen würde. Der Schmerz war fast

unerträglich. Mein ganzer Körper brannte. Ich hatte

Fieber. Ich brauchte Ruhe. Die Jägerkette zu

durchbrechen, wäre in jedem Fall ein Risiko gewesen.

Ich wußte, daß ich es in diesem Zustand nicht schaffen

würde. Ich hoffte, daß sie die Treibjagd mit Einbruch

der Dunkelheit abbrachen und mir ein wenig Ruhe

gönnten. Sie wußten nichts von meiner Wunde. Sie

konnten nicht wissen, daß ich am Ende war.

Ich mußte entkommen. Ukandar wollte mich aus

dem Weg haben. Wenn sie mich aufstöberten, würden

sie mich abschießen wie einen tollen Hund und als

Mahlzeit für die Geier liegenlassen.

Ich konnte aber auch ziemlich sicher sein, daß sie

dafür sorgen würden, daß ich an den Lebensteich nicht

mehr herankam. Weder lebend noch tot.

Aber es gab noch diesen zweiten Teich, in dem die

Schlange sich verwandelt hatte. Sie würden nicht

erwarten, daß ich ihn kannte. Nur Rylai und seine

Männer hatten mich dort gesehen. Waren sie noch auf

meiner Seite?

Egal. Ich mußte es versuchen. Thamai hatte gesagt,

das Wasser hätte auch eine heilende Wirkung. Ich

brauchte nun Vitus Hilfe.

Page 58: Im Reich der Tiermenschen

Erst als die Dunkelheit bereits ziemlich

fortgeschritten war, blieben die Geräusche der Jäger

hinter mir zurück. Bald darauf sah ich mehrere Feuer

im Dschungel. Sie richteten sich für die Nacht ein.

Erschöpft kroch ich unter einige Büsche. Ich war

halb taub und blind. Alles brannte in mir, und die

Bißwunde schmerzte so unerträglich, daß ich mir am

liebsten die Schulter aus dem Leib gerissen hätte. Ich

fiel in einen Erschöpfungsschlaf und war sehr dankbar

dafür.

Ich erwachte, wie es mir schien, Augenblicke später

durch ein stampfendes Geräusch, das den Boden

erzittern ließ. Ich fühlte mich besser. Der Schmerz war

da, aber gedämpfter. Die ganze Schulter fühlte sich kalt

und tot an. Aber ich konnte den Vorderlauf ohne

Schwierigkeit bewegen. Das Fieber hatte sich

ausgebrannt.

Es mußte doch eine ganze Weile vergangen sein,

denn der Mond stand nun hoch am Himmel. Aber er

gab nicht viel von seinem Licht, hier unten zwischen

den Bäumen. Ich starrte angespannt in die Dunkelheit

vor mir, aber selbst meine Katzenaugen sahen nichts.

Dann kam das Geräusch wieder. Etwas bewegte sich

dort vorn und kam stetig näher. Es mußte etwas sehr

Mächtiges sein, daß sein Schritt den Boden erzittern

ließ.

Ich richtete mich auf, um fluchtbereit zu sein. Für

Page 59: Im Reich der Tiermenschen

einen Kampf fühlte ich mich nicht kräftig genug. Ich

stand sogar ziemlich schwankend auf den Beinen.

Im nächsten Augenblick brach etwas Riesiges durch

die Büsche. Ein gewaltiger Körper, dessen genaue

Form in der Dunkelheit nur schwer zu erkennen war,

kam mit stampfenden Bewegungen durch die Bäume

auf mich zu. Er erinnerte mich an die Echsen in den

Sümpfen Shi-buts, nur war er viel größer. Er war halb

aufgerichtet, und so ging er auch, mit kurzen Armen,

Hindernisse aus dem Weg räumend, während ein

mächtiger Schwanz gegen die Stämme peitschte, daß

ein Beben durch den Wald ging. Kein Zweifel, was da

auf mich zukam, war eine riesige Echse.

Ich machte, daß ich aus ihrem Weg kam. Sollten die

Jäger sich mit ihr beschäftigen! Das brachte mich auf

einen Gedanken. Wenn es mir gelang, die Echse auf die

Männer zuzulocken, dann mochte sich mir während

des Kampfes eine Möglichkeit bieten, durchzubrechen

und den Teich zu erreichen.

Ich gab ein knurrendes Fauchen von mir, um den

Riesen auf mich aufmerksam zu machen. Er reagierte

sofort. Offenbar war er sehr hungrig. Der Koloß

wankte auf mich zu. Als er nahe genug war, sprang ich

auf und bewegte mich einige Schritte in die Richtung

der Jäger. Gleich darauf war ich sicher, daß mich die

Echse entdeckt hatte. Sie gab einen Laut von sich, der

wie ein unterdrückter Donner klang, dann stampfte sie

Page 60: Im Reich der Tiermenschen

weiter in meine Richtung. Ihr Schädel kam tiefer, um

den Boden in Augenschein zu nehmen. Das mächtige

Gebiß öffnete sich.

Ich sprang durch das Gebüsch. Sie folgte. Vor mir

hörte ich die aufgeregten Stimme der Jäger. Nun war es

Zeit, mich aus dem Staub zu machen. Zwei der Feuer

waren deutlich zu erkennen. Ich war bereits sehr nahe.

Die Echse kam wie ein Ungewitter hinter mir her. Ich

hielt direkt auf das Feuer zu. Ich hatte ihre

Geschwindigkeit unterschätzt. Der Boden bebte. Kiefer

knirschten über mir.

Dann war ich über dem Feuer zwischen den

aufgeregt durcheinanderlaufenden Menschen. Ich weiß

nicht, ob mich überhaupt einer wahrnahm, denn der

Kopf des Untiers schwankte drohend über dem

Lagerplatz. Seine kurzen Vorderklauen kamen herab.

Als ich durch war, vernahm ich schrille Schreie hinter

mir. Todesschreie. Flüche. Kampflärm. Der Vormarsch

des Untiers hatte aufgehört.

Ich konnte ziemlich sicher sein, daß die in der Nähe

lagernden Jäger ihren Gefährten zu Hilfe kommen

würden. Ich interessierte sie im Augenblick sicher

nicht. Das gab mir einen guten Vorsprung. Die Echse

würde sie beschäftigen, bis sie entweder satt war oder

tot, und das mochte eine Weile dauern.

Ich hoffte, daß nicht Rylais Männer die Opfer waren.

Gesichter hatte ich in der Eile keine erkennen können.

Page 61: Im Reich der Tiermenschen

Meine Schulter schmerzte wieder heftiger. Das taube

Gefühl verschwand und verwandelte meine ganze

linke Seite in eine Waberlohe. Oh, ihr Götter, wie das

brannte!

Lange Zeit hörte ich noch die Schreie und Geräusche

hinter mir, aber nach und nach verklangen sie. Ich

hatte mehrere Stunden Weges vor mir, und ich war

bald nicht mehr sicher, ob ich es schaffen würde. Das

Fieber begann wieder. Bald schüttelten mich Feuer und

eisige Kälte, und der Weg verschwamm vor meinen

Augen.

Mein Rachen hing hechelnd offen. Ich rang nach

Luft. Nur der Gedanke, daß ich sterben würde, wenn

ich mich nun fallen ließ, um auszuruhen, trieb mich

vorwärts. Ich durfte nicht anhalten. Meine einzige

Hoffnung war der Teich, und niemand würde mir

helfen, ihn zu erreichen. Ich mußte es ganz alleine tun.

Mehrere Stunden lief ich halb blind durch den

Dschungel. Ich wäre eine leichte Beute für jeden

Räuber gewesen, der sich die Mühe gemacht hätte, sich

eine Weile an meine Spur zu hängen. Aber der

Dschungel war wie leergefegt.

An den letzten Teil des Weges habe ich keine

Erinnerung mehr. Ich weiß, daß ich taumelte und mich

kaum auf den Beinen halten konnte. Schließlich brach

ich zusammen, erhob mich wieder, kroch auf dem

Bauch vorwärts. Ich war nicht mehr bei Sinnen. Von

Page 62: Im Reich der Tiermenschen

irgendwoher vernahm ich Stimmen, doch das mochte

bereits ein Traum sein; es mochten die Wächter des

ewigen Tores sein, die mich kommen sahen. Der

Kampf war zu Ende.

5.

Aus der Tiefe unter mir, oder aus der Höhe über mir –

ich hatte das Gefühl, zu schweben; Es war nichts über

mir und unter mir – kam eine Stimme, die ich schon

einmal vernommen hatte.

Vitus Stimme, weiblich, geheimnisvoll, ohne

menschliche Regung.

»Du bist früh gekommen, Ubali. Früher als

erwartet.«

»Du hast mich erwartet?«

»Ich erwarte alle, Ubali. Früher oder später kommen

alle zu mir, und ich gebe ihnen ein neues Leben durch

die Kraft des Wassers. Auch du sollst ein neues Leben

haben. Mein Volk braucht dich. Es ist gut, daß du früh

gekommen bist. Eine Gefahr nähert sich aus der Prärie,

der mein wenig kampferprobtes Volk nicht gewachsen

Page 63: Im Reich der Tiermenschen

ist. Ein Mann namens Darraco ist von einem Mann

deiner Welt überlistet worden. Nun zieht er eine

blutige Rachespur, wohin er geht. Er hat diese

Richtung eingeschlagen. Nimm Leben aus meiner

Hand, Ubali und sei dem Volk der Vitu-thaimoa ein

Helfer, Fremder, der du an der Seite von Königen

gefochten hast.«

»Und Ukandar?« riefen meine Gedanken. »Was soll

mit ihm geschehen ...?«

Aber niemand antwortete mir. Vitu hatte mich

verlassen. Die Leere um mich füllte sich, wurde kalt

und schwer – Wasser.

Ich begann mich zu bewegen. Ich stieß mit kräftigen

Schwimmbewegungen nach oben, dem Licht zu. Ich

durchbrach die Oberfläche und atmete tief ein. Es war

heller Tag, fast Mittag.

Rasch sah ich mich um. Die Ufer des kleinen Teiches

waren leer. Hatte ich es wirklich allein geschafft? Oder

hatte Vitu mir geholfen, weil sie meine Hilfe brauchte?

Ich schwamm ans Ufer, und plötzlich wurde ich mir

der braunen Arme bewußt, meiner eigenen,

angestammten Haut. Ich stürmte aus dem Wasser. Kein

Zweifel. Der alte Ubali war wieder unter den

Lebenden. Ich streckte mich, spürte die Muskeln, die

warme Sonne auf der nackten Haut. Ah, welch ein

Gefühl!

Vitu sei Dank! Ich war auferstanden – wenn auch

Page 64: Im Reich der Tiermenschen

vielleicht nur für eine Schlacht.

Aber nun galt es, vorsichtig zu sein. Ukandar würde

das Offensichtliche vermuten, wenn er mich sah. Ich

durfte ihm keine Gelegenheit geben, etwas gegen mich

zu unternehmen. Als erstes mußte ich mich möglichst

unauffällig mit Thamai in Verbindung setzen. Ich

brauchte auch meine Waffen wieder, die sich in ihrer

Hütte befanden. Ich mußte Gelegenheit haben, das

Thaimoa-Volk von der Gefahr zu überzeugen, auf die

Vitu mich hingewiesen hatte. Das konnte nur mit

Thamais Hilfe gelingen. Und dann mußte ich

versuchen, Rylai und seine Männer, die einzigen, auf

die ich mich vielleicht verlassen konnte, dafür zu

gewinnen, daß sie mit mir auf einen Erkundungszug

gingen. Wir konnten nicht früh genug etwas über

Darracos Stärke erfahren. Er war der Anführer der

Wolkenreiter, soviel hatte ich von Larkin erfahren.

Dabei dachte ich schaudernd an das Abenteuer mit

dem Baumvolk, das für ihn ein so tragisches Ende

genommen hatte.

Nun sollte ich also doch diesen Darraco

kennenlernen. Aber wenn er tatsächlich auf Wolken

geritten kam mit seiner Streitmacht, dann würde es

sehr schwer werden, ihm etwas anzuhaben. Wir

würden einen guten Plan brauchen.

Was hatte Vitu noch gesagt? Ein Mann aus meiner

Welt hätte Darraco hereingelegt? Mein Herz schlug

Page 65: Im Reich der Tiermenschen

höher. Das konnte nur einer sein, Dragon, mein König.

Ich würde ihn vielleicht wiedersehen – früher, als ich

erwartet hatte.

Ich war sehr zufrieden, wie sich die Dinge

entwickelt hatten.

Ich beobachtete das Dorf.

Ein Dutzend Männer und Frauen arbeiteten an den

Feuern. Sie bereiteten das Essen zu. Der Anblick

machte mich hungrig, und der Duft von gebratenem

Fleisch ließ mir förmlich das Wasser im Mund

zusammenlaufen. Einige eilten zwischen den Hütten

hin und her. Es war praktisch unmöglich, unbemerkt

ins Dorf zu gelangen.

Thamai oder Sibile konnte ich nirgends entdecken.

Wie konnte ich sie nur erreichen? Ich sah mir ihre

Hütte an. Im Eingang sah ich eine Bewegung. Jemand

war drin. Gut.

Ich mußte es von der Tempelseite her versuchen.

Rasch umrundete ich das Dorf und gelangte

unbemerkt an die Rückseite des Tempels. Aber hier

war es noch unmöglicher, ungesehen an Thamais Hütte

heranzukommen. Die Tempelwachen mußten mich

bemerken. Dann sah ich das Ziegengehege. Auch dort

blieb mir nur die Wahl eines offenen Spaziergangs

durch das Dorf, wenn ich nicht bis zum Abend warten

wollte. Und das wollte ich nicht.

Page 66: Im Reich der Tiermenschen

Aber dort würden mich die Priester nicht bemerken.

Ich war ein Schwarzer unter Schwarzen.

Ich erreichte die Ziegenweide und verharrte eine

Weile hinter dem Zaun des Geheges. Die am Feuer

kümmerten sich nicht darum, was hinter ihnen an den

Hütten geschah. Ich wartete einen stillen Augenblick

ab, dann marschierte ich los. Ich ging ohne Hast,

wandte mich jedoch halb ab, daß sie nicht gleich mein

Gesicht sahen.

Niemand nahm von mir Notiz. Erst kurz vor

meinem Ziel kam ein Mädchen aus einer Hütte. Es war

zu spät, den Arm vor das Gesicht zu heben. Sie sah

mich voll an, erschrocken erst, dann schien ihr zu

dämmern, wer ich sein könnte.

»Vitus Geist«, entfuhr es ihr. Dann nahm sie mich

völlig überraschend an der Hand. »Komm.«

Ich folgte ihr. In ihrer Begleitung war ich

unauffälliger. Sie führte mich direkt zu Thamais Hütte

und schob mich hinein. Dann sah sie sich um und

nickte befriedigt. »Niemand hat uns bemerkt. Thamai,

sieh mal, wen ich dir bringe.«

Thamai und Sibile hatten aufgeblickt, als ich im

Eingang erschien.

Aber die Sonne blendete sie wohl, und mein Gesicht

lag im Schatten, so daß sie mich nicht gleich erkannten.

Erst als das Mädchen mich nach drinnen schob, sahen

sie, wen sie vor sich hatten. Mit einem Freudenruf

Page 67: Im Reich der Tiermenschen

sprangen sie auf und stürmten auf mich zu, um mich

anzufassen, ob ich auch wirklich aus Fleisch und Blut

wäre.

»Vorsicht«, warnte das Mädchen von der Tür her.

»Wer ist es, Loa?«

Hastig antwortete Loa: »Ukandar. Es sieht so aus, als

ob er zu dir will, Thamai ...«

Thamai sah mich angstvoll an. »Was tun wir nur?«

»Endlich handeln«, sagte ich. Ich entdeckte meine

Waffen neben Thamais Lager. Für Schwert und Gürtel

war es zu spät. So nahm ich nur den Dolch und harrte

hinter dem Eingang. In der Dunkelheit der Hütte

würde er mich nicht gleich bemerken. Und dann war es

zu spät.

Ukandar schob Loa zur Seite. »Ich störe ...«, begann

er.

Ich ließ ihn nicht ausreden. Ich trat hinter ihn,

umfaßte ihn mit der Linken und drückte ihm beide

Arme an den Leib. Bevor er sich wehren konnte, setzte

ich ihm den Dolch an die Kehle.

»Ein kleiner Schnitt genügt«, sagte ich halblaut, »um

dich verbluten zu lassen, Ukandar. Und Vitu ist nicht

gut auf dich zu sprechen.«

Er erstarrte in meinen Arm. »Ich sehe, wir verstehen

uns«, fuhr ich fort. »Loa, laß uns allein. Es ist besser,

wenn du nichts mit der Sache zu tun hast. Unser

Freund hier ist rachsüchtig. Sibile, geh vor die Hütte

Page 68: Im Reich der Tiermenschen

und warne uns, wenn sich jemand nähert.«

»Ja, Ubali«, sagte sie, und ihre Augen glänzten. Es

gefiel ihr, den alten Teufel so hilflos in meiner Hand zu

sehen.

Als sie verschwunden war, stieß ich Ukandar

vorwärts und ließ ihn los. Er stürzte zu Boden. Thamai

wich zur Seite. Sie sah angstvoll auf Ukandar.

Der Priester rappelte sich hoch, um wütend auf mich

loszuspringen. Aber der Dolch in meiner Rechten ließ

ihn zurückschrecken.

»Das wirst du Hund teuer bezahlen!« fauchte er nur

mühsam beherrscht.

Ich trat drohend einen Schritt näher. »Du hast die

falsche Einstellung, Priester. Allein dieser ruhigen

Hand verdankst du es, daß du noch lebst. Es juckt mich

verdammt, deine schändliche Kehle durchzuschneiden.

Vitu würde nicht einen Finger für dich rühren, das

weißt du, nicht wahr? Du hast ihre Kräfte mißbraucht.

Sie wird dich richten, und ich will ihr nicht vorgreifen,

wenn du mich nicht dazu zwingst. Aber ich werde dich

töten, wenn du mir den geringsten Anlaß dazu gibst.

Ich schwöre es dir bei allen Göttern!« sagte ich gepreßt.

Und er sah mir an, daß es mir verdammt ernst war.

Angstvoll wich er zurück. Plötzlich war er ein

erbärmliches Bündel.

Thamai sah mich mit großen Augen an. »Weißt du

auch, was du tust?« stand darin zu lesen. Ich nickte ihr

Page 69: Im Reich der Tiermenschen

beruhigend zu. Jetzt war mein Augenblick gekommen,

und ich würde ihn nützen. Ich fühlte mich stark mit

Vitu an meiner Seite.

Ich ließ mein Opfer nicht aus den Augen. »Thamai,

bring mir meinen Gürtel und das Schwert.«

Sie brachte es mir. Ich gab ihr den Dolch. »Laß ihn

nicht aus den Augen. Stoß zu, wenn er sich rührt. Vitu

wird dir deshalb nicht zürnen.«

Rasch legte ich den Gurt um und befestigte das

Schwert. Dann nahm ich Thamai den Dolch wieder aus

der Hand.

»Du mußt wissen«, sagte ich zu ihr, »daß die Parias

nichts mit Vitus Zorn zu tun haben. Sie sind ganz allein

sein Werk.« Ich deutete auf den Priester.

»Sein Werk?« fragte sie fassungslos.

Ich nickte. »Er bedient sich einer anderen Kraft

Vitus, eines Giftes, das er heimlich in das Wasser tut,

das die Gläubigen trinken ...«

»Dann ist Onkel Thanas durch sein ...«, begann sie

tonlos. Schmerz und Grimm erstickten ihre Stimme. Sie

ballte die Fäuste und starrte den Priester an. »Warum

Thanas?« flüsterte sie. »Ukandar, warum Thanas?«

»Weil er der letzte war«, sagte ich hart. Ich wies mit

dem Kopf zu ihm hin. »Das waren seine eigenen

Worte, als ich ihn belauschte ...«

Sie sah mich an. »Du hast ihn belauscht? Dann

wußtest du, was im Tempel geschehen würde?«

Page 70: Im Reich der Tiermenschen

»Ja, aber ich bemerkte es zu spät. Thanas hatte schon

getrunken, als ich den leeren Beutel an der Brust des

Priesters entdeckte ...«

»Diese Verleumdung wirst du noch bereuen«,

zischte Ukandar.

»Ich an deiner Stelle würde mich nicht reizen«,

erklärte ich ruhig. »Was ich gehört habe, habe ich

gehört. Und Vitu wird zur rechten Zeit meine Worte

bestätigen.« Das war eine ziemliche Lüge, denn dessen

war ich mir gar nicht sicher. Aber sie beeindruckte

Ukandar, der inzwischen überzeugt war, daß Vitu

mich zu ihrem besonderen Günstling erkoren haben

mußte, wenn alle seine Pläne fehlschlugen.

»Der letzte ...«, sann Thamai.

»Es scheint mir nicht schwer zu erraten«, sagte ich.

»Wie ich es mir denke, nach allem, was ich so erfahren

habe, ist es wohl der letzte aus deines Vaters Gefolge.

Der letzte, der noch genug von der alten Zeit weiß, um

die Lügen des Oberpriesters aufdecken zu können.«

»Ich rate dir, hüte deine ...«, zischte Ukandar und

verstummte, als ich drohend den Dolch hob.

Thamais Augen wurden weit. »Natürlich. Dann hat

er auch Vater und die anderen ...« Sie verstummte. Mit

einem erstickten Schrei warf sie sich auf ihn, bevor ich

es verhindern konnte.

»Du Bestie!« keuchte sie und trommelte mit ihren

Fäusten auf ihn ein.

Page 71: Im Reich der Tiermenschen

Ukandar sah sofort seine Chance, aber ich sah sie

noch schneller. Als er Thamai packte und herumriß,

um sie als Schild vor sich zu halten, war ich bereits an

seiner Seite, faßte seinen Arm und drehte ihn herum.

Es gab einen Aufschrei, der Sibile hereinlockte. Dann

ein Knirschen, als der Arm aus dem Gelenk sprang,

dann lag Ukandar wimmernd auf dem Boden,

während Thamai wie eine Katze aus seiner Reichweite

glitt.

»Ich rate dir, das nicht noch einmal zu versuchen«,

sagte ich kalt. »Oder, bei Vitu, du wirst der nächste

Paria sein, und ich könnte mir vorstellen, daß die

Göttin mit dir besondere Pläne hat. Du wirst jetzt

hinausgehen und verkünden, daß dem Volk der

Vitu-thaimoa große Gefahr droht, und daß Vitu mich

zum neuen obersten Priester und Herrscher über das

Volk der Thaimoa bestimmt hat.«

Mit schmerzverzerrtem Gesicht funkelte er mich an.

»Das werde ich niemals tun. Eher werde ich ...«

»Was?« fragte ich ihn. Mit einem Schritt war ich bei

ihm und setzte ihm den Dolch an die Kehle. »Sterben,

Ukandar? Ist es das, was du willst ...?«

Stöhnend versuchte er sich freizumachen. »Nein«,

keuchte er.

Ich gab ihn frei. »Oder Vitus Zorn auf dich laden?«

»Pah! Vitus Zorn. Sie hat nichts mit dir zu schaffen,

du dahergelaufener Schurke. Du willst nichts weiter als

Page 72: Im Reich der Tiermenschen

die Herrschaft, und dazu ist dir jedes Mittel recht ...!«

»Wie dir einst, Ukandar?« fragte ich nicht ohne

Spott.

Er verstummte und umklammerte jammernd seinen

Arm.

»Geh zum Eingang«, befahl ich ihm scharf. »Und

wenn du noch ein wenig an deinem Leben hängst,

gehst du keinen Schritt weiter. Laß dir den verletzten

Arm nicht anmerken. Und verkünde laut und deutlich,

daß du eine Versammlung im Tempel einberufst. In

einer Stunde. Vorwärts!« Ich gab ihm einen Stoß. Er

taumelte vorwärts und starrte mich haßerfüllt an.

»Vorwärts. Worauf wartest du? Daß ich meine

Absicht ändere? Und sei gewarnt. Ich bin ein Meister

im Werfen dieser Waffe. Ich treffe ein Blatt auf zwanzig

Schritt.«

Er trat in den Eingang und rief den Männern am

Feuer zu, daß sie überall im Dorf verkünden sollten,

daß in einer Stunde eine wichtige Versammlung im

Tempel stattfände. Dann zog ich ihn nach innen, bevor

er auf dumme Gedanken kommen konnte.

»Thamai, kannst du Rylai erreichen?«

Sie nickte aufgeregt.

»Hol ihn her.«

Ich atmete auf, als sie draußen war. Ich wollte sie

vor allem außer Gefahr haben.

»Du bist ein Narr, daß du den Tempel als

Page 73: Im Reich der Tiermenschen

Versammlungsort wählst«, lachte Ukandar höhnisch.

»Es soll alles seine Ordnung haben«, erwiderte ich.

Als Rylai kam, hieß ich ihn: »Ukandar festhalten!«

An seinem Gesichtsausdruck wußte ich, daß Thamai

ihm alles berichtet hatte. Ich brauchte mich also nicht

erst mit langen Vorreden aufzuhalten.

Dann nahm ich Ukandars ausgerenkten Arm und

drehte ihn erneut mit einem Ruck, der dem Priester

einen Schrei entlockte. Dann saß der Arm wieder fest in

der Schulter. Das war ein Trick, den ich von Partho

gelernt hatte.

Erschöpft lehnte sich Ukandar an die Wand,

während Rylai grinste. Er schien es zu genießen, den

Priester ein wenig leiden zu sehen.

Ich fragte ihn rundheraus: »Kann ich auf dich

zählen, Rylai?«

»Ich bin an Thamais Seite«, erwiderte er.

Ich blickte Thamai fragend an. »Und wem gilt deine

Gunst, Thamai?«

»Oh, Ubali. Wie Vitus Gunst gilt sie dir. Ich vertraue

dir. Ich fühle aus ganzem Herzen, daß du unserem

Volk helfen wirst ...«

»Weibergeschwätz«, knurrte der Priester.

Ich kümmerte mich nicht um ihn. Ich nickte Thamai

dankbar zu. »Wie viele Männer sind dir ergeben?«

fragte ich den Jäger.

Er zuckte die Achseln. »Zwanzig ...«

Page 74: Im Reich der Tiermenschen

»Auf die du dich unbedingt verlassen kannst?«

»Auf die ich mich verlassen kann. Und viele werden

auf Thamai hören, wenn die Priester erst ohne Macht

sind. Ich glaube nicht, daß es Schwierigkeiten geben

wird, wenn das Dorf erkannt hat, daß Ukandar und

seine Schergen ausgespielt haben. Vertraue auf Vitu,

mein Freund.«

»Ich vertraue auf meine Kraft, Rylai. Und wenn

Freunde mir helfen oder gar die Götter, dann ist es

willkommen. Wir werden alle Kräfte brauchen. Nicht

für den hier ...« Ich deutete auf den Priester. »Sondern

für eine Gefahr, die uns droht. Ruf deine Freunde

zusammen, Rylai. Wir wollen uns mit unserem Freund

hier in den Tempel begeben.«

Kurz nachdem Rylai die Hütte verlassen hatte, kam

Sibile herein. »Mehrere Priester sind auf dem Weg

hierher.«

»Wieviele?«

»Fünf.«

Ich nickte. »Rasch, verschwinde, Sibile. Bleib in

Rylais Nähe. Weiche nicht von seiner Seite. Geh

schon!«

Der dringliche Ton wirkte. »Ja«, sagte sie hastig.

Eine Spur von Furcht war in ihren Augen, und das war

gut so. Sie würde in der Nähe des Jägers bleiben. Ich

wußte, wenn die Priester eines der beiden Mädchen in

die Finger bekamen, wäre das fatal für mich. Es würde

Page 75: Im Reich der Tiermenschen

mich zumindest Ukandar kosten. Darum sagte ich zu

Thamai: »Du solltest auch gehen. Es wäre sicherer für

dich bei den Jägern.«

»Nein, ich bleibe bei dir«, sagte sie entschlossen. Ich

sah, daß ich sie nicht davon abbringen würde.

»Dann rasch. Setz dich. Hier, links von mir. Und du

auch, Priester. Und sag deinen Freunden, daß alles in

Ordnung ist und daß wir noch etwas zu besprechen

haben. Wenn es Ärger gibt, bist du der erste, der ihn

hat.« Ich schob meinen Arm halb hinter ihn und

drückte die Dolchspitze in seine Seite, so daß er sich

unter dem Druck steif aufrichtete.

Gleich darauf erschienen die Priester im Eingang.

Sie sahen Ukandar friedlich bei uns sitzen. Freilich half

ich dieser Friedlichkeit mit dem Dolch kräftig nach. Sie

kamen alle fünf ins Innere, und es wurde ziemlich eng.

Ich hatte Mühe, einerseits Ukandar im Auge zu

behalten und andererseits darauf zu achten, daß sie

Thamai nicht zu nahe kamen.

Sie nickten grüßend, als wir keine Anstalten

machten, uns zu erheben.

»Was ist mit dieser Versammlung, die du einberufen

läßt?« fragte einer den Oberpriester.

»Es geschieht auf Wunsch Vitus ... und Ubalis.« Er

deutete mit dem Kopf in meine Richtung. Jetzt erst

bemerkten sie, wer hier saß. Sie starrten mich

überrascht an. Ich las deutliches Mißtrauen in ihren

Page 76: Im Reich der Tiermenschen

Zügen.

»Es gibt eine wichtige Botschaft Vitus zu

verkünden«, erklärte ich.

Ihr Blick wanderte zu Ukandar. In dem Augenblick

hörte ich draußen Rylai mit seinen Männern kommen

und atmete innerlich auf. Auch Ukandar merkte, daß

jeder weitere Trick Selbstmord sein würde, deshalb

sagte er rasch: »Bereitet alles vor. Geht jetzt.«

Die Priester nickten und verließen die Hütte. Mit

Verwunderung sahen sie die Jäger aufmarschieren,

aber ohne Ukandars Führung würden sie nichts

unternehmen. Und daß sie nichts zu seiner Befreiung

tun konnten, wenn sie Verdacht geschöpft hatten,

dafür würde ich sorgen.

Rylai erschien, an seiner Seite Sibile.

»Alles bereit, Ubali«, meldete er.

»Gut.«

»Übrigens ...« Er zögerte. Dann gab er sich einen

Stoß. »Damit du erkennst, daß ich dir wirklich ergeben

bin, will ich dir sagen, daß ich es war, der dich halbtot

fand. Wir hatten dich erwartet. Außer uns kanntest nur

du diesen abgelegenen Teich. Früher oder später,

dachten wir, würdest du dorthin zurückkehren. Wir

trugen dich ans Wasser und übergaben dich Vitu.« Er

grinste. »Es scheint mir das Beste, das ich in den letzten

beiden Leben getan habe.«

Impulsiv ergriff ich seinen Arm. »Ja, ich sehe, ich

Page 77: Im Reich der Tiermenschen

habe wirklich einen Freund ...«

»Verräter!« zischte Ukandar.

Der Jäger würdigte ihn keines Blickes.

»Wer waren die Männer, die im Wald nach mir

jagten?«

»Seine ... Schergen«, erklärte Rylai.

»Du meinst, die Priester?«

Er nickte. »Und ein paar andere, die ihm am liebsten

die Füße küssen würden«, erklärte er verachtungsvoll.

»Gab es keine Toten beim Kampf mit der Echse?«

»Das weißt du?« fragte er verwundert.

Ich grinste. »Ich lockte das Teufelsvieh auf ihren

Lagerplatz.«

Er lachte schallend. Dann berichtete er: »Vier von

den Priestern erwischte es. Für einen war alles zu spät.

Drei brachten sie zurück zum Teich. Da sie Peris sind,

verwandelten sie sich natürlich nicht. Aber es war

trotzdem eine verdiente Strafe, denn wenn uns auch

der Tod nicht schreckt, so fürchten wir doch das

Sterben, und die Ungewißheit, ob sich wieder alles

zum Guten wenden wird.«

Einer von Rylais Jägern erschien. »Sie sind alle im

Tempel«, berichtete er.

»Dann werden wir jetzt auch gehen«, bestimmte ich.

»Thamai, du bleibst an meiner Seite. Rylai, laß Sibile

nicht aus den Augen. Es ist möglich, daß die Priester

ein paar kleine Tricks vorbereitet haben. An Ukandars

Page 78: Im Reich der Tiermenschen

Statt würde ich hoffen, daß sie es nicht getan haben.

Nehmt ihn in die Mitte.«

Ohne Schwierigkeiten erreichten wir den Tempel.

Wir betraten ihn durch den Vordereingang. Das

erschien mir sicherer, weil ich diesen Weg kannte. Wir

schlängelten uns durch die Menge, ohne daß die Jäger

den Priester aus ihrer Mitte ließen.

Ich gab Rylai einige Anweisungen, und er postierte

unauffällig Männer in der Nähe der Hintertüren, um

uns vor einem Überraschungsangriff der Priester zu

schützen. Thamai, Ukandar und ich nahmen an dem

Holztisch Platz, während Rylai seine Männer verteilte.

Gleich darauf öffneten sich die Türen, und die Priester

wurden zur Verwunderung der Anwesenden in den

Tempelraum getrieben, wo sie sich zwischen den

Versammelten niederlassen mußten. Es war wohl das

erstemal, daß sie das Ganze sozusagen aus dem

Zuschauerraum beobachteten.

Als sich das Raunen beruhigt hatte, zwang ich

Ukandar zum Aufstehen. »Deine Ansprache, Priester.

Du weißt, was du zu sagen hast. Oder hättest du lieber,

daß ich eine Rede halte ... über Parias zum Beispiel ...?«

Wütend trat er schließlich vor die Menge und hob

die Arme, bis es ganz still wurde. Es fiel ihm sehr

schwer, die Worte zu finden, aber er wußte, daß er

ausgespielt hatte. Die Möglichkeit, die ich ihm bot, war

bei weitem der beste Abgang.

Page 79: Im Reich der Tiermenschen

»Hört mich an, Thaimoa«, sagte er endlich. »Es ist

Vitus Wille, daß der Fremde an meine Stelle tritt, und

ich beuge mich dem Willen der Göttin. Gewährt ihr

ihm die Gunst, so wie Vitu sie ihm gewährt.«

Er verbeugte sich würdevoll, während die

Versammelten seine Worte zu begreifen versuchten.

Peris und Thaimoa gleichermaßen riefen aufgeregt

durcheinander, bis der ganze Tempel wie die Ratshalle

in Myra widerhallte. Schließlich trat Thamai vor und

bat um Ruhe, die nach und nach eintrat. Sie bestätigte,

was Ukandar gesagt hatte. Ich stand in der Gunst

Vitus, sei ihr Werkzeug. Und meinen Anordnungen sei

unbedingt Folge zu leisten. Daß Thamai sich für mich

einsetzte, entschied die Schlacht für mich. Und die

Tatsache wohl auch, daß ich einen heimlichen

Tyrannen von seinem Thron gestürzt hatte.

Ich hielt eine kurze Rede über meine Herkunft,

meine Taten und die fernen Reiche, die ich gesehen

hatte. Das beeindruckte sie tief. Ich brauchte nicht

aufzuschneiden. Die Leute dieses kleinen Dorfes hatten

seit uralter Zeit nichts als einander und den Dschungel

gekannt. Vitu und die Lebensteiche hielten sie

unerbittlich. Das Abenteuer, das da draußen locken

mochte, brachte den sicheren Tod – ohne

Wiedergeburt. Die wenigen, die ausgebrochen waren,

waren nie mehr wiedergekommen.

Danach verkündete ich die Botschaft von Vitu und

Page 80: Im Reich der Tiermenschen

gab damit sogleich den Grund, warum Vitu einen

Haudegen wie mich zum Herrscher über ihr Volk

machte.

Der Anmarsch einer Horde von Plünderern stand

bevor, die keine Gnade kannten. Was den Thaimoa

fehlte, waren kampferprobte Männer – erprobt im

Kampf, Mensch gegen Mensch. Die wollte ich

versuchen, aus ihnen zu machen, wenn überhaupt

noch soviel Zeit blieb.

Nach einem Augenblick der Stille, stürmten sie mit

Fragen auf mich ein, von denen ich viele nicht

beantworten konnte. Noch nicht. Ich wußte nicht, wie

stark der Feind war, wie nah er sich schon befand.

Keiner hatte je den Namen Darraco gehört, und ich

hielt es für besser, die Möglichkeit, daß sie vielleicht

auf Wolken herangeritten kamen, vorerst noch zu

verschweigen, bis unsere Kundschafter Genaueres

erfahren hatten.

Ich löste die Versammlung auf. Ich tat es leichten

Herzens, weil ich deutlich erkannt hatte, daß das

Thaimoa-Volk einverstanden war mit Vitus Wahl. Ich

würde es schon aufstacheln, sich zu wehren.

Es gab noch viele Vorbereitungen zu treffen.

Ukandar kam in sicheren Gewahrsam in seinem

eigenen Tempel. Die Gefahr, daß er rückfällig wurde,

sobald wir ihm den Rücken wandten, war allzu groß.

Auch die übrigen Priester ließ ich von Männern

Page 81: Im Reich der Tiermenschen

überwachen, die Rylais Vertrauen genossen.

Unter Rylais Leitung wurden acht Unterführer

ausgewählt, denen jeweils eine gewisse Anzahl Männer

und Frauen des Dorfes unterstehen sollten.

Dann befahl ich, alle Verwandelten ins Dorf zu

holen – auch die Parias, wenn das möglich war. Ich

wußte, der Dschungel war unser starker Punkt. Wenn

wir geschickt zu Werk gingen, würde er für Darraco

zur tödlichen Falle werden.

Larkin und die Wolkenreiter. Auf Feinde wie diese

mußte ich mich einstellen. Eine Horde von Männern,

die den Kampf zu ihrem Tagewerk gemacht hatten.

Piraten der Luft und des Landes.

Eines war klar: Auf einen Nahkampf durften wir

uns nicht einlassen. Gegen Schwerter vermochten die

Thaimoa nichts auszurichten. Meines war das erste, das

sie zu Gesicht bekommen hatten. Dabei waren sie

handwerklich nicht ungeschickt. Die meisten der

Dinge, die sie benützten, waren aus Holz, Ton oder

Stein hergestellt. Als Material für die Jagdwaffen

verwendeten sie hauptsächlich Bein, das sie mit Stein

bearbeitet, bis es so scharf und spitz war wie mancher

Dolch. Sie hatten messerartige Geräte zum Häuten und

Zerlegen des Wildes, Nadeln aus Bein, ebenso

Pfeilspitzen und Speerspitzen. Der Wald gab ihnen

alles, was sie brauchten. Nach Metallen hatten sie nie

gesucht. Sie brauchten sie nicht. Das Handwerk eines

Page 82: Im Reich der Tiermenschen

Schmiedes war ihnen fremd. Wohl hatten sie meine

Waffen bewundert, wie auch die Härte des Eisens.

Aber das einzige, wozu sie sich eine solche Waffe

gewünscht hätten, wäre für den Kampf gegen die

Echsen gewesen, die gelegentlich in ihr Gebiet

einbrachen. Jene Untiere, wie mir in der vergangenen

Nacht eines begegnet war. Gegen ihre harte

Schuppenhaut waren die Knochenwaffen ziemlich

wirkungslos.

Sie hatten bisher ein sehr abgeschiedenes Leben

geführt. Das würde nun aufhören, ob sie den Kampf

gegen Darraco gewannen oder verloren. Ihr Leben

würde sich wandeln. Es wandelte sich durch meinen

Einfluß bereits ein wenig.

Seltsam war nur das goldene Amulett, das Thamai

zu zeremoniellen Anlässen trug. Es war kunstvoll

geschmiedet. Es wäre selbst am Hof von Myra ein

Prunkstück gewesen, einer edlen Dame würdig, wenn

man es dort auch als frivol empfunden hätte, den

Schmuck statt eines Kleidungsstücks zu tragen.

Ich schickte noch am selben Tag zwei

Kundschaftertrupps aus, je ein Dutzend Männer; einen

in nordöstlicher Richtung, den zweiten weiter nördlich.

Sie sollten sofort Melder zurückschicken, wenn sie auf

etwas stießen, das nach Darracos Streitmacht aussah.

Sie sollten laufend beobachten, ohne selbst etwas zu

unternehmen, ohne gesehen zu werden, und jede

Page 83: Im Reich der Tiermenschen

Bewegung des Feindes melden.

In der Zwischenzeit bereitete ich die Thaimoa

moralisch auf den Kampf vor, und nicht nur moralisch.

Während die Frauen unter Anleitung einiger Kundiger

Blasrohre, Pfeile und Bogen herzustellen begannen und

ein Teil der Männer in den Dschungel ausschwärmte,

um die Verwandelten ins Dorf zu bringen, berief ich

eine Versammlung der Unterführer ein. Nicht im

Tempel, sondern an einem der Lagerfeuer. Ich setzte

Rylai als meinen Stellvertreter ein, dessen Befehle wie

meine zu befolgen seien. Wir besprachen eine Reihe

von Plänen, die mich in ihren Augen wohl zum

größten Feldherrn aller Zeiten machten. Aber es waren

alles Pläne von mir, die sie einen wie den anderen

begeistert aufnahmen. Mit jedem neuen Plan stieg ihre

Zuversicht. Ich sah bald, daß ich strategisch von ihnen

keine Hilfe erwarten konnte. Sie hatten noch nie gegen

einen menschlichen Feind gekämpft. Ich war ganz auf

mich allein gestellt. Das einzige, das sie mir zu bieten

hatten, war ihr Vertrauen und ihre Bereitwilligkeit zu

kämpfen.

Nun konnte sich zeigen, was ich von Partho gelernt

hatte.

Page 84: Im Reich der Tiermenschen

6.

Obwohl ich vorhatte, den Feind im Dschungel

abzufangen und um jeden Preis vom Dorf

fernzuhalten, war ich vorsichtig genug, auch das Dorf

zu befestigen. Aber Thamai meinte, es wäre nicht gut,

sich im Dorf zur letzten Verteidigung einzurichten.

Besser wäre Vitus Teich. Denn wenn wir lange genug

aushielten, würde Vitu unseren Toten sicher ein neues

Leben gewähren. Auch könnten dort die Wunden mit

dem Lebenswasser geheilt werden.

Sie meinte, daß niemand dem Dorf nachtrauern

würde, wenn diese Barbaren es vernichteten, denn die

einfachen Hütten konnten überall im Dschungel

errichtet werden.

Das beschwor zwar die Gefahr herauf, daß der Teich

in die Hände des Feindes fiel, wenn er uns besiegte,

während er ihn sonst vielleicht gar nicht entdeckt hätte,

aber es bot uns auch viele Vorteile.

Andererseits waren wir auf der Lichtung des Teichs

ziemlich schutzlos. Das einfachste war wohl, am

Waldrand Fallgruben auszuheben. Aber wir brauchten

eine Wand aus Stämmen, eine Palisade. Mit den

einfachen Werkzeugen der Thaimoa war das nicht

mehr rechtzeitig zu schaffen. An den Tempel, dem

Page 85: Im Reich der Tiermenschen

einzigen Gebäude aus Stämmen, hatten sie Jahre

gebaut.

Es gab nur einen Weg. Wir mußten uns Werkzeug

vom Feind verschaffen!

Am Abend kamen drei Dutzend Verwandelte ins

Lager, das wir bereits am Teich aufgeschlagen hatten.

Ein Dutzend von ihnen waren große Menschenaffen,

wie Rylai und seine Männer gewesen waren. Sie

konnten uns sowohl bei der Arbeit als auch im Kampf

helfen. Sie waren willig genug, als sie den Grund

erfuhren. Den übrigen rieten wir, im Lager zu bleiben –

oder wenigstens in der Nähe – und einen Vorrat von

Futter anzulegen.

Die Jäger waren die halbe Nacht unterwegs. Wir

brauchten einen größeren Fleischvorrat, den die Frauen

brieten und räucherten, um ihn haltbarer zu machen.

Die Aushebung der Gruben schritt voran. Zwei

Parias kamen nachts ins Lager und blieben. Sie

verstanden worum es ging. Sie hielten sich abseits, und

langsam schwand die angelernte Furcht vor ihnen, als

die Thaimoa sahen, daß sie sich friedlich verhielten.

Am Morgen kam der erste Späher zurück. Er

meldete aufgeregt, daß sie ein gewaltiges Lager am

Waldrand entdeckt hatten, das diesem Darraco

gehören mußte. Hunderte von Männern und Frauen

lagerten dort, alle mit langen Messern bewaffnet und

mit noch längeren Speeren. Sie machten vorerst keine

Page 86: Im Reich der Tiermenschen

Anstalten, das Lager abzubrechen. Es hatte den

Anschein, als wären sie ziemlich ausgehungert und

darauf bedacht, erst einmal ihre Mägen zu füllen, denn

die Prärie, von der sie kamen, beherbergte kein Wild.

»Hast du Wolken gesehen?« fragte ich ihn. »Waren

irgendwo in der Nähe seines Lagers Wolken?«

»Wolken?«

»Ja«, sagte ich ungeduldig. »Ich kämpfte bereits

einmal gegen einige von ihnen. Da ritten sie auf

Wolken über die Prärie.«

»Nein, Wolken konnten wir keine sehen, obwohl wir

einen guten Blick auf ihr Lager hatten.«

Ich ballte nachdenklich die Fäuste. Hatten sie sie

verloren? War das der Trick, mit dem sie hereingelegt

worden waren? Hatte vielleicht der König die Wolken

befreit?

Möglich war es. Nun verstand ich auch, warum sie

eine Gefahr für die Thaimoa bedeuteten. Sie waren zu

Fuß unterwegs. Sie mußten durch den Dschungel. Mit

den Wolken wären sie darüber hinweggeflogen.

»Sobald du ausgeruht bist, bringst du mich zum

Lager.«

Er nickte. »Laß mich etwas essen, dann können wir

gleich aufbrechen.«

Rylai wollte mit, aber er sah ein, daß er hier

gebraucht wurde. Thamai aber ließ es sich nicht

nehmen. Alle meine Warnungen vor den Gefahren

Page 87: Im Reich der Tiermenschen

beeindruckten sie nicht. Sie wollte den Feind mit

eigenen Augen sehen.

Waren sie überhaupt unsere Feinde? dachte ich

plötzlich. Vielleicht gab es einen Weg, sich mit ihnen zu

einigen. Aber ich beschloß, mit einem Urteil zu warten,

bis ich sie gesehen hatte. Die Männer, die ich getroffen

hatte, waren ganz offenbar von der Sorte gewesen, die

sich nahm, was ihr gefiel, ohne lange um Erlaubnis zu

fragen.

Nun, ich hatte ohnehin vorgehabt, mit diesem

Darraco zu reden. Immerhin schuldete er mir noch ein

Leben.

Wenig später brachen wir auf; der Späher, einer von

Rylais Männern, Thamai und ich. Wir gönnten uns nur

eine kurze Rast und erreichten spät nachts unsere

Spähertrupps. Sie waren sehr froh, daß ich kam, denn

sie wußten nicht recht, was sie tun sollten. Einer ihrer

Männer, Erano, war den Fremden während eines

Jagdzugs in die Hände gefallen. Sie hatten ihn mit ins

Lager geschleppt.

Wir schlichen an den Waldrand, äußerst vorsichtig,

denn Darraco mußte nun wissen, daß er nicht allein

hier war. Er würde wenigstens verstärkte Wachen

aufgestellt haben.

Das Lager war wirklich beeindruckend. Gut ein

Dutzend Feuer brannten zwischen den Zelten. Es war

Page 88: Im Reich der Tiermenschen

größer als unser Dorf. Viel größer.

Thamai schnappte überrascht nach Luft, als sie es

sah. »Dagegen sollen wir kämpfen?« flüsterte sie.

»Wir haben den Dschungel auf unserer Seite«, sagte

ich beruhigend. »Diese Männer sind gewohnt, auf

Wolken anzugreifen, zuzuschlagen und wieder zu

verschwinden. Jetzt sind sie zu Fuß. Wenn sie den

Dschungel betreten, wird es ein langer Weg für sie

werden.«

Aber ich wußte gut genug, daß der Dschungel nicht

der entscheidende Teil war, denn Larkin hatte auch in

dem wilden Dschungel jenseits der Prärie sein Leben

teuer verkauft.

»Wann haben sie Erano gefaßt?« fragte ich Mirin,

den Anführer des Spähtrupps.

»Kurz vor Sonnenuntergang, als sie von der Jagd

zurückkamen. Er bemerkte sie zu spät.«

»Seitdem habt ihr nichts von ihm gesehen?«

»Nein, und nichts gehört. Sie haben ihn ins Lager

gebracht.«

»Dann werden sie ihn ausquetschen«, sagte ich.

»Ausquetschen?« wiederholte Mirin.

»Ja. Sie werden ihn foltern, bis er ihnen sagt, was sie

wissen wollen.«

»Vitus Fluch!« entfuhr es ihm. »Er wird nichts

sagen!«

»Darauf würde ich mich nicht verlassen. Es gibt

Page 89: Im Reich der Tiermenschen

Methoden, die selbst einen Stummen zum Reden

bringen. Aber vielleicht haben sie sich noch nicht die

Zeit dazu genommen. Wir müssen versuchen, ihn so

rasch wie möglich zu befreien.«

»Aus diesem Lager? Wie stellst du dir das vor?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Sie sind hellhäutiger. Du würdest sofort auffallen«,

warnte Thamai. »Am Ende werden sie dich foltern wie

Erano.« Sie ergriff meinen Arm. »Ubali, du darfst nicht

gehen. Laß mich gehen.«

»Um Vitus willen, nein!« entfuhr es mir. »Was

wolltest du erreichen? Dann wären nur zwei

Gefangene in ihrer Hand. Oder besser drei«, fügte ich

hinzu.

»Drei?« fragte sie.

»Ja, ich«, erwiderte ich. »Mir wären dann die Hände

gebunden. Denn ich würde selbst Vitu verkaufen, um

dich wieder freizubekommen ...«

»Still«, flüsterte Mirin. »Da kommt jemand.«

Wir sahen zwei Gestalten zwischen den Zelten

hervorkommen und auf den Waldrand zugehen. Sie

kamen genau in unsere Richtung.

»Die könnten wir fangen, was meinst du?« flüsterte

ich Mirin zu.

»Ja.«

»Aber nicht töten«, warnte ich. »Nur am Schreien

hindern. Wir werden sie austauschen.«

Page 90: Im Reich der Tiermenschen

»Guter Gedanke.«

Als sie an uns vorbeikamen, zischte ich: »Fertig?«

Wir sprangen. Ich bekam meinen gut an der Kehle

zu fassen und drückte zusammen, bevor er schreien

konnte. Ich zog ihn zu Boden und drückte ihm das

Messer an die Kehle. »Keinen Laut!«

Er gehorchte und rührte sich nicht, während ich

nach seinem Gürtel tastete und einen Dolch herauszog

und ihn Thamai zuwarf.

In diesem Augenblick erklang hinter mir ein

gurgelnder Schrei. Er brach ab.

Als ich herumfuhr, sah ich Mirin mit einem blutigen

Dolch in der Hand.

»Vitu ... vergib mir«, stammelte Mirin. »Ich rang mit

ihm ... und hatte seine Waffe plötzlich in der Faust ...

Ich ...«

»Hör auf, um Vergebung zu jammern!« herrschte ich

ihn an. »Wir werden noch eine ganze Menge von

denen ...«

Ein harter Schlag gegen den Nacken warf mich nach

vorn. Gleich darauf hörte ich Thamai spitz aufschreien.

Halb betäubt vernahm ich rasche Schritte und Brechen

im Unterholz. Und während ich noch mühsam

versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, erklang

ein erneuter Schrei.

»Thamai!« entfuhr es Mirin.

Ich kam torkelnd hoch und sah eine Bewegung vor

Page 91: Im Reich der Tiermenschen

mir in den Büschen. Thamai tauchte auf und stürzte

auf mich zu. »Vitu sei Dank«, keuchte sie erleichtert,

als ich sie in den Armen fing. Ich schüttelte die

Benommenheit ab.

»Dir ist nichts geschehen?« murmelte ich.

»Nein. Oh, Ubali ... ich dachte, er hätte eine Waffe,

und du wärest ...«

»War wohl nur die Faust«, brummte ich. »Aber er

hat einen verdammt harten Schlag. Wir müssen hier

weg. Die müssen taub sein, wenn sie nichts gehört

haben. Außerdem ist einer entkommen ...«

»Nicht weit«, sagte Thamai.

Ich starrte sie an. »Ist er tot?«

»Ich weiß es nicht. Er stand nicht mehr auf.«

»Seht mal ...!« rief Mirin.

Flackernde Lichter kamen auf den Wald zu.

»Vitu! Sie haben uns bemerkt!« flüsterte Thamai.

»Vorwärts! In der Dunkelheit finden sie uns nicht so

leicht. Aber nicht zu den ändern, sonst kriegen sie uns

vielleicht alle.«

Mirin eilte voran. Ich schob Thamai hinter ihm her

und folgte. Der Wald war erfüllt von Rufen und

Flüchen, als sie gleich darauf die Leiche fanden. Es sah

aus, als wollten sie den Wald anzünden. Wenigstens

fünfzig Männer mußten hinter uns her sein, und sie

kamen rasch in unsere Richtung. Mit den Fackeln

fanden sie den Weg leichter als wir in der Finsternis.

Page 92: Im Reich der Tiermenschen

Bald war klar, daß wir ihnen nicht entkommen

würden.

»Thamai, lauf weiter!« keuchte ich. »Wenn wir

Glück haben, geben sie sich mit uns zufrieden ...«

»Niemals, Ubali ... mein Liebster ... dein Schicksal ist

auch meins ...«

»Du mußt Hilfe holen, Thamai. Lauf! Dreh dich

nicht um. Lauf!«

Aufatmend sah ich, daß sie gehorchte. »Halt ein,

Mirin. Es hat keinen Zweck. Thamai hat allein die

besseren Chancen.«

Keuchend hielten wir an und sahen Thamai

zwischen den Bäumen verschwinden, als hinter uns die

ersten Verfolger auftauchten. Als sie uns stehen sahen,

hielten sie ebenfalls an und warteten, bis ein Großteil

der Verfolger zu ihnen gestoßen war. Dann kamen sie

auf uns zu.

»Wirf die Waffe weg«, flüsterte ich Mirin zu und

warf meinen Dolch auf den Boden. »Es sind zu viele

zum Kämpfen. Und ich möchte ganz gern mit Darraco

sprechen.«

Auch Mirin warf seine Waffe weg – höchst ungern,

wie ich erkennen konnte.

Wir leisteten keinen Widerstand, als sie uns

umringten. Sie hatten verwegene Gesichter, und sie

blickten uns feindselig an. »Noch ein paar von der

Sorte«, stellte einer fest. »Darraco wird verdammt

Page 93: Im Reich der Tiermenschen

neugierig sein.«

»Velco ist tot. Wir sollten kurzen Prozeß mit ihnen

machen!«

»Dann wärest du der nächste, mit dem Darraco

kurzen Prozeß macht. Du weißt, daß er die Beute erst

sehen will, bevor er sie verteilt.« Der Sprecher grinste.

»Vielleicht verteilt er sie gerecht auf

zweihundertfünfundachtzig gleich Stücke, was meint

ihr?«

Die Bande schob uns vorwärts. Ich ahnte, daß es

nicht besonders gut um uns stand. Aber wenigstens

war Thamai in Sicherheit.

Sie stießen uns mit viel Gejohle in das hellerleuchtete

Lager. Von den Feuern starrten sie uns entgegen. Sie

sprangen auf, um genau zu sehen, was ihre Kameraden

da eingefangen hatten. Viele Gesichter waren finster,

und ich sah auch gleich warum. Man hatte inzwischen

den Toten gebracht und auf den freien Platz vor einem

der Zelte gelegt. Am nächsten Feuer saß der zweite. Er

hatte eine blutende Wunde an der Schulter, die zwei

Frauen gerade verbanden.

Wir wurden vor das Zelt gestoßen. Der Eingang

öffnete sich, und ein grobschlächtiger narbenbedeckter

Mann trat heraus. Seine tiefliegenden Augen musterten

die Szene kalt. Der dunkle Bart und das fast schwarze

schulterlange Haar ließen seine Haut heller erscheinen

Page 94: Im Reich der Tiermenschen

als die der übrigen. Aber die Blässe mochte auch von

einer inneren Erregung herrühren, die nichts Gutes

ahnen ließ.

Ich zweifelte nicht, daß ich Darraco vor mir hatte.

Ich sah die Grausamkeit und Unbeugsamkeit in seinen

Zügen, und ich wußte, daß der Kampf unvermeidbar

war, wenn das Volk der Thaimoa überleben wollte.

Hier war einer, der zu nehmen gewohnt war – um

jeden Preis.

Die Männer in der unmittelbaren Nähe

verstummten. Ich sah, daß auch sie ihn fürchteten.

Vielleicht, dachte ich einen Augenblick lang, wäre der

Kampf zu vermeiden, wenn ich ihn tötete! Er war die

treibende Kraft hinter der ganzen Schar.

Zweihundertfünfundachtzig hatte der eine gesagt. Fast

doppelt so viele, wie wir waren. Aber er stand zu weit

weg. Ich hätte ihn nie lebend erreicht. Aber ich spürte,

daß ohne ihn dieser führerlose Haufen nur halb so

stark sein würde; ein Gedanke, an den ich mich

erinnern würde.

»Habt ihr ihn getötet?« Er deutete auf den Toten zu

seinen Füßen.

Ich zuckte die Achseln. »Er war zu unvorsichtig.«

Einen Augenblick schien es, als ob er lächelte. Dann

fixierte er uns erneut. »Wieviele seid ihr?«

»Erwartest du darauf eine Antwort, Darraco?«

erwiderte ich.

Page 95: Im Reich der Tiermenschen

Wenn er überrascht war darüber, daß ich seinen

Namen wußte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken.

»Noch nicht«, sagte er und es klang, als ob er wüßte,

daß wir später reden würden. Das erfüllte mich mit

Unbehagen.

Er nickte Mirin zu. »Einen wie dich haben wir

bereits hier. Aber du«, wandte er sich an mich, »bist ein

anderer Vogel. Wo bist du her?«

»Ich kam aus dem Osten geflogen«, erklärte ich

nicht ohne Spott, und es war nicht einmal gelogen. »Ich

heiße Ubali, und es ist gut, wenn du es dir merkst.«

Er betrachtete mich neugierig.

»Wenn du nach Süden ziehst«, fuhr ich laut fort,

»wirst du auf elf deiner Männer stoßen, die du vermißt.

Ich habe sie erschlagen. Nur einer folgte mir in den

Dschungel der wilden Pflanzen, Larkin. Ich rettete ihm

das Leben, weil es mir klug schien, daß du mir ein

Leben schuldest. Aber am Schluß war der Dschungel

stärker.« Ich zuckte bedauernd die Schultern. Dann

fuhr ich fort: »Ich bin der Herrscher des Volkes der

Vitu-thaimoa. Ich bin gekommen, um mit dir zu

reden.«

Das hatte er offenbar nicht erwartet. Schließlich

nickte er und winkte seinen Männern. »Bringt sie ins

Zelt.«

Sie stießen uns vorwärts. Das Zelt war sehr groß.

Meine Augen brauchten einen Augenblick, um sich an

Page 96: Im Reich der Tiermenschen

die Helligkeit zu gewöhnen, die sechs Fackeln zu

unserer Linken erzeugten. Von dort kam auch ein

Stöhnen.

»Erano!« entfuhr es Mirin.

Er war an zwei gekreuzte Holzbalken gefesselt und

offenbar nicht ganz bei Sinnen, obwohl er Mirins

Stimme vernommen zu haben schien, denn er

versuchte, den Kopf zu heben, was aber mißlang. Quer

über Brust und Bauch, hinab bis auf die Schenkel,

zogen sich tiefe Peitschennarben, die schwarz von

geronnenem Blut waren.

Ich hielt Mirin fest, als er auf ihn zueilen wollte.

»Er hat nicht viel geredet«, erklärte Darraco

ungerührt. »Aber das braucht er nun nicht mehr. Ihr

werdet an seiner Stelle meine Neugierde befriedigen.«

Er gab ein Zeichen. Einer der Männer ging zu dem

Gefesselten und stieß ihm ein Messer in die Brust.

Mirin schrie auf. »Feiger Mörder!« Er wollte mit

geballten Fäusten auf Darraco los, und der Mann hinter

ihm hob seine Klinge zum Stoß in den Rücken. Aber

ich riß Mirin zurück. Dieser feige, sinnlose Mord war

mir selbst an die Nieren gegangen, und ich mußte an

mich halten.

»Geduld«, sagte ich zu Mirin. »Er weiß noch nicht,

daß er für alles bezahlen wird.«

Das beeindruckte Darraco indes nicht. Mit einem

spöttischen Lächeln deutete er auf eine Bank. »Setzt

Page 97: Im Reich der Tiermenschen

euch, Majestät«, meinte er höhnisch. Dann sahen wir

stumm zu, wie sie den toten Erano losbanden und aus

dem Zelt schafften. Mirin starrte zähneknirschend auf

die Männer.

Erneut winkte Darraco. Die Männer ergriffen Mirin

und banden den sich heftig Wehrenden an das Kreuz.

Ein Riese von einem Mann trat mit einer Peitsche vor.

»Na, Moltos«, meinte Darraco. »Wirst du mit ihm

besser zurechtkommen?«

Der Riese holte aus und schlug zu.

Mirin schrie nicht. Er stöhnte nicht einmal. Diese Art

von Gewalt und Schmerz war für ihn völlig

unbegreiflich. Er sog Luft ein, und seine Augen

wurden weit. Seine Muskeln spannten sich einen

Moment.

Moltos zuckte die Achseln. »Wird nicht viel besser

sein mit ihm«, sagte er und beobachtete Mirins Haut,

aus der Blut zu sickern begann.

Ich versuchte unbeteiligt zu wirken.

»Nun, Majestät«, meinte Darraco, »berührt euch das

Schicksal eurer Untertanen nicht?«

»Der einzelne bedeutet nichts«, erklärte ich mit

gespielter Gleichgültigkeit. »Es wäre mir recht, wenn

wir jetzt endlich mit Vernunft reden könnten ... ohne

diesen Pöbel und ohne diesen primitiven Spektakel.«

Dabei deutete ich um mich. Dann fuhr ich fort: »Der

Dschungel ist das Reich meines Volkes. Ich kam, um

Page 98: Im Reich der Tiermenschen

dir folgendes zu sagen, Darraco: Ziehst du nach

Nordwesten, so magst du in Frieden gehen. Ziehst du

nach Süden zur Küste, so magst du auch in Frieden

gehen. Setzt du aber den Fuß in diesen Teil des

Dschungels, so wirst du jeden Schritt mit Blut

bezahlen.«

Einen Augenblick funkelte er mich wütend an, dann

hatte er sich wieder in der Gewalt. »Interessant«, stellte

er spöttisch fest. »Deines wird in jedem Fall

mitfließen.«

»Wie ich schon sagte, der einzelne bedeutet nichts.«

Er schien bereit, das zu glauben. Vielleicht hätte er

meine Gleichgültigkeit nur für gespielt gehalten, aber

erst Eranos und nun Mirins stumme Duldung der

Folter ließ ihn ahnen, daß er so nicht zum Ziel kommen

würde. Aber ihm, für den das Töten offenbar das Mittel

für alles gewesen war, fiel es schwer, einen anderen

Weg zu finden.

Wütend sagte er: »Ich bin müde. Schafft sie in

sicheren Gewahrsam. Ihr haftet mit eurem Kopf für sie,

ist das klar?«

Die Männer nickten nicht übermäßig erfreut.

»Wir werden morgen eine Entscheidung treffen.

Macht schon. Laßt mich allein!«

Sie banden Mirin los und fesselten ihm die Hände

auf den Rücken, mir ebenfalls, dann schoben sie uns

hinaus. Nach einem kurzen Palaver schickten sie einen

Page 99: Im Reich der Tiermenschen

fort, der kurz darauf mit einer Axt und einem großen

Pfahl zurückkam. Sie suchten einen günstigen Platz vor

einem der Feuer aus, wo sie uns gut sehen konnten,

und schlugen den Pfahl tief in den weichen

Prärieboden. Wir mußten uns setzen und wurden

Rücken an Rücken an den Pfahl gebunden. Danach

begaben sie sich ans Feuer zurück und nahmen ihr

unterbrochenes Essen wieder auf, wobei sie

gelegentliche Blicke zu uns herüberwarfen.

Es würde eine ungemütliche Nacht werden. Aber

vorerst konnten wir gar nichts unternehmen; nur

hoffen, daß Mirins Männer sich klug verhielten.

Langsam brannten die Feuer nieder. Darraco ließ sich

nicht mehr blicken. Einmal glaubte ich am Lagerrand

einen Schrei zu vernehmen, aber es mochte auch nur

ein Laut aus dem Dschungel gewesen sein. Der

Dschungel war nachts voller Leben.

Auch einige der Männer am Feuer hoben die Köpfe

und lauschten, zuckten aber nach einem Augenblick

die Achseln. Das Lager war gut bewacht. Sie nahmen

ihr Palaver wieder auf. Lange nach Mitternacht

verschwanden schließlich auch die letzten in den

Zelten, bis auf zwei Wachtposten, die offenbar

vorhatten, die ganze Nacht mit uns zu verbringen. Es

war eine aussichtslose Lage, und ich fluchte still in

mich hinein. Mirin ging es nicht anders.

Page 100: Im Reich der Tiermenschen

»Können wir gar nichts tun?« flüsterte er.

»Hast du Ideen?«

»Nein.«

»Warum hilft Vitu uns nicht?«

»Die Götter helfen dem, der sich selbst hilft. Noch

leben wir. Diese Stricke sind zu gut geschnürt. Kannst

du deine aufbekommen?«

»Ich habe es noch nicht versucht..«

»Bei den Göttern, Mann«, fluchte ich, »worauf

wartest du, daß Vitu erscheint und sie dir persönlich

aufknüpft?«

»Haltet den Mund!« sagte der eine Posten drohend.

Ich spürte, wie Mirin an seinen Fesseln zu arbeiten

begann, aber ich hatte wenig Hoffnung, selbst wenn sie

nur halb so gut geschnürt waren wie meine. Und

warum sollten sie nur halb so gut geschnürt sein?

Nach einer Weile gab er es keuchend auf. »Geht

nicht.«

Ich brummte zustimmend.

»Erano wird endgültig sterben, wenn wir ihn nicht

rechtzeitig zum Teich bringen.«

»Wann spätestens?«

»Morgen nacht.«

»Hast du gesehen, wohin sie ihn gebracht haben?«

»Nein.«

»Dann werden wir ihn nicht finden. Wenn sie ihn in

den Dschungel brachten, wie ich glaube, dann haben

Page 101: Im Reich der Tiermenschen

die Ameisen nicht viel mehr als die Knochen übrig

gelassen ...«

»Von uns wird auch nicht viel mehr übrigbleiben.«

»Vielleicht«, stimmte ich zu. »Aber bis dahin halten

wir die Hände in Bewegung, daß sie nicht absterben. Es

mag der Augenblick kommen, da wir sie brauchen.«

Er gab keine Antwort, aber ich spürte gelegentlich,

wie er seine Hände kräftig drehte und wand. Der

Wachtposten direkt vor uns hatte den Kopf auf die

Knie gestützt. Es war nicht zu erkennen, ob er schlief.

Der zweite, der ein wenig abseits saß, starrte mit

müden Augen in die letzte Glut.

»Sie haben seltsame Kleider«, flüsterte Mirin nach

einer Weile. »Ich habe noch nie dergleichen gesehen.«

»Wolle und Leinen«, erklärte ich.

»Was ist das?«

»Gewebter Faden. Da kommt jemand.«

Zwei Gestalten kamen vom Lagerrand her auf die

Feuerstelle zu. Ein Mann und ein Mädchen. Das

Gesicht des Mädchens war tief im Schatten eines

Tuches. Sie ließen sich schweigend bei den anderen

beiden nieder.

»He, Masco«, sagte einer der Wachen, »du scheinst

ja mächtig in Fahrt.« Er lachte.

Masco, der Neuankömmling, warf ein paar kleine

Äste in die Glut. Grinsend erwiderte er: »Vallie ist das

beste Stück, das ich jemals erbeutete.« Er drückte das

Page 102: Im Reich der Tiermenschen

Mädchen an sich. »Und wißt ihr, sie findet es auch

nicht übel.« Er blies in die Glut, bis kleine Flammen

hochsprangen. »Wir sind noch nicht müde. Wenn ihr

wollt, könnt ihr euch ein paar Stunden aufs Ohr legen.

Wir wecken euch, wenn wir schlafen gehen.«

»Das ist ein Wort, Masco. Aber laßt sie nicht aus den

Augen. Ich glaube, Darraco hat einiges mit denen vor.«

»Keine Angst«, meinte Masco und stieß seinen

Dolch vor sich in die Erde.

»Mir gefällt‘s nicht«, meinte der zweite

Wachtposten.

»Ah, komm schon. Wir lassen die beiden

Turteltauben allein«, sagte der erste grinsend.

Der andere zuckte die Achseln. »Na gut, es ist auch

deine Haut.« Er erhob sich ebenfalls. »Da hinten ist

noch Brennholz.« Er gähnte. »Ich bin wirklich

verdammt müde. Ich hoffe, ihr haltet es eine Weile aus.

Viel kann nicht passieren. Darraco hat die Wachen

verdoppeln lassen. Sieht so aus, als ob ihm die

Fremden nicht geheuer wären.«

Damit verschwanden die beiden zwischen den

Zelten. Masco und das Mädchen saßen schweigend,

während das Feuer wieder niederbrannte. Masco

machte keine Anstalten, Holz nachzulegen. Das

Mädchen war auch von ihm weggerückt, und ich hatte

das Gefühl, daß etwas nicht ganz stimmte.

Das Mädchen kam plötzlich mit einem Dolch aus

Page 103: Im Reich der Tiermenschen

den Falten ihres Gewandes und erhob sich, während

Masco scheinbar unbeteiligt sitzen blieb. Sie hockte sich

neben uns und schob das Tuch ein wenig zurück, so

daß ich ihr Gesicht erkennen konnte. Nur mit Mühe

konnte ich einen überraschten Ausruf zurückhalten.

»Still«, flüsterte sie.

Auch Mirin hatte sie erkannt. »Thamai«, stieß er

hervor. »Vitu sei Dank!«

»Still!« sagte sie erneut. Dann gab sie meinen Mund

frei und schnitt die Fesseln durch. »Bleibt noch sitzen,

bis ich fort bin. Dann folgt mir.«

»Was ist mit Masco?« fragte ich.

»Er mag hierbleiben. Er wird uns nicht verraten. Wir

haben sein Mädchen.«

»Darraco wird ihn töten«, sagte ich. »Sag ihm, daß er

mit uns kommen soll.«

Sie nickte und begab sich wieder ans Feuer,

während wir unsere Handgelenke rieben, damit das

Blut wieder durchfloß. Thamai redete auf Masco ein,

der mehrmals den Kopf schüttelte, schließlich aber

nickte. Er kam zu uns. »Garantiert ihr uns das Leben,

mir und Vallie?«

»Würden wir dich sonst mitnehmen?« erwiderte ich.

»Um mich auszufragen ...«

»Dazu würde uns auch Vallie genügen«, meinte ich.

Ich deutete auf die Axt, die nicht weit vom Feuer lag.

»Wir brauchen zwei oder drei von diesen Äxten.

Page 104: Im Reich der Tiermenschen

Kannst du sie beschaffen?«

Er nickte nach einem Augenblick. Er wußte, er hatte

sich auf ein tödliches Spiel eingelassen, um sein

Mädchen zu retten. Auf die Äxte kam es auch nicht

mehr an. Es war gut, daß er nicht wußte, wie sehr wir

sie brauchten.

Thamai sah unruhig, daß Masco in der Dunkelheit

verschwand. Sie kam zu mir. »Was hat das zu

bedeuten? Wir müssen fort.« Ich erkannte, daß sie

Angst hatte.

Thamai brachte mir die Axt, mit der der Pfahl in die

Erde getrieben worden war.

Ich nahm sie in die Hand. Ah, es war beruhigend,

sie zu halten. »Damit werden wir uns eine Festung

bauen. Ich wünschte, wir hätten auch noch einige von

den Schwertern und Dolchen ...«

»Wir dürfen nicht mehr lange warten«, warnte sie.

»Wir haben einen der Wachtposten niedergeschlagen.

Wenn er wieder aufwacht ...«

»Du warst sehr tapfer«, sagte ich.

Einen Augenblick schmiegte sie sich an mich. Ich

wollte sie küssen, aber Mirin flüsterte plötzlich:

»Vorsicht!«

Gleich darauf hörte ich Schritte aus seiner Richtung.

Ich dachte, es wäre Masco. Sehen konnte ich nichts, da

ich mit dem Rücken zu ihm saß. Thamais Augen

wurden weit. Ich wandte mich um. Die Gestalt war in

Page 105: Im Reich der Tiermenschen

der Dunkelheit schwer zu erkennen. Aber es war nicht

Masco, soviel war sicher. Langsam nahm ich die Hände

hinter mich, als wären sie noch gefesselt. Vielleicht sah

er die Bewegung in der Dunkelheit nicht. Aber er sah

Thamai neben uns, und er sah niemanden am Feuer.

»He, Masco«, rief er halblaut. Es war die Stimme

eines unserer Wachtposten, der offenbar nach dem

Rechten sehen wollte. Als Masco nicht antwortete,

fluchte er leise.

»Ruf ihn her«, flüsterte ich.

Thamai winkte ihm. »He ...!«

Er kam näher, ein wenig mißtrauisch. »Wo ist

Masco?«

Sie zuckte die Achseln und deutete hinter sich in die

Dunkelheit.

Er stand gleich darauf neben uns. »Siehst sie dir

wohl ganz genau an, wie?«

Sie erhob sich und ging ans Feuer zurück, dessen

schwache Glut wie ein rotes Auge in der Dunkelheit

war. Als er sich umwandte und ihr nachblickte, erhob

ich mich geräuschlos und zog ihm das flache Blatt der

Axt über den Schädel. Ein dumpfer Laut war alles. Von

ihm kam kein Geräusch. Ich hielt ihn fest, daß er nicht

zusammenklappen konnte. Das Waffengeräusch hätte

sicher jemanden geweckt. Ich begann seinen Gürtel zu

öffnen. Mirin war ebenfalls auf den Beinen.

Gemeinsam zogen wir ihn aus und nahmen ihm die

Page 106: Im Reich der Tiermenschen

Waffen ab. Dann befahl ich Mirin, die Kleider

anzuziehen. Das war aber nicht so einfach, weil er, der

er noch nie so etwas getragen hatte, mit den

Beinkleidern nicht zurechtkam. Doch schließlich

klappte es.

Ich war heilfroh, als endlich Masco auftauchte. Er

hatte zwei Äxte bei sich. Und er wurde blaß, als er

erkannte, was sich während seiner Abwesenheit alles

zugetragen hatte. Wir ließen ihm keine Zeit, darüber

nachzudenken. Ich winkte in Richtung des Waldes.

Mirin nahm ihm eine der Äxte ab.

Thamai eilte voran, Masco hinter ihr. Ich schob

Mirin hinterher und folgte. Wir liefen geduckt

zwischen den Zelten hindurch. Thamai deutete auf

eine reglose Gestalt im Gras. Der niedergeschlagene

Posten. Ich hielt kurz an und nahm ihm Schwert und

zwei Dolche ab. Dann hatte ich Mühe, wieder

aufzuholen. Ich sah sie undeutlich ziemlich weit vor

mir laufen. Im nächsten Augenblick wäre ich fast gegen

sie geprallt.

»Posten«, zischte Masco und deutete nach vorn, wo

sich undeutlich zwei Gestalten gegen den helleren

Himmel abhoben. »Wir müssen sie umgehen.«

Das kostete uns einige Zeit, und ich war schon

reichlich unruhig. Jeden Moment erwartete ich, daß

unser zweiter Wächter auftauchte und feststellte, daß

wir verschwunden waren. Jeden Moment erwartete

Page 107: Im Reich der Tiermenschen

ich, den Tumult hinter uns losbrechen zu hören.

Doch unangefochten erreichten wir den Waldrand.

Wir gönnten uns keine Rast. Thamai führte uns. Ihrer

Zielsicherheit nach zu schließen mußten die Männer

Mirins in der Nähe lagern. Wenig später gab Thamai

ein Zeichen. Wir hielten an. Sie lauschte und nickte.

Auf ein leises Pfeifen kam Antwort. Gleich darauf

umringten uns erleichtert grinsende Gestalten und

führten uns zu ihrem kleinen Lagerplatz. Noch jemand

war sehr erleichtert über unser Kommen – ein

schwarzhaariges Mädchen, das sich in Thamais

Lendenfell ziemlich nackt zu fühlen schien. Als sie

Masco entdeckte, sprang sie ihm mit ausgebreiteten

Armen entgegen.

Während Thamai Vallie die Kleider zurückgab,

entledigte sich auch Mirin hastig der ungewohnten

Sachen.

Er war sichtlich froh, sie loszuwerden. Die Männer

sahen ihm grinsend zu.

»Gefällt sie dir nicht, deine neue Häuptlingstracht?«

meinte einer spöttisch.

»Wir werden sie vielleicht noch brauchen«,

murmelte er und schnürte sie zusammen.

Dann zählten wir die Waffen, die wir erbeutet

hatten. Vier Dolche, zwei Schwerter, nicht gerechnet

Mascos Bewaffnung, und drei Äxte. Ganz gut für den

Anfang. Und es gab noch eine Neuigkeit: Sie hatten

Page 108: Im Reich der Tiermenschen

Eranos Leiche gefunden. Drei Männer aus dem zweiten

Spähtrupp waren seit mehreren Stunden unterwegs,

um sie an den Teich zu schaffen.

Ich befahl Mirin, weiter jede Bewegung Darracos ins

Lager zu melden. Dann brach ich mit Thamai auf.

Masco und Vallie schlossen sich uns an. Sie wollten fort

von Darracos Lager, wo sie nur der Tod erwartete,

denn Darraco duldete kein Versagen und noch weniger

einen Verrat, auch wenn er aus der Not heraus

geschah, das Mädchen zu retten. Sie wollten nach

Süden, das Meer erreichen, ein Boot bauen und nach

Westen segeln, um die Küste zu erreichen, an der

Vallies Dorf lag.

7.

Zwei Dinge glaubte ich erkannt zu haben: Darraco

besaß tatsächlich keine Wolken mehr. Er war mit

seinen Leuten zu Fuß unterwegs, und das war für ihn

sicher eine gewaltige Umstellung. Er würde also

ziemlich hilflos sein. Und König Dragon befand sich

offenbar nicht mehr in der Gegend hier. Die Chancen

Page 109: Im Reich der Tiermenschen

standen stark dafür, daß er sich mit einer

Wanderwolke auf den Weg gemacht hatte. Wohin?

Zum Weltentor zurück? Oder zu Danilas Stamm?

Und ich saß hier fest! Ich verdrängte den

entmutigenden Gedanken rasch. Es galt nun,

lebenswichtigere Dinge zu tun. Ich zweifelte nicht

daran, daß Darraco angreifen würde.

Vielleicht gelang es uns, ihn in die Irre zu führen.

Dieser Gedanke beschäftigte mich während des ganzen

Rückwegs. Wenn wir es klug anstellten, fand er das

Dorf gar nicht. Wir konnten ihn in Dutzende von

Hinterhalten locken.

Wir legten eine kurze Rast ein, denn Masco und

Vallie ermüdeten rascher als wir. Ich versuchte, von

Masco etwas über König Dragon zu erfahren und

bekam schließlich aus ihm heraus, daß ein Weißer mit

braunem Haar und einem sonderbaren Amulett

Darraco hereingelegt habe. Nun war alles klar. Aber

wohin der Fremde mit der Wolke Aerula-thane

verschwunden sei, das wußte auch er nicht. Bei dem

König befanden sich jedenfalls noch der einstige

Prophet Darracos, Umkathel, und seine Tochter Priapa,

sowie ein Mädchen, das mit dem Fremden gekommen

war.

Dieser Fremde habe offenbar über besondere Kräfte

verfügt, denn die riesige Wolke gehorchte ihm, ohne

daß er sie mit Speeren zu lenken brauchte.

Page 110: Im Reich der Tiermenschen

Sie nannten sich Piraten. Piraten der Lüfte. Aber

damit war es nun vorbei, da ihnen der Fremde die

Wolken genommen hatte. Ich erfuhr auch ein wenig

über Masco selbst. Wie viele der Piraten war er als

Kind geraubt worden und dann bei ihnen geblieben.

Erst lockte ihn das abenteuerliche Leben, aber oft kam

er sich vor wie ein Gefangener. Es gab keine Flucht aus

Darracos Bande. Noch nie hatte es einer geschafft. Mit

den Wolken fanden sie sie überall und töteten sie

unbarmherzig als Verräter. Erst Vallie, Valeria, die aus

einem Dorf an der Küste geraubt wurde, hatte das

Leben wieder erträglicher gemacht. Aber Vallie war

noch nicht lange bei den Piraten, und geraubte

Mädchen gehörten, besonders während der ersten Zeit

nicht einem allein. Die beiden liebten einander, und

griffen mit beiden Händen nach der Fluchtmöglichkeit,

die sich ihnen jetzt bot.

Wir hatten Glück gehabt. Hätten wir einen von

Darracos loyalen Männern erwischt, so hätte dieser

sicherlich Thamai ins Lager gebracht und wäre

geradewegs zu Darraco mit ihr, statt uns zur Flucht zu

verhelfen. Um das Mädchen, das Mirins Männer als

Geisel festhielten, hätte er sich nicht gekümmert. Für

die meisten Piraten waren geraubte Mädchen nur

Beutestücke.

Ich war sehr froh über Mascos Einstellung. Das

machte es mir leichter, ihn gehen zu lassen, wie ich es

Page 111: Im Reich der Tiermenschen

ihm versprochen hatte. Von ihm brauchten wir nichts

zu befürchten.

Wir erreichten das Dorf am späten Nachmittag. Da

Masco bis zum Morgen bleiben und dann weiterziehen

wollte, gaben wir ihm eine der Hütten. Von Vitus Teich

allerdings wollten wir ihn fernhalten. Das Dorf war fast

leer, aber er stellte keine Fragen. Wahrscheinlich dachte

er folgerichtig, daß die meisten als Späher oder Jäger

unterwegs waren. Auch hielt er dieses eine Dorf sicher

nicht für das einzige der Thaimoa, und ich hatte nicht

vor, ihn eines Besseren zu belehren. Ich begann ihn zu

mögen. Aber ich hatte kein Vertrauen zu ihm.

Mit Thamai begab ich mich zum Teich. Rylai war

sehr froh, uns wiederzusehen. Wir berichteten ihm,

was wir gesehen hatten und gaben ihm die Äxte und

zwei Dolche, die seinen Männern gute Werkzeuge sein

würden. Er war sehr angetan von den Äxten,

besonders, als ich ihm zeigte, wie rasch ein Stamm

damit zu fällen und von Ästen zu befreien war. Aber

ich warnte ihn davor, den Boden damit aufzugraben,

denn die Axtblätter würden sehr rasch stumpf und

schartig werden, und wir hatten nichts, um sie zu

schärfen.

Weitere Verwandelte waren eingetroffen, und

sieben Parias befanden sich im Lager, einer

furchterregender als der andere, aber friedlich und

dankbar dafür, daß niemand mehr vor Entsetzen vor

Page 112: Im Reich der Tiermenschen

ihnen davonlief. Es fehlte noch immer ein halbes

Dutzend, wie mir Thamai versicherte, unter ihnen

Talohe, ihr Vater.

Die Fallgruben waren fast fertig und erstreckten sich

den gesamten Waldrand entlang. Sie waren noch

ungetarnt.

Ich berief eine Versammlung der Unterführer ein

und berichtete allen, was wir erlebt und gesehen

hatten, und was ich zu Darraco gesagt hatte.

Es waren ein paar bange Gesichter unter ihnen, als

sie die Zahl der Piraten vernahmen, aber alle hießen es

gut, daß ich dem Piratenführer gedroht hatte.

Dann berichtete ich ihnen meinen Plan, die Piraten,

wenn sie unsere Warnung nicht ernstnahmen, tief in

den Dschungel zu locken und sie immer wieder aus

dem Verborgenen anzugreifen, bis sie aufgaben. Wenn

alles klappte, so wie ich es mir dachte, könnte man sie

bis in das Gebiet der Echsen locken.

»Und wie stellst du dir das vor?« fragte Rylai ein

wenig zweifelnd. »Wir sind zu wenige.«

»Oh, wir werden uns auf keinen offenen Kampf

einlassen. Ich könnte mir denken, daß sie auffälligen

Spuren folgen, daß wir in den Bäumen auf sie warten

und mit einem Pfeilhagel überraschen und wieder

verschwinden, bevor sie sich davon erholt haben. Und

während sie uns verfolgen, greift ein anderer Trupp

ihre Nachhut an. Natürlich wird es Opfer geben. Kein

Page 113: Im Reich der Tiermenschen

Kampf ist ohne Verluste zu führen und zu gewinnen.«

»Und es gibt keinen friedlichen Weg?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich fürchte nein. Und Vitu

hat es ebenfalls erkannt. Die Piraten sind immer auf

Beute aus. Aber jetzt ist es für sie nicht mehr einfach

nur ein Raubzug, jetzt sind sie von allem abgeschnitten,

vergißt er die Niederlage nicht, die er erlitten hat. Es

wird Blut fließen. Ihr habt an Erano gesehen, daß er

sinnlos Blut vergißt.«

Er nickte nachdenklich, während die Unterführer

abwarteten. Daß ich Rylais Entgegnungen zu

entkräften vermochte, ließ in ihnen sichtlich die

Vorstellung wachsen, daß ich alles reiflich überlegt

hätte. Gewiß, ich hatte es eine ganze Weile überlegt.

Aber reiflich genug?

»Was tun wir hier?« meinte Rylai.

»Wir errichten ein paar Palisaden, hinter denen man

sich verschanzen kann und Deckung findet ...«

»Palisaden ...? Was meinst du damit?«

»Wände aus Baumstämmen, ähnlich den Wänden

des Tempels. Dahinter finden die Frauen und Kinder

Schutz, und die Verwundeten und Toten, die wir dem

Teich übergeben müssen.«

»Bleibt uns soviel Zeit?«

»Ich weiß es nicht. Wenn alle mithelfen, schaffen wir

es bestimmt. Mit den Äxten wird es nicht so schwierig

sein. Wir werden nichts unternehmen, solange sie nicht

Page 114: Im Reich der Tiermenschen

den ersten Schritt tun. Dann werden wir sie noch

einmal nachdrücklich warnen. Danach bedeutet es

Kampf.«

Er nickte bedächtig. Dann sah er mich lange an. »Ich

fürchte dich ein wenig, Ubali, Freund. Du bist so

anders als wir. Es ist soviel Bereitschaft zur Gewalt in

dir. Aber ich weiß, daß du nicht sinnlos tötest. Und es

wäre nicht Vitus Wille, daß du für die Thaimoa

kämpfst, wenn Böses in dir wäre.«

»Es liegt nicht daran, daß ich anders bin«, erwiderte

ich. »Ihr habt das Böse auch in euresgleichen. Der Tod

ist weniger grausam als das, was aus Ukandars

Händen kommt.«

Er nickte zustimmend. »Du hast recht. Verzeih

meine ... Überheblichkeit, mein Freund.«

»Wir haben alle Furcht, Rylai«, sagte ich.

8.

Als wir ins Dorf zurückkamen, dachte ich zum

erstenmal daran, daß dies meine erste geruhsame

Nacht mit Thamai sein würde – in menschlicher

Page 115: Im Reich der Tiermenschen

Gestalt!

Vielleicht auch meine letzte. Aber es schien mir, daß

wir noch ein oder zwei Tage Zeit haben. Darraco

würde sein Lager nicht vorschnell abbrechen. Vielleicht

schickte er eine Vorhut. Das war es, was ich hoffte.

Masco und Vallie begannen sich sehr wohl im Dorf

zu fühlen. Ihre Geschichte hatte weitgehend die Runde

gemacht, und kaum einer im Dorf begegnete ihnen

feindselig. Sie hatten, wenn auch nicht ganz freiwillig,

es ermöglicht, mich und Mirin zu befreien, und der

Umstand, daß sie beide von den Piraten geraubt

worden waren, trug viel dazu bei, daß allgemein Anteil

an ihrem Schicksal genommen wurde.

Als wir abends an den Feuern saßen, wurde Masco

stürmisch gebeten, aus seinem abenteuerlichen Leben

zu erzählen, was er auch bereitwillig tat. Er spürte, daß

dies nichts mit Ausfragen über den Feind zu tun hatte,

sondern einfache Neugier auf das Unbekannte war. Er

erkannte sehr bald, daß diese Menschen noch nie aus

ihrem Dschungelreich hinausgekommen waren. Es

konnte ihm nicht verborgen bleiben, daß sie mehr oder

weniger der Vergangenheit angehörten, daß

Jahrhunderte an ihnen spurlos vorübergegangen

waren. Sie schmiedeten nicht einmal Eisen,

verwendeten Bein und Felle für Werkzeug und

Bekleidung. Aber sie waren freundlich. Seit langem

war niemand freundlich zu ihm und seinem Mädchen

Page 116: Im Reich der Tiermenschen

gewesen. Er begann sich geborgen zu fühlen, und ich

hatte das Gefühl, daß es ihm am Morgen schwerfallen

würde, weiterzuziehen.

Er erzählte ausführlich, während alle gespannt

lauschten. Auch wir, Thamai und ich, saßen am Feuer,

und obwohl ich selbst weit herumgekommen bin,

konnte ich mich dem Bann seiner Geschichte nicht

entziehen.

Es war eine seltsame Welt, und das Leben der

fliegenden Piraten war von ungemeinem Reiz. Ich hatte

ja auch schon erkannt, wie wundersam es war, zu

fliegen, und die Welt wie einen bunten Teppich unter

sich vorbeiziehen zu sehen, mit den Bergen so groß wie

Kieselsteine und den Flüssen als kleine silberne Striche.

Thamai war es schließlich, die mich fortzog vom

Feuer. Ihre Hand war warm und lebendig in der

meinen, ihre Augen dunkel wie Vitus Teich.

Sie zog mich zwischen die Hütten hinaus auf die

Lichtung, abseits vom flackernden Schein der Feuer.

»Hier«, sagte sie plötzlich. »Das Gras ist ganz weich.

Komm, mein Liebster, laß uns den Himmel ansehen.«

»Den Himmel«, wiederholte ich verwundert. Sie

legte sich auf den Rücken, und nach einem Augenblick

tat ich es ihr gleich.

»Was bedeutet dir der Himmel?« fragte ich sie.

»Der einzige Ausweg aus diesem Wald«, seufzte sie.

»Die einzige Freiheit.«

Page 117: Im Reich der Tiermenschen

»Und die Prärie? Hast du nie die Prärie gesehen?«

»Doch, aber sie ist so weit ... und leblos. Man ist so

schutzlos auf ihr. Es gibt nichts, wo man sich verbergen

könnte. Nein, sie ist keine Freiheit.«

»Denken alle Thaimoa so wie du?«

Sie schüttelte traurig den Kopf. »Nein, sie lieben den

Dschungel. Sie träumen nicht. Du wirst fortgehen,

nicht wahr? Wenn dies alles vorüber ist?« fragte sie

unvermittelt.

Ich wandte mich ihr zu und betrachtete sie. »Ja«,

erwiderte ich. »Und ich wünschte, du würdest mit mir

kommen, Thamai.«

Sie sah mich an. »Du würdest mich mitnehmen ...?«

Ich nickte. »In meiner Heimat sagt man: Du hast

mein Herz, Gefährtin, meine Hände und meine Welt!

Was soviel bedeutet wie: wir haben einen

gemeinsamen Pfad, und mögen die Götter uns sicher

geleiten, so lange er währt ...«

Sie legte die Arme um mich, und ich wußte in

diesem Augenblick, daß ich sie niemals hier

zurücklassen würde.

»Ja, Ubali, ich möchte diesen Pfad mit dir gehen.«

»Es ist ein weiter Weg, Thamai. Er führt durch

tausend Gefahren und hat vielleicht nie ein Ende, denn

ich bin auf der Suche nach meinem König. Wir

kommen aus einer anderen Welt, und wenn es uns

gelingt, dorthin zurückzukehren, wirst du dein Volk

Page 118: Im Reich der Tiermenschen

nicht wiedersehen. Sie werden noch leben, wenn wir

längst tot sind. Vitu wird nicht die Kraft haben, uns

dort zu beschützen, wo wir hingehen. Liebst du mich

und die Freiheit genug dafür?«

»Ja, ich liebe dich genug dafür«, flüsterte sie und zog

mich an sich.

Das Gras war warm, und die Nachtluft angenehm

kühl, wie der Wind eines großen schwarzen Fächers. Es

war etwas von einer willkommenen Geborgenheit auf

dieser Lichtung zu spüren, mit dem Geschrei der

Nachtvögel, den Geräuschen des Dschungels, dem

fernen Schein der Lagerfeuer und dem halbverwehten

Klang menschlicher Stimmen um uns.

Ich schlief schlecht den Rest der Nacht. Mirin und

seine Männer besaßen wenig Erfahrung. Alles

mögliche mochte inzwischen geschehen sein.

Bei Sonnenaufgang brach ich mit drei Dutzend

Männern auf. Ich wollte nicht länger abwarten. Ich

wollte mit eigenen Augen sehen, was geschah.

Wir begegneten am Vormittag einem Späher, der auf

dem Weg zu uns war. Mirin meldete uns, daß eine

Vorhut von dreißig Männern in den Dschungel

eingedrungen sei. Das Lager sei aber noch nicht

abgebrochen worden. Der Bote meinte, die Piraten

Page 119: Im Reich der Tiermenschen

könnten höchstens ein oder zwei Stunden hinter ihm

sein.

Er hatte recht. Wir sahen sie eine Stunde später. Sie

schlichen vorsichtig durch den Dschungel. Wir ließen

sie an uns vorüber und folgten ihnen unbemerkt.

Als sie Rast machten, verteilte ich meine Männer im

Dickicht und gab ihnen genaue Anweisungen.

Dann trat ich zu ihnen auf den Lagerplatz. Die

Überraschung hätte nicht größer sein können. Sie

sprangen erschrocken auf. Ich zeigte ihnen meine

leeren Hände, um ihnen klarzumachen, daß ich in

Frieden kam und mit ihnen reden wollte. Ich hatte

bereits gesehen, wer der Anführer war, und wandte

mich an ihn.

»Wie lautet dein Auftrag?«

Er sah mich erstaunt und spöttisch an. »Du denkst

doch nicht, daß ich dir das auf die Nase binden werde,

Schwarzhaut ...«

»Es wäre besser«, sagte ich drohend. »Ich habe

eurem Anführer deutlich zu verstehen gegeben, daß

wir sein Eindringen in diesen Dschungel nicht

gestatten werden.«

»Nun hört euch das an«, meinte der Pirat höhnisch.

»Als ob ein Zweifel bestünde, wer hier wem etwas

gestattet. Was meint ihr, ob wir ihm seine schwarze

Haut abziehen und sehen, wie blaß er darunter ist?«

Die Männer lachten schallend.

Page 120: Im Reich der Tiermenschen

Ich ließ mich nicht beirren. »Ihr werdet umkehren

und Darraco folgende Botschaft ...«

Er unterbrach mich. »Darraco empfängt keine

Botschaften, nur Beute. Und du scheinst mir ein recht

passables Stück, tot oder lebendig, ganz wie du willst.«

Bei diesen Worten zog er sein Schwert und hielt mir die

Klingenspitze an die Brust. »Fesselt ihn!«

Bevor die Männer aufspringen konnten, hob ich die

Hand ein wenig – das verabredete Zeichen.

Ein kurzer gefiederter Pfeil steckte plötzlich in seiner

Kehle. Der Mann sah mich erstaunt an, und seine

Gefährten stierten nicht minder überrascht auf den

Todesboten, der so lautlos gekommen war.

Dann brach er röchelnd zusammen und lag still.

Ich stand abwartend. Einer starrte mich an, weiß vor

Wut. Er riß seinen Dolch aus dem Gürtel. Mit einem

Aufschrei griff er sich an die Schulter, aus der ein Pfeil

ragte. Ein zweiter fuhr ihm in die Brust. Er brach

schreiend zusammen.

Bleich vor Entsetzen starrten mich die Männer an.

»Du kannst uns nicht alle fertigmachen, verdammte

Schwarzhaut. Und wenn wir dich erst in den Fingern

haben, wollen wir sehen, ob deine Freunde noch zu

schießen wagen. Vorwärts, Männer! Packt ihn!«

Ich rührte mich nicht, um nicht in die Schußlinie zu

geraten. Ein wahrer Hagel von Pfeilen erfüllte die Luft.

Ein Dutzend Männer ging zu Boden, andere sprangen

Page 121: Im Reich der Tiermenschen

leicht verwundet in Deckung. Der ganze Platz war vom

Schreien und Stöhnen der Verletzten und Sterbenden

erfüllt. Ich sprang nun ebenfalls in Deckung. Es war

besser gelaufen als erwartet – und doch auch

schlechter. Ich wollte nicht töten, aber sie hatten mir

keine Wahl gelassen. Ich hoffte, daß sie wenigstens

nicht umsonst gestorben waren und daß Darraco etwas

daraus lernte.

»Ergebt euch!« rief ich. »Ihr habt keine Chance. Wir

haben euch umzingelt. Ergebt euch, oder wollt ihr, daß

noch mehr sterben?«

Einen Augenblick regte sich nichts, dann kamen sie

mit vorgestreckten, leeren Händen aus den Büschen

und standen abwartend da. Ihre braunen Gesichter

waren blaß. Sie blickten ängstlich um sich. Zwölf von

ihnen schienen unverletzt. Zwei weitere taumelten

blutüberströmt zu ihnen.

»Der erste geht nach links zwischen die Bäume«,

befahl ich und trat zwischen sie.

Der am weitesten links stand, gehorchte. Als er

zwischen den Bäumen verschwunden war, nahmen ihn

meine Männer in Empfang und fesselten ihn. Dann

schickte ich den zweiten los. Es gab keine

Zwischenfälle. Zu sehr saß ihnen der Schreck in den

Gliedern. Schließlich hatten wir sie alle

aneinandergeschnürt – bis auf einen.

»Du wirst Darraco berichten, was geschehen ist. So

Page 122: Im Reich der Tiermenschen

wird es allen ergehen, die unser Reich betreten. Wenn

er diese Männer wiederhaben will, dann soll er

schnellstens dieses Gebiet verlassen.«

Der Mann nickte. Möglicherweise standen seine

Überlebenschancen nicht sehr gut, wenn er Darraco mit

dieser Botschaft gegenübertrat, aber das war seine

Sache. Ich gab ihm zwei meiner Männer mit, um

sicherzugehen, daß er die Meldung auch wirklich

überbrachte. Sie sollten ihn bis an das Lager

heranbringen und dann Verbindung mit Mirin

aufnehmen und ihn unterrichten.

»Was tun wir mit den Toten?«

»Wir lassen sie liegen«, sagte ich bestimmt. »Der

Dschungel wird sich um sie kümmern.

Es gefiel meinen Männern nicht, das war deutlich zu

sehen. Ich hatte sie soweit, daß sie töteten. Aber den

endgültigen Tod zu geben, davor scheuten sie zurück.

»Vitu wird uns zürnen«, meinte einer.

»Es ist in Vitus Sinn«, widersprach ich. »Wie stellt

ihr euch das überhaupt vor? Wenn ihr sie in den Teich

werft, und sie erhalten tatsächlich ein neues Leben, was

hätte sich dann wohl geändert? Selbst als Tiere wären

sie eure Feinde, und ihr müßtet sie wieder töten. Wir

haben Krieg! Wir haben ihn nicht gewollt. Wir wehren

uns nur unserer Haut. Aber diese Männer sind das

Töten gewöhnt. Sie haben nicht viel anderes getan in

ihrem Leben als Töten und Rauben, Morden und

Page 123: Im Reich der Tiermenschen

Brennen. Wenn sie einmal dieses phantastische

Geheimnis des Teiches kennen, werden sie nicht ruhen,

bis sie ihn besitzen. Sie werden ihn sich mit Gewalt

nehmen, wie sie alles mit Gewalt genommen haben.

Ihre Zahl ist größer als unsere. Nur so können wir das

ausgleichen.«

Sie nickten schließlich zustimmend, aber mit halbem

Herzen.

»Es ist Vitus Wille«, sagte ich fest, »daß diese

Fremden von hier fortgehen oder sterben. Es ist ihre

Wahl. Diese Männer selbst müssen sie treffen.«

»Was soll mit den Gefangenen geschehen?«

»Wir nehmen sie mit. Wenn Darraco das Lager

abbricht und weiterzieht, mag er sie wiederhaben.

Wenn nicht, mag Vitu über sie entscheiden.«

Das stellte sie zufrieden.

Wir machten uns eine weitere Stunde auf den Weg

zu Mirins Versteck. Dann ließen wir die Gefangenen

unter Bewachung zurück und erreichten am späten

Mittag den Waldrand. Mirin berichtete, daß unser Bote

in Darracos Lager verschwunden war und daß sich

seither noch nichts getan hatte.

Wir beobachteten das Lager den ganzen Nachmittag,

doch es regte sich nichts. Es kamen allerdings auch

keine ihrer Jäger in den Wald. Es mußte ihnen zu

gefährlich scheinen.

Page 124: Im Reich der Tiermenschen

Am frühen Abend beschloß ich aufzubrechen, um

eine Falle vorzubereiten, in die Mirin Darracos Männer

locken sollte, wenn sie einen neuen Vorstoß in den

Dschungel machten.

Meine Sorge um die zurückgelassenen Gefangenen

erwies sich als unbegründet. Sie waren noch alle gut

verschnürt und ein wenig von den Fliegen zerstochen,

sonst aber wohlauf. Wir schlugen ein Lager auf,

machten Feuer und versorgten uns und die

Gefangenen. Ich stellte mehrere Wachen in genügender

Entfernung auf, um rechtzeitig gewarnt zu sein, wenn

sich etwas Unvorhergesehenes ereignete.

Gegen Mitternacht kam einer von Mirins Boten und

brachte uns die beunruhigende Nachricht, daß gut

zehn Dutzend Piraten in den Dschungel eingedrungen

seien. Es wurde also Ernst. Meine Männer wirkten von

dieser Nachricht leicht mitgenommen, so daß ich

grinsen mußte. Nun begannen sie endlich die tödliche

Gefahr zu sehen, in der wir alle schwebten. Wir hatten

nicht einmal die Hälfte hier. Bei Rylai befanden sich

vielleicht noch zwei Dutzend kampffähige Männer im

Dorf.

Der Bote hatte wahrscheinlich keinen großen

Vorsprung. Wir durften keine Zeit verlieren!

Ich schickte zwei Boten ins Dorf, um Rylai zu

warnen. Es war leicht möglich, daß von uns keiner

überlebte. Ich gab mich keinen Träumen hin.

Page 125: Im Reich der Tiermenschen

Rasch erklärte ich meinen Plan. Wir zwangen die

Gefangenen, ihre Kleider abzulegen. Dann bearbeiteten

wir ihre helle Haut mit Erde, bis sie dunkel aussah,

und gaben ihnen Felle. So setzten wir sie um das Feuer

und fesselten sie. Die herankommenden Piraten

würden erst im letzten Augenblick erkennen, daß es

ihre eigenen Leute waren. Da saßen sie schon in der

Falle. Ein Teil wenigstens.

Ich schickte den Boten zurück zu Mirin, um ihn zu

unterrichten. Den Gefangenen am Feuer machten wir

klar, daß wir sie beim geringsten verdächtigen Laut

töten würden. Einen Mann ließ ich bei ihnen. Er sollte

das Feuer von Zeit zu Zeit schüren, damit es weit zu

sehen war.

Dann teilte ich meine Männer. Ein Dutzend behielt

ich bei mir. Zu uns würden jeden Augenblick die

beiden Vorhuttrupps stoßen. Die übrigen zwei

Dutzend schickte ich dem Feind entgegen. Sie sollten

sich rechtzeitig in den Bäumen verstecken, die Piraten

vorüberziehen lassen und erst zu schießen beginnen,

wenn wir es taten, wenn also die Falle zu war. Ich

untersagte ihnen, sich auf einen Nahkampf

einzulassen. Dazu waren sie zu ungeübt. Wenn die

Lage aussichtslos wurde, sollten sie die Flucht

ergreifen. Aber auf keinen Fall in Richtung des Dorfes.

Von dort mußten wir die Piraten unter allen

Umständen fernhalten.

Page 126: Im Reich der Tiermenschen

Während zwei Dutzend meiner Männer loszogen,

verbargen wir uns auf den Bäumen rund um das

Lager. Wril, einer von Rylais Männern blieb am Feuer.

Er würde auf mein Zeichen warten und dann

verschwinden. Zwei der Männer, die ich bei mir

behalten hatte, besaßen Bogen, die anderen hatten

Blasrohre, und ich war in dieser Lage sehr angetan von

ihrer heimtückischen Wirksamkeit. Einen der

Blasrohrschützen behielt ich bei mir. Es war ein junger

Bursche namens Saron, dessen Treffsicherheit mir

besonders aufgefallen war. Wenn kein anderes Mittel

half, wollte ich Darraco erledigen – wenn es sein

mußte, durch einen Schuß aus dem Hinterhalt. Ich war

sicher, daß dies weiteres Blutvergießen verhindern

würde. Ohne ihn würden seine Männer vielleicht

friedlich nach Nordwesten weiterziehen.

Es dauerte nicht lange, und der erste Spähtrupp

tauchte auf. Rasch verteilte ich die zwölf Männer auf

den Bäumen. Ich erfuhr, daß Mirin sich beim zweiten

Trupp befand und dafür sorgte, daß der Feind eine

deutliche Spur hatte. Er und seine Männer tauchten

kurz darauf auf. Sie waren ziemlich erschöpft. Der

Feind war dicht hinter ihnen. Zwei waren von Pfeilen

verwundet worden. Offensichtlich hatte auch Darraco

erkannt, daß er gegen einen unsichtbaren Gegner

nichts mit Schwertern ausrichten würde.

Ich schickte die Verwundeten gleich weiter ins Dorf,

Page 127: Im Reich der Tiermenschen

wo sie sich mit dem heilenden Wasser behandeln

konnten. Mirins restliche Männer beorderte ich ein

Stück weiter, wo sie ebenfalls in den Bäumen Posten

beziehen sollten, um einzugreifen, falls dem Feind ein

Durchbruch gelang.

Kaum war Mirin verschwunden, als die Vorhut des

Feindes auftauchte. Ich gab Weril das Zeichen. Er legte

noch kräftig Holz aufs Feuer, damit wir gut Licht

hatten. Dann verschwand er.

Einer der Gefangenen wollte aufspringen, aber

meine Männer handelten rasch. Zwei Pfeile bohrten

sich ihm in die Brust, daß er ohne Laut zusammensank.

Die anderen wagten keine Bewegung.

Die Vorhut – es war in der Dunkelheit schlecht

abzuschätzen, wie viele es waren – hatte offenbar das

Feuer bemerkt und pirschte sich vorsichtig heran. Bald

konnten wir die ersten im Feuerschein ausmachen. Wir

zählten zehn, aber es waren mehr.

Was dann geschah, mußte meinen Männern mit

letzter Deutlichkeit klarmachen, daß von den Piraten

keine Gnade zu erwarten war.

Sie schlichen an das Lager heran und schöpften

keinen Verdacht. Sie vermuteten uns dort. Sie dachten

gar nicht daran, daß es ihre eigenen Männer sein

könnten. Ein Hagel von Pfeilen spickte den Lagerplatz.

Sie hatten ohne Warnung geschossen.

Keiner überlebte. Die Männer am Feuer sanken

Page 128: Im Reich der Tiermenschen

schreiend zusammen, während die Angreifer

hinstürzten, um Überlebenden den Garaus zu machen.

Da erst merkten sie, daß sie ihre eigenen Leute

umgebracht hatten. Ein Wutgeheul ertönte, das

sicherlich die Hauptmacht warnte. Ich hoffte nur, daß

meine Männer nicht die Nerven verloren.

Dann gab ich das Zeichen zum Angriff. Ein Hagel

der kleinen tödlichen Rohrpfeile mähte die

Piratenvorhut nieder. Es geschah so lautlos und rasch,

daß die wenigen Überlebenden der ersten Salve viel zu

spät merkten, was geschah. Die zweite Salve folgte.

Dann rührte sich nichts mehr unter uns.

Ich sah, wie kurz darauf einige meiner Männer ihre

Verstecke verließen und den Toten die Waffen

abzunehmen begannen. Ich fühlte mich nicht ganz

wohl dabei. Aber nichts geschah. Die Hauptmacht

hatte sicherlich den Tumult vernommen – auf jeden

Fall aber das Geheul. Vermutlich berieten sie, was zu

tun sei. Sie würden auf eine Meldung der Vorhut

warten. Wenn die nicht kam, was würden sie dann

tun? Diese Frage quälte mich.

Eine gute Stunde geschah nichts. Dann erschien

einer von meinen Männern, die die Nachhut angreifen

sollten. Er war sehr aufgeregt.

»Wir konnten nicht angreifen«, stieß er hervor. »Wir

waren mitten unter ihnen. Sie hätten uns sofort

entdeckt. Die Hauptmacht lagerte direkt unter uns. Die

Page 129: Im Reich der Tiermenschen

Nachhut kam dazu. Sie hatten alle das Geheul gehört

und wollten abwarten. Wir konnten alles genau hören.

Dieser Darraco vermutete sofort eine Falle. Sie müssen

etwa achtzig sein. Und ihnen ist der Dschungel nicht

geheuer. Sie wären am liebsten umgekehrt. Aber dann

lief ihnen Ukandar in die Arme ...«

»Ukandar?« entfuhr es mir. »Täuschst du dich auch

nicht?«

Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein, sicher nicht.«

»So muß er geflohen sein«, murmelte ich.

»Hör weiter zu, Ubali«, drängte er. »Sie nahmen

Ukandar nicht gefangen, sondern er ist jetzt einer der

ihren. Er behauptete, er wolle sich an seinem Volk

rächen. Wenn sie ihn in ihren Reihen aufnähmen,

würde er ihnen das Dorf zeigen, das halbleer sei. Da

nahmen sie ihn auf. Sie sind gleich aufgebrochen.«

»Dann müssen wir hinterher!« Fluchend rief ich die

Männer zusammen und erklärte ihnen die Lage. Die

gewonnenen Waffen wurden verteilt. Wir zählten mit

den Gefangenen fünfunddreißig Tote.

Aber die Übermacht war noch immer erdrückend.

Im Eilmarsch setzten wir hinterher. Nach einer

Stunde hatten wir sie knapp vor uns. Bis zum Dorf

waren es noch immer etwa drei Stunden Weg. Wir

mußten versuchen, sie zu überholen, um Ukandar zu

erledigen.

War er erst zum Schweigen gebracht, konnten wir

Page 130: Im Reich der Tiermenschen

sie vielleicht doch noch in eine falsche Richtung locken.

Wir brauchten sehr lange, um die Piratenschar zu

überholen. Wir mußten einen weiten Bogen machen, da

die Späher links und rechts ausgefächert hatten.

Vermutlich trauten sie auch Ukandar nicht

vorbehaltlos. Aber dann endlich hatten wir sie hinter

uns und legten uns in den Hinterhalt. Ich schickte

einen weiteren Boten ins Dorf.

Die Männer wies ich an, eine Vorhut, oder

Spähertrupps ruhig durchzulassen. Die konnten Mirins

Leute hinter uns abfangen. Die Hauptmacht mußte so

auseinandergerissen werden, daß sie völlig in

Verwirrung geriet. Drei der besten Blasrohrschützen

postierte ich in meiner Nähe. Sie sollten sich um

niemanden kümmern, nur um Ukandar und Darraco.

Mir war klar, daß diese beiden nun fallen mußten,

wenn wir unser Dorf retten wollten.

Dann marschierten die ersten unter uns durch. Es

handelte sich nur um einzelne Späher. Um sie

brauchten wir uns nicht zu kümmern. Sie blickten sich

sehr mißtrauisch um und musterten die Bäume.

Vermutlich hatten sie bereits Nachricht über das

Schicksal ihrer Vorhut erhalten.

Dann kamen die ersten der Hauptmacht. Auch sie

marschierten sehr vorsichtig. Der große Haufen f

olgte – in der Mitte Ukandar und, von einem dichten

Ring aus Männern umgeben, Darraco.

Page 131: Im Reich der Tiermenschen

Ich machte die Schützen auf ihre Ziele aufmerksam.

Sie nickten und setzten die langen Rohre an die Lippen.

Ich stieß den Vogelschrei aus, der das Angriffsignal

war. Im nächsten Augenblick war die Nacht von

Schwirren erfüllt. Schreie kamen von unten. Ich sah

befriedigt, wie Ukandar sich an den Hals griff und zu

Boden fiel. Der Mann vor Darraco taumelte zurück und

schrie gleich darauf auf, als ihn ein zweiter Pfeil traf,

aber für Darraco bestimmt gewesen war.

Darraco duckte sich tiefer und hielt den Körper des

Toten wie einen Schild über sich. Dann sprang er ins

Unterholz in Deckung wie die meisten anderen auch.

Bis auf die Toten war der Boden leergefegt.

Einige Bogen begannen zu singen, aber sie schossen

aufs Geratewohl, denn sie konnten uns in den Bäumen

kaum sehen.

Dann herrschte Stille – bis auf ein langanhaltendes

Stöhnen, das plötzlich abbrach.

In der Stille hörten wir weit hinter uns Mirins

Männer, die die Späher überfielen. Schreie, die rasch

verklangen.

Darraco mußte glauben, wir hätten uns bereits so

weit zurückgezogen. Er wußte nicht, daß wir uns

geteilt hatten. Er rief Befehle, und seine Männer

strömten aus dem Dickicht und stürmten vorwärts, um

den Spähern zu Hilfe zu kommen.

Wir bedachten sie mit einem erneuten Pfeilhagel. Es

Page 132: Im Reich der Tiermenschen

war schwer, in der Finsternis Ziele zu finden. Das

spärliche Mondlicht zeigte nicht viel mehr als Schatten.

Dennoch kündeten zahlreiche Schmerzensschreie, daß

eine Anzahl der Pfeile traf.

Dann war wieder alles still, der Dschungel scheinbar

leergefegt.

Wir warteten reglos, während der Mond über den

Horizont sank, und der Dschungel immer finsterer

wurde. Aber bald kam die Morgendämmerung und

brachte eine neue vage Helligkeit.

Langsam wurde es Morgen.

Ich gab das Zeichen zum Rückzug. Nach und nach

verschwanden wir von unseren Bäumen. Wir hätten

Affen alle Ehre gemacht, obwohl es nicht ganz lautlos

vor sich ging. Es war ziemlich schwierig, sich in der

Dunkelheit in den Bäumen zu bewegen, noch dazu

möglichst leise. Darraco wagte sich jedenfalls nicht aus

seinem Versteck.

So schien es mir. Doch ich hatte Darraco

unterschätzt.

Er hatte ebenfalls die Dunkelheit genützt, und er

hatte unsere Absicht vorausgesehen.

Page 133: Im Reich der Tiermenschen

9.

Wir zogen uns zurück bis zu dem Punkt, an dem ich

Mirin vermutete. Wir hatten den Boden erreicht und

bewegten uns vorsichtig weiter nach hinten. Hinter uns

war nichts zu vernehmen. Die Piraten mußten noch in

ihrer Deckung liegen.

Plötzlich stolperte ich über eine menschliche Gestalt.

Ein Toter. Er war noch warm. Und er war nackt wie

unsere Männer. Das Blasrohr neben ihm bestätigte

meine Vermutung. Hier lag einer von Mirins Männern.

Aber er konnte noch nicht lange hier liegen.

»Langsam«, flüsterte ich. »Hier stimmt etwas nicht.«

In diesem Augenblick kam ein Schrei aus dem

Unterholz zu unserer Rechten. »Ubali, eine Fal ...

aa-aahhh!«

Der Schrei brach gurgelnd ab.

Dann war alles um uns voller Gestalten.

Schreie, Keuchen, Flüche, Verwünschungen ...

Nun hatte ich das, was ich zu vermeiden gesucht

hatte: ein Handgemenge, in dem meine Männer

niedergemäht würden. Aber ich hatte keine Zeit,

darüber nachzudenken. Ich hatte mein Schwert in der

Rechten, den Dolch in der Linken und einen Baum im

Rücken. Ich sah die Gestalten vage vor mir. Meine

Page 134: Im Reich der Tiermenschen

Klinge biß zwei oder drei, bevor ich selbst einen Stich

im Schenkel abbekam, für den mein Dolch sich rächte.

Die Dunkelheit machte alle ziemlich gleich. Sie war uns

ein guter Helfer. Gute und schlechte Fechter hatten die

gleichen Schwierigkeiten, weil sie nichts sahen. Wir

hatten eine Menge Waffen von der Vorhut erbeutet,

und rechts und links erkannte ich an den Geräuschen,

daß sie gute Verwendung fanden. Die Männer mochten

nicht viel vom Umgang mit Schwertern verstehen, aber

sie teilten kraftvolle Hiebe aus, unter denen so mancher

Pirat zu Boden ging.

Aber die Übermacht war erdrückend.

Der Jäger neben mir ging schreiend zu Boden, und

ich streckte seinen Gegner mit einem einzigen Hieb

nieder. Mein Dolch fand einen weiteren Körper in der

Finsternis, der lautlos fiel. Dann nahm ich mein

Schwert in beiden Händen und stapfte in die

angreifende Schar. Hier waren wir verloren. Die Feinde

waren vor und hinter uns.

»Wir müssen durch!« brüllte ich.

»Vorwärts. Folgt mir!«

Wenn ich gedacht hatte, von meinen Männern

wären die meisten bereits gefallen, so mußte ich erfreut

feststellen, daß mein Ruf nicht ohne Wirkung blieb. Die

Piraten bekamen keine Gelegenheit, mir in den Rücken

zu fallen. Die Thaimoa schossen auf, und unser

plötzlicher Vormarsch brachte die Reihen vor uns ins

Page 135: Im Reich der Tiermenschen

Wanken. Sie standen einander ohnehin im Weg, aber

nun drängten die Vordersten zurück und trampelten

die hinteren nieder. Ein Tumult begann, den ich

weidlich ausnützte. Mit wütenden Schwertstreichen

nach links und rechts öffnete ich eine Gasse. Etwas

stach in meine Seite, aber ich spürte den Schmerz

kaum. Ein Schlag auf den Rücken ließ mich

vorwärtstaumeln. Es brannte wie glühendes Eisen, und

ich spürte das Blut herabrinnen. Ich fuhr herum. Der

Jäger hinter mir verschwand unter den trampelnden

Füßen, aber schon schloß der nächste auf und sprang in

die Lücke.

Wir waren nicht mehr viele, das sah ich mit diesem

kurzen Blick. Vielleicht gab es noch versprengte

Gruppen. Aber jene, die sich mir angeschlossen hatten,

waren nur noch ein halbes Dutzend. Und noch immer

ließ der Ansturm der Feinde nicht nach, obwohl sie vor

unseren Klingen niedersanken.

Die Arme ermüdeten langsam. Das erschöpfte

Keuchen meiner Gefährten sagte mir deutlich genug,

daß der Kampf für uns zu Ende ging.

Fluchend warf ich mich mit letzter Kraft vorwärts,

und die Mauer der Angreifer öffnete sich.

»Durch«, keuchte ich. »Bei allen Parias, wir sind

durch!«

»Noch nicht ganz, Schwarzhaut«, sagte eine Stimme.

Eine dunkle Gestalt trat mir in den Weg.

Page 136: Im Reich der Tiermenschen

Darraco!

Meine Männer prallten gegen mich. Der feindliche

Sturm hatte momentan nachgelassen, als Darracos

Stimme erscholl. Aber jeden Augenblick mochten sie

vorwärtsdrängen, um uns den Todesstoß zu versetzen.

»Ring bilden!« murmelte ich.

Sie gehorchten. Es war gut, den Rücken gedeckt zu

wissen.

»Sind genug tot? Soll es unter uns beiden

ausgehandelt werden?« rief ich Darraco zu.

Er lachte. »Nein. Dazu stehen die Chancen für euch

zu schlecht.«

»Dann hast du deine noch nicht überdacht«,

erwiderte ich, aber, das beeindruckte ihn nicht.

»Genug geredet, Schwarzhaut ...«

Einer meiner Männer schrie auf, taumelte zur Seite

und fiel, mit einem Pfeil in der Brust.

»Auf den Boden!« brüllte ich. Aber ich gab den Rat

nicht für mich. Während die Männer sich fallen ließen,

schnellte ich vor und bohrte dem überraschten Darraco

die Klinge bis ans Heft in den Leib.

»Ein Leben für ein Leben!« schrie ich.

Er kippte nach hinten, und ich mit ihm, und das

Schwert bohrte sich in die Erde wie ein großer Nagel.

Ich sah, daß Darraco noch lebte, sein Schwert zu

heben versuchte und kraftlos zurücksank. Er stieß

einen markerschütternden Schrei aus – und starb.

Page 137: Im Reich der Tiermenschen

Einen Augenblick war Totenstille.

Dann, während meine letzten vier Gefährten

aufsprangen, löste sich ein einziger Wutschrei von den

Lippen der Piraten. Sie stürmten vorwärts wie eine

Rotte wilder Bestien.

Ich riß Darraco das Schwert aus der leblosen Hand,

ließ meine Männer an mir vorbei und wich nicht

zurück, als die Piraten herankamen. Meine

Entschlossenheit bremste die vorderen gerade genug,

daß die hinteren gegen sie prallten. In dem Gedränge

zuckte meine Klinge vor und zeichnete zwei mit einem

roten Mal des Todes. Sie fielen den Nachdrängenden

vor die Füße, die stolperten und leichte Beute selbst für

meine müden Arme waren.

Doch der Ansturm war zu heftig. Ich mußte zurück.

Einer der Jäger ging neben mir zu Boden. Blieben noch

drei. Wie lange?

Es war zu eng, um das Schwert noch wirkungsvoll

zu gebrauchen, so verschaffte ich mir mit einem letzten

gewaltigen Hieb Luft und riß den Dolch aus dem

Gürtel. Ich riß einen der Gegner an mich und hielt ihn

wie einen Schild vor mich. Er schrie auf, als sich ein

halbes Dutzend Klingen in seinen Leib bohrten. Die

Klingen seiner eigenen Kameraden.

Ich ließ den Sterbenden los und wich rasch zurück.

In dieser Bewegung traf mich ein geschleuderter Dolch

mit solcher Wucht an der Schulter, daß ich hintenüber

Page 138: Im Reich der Tiermenschen

ins Dickicht stürzte.

Während ich mich mühsam erhob, kamen sie mit

Triumphgeheul auf mich zu. Der Dolch entfiel meiner

Faust. Der Arm war wie gelähmt. Das war das Ende,

durchzuckte es mich.

Da geschah etwas Seltsames, etwas, mit dem ich am

allerwenigsten gerechnet hätte.

Die Angreifer prallten zurück wie vor einer

unsichtbaren Mauer. Sie stürzten vor meine Füße.

Kleine Blasrohrpfeile ragten aus ihren Körpern.

Aus der Dämmerung des Dschungels tauchten wie

aus einem Traum die dunklen Gestalten von Thaimoas

auf. Sie stürmten vor, auf die verblüffte Schar der

Piraten zu, setzten erneut die Rohre an den Mund.

Schreiend brach ein halbes Dutzend Piraten

zusammen. Sie waren vielleicht noch dreißig, und sie

sahen sich einer fast ebenso starken Gruppe gegenüber,

die sich nun hinter Bäumen in Deckung warf und

wieder ihre tödlichen Pfeile auf den Weg schickte.

Diese dritte Salve brach den Widerstand der Piraten

endgültig. Einen Moment war ein heilloses

Durcheinander von fliehenden und sterbenden

Männern.

Ich versuchte, den Dolch aus meiner Schulter zu

reißen. Ich schaffte es auch, dabei wurde mir schwarz

vor den Augen. Jemand fing mich.

»Sieht so aus, als wären wir gerade im rechten

Page 139: Im Reich der Tiermenschen

Augenblick gekommen«, sagte eine vertraute Stimme.

»Rylai, dich müssen die Götter schicken«, murmelte

ich.

»Eine davon ist Thamai«, meinte er. Er ließ mich

vorsichtig zu Boden gleiten. Jetzt, da die Gefahr

vorüber schien, fühlte ich eine abgrundtiefe Schwäche.

»Bleib ruhig liegen, mein Freund«, sagte Rylai. »Du

hast viel Blut verloren. Ich komme wieder.«

Die nächsten Eindrücke waren die von Schmerzen –

und von Thamais Stimme.

Sie sagte: »Nein, Vater. Das Wasser schließt diese

Wunden nicht mehr. Sie sind zu tief. Er ist bereits zu

weit am Rand des Lebens. Nur Vitu kann ihm noch

helfen ...«

Und eine männliche Stimme, die ich nicht kannte,

sagte beruhigend: »Hab keine Angst, mein Kind, er hat

soviel für unser Volk getan. Sicher wird Vitu ihm ein

neues Leben gewähren. Ja, ich bin ganz sicher.«

»Ich hoffe es, Vater. Ich hoffe es so sehr.«

»Liebst du diesen Mann?«

»Ja, ich liebe ihn, Vater. Mein Blut für seines. Mein

Herz für seines ...«

Da kam wieder die Dunkelheit.

Schließlich dieses bereits vertraute Gefühl von

Eingeschlossensein in kalter Nässe.

Page 140: Im Reich der Tiermenschen

Der Teich!

Und Vitus Stimme: »Es ist viel getötet worden. Der

Tod ist wie Gift in allen Herzen. Es wird lange währen,

bis es aus der Erinnerung gewaschen ist. Der Tod

kostet mich soviel Kraft. Ich bin müde, Fremder, müde

...«

Ich tauchte auf und fühlte, daß Wasser nicht mein

Lieblingselement war. Mein Körper arbeitete sich

hastig ans Ufer. Dort stand ich vor einer Menge Leute.

Oh, ihr Götter! Nein!

Ich starrte auf die großen schwarzen Pranken und

knurrte verzweifelt. Vitu, ist das dein Dank?

Ein Pantherleben für das eines Kriegers. Es war ein

Leben – mehr als Sterbliche erwarten durften! Aber in

diesem Augenblick wünschte ich, tot zu sein. Wie sollte

ich es nur ertragen? Dieses Herz, das unter dem

schwarzen Fell schlug ... es schlug für Thamai.

Sie sah mich mit erschreckten Augen an. Dann kam

sie auf mich zugelaufen und schlang die Arme um

mich.

Tierliebend waren sie hier wenigstens.

Und ich war ja nicht der einzige. Alle die Männer,

die mit mir gekämpft hatten und an meiner Seite

gefallen waren, unter ihnen auch Mirin – sie erstanden

als Verwandelte. Sie empfanden es vielleicht nicht so.

Sie waren sehr alt, nach der Zeit meiner Welt

gerechnet, vielleicht Hunderte von Jahren. Sie hatten

Page 141: Im Reich der Tiermenschen

sicher viele solche Leben hinter sich, als Menschen und

als Verwandelte. Sie nahmen es, wie es kam. Sie

würden hier weitere Hunderte von Jahren leben. Was

bedeutete es für sie, ein paar Sommer oder Regenzeiten

als Leoparden, Gazellen, Affen, Bären zu verbringen.

Zeit bedeutete für sie sicher nicht soviel wie für mich.

Denn ich wollte keine Unsterblichkeit. Ich wollte

nicht bei lebendigem Leib hier verwesen in dieser

Einsamkeit und Abgeschiedenheit. Sie erschienen mir

im Grunde nicht glücklicher oder unglücklicher als das

Baumvolk.

Die Welt außerhalb ihres Dorfes gab es für sie nicht.

Aber für mich! Sie war meine Welt. Und sie hätte

Thamais Welt sein können. Unsere Welt. Der Pfad, den

wir gemeinsam gehen wollten.

Vielleicht sollte ich Geduld lernen. Aber wie sollte

ich Geduld haben auf der Suche nach meinem König.

Ich war ihm so nah gewesen.

Es war teuflisch, nicht sprechen zu können! Tausend

Dinge auf der Zunge zu haben und sie niemandem

sagen zu können.

Ein Mädchen zu lieben und ... ein Panther zu sein.

Eine große Beratung fand statt, was mit den toten

Piraten geschehen solle. Ihr eingefleischtes Denken ließ

Page 142: Im Reich der Tiermenschen

gar keine andere Möglichkeit zu, als sie Vitu

anzuvertrauen. Und ich konnte ihnen nicht

einhämmern in ihre so lebensfreundlichen Schädel, daß

sie damit ihre eigenen Grabstätten errichteten.

Ich lief fauchend umher und versuchte sie

niederzubrüllen. Aber Fauchen und Brüllen sind keine

guten verständlichen Gründe. Sie erkannten zwar, daß

ich dagegen war, aber sie erklärten mir ihren

Standpunkt. Und für sie war es so viel leichter.

Man wagte zwar nicht, die Piraten mit den eigenen

Toten zusammen in den Teich zu werfen. Irgendeine

Scheu hielt sie davor zurück. Vielleicht, weil sie

fürchteten, von dem Bösen würde etwas auf sie

übergreifen. Ich hätte ihnen sagen können, daß der

ganze Teich davon vergiftet würde. Das hätten sie

vielleicht begriffen.

Aber nicht in meiner Sprache.

Talohe, Thamaias und Sibiles Vater, ein würdiger,

trotz seines jugendlichen Aussehens alt wirkender

Herr, rief mich zu sich, und Thamai stellte ihn mir

freudestrahlend vor. Die Dankbarkeit des Mannes war

ein wenig Balsam auf meine wunde Seele. Ich erfuhr,

daß alle Parias ihre menschliche Gestalt

wiederbekommen hätten und daß dies nur mit

Ukandars Tod zusammenhängen könne.

Jedenfalls war Ukandar der letzte, den sie dem Teich

übergeben würden. Sie hatten Angst, ihr altes Los

Page 143: Im Reich der Tiermenschen

könnte wieder beginnen. Aber sie brachten es auch

nicht fertig, ihn einfach für alle Zeiten tot sein zu

lassen. In ihren Augen war es das größte Verbrechen,

und kein Haß, keine Rache, keine Furcht entschuldigte

es.

Sie waren Narren. Einfache, liebenswerte Narren.

Nur etwa zwei Dutzend der Piraten hatten den

Kampf überlebt und waren geflohen. Rylai und seine

Männer beobachteten das Lager. Die Piraten waren

noch immer eine stattliche Anzahl von fast

zweihundert, aber der größere Teil davon waren

Frauen und Kinder. Nach Darracos Tod war es wohl

auch um ihre Einigkeit nicht gut bestellt. Nein, sie

würden keinen Angriff mehr wagen. Sie würden

weiterziehen. Dies war die zweite Schlappe, die sie

erlitten hatten. Das reichte ihnen für eine Weile. Ohne

die Wolken waren sie nicht mehr als Nomaden.

Vielleicht würden sie sich irgendwo niederlassen.

Ich konnte mich durchaus mit ihnen vergleichen. Ich

hatte auch nicht viel Auswahl. Ich konnte mich hier

niederlassen und darauf hoffen, daß es vielleicht in ein

paar Jahren mit einer neuerlichen Verwandlung

klappte.

Wie lange lebte so ein Panther? Ich hatte keine

Ahnung. Es war beunruhigend.

Am Nachmittag lagen alle Leichen der Piraten vor

dem Teich. Hundertzweiunddreißig, wie mir Sibile

Page 144: Im Reich der Tiermenschen

vorzählte. Und einer, der abseits lag – Ukandar.

Ich fragte mich, als was diese Piraten wieder

auftauchen würden. Ich hoffte, als etwas Genießbares;

etwas mit gutem, saftigem Fleisch. Ich würde

wenigstens nicht hungern.

Aber bevor sie damit beginnen konnten, die ersten

dem Teich zu übergeben, begann das Wasser unruhig

zu werden. Die glatte Oberfläche kräuselte sich. Kleine

Wellen plätscherten an das Ufer. Das war noch nie

geschehen, meinten alle, und starrten gebannt auf den

Teich. Die Luft war völlig ruhig. Der Aufruhr konnte

nur aus dem Innern, aus der unergründlichen,

dunkelgrünen Tiefe kommen.

Nur Talohe schien zu wissen, was es bedeutete.

»Vitu wird zu uns allen sprechen«, murmelte er.

Mit einemmal öffnete sich das Wasser, und ein

strahlendes Nebelgebilde tauchte daraus hervor, als

würde das Wasser kochen. Dann schwebte es eine

Manneshöhe über dem Wasser. Es war eine Gestalt,

aber dieses funkelnde Nebelkleid, das sie trug, ließ

nicht erkennen, ob sie männlich oder weiblich war. Mir

erschien sie nicht einmal menschlich.

Ein Geist – der in diesem Wasser herrschte, um

Leben zu geben. Ich hatte noch nie dergleichen

gesehen. Diese Welt mußte den Göttern näher sein, daß

sie zu den Menschen sprachen ...

Die wohlbekannte Stimme Vitus hob an zu

Page 145: Im Reich der Tiermenschen

sprechen. Ich weiß nicht, ob sie nur in den Gedanken

war oder wirklich sprach, aber sie war so deutlich zu

vernehmen, als spräche jemand neben mir.

»Volk der Thaimoa, daß ihr das Leben so achten

wollt nach alldem, was geschehen ist, daß ihr sogar

euren Feinden diese Möglichkeit einräumen wollt, das

gibt mir Vertrauen in die Zukunft und beweist mir, daß

eure Herzen trotz aller Gewalt rein geblieben sind.

Aber dies ist ein Fluch, der vor euch liegt.« Ein

funkelnder Arm wies auf die ausgebreiteten Toten. »Ihr

Leben würde neuen Tod bedeuten, neue Gewalt, bis

schließlich doch ein Schatten auf euren Seelen wäre.

Übergebt sie nicht diesem Wasser, das in ihnen nur den

Tod wieder lebendig machen würde. Begrabt sie in der

Erde. Und vergeßt sie. Es hat sie nie gegeben. So möge

es sein. Auch Ukandar soll tot bleiben. Er hat meinen

Gesetzen zuwidergehandelt. Er hat das Leben

mißbraucht. Er ist schlimmer als sie. Er mag ihr

Schicksal teilen. Wagt es nicht, dieses Wasser des

Lebens zu beschmutzen.«

Das Schimmern verschwand. Ein Schleier von Nebel

senkte sich langsam auf das Wasser hinab und wurde

eins mit ihm.

Während die meisten anderen Verwandelten wieder in

den Dschungel hinauszogen, weil sie dieses freie Leben

gewöhnt waren, blieb ich mit Mirin im Dorf und sah

dem mühseligen Begräbnis zu. Sie verwendeten zum

Page 146: Im Reich der Tiermenschen

Teil die Fallgruben, aber die reichten nicht.

Fast das ganze Dorf beteiligte sich an den Arbeiten.

Es war ohnehin sehr geschrumpft. Mehr als die Hälfte

der Männer waren im Kampf gefallen und hatten im

Teich ihre Gestalt verwandelt. Aber man war

zuversichtlich. Es hatte auch schon früher schwere

Zeiten wie diese gegeben, mit Plagen und Krankheiten.

Vitu würde ihre Hand über sie halten, wie sie es immer

tat – auch wenn sie sich manchmal seltsamer

Hilfsmittel bediente, wie dieses fremden schwarzen

Mannes Ubali.

Ich hätte gern gegrinst, aber es wurde nur ein

Fletschen der Zähne daraus. Es war etwas sehr

Beeindruckendes am Gleichmut und Vertrauen dieser

Menschen.

Masco und Vallie befanden sich noch immer im

Dorf. Sie wollten gerne bleiben, und das war etwas,

daß der neue Rat am nächsten Tag billigen oder

ablehnen würde.

Sie hatten alle Äußerlichkeiten abgelegt. Ihre Haut

war heller als die der Thaimoa, aber die Sonne würde

sie nach und nach bräunen. Selbst Vallie schien sich

daran gewöhnt zu haben, ohne Kleidung zu leben. Ich

konnte mir nicht vorstellen, daß sie für immer bleiben

wollten. Wer einmal das Abenteuer und die Vielfalt der

Welt gesehen hat, der vergräbt sich nicht irgendwo,

auch nicht für eine Ewigkeit.

Page 147: Im Reich der Tiermenschen

Aber eine Weile – um zur Ruhe zu kommen, die

alten Ängste loszuwerden und Frieden zu genießen,

wie es ihn vielleicht sonst nirgends auf dieser Welt gab

(und auf allen anderen auch, wie ich glaube), ja das

war ein Geschenk der Götter für einen, den nichts

vorwärtstrieb ...

Ich beneidete sie fast ein wenig um die Möglichkeit,

einander zu lieben, die mir verwehrt war.

Aber war sie verwehrt? Die Liebe der Sinne in jedem

Fall. Ich spürte nicht den Funken einer Leidenschaft,

wenn ich Thamai ansah. Dieser schwarze

Raubtierkörper empfand es nicht. Er brauchte andere

Reize. Pantherweibchen etwa.

Aber dennoch spürte ich im Herzen, daß mich etwas

unwiderstehlich zu Thamai hinzog. Es war für mich

leichter, denn ich sah sie als das geliebte Mädchen vor

mir. Aber wie mußte es für sie sein. Sie sah nur ein

Tier.

Doch ich konnte es an ihren Blicken erkennen, daß

sie nicht aufgehört hatte, für mich zu fühlen.

Ich begab mich zu Rylais Männern, um das Lager der

Piraten zu beobachten. Sie hatten es bereits zum

Großteil abgebrochen. Es sah alles nach Aufbruch aus.

Nach hastigem Aufbruch.

Vieles würde zurückbleiben, da sie nicht alles tragen

konnten und keine Lasttiere hatten. Manches

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Brauchbares würde für die Thaimoa dabei sein.

So ganz unberührt gingen sie aus diesem

Zusammentreffen nicht hervor. Neugier war in ihnen

geweckt – wie in Thamai.

Als ich am Abend des nächsten Tages ins Dorf

zurückkam, hatte das gewohnte Leben bereits

weitgehend wieder begonnen.

Talohe und seine alten Ratsmitglieder, die Ukandar

nach und nach aus dem Weg geräumt hatte, wurden

einstimmig zu den Oberhäuptern gewählt.

Masco und Vallie waren sehr glücklich, weil es

ihnen gestattet worden war, zu bleiben.

Und noch jemand war glücklich und aufgeregt.

Thamai berichtete mir freudestrahlend, daß Vitu zu

ihr gesprochen hätte.

»Vitu wird uns helfen, Ubali, mein Liebster«,

sprudelte sie nur so heraus. »Wir müssen zu ihr

kommen, dann wird sie dir deine wahre Gestalt

wiedergeben. Oh, Ubali!« Sie legte die Arme um

meinen Hals und barg ihren Kopf hinter meinen

Ohren, ein Gefühl, das sogar den Panther in mir mit

Behagen erfüllte, ganz abgesehen von der frohen

Botschaft.

»Wir müssen zur Pforte ihres inneren Reiches. Der

Weg ist sehr schwierig und voller Gefahren, und nur

wer starken Herzens ist und von Liebe erfüllt, der wird

diesen Weg finden. Wir werden ihn finden, nicht wahr,

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mein Liebster? Wir werden ihn finden.«

Ja, dachte ich, das werden wir, Thamai, und wenn

wir die ganze Welt danach absuchen müßten!

ENDE

Nach Ubalis Abenteuern im Reich der Tiermenschen

blenden wir zu Dragon um. Der Atlanter, der in

Aerula-thane, der durch sein Eingreifen befreiten

Wanderwolke, zugleich einen verläßlichen

Weggenossen und ein schnelles Transportmittel

gefunden hat, verläßt Odalik und seine

Stammesgenossen schon nach kurzem Aufenthalt. Der

Grund für Dragons Aufbruch ist DAS ERBE DES

TRÄUMERS ...

DAS ERBE DES TRÄUMERS so lautet auch der

Titel des nächsten Dragon-Bandes, der ebenfalls von

Hans Kneifel geschrieben wurde.