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Ulrich Menzel Imperium oder Hegemonie? Über Herfried Münklers „Imperien“ Herfried Münkler, von der „Zeit“ unlängst bewundernd als „wan- delnder Ein-Mann-Think-Tank“ 1 apostrophiert und sicherlich ei- ner der Gründe, warum die Berliner Humboldt-Universität 2 auf dem besten Wege ist, ihre alte geisteswissenschaftliche Füh- rungsposition in Deutschland zurückzugewinnen, hat auf „Die neuen Kriege“ (2002) mit „Imperium“ (2005) einen Fortsetzungs- band folgen lassen, der Assoziationen an George Lucas’ großes Filmepos vom „Krieg der Sterne“ weckt 3 . So wie in der Lucass- chen Trilogie die Inszenierung der einzelnen Teile nicht der Chronologie der Handlung folgt, sondern „Episode 1-3“ nach „Das Imperium schlägt zurück“ gedreht wurden, so verfährt auch Münkler. „Imperien“ muss man gelesen haben, um „Die neuen Kriege“ zu verstehen, werden diese doch als Reaktion auf das Agieren des neuen Imperiums der Vereinigten Staaten verstan- den. Lucas wie Münkler beziehen sich auf den Ost-West-Konflikt, den bislang letzten und wirklich globalen, sogar den Weltraum ein- beziehenden, imperialen Ausscheidungskampf. Damit sind wir bei dem eigentlichen Anlass des Buches. Erst jetzt – 15 Jahre nach dessen Ende – ist so richtig klar, dass es dabei um mehr ging als eine ideologische Auseinandersetzung über die Zukunft des Kapitalismus, und ist auch so richtig klar geworden, was ei- gentlich gefolgt ist auf den Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums - im amerikanischen Verständnis die dunkle Seite der Macht. Nicht die „neue Weltordnung“ im Sinne der Vereinten Na- tionen, wie sie Bush senior im ersten Überschwang mit seiner 1 Jörg Lau, Der Ein-Mann-Think-Tank. In: Die Zeit vom 30.10.2003. 2 Die Frankfurter Universität hat es leider verschmäht, den Fetscher-Schüler als geborenen Nachfolger zu berufen – in diesem Fall ein Beispiel für die Ursachen über den Aufstieg und Niedergang von Fakultäten. 3 Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin: Rowohlt 2005; ders.; Die neue Kriege. Reinbek: Rowohlt 2002.

Imperium oder Hegemonie? Über Herfried Münklers … · problem der Staatengeschichte. Krefeld: Scherpe o.J. (1947); Heinrich Trie-pel, Die Hegemonie. Ein Buch von den führenden

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Ulrich Menzel

Imperium oder Hegemonie?Über Herfried Münklers „Imperien“

Herfried Münkler, von der „Zeit“ unlängst bewundernd als „wan-delnder Ein-Mann-Think-Tank“1 apostrophiert und sicherlich ei-ner der Gründe, warum die Berliner Humboldt-Universität2 aufdem besten Wege ist, ihre alte geisteswissenschaftliche Füh-rungsposition in Deutschland zurückzugewinnen, hat auf „Dieneuen Kriege“ (2002) mit „Imperium“ (2005) einen Fortsetzungs-band folgen lassen, der Assoziationen an George Lucas’ großesFilmepos vom „Krieg der Sterne“ weckt3. So wie in der Lucass-chen Trilogie die Inszenierung der einzelnen Teile nicht derChronologie der Handlung folgt, sondern „Episode 1-3“ nach„Das Imperium schlägt zurück“ gedreht wurden, so verfährt auchMünkler. „Imperien“ muss man gelesen haben, um „Die neuenKriege“ zu verstehen, werden diese doch als Reaktion auf dasAgieren des neuen Imperiums der Vereinigten Staaten verstan-den.

Lucas wie Münkler beziehen sich auf den Ost-West-Konflikt, denbislang letzten und wirklich globalen, sogar den Weltraum ein-beziehenden, imperialen Ausscheidungskampf. Damit sind wir beidem eigentlichen Anlass des Buches. Erst jetzt – 15 Jahre nachdessen Ende – ist so richtig klar, dass es dabei um mehr gingals eine ideologische Auseinandersetzung über die Zukunft desKapitalismus, und ist auch so richtig klar geworden, was ei-gentlich gefolgt ist auf den Zusammenbruch des sowjetischenImperiums - im amerikanischen Verständnis die dunkle Seite derMacht. Nicht die „neue Weltordnung“ im Sinne der Vereinten Na-tionen, wie sie Bush senior im ersten Überschwang mit seiner

1 Jörg Lau, Der Ein-Mann-Think-Tank. In: Die Zeit vom 30.10.2003.2 Die Frankfurter Universität hat es leider verschmäht, den Fetscher-Schülerals geborenen Nachfolger zu berufen – in diesem Fall ein Beispiel für dieUrsachen über den Aufstieg und Niedergang von Fakultäten.3 Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft vom Alten Rom biszu den Vereinigten Staaten. Berlin: Rowohlt 2005; ders.; Die neue Kriege.Reinbek: Rowohlt 2002.

Rede vom 11. September 1990 angekündigt hat, auch nicht dieHerrschaft des Marktes, der vernetzten global cities, derWeltbürgergesellschaft, der nichtstaatlichen Akteure, die inder Global Governance-Architektur hausen, wie von neoliberalenIdeologen gepriesen oder den Theoretikern der zweiten Moderneerhofft – sondern ein amerikanischer Unilateralismus, der be-ansprucht, die Welt nach seinem Gusto zu regieren. Münklerreiht sich damit ein in eine neue Debatte in der Lehre von denInternationalen Beziehungen, die das Thema Imperium bzw. Hege-monie wieder entdeckt hat. Während es dabei zunächst um dietieferen Ursachen des Zusammenbruchs der Sowjetunion ging, dieals letztes Imperium der Geschichte interpretiert wurde4, gehtes mittlerweile um die neue Rolle der Vereinigten Staaten, diekritisch oder affirmativ als neues Imperium verstanden bzw.missverstanden werden5. Dieses „Imperium“ stützt sich auf diehard power seiner sieben Flotten und fünf Regionalkommandos,die Leistungsfähigkeit der Rüstungsindustrie, die Dominanz inder Nachrichten- und Datentechnik von IBM und Intel bis Micro-soft und Google, die Finanzmacht der Wallstreet und auf diesoft power, die der Hollywood-Film eines George Lucas oderSteven Spielberg, die amerikanische Massenkultur schlechthin,die ungebrochene Faszination des american way of life weltweitausüben. Die Missverständnisse und falschen Hoffnungen, die inEuropa über die künftige Rolle der USA gehegt wurden (Stich-wort Friedensdividende) sind einer der Gründe für das gespal-tene Verhältnis in den transatlantischen Beziehungen.

Münkler räumt auf mit diesem Trugbild, indem er, das ist seinzentrales Anliegen, die strukturellen Handlungsimperative deramerikanischen Regierung herausarbeitet, denen sich der libe-rale Clinton ebenso wie der neokonservative und/oder christli-che Fundamentalist Bush junior, aber auch ein klassischer Rea-list wie Bush senior beugen muss. Das Argument lautet: Um mitdem zentralen Problem der Staatenwelt, dem nichtvorhandenen4 Vgl. dazu Alexander Demandt (Hrsg.), Das Ende der Weltreiche. Von den Persern biszur Sowjetunion. München: Beck 1997; Richard Lorenz (Hrsg.), Das Verdämmern derMacht. Vom Untergang großer Reiche. Frankfurt: Fischer 2000.5 Ulrich Speck/Natan Sznaider (Hrsg.), Empire Amerika. Perspektiven einer neuenWeltordnung. München: DVA 2003.

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internationalen Gewaltmonopol, umzugehen, gibt es mehr als nurzwei ordnungspolitische Modelle. Die Lehre von den internatio-nalen Beziehungen hat sich bislang zu sehr mit der AlternativeSelbsthilfe oder Kooperation beschäftigt. Der Realismus setztaus der Logik des Westfälischen Staatensystems auf das Souve-ränitätsprinzip als höchstes Gut im Völkerrecht und damit aufdie Machtmaximierung jedes einzelnen Staates zur Wahrung sei-ner Interessen. Die Schwachen müssen strategische Bündnisseeingehen, um das Übergewicht des Starken auszugleichen. Jederhilft sich selbst, so gut er kann. Der Idealismus setzt dage-gen auf die Vernunft und Lernbereitschaft der Staaten, diesich zusammentun, um die Probleme dieser Welt auf kooperativeWeise durch internationale Organisationen und Abkommen zu lö-sen, wobei sich perspektivisch alle Staaten den gleichen idea-listischen Normen von Demokratie, Frieden und Schutz der Men-schenrechte verpflichten. Dieter Senghaas hat diese Perspekti-ve mit seinem zivilisatorischen Hexagon auf den Begriff ge-bracht6. Sicherheit und Stabilität durch Abschreckung undGleichgewicht der Kräfte oder Frieden durch weltweite Ausbrei-tung der Demokratie und die Vereinigung der Nationen lautendiese beiden politischen Optionen.

Münkler hält dagegen, dass es weitere Alternativen gibt, dieauf das Bonmot hinauslaufen: Hexagon oder Pentagon? Gemeintsind damit die imperiale und die hegemoniale Variante des Uni-lateralismus als weitere Weltordnungskonzepte, die sich unteranderem durch das Maß unterscheiden, in dem sie das Souveräni-tätsgebot des westfälischen Staatensystems respektieren. Impe-rien bzw. Hegemonien bewegen sich nicht in einer internationa-len Ordnung mit anderen Staaten, sondern bilden diese Ordnung.Münkler will zeigen, dass die Weltgeschichte vor und nach 16487

eher durch eine Abfolge von Imperien als durch ein „Konzert“der Mächte oder gar ein „System“ von derzeit fast 200 souverä-nen Staaten geprägt war. Zumindest in der deutschen Politik-

6 Dieter Senghaas, Zum irdischen Frieden. Erkenntnisse und Vermutungen.Frankfurt: Suhrkamp 2004.7 Der Westfälische Friede von 1648 wird als Geburtsstunde des modernen Staatensys-tems gewertet.

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wissenschaft sei die analytische Beschäftigung mit der Logikvon Imperien oder Hegemonialmächten verkümmert. Wenn über-haupt, dann ist Imperialismustheorie getrieben worden, die imGrunde aber gar nicht die Logik der Weltpolitik, sondern dieReform- oder Revolutionsfähigkeit des Kapitalismus im Blickhatte. Imperiumstheorie ist etwas grundlegend anderes als Im-perialismustheorie. Dem ist zuzustimmen, wenngleich diesesDiktum nicht für die traditionellen Vertreter der Historiker-zunft gilt, die es gerade lieben, in solchen Kategorien zuschwelgen. Münkler fordert, sich dieser seit Ludwig Dehio oderHeinrich Triepel8 verschütteten Tradition erneut zu widmen, dasFeld also nicht den Historikern zu überlassen und unvoreinge-nommen zu prüfen, welcher Logik unilateral agierende Mächteunterworfen sind und was sie ordnungspolitisch zu leisten im-stande sind. Damit hebt er sich wohltuend ab von der neuendeutschen Welle der vorschnellen Amerikakritik. Verschwiegenwerden soll aber nicht, dass Münkler am Ende auch die normati-ve Katze aus dem Sack lässt. Imperien, denen er analytisch denVorzug vor hegemonialen Ordnungen gibt, haben in ihrer benevo-lenten Façon auch ihr Gutes, sind vielleicht sogar besser ge-eignet, mit den globalen Problemen dieser Welt umzugehen alsein UN-System. Will Europa, so die Konsequenz, sich behauptengegenüber den USA, darf es nicht auf die multilaterale Kartesetzen, sondern muss auch der imperialen Logik folgen und übereine „Hierarchisierung“ der Europäischen Union selber imperia-le Politik machen. Das gilt vor allem an seinen Rändern im Os-ten und Süden. Münkler bevorzugt dabei einen kerneuropäischenDreibund aus Frankreich, Deutschland und Großbritannien. Wenndieser nicht zustande kommt, muss Großbritannien durch einenanderen, nichtgenannten Partner ersetzt werden.

Sein Ansatz ist klassisch, weist Münkler als einen der wenigendeutschen Vertreter des Traditionalismus aus. Dessen bevorzug-te Methode ist der Rückgriff auf die politische Ideengeschich-

8 Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grund-problem der Staatengeschichte. Krefeld: Scherpe o.J. (1947); Heinrich Trie-pel, Die Hegemonie. Ein Buch von den führenden Staaten. Stuttgart: 1938,Neuaufl.

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te, die Textexegese, die hermeneutische Interpretation histo-rischer Fälle, ein Ansatz, dessen Marginalisierung er unlängstbeklagt hat9. Was haben die Klassiker gesagt? Wie haben dieStaaten sich in kritischen Situationen verhalten, in denen esum Krieg und Frieden, um Expansion oder Konsolidierung des ei-genen Machtbereichs ging? Also erfahren wir bei Münkler vielüber Thukydides, Hobbes, Clausewitz oder Mahan, über den Dia-log zwischen der „Thessalokratie“ Athen und der kleinen InselMelos während des Peleponesischen Krieges, viel über dieGrundsatzfrage römischer Politiker nach der Niederringung Kar-thagos (ceterum censeo ...), über die Reformen des Augustus,um dem Römischen Reich über die „augusteische Schwelle“ (seinLieblingswort) zu helfen, die zwischen der expansiven Phaseeines Imperiums und der Konsolidierungsphase liegt, um seineLebensdauer zu verlängern. Diese Rückblicke in die Geschichtesind aber nicht nur für sich von Interesse, sondern dienen im-mer der Sache an sich, wollen die historische Kontinuität vomAlten Rom bis zu den Vereinigten Staaten aufzeigen. Man hättesich auch noch einiges über den deutschen Emigranten LeoStrauss (1899-1973), theoretischer Stammvater des amerikani-schen Neokonservatismus, gewünscht, dessen Denken und Einflussauf Wolfowitz und Co. viel Erhellendes auf die Programmatikder Bush-Regierung wirft10. Dafür erfahren wir von der expansi-ven Logik eines Steppenimperiums á la Djingis Khan, warum Na-poleon oder Hitler scheitern mussten (failed empires), währenddas Chinesische Reich hinter der großen Mauer eine solche Le-bensdauer erreichen konnte.

Sein dritter Baustein ist die vergleichende Methode. Er ver-gleicht historische Fälle von Imperien in der Absicht, darauseine Typologie der Imperien, eine Theorie imperialer Herr-schaft zu gewinnen, die nach See- und Territorialmächten, nachHandels- und Militärmächten oder danach kategorisiert werden,ob sie Räume oder Ströme (von Kapital, Waren, Menschen) zu

9 Vgl. dazu Friedrich Niewöhner, Politik als Ideengeschichte. In: FAZ vom21.9.2005, S. N3.10 Vgl. dazu Leo Strauss, On Tyranny. Chicago: University of Chicago Press2000. (zuerst 1948)

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kontrollieren imstande sind. Je nach typologischer Verfasst-heit ergeben sich unterschiedliche Handlungsoptionen bzw. Im-perative, die immer wieder durch historische Beispiele exem-plifiziert werden, aber auch unterschiedliche Ursachen, diefür den Aufstieg oder Niedergang von Imperien verantwortlichzu machen sind. Münkler verfällt also nicht der Annahme, hierunterscheided er sich vom klassischen Realismus, dass die gro-ßen Männer die Geschichte machen. Es geht ihm nicht um die Ak-teure, um die Person Augustus, Djingis Khan, Yongle, MehmedII, Karl der V, Richelieu, Metternich oder Bismarck, sondernum die innere Logik, die Strukturen, die Rahmenbedingungen vonImperien, innerhalb derer die „großen Männer der Geschichte“agieren. Deshalb interessiert ihn auch nicht, was die christ-liche Rechte oder die Neokonservativen in den USA denken undwer welchen Einfluss auf Präsident Bush hat, sondern welchestrukturelle Bedeutung dem amerikanischen Missionarismus fürden Erhalt und die Legitimation von Imperien zukommt. Imperienmischen sich nämlich ein in die inneren Angelegenheiten ande-rer, müssen sich sogar einmischen, Staaten hingegen haltensich an das Souveränitätsprinzip.

Mit seinem Baukasten aus Ideengeschichte, Fallanalyse und ver-gleichender Methode bezieht Münkler eine klare Gegenpositionzum Szientismus/Empirismus, der auch von der deutschen Zunftin der neorealistischen wie der neoliberalen Variante Besitzergriffen hat. Ein Hegemonietheoretiker wie Modelski11 würdedie athenischen Kriegsgaleeren und die Kriegsgaleeren seinerBündnispartner und persischen Gegner zählen, möglichst langeZeitreihen bilden und aus den sich verändernden Stärkeverhält-nissen der Flotten Aufschlüsse über Hegemonie gewinnen. Mo-delski würde dafür jahrelanges Archivstudium betreiben müssen,Münkler gelingt dieses über eine knappe Interpretation des Me-lier-Dialogs. Deswegen benötigt ein „Ein-Mann-Think-Tank“ auchnur ein Studierzimmer und kein großes Institut. Sein überzeu-gendes Argument lautet: Solange die griechische polis von der

11 George Modelski/William R. Thompson, Seapower in Global Politics, 1494-1993. Houndmills: MacMillan 1988.

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persischen Despotie bedroht war, war Athen nur Hegemonialmachtim Attischen Seebund, die seine Mitstreiter respektierte. Alsder persische Feind abgewehrt war, wandelte es sich zum Impe-rium, dessen Macht durch die Akropolis demonstriert wurde,hatten die Melier nur die Alternative Unterwerfung oder Ver-nichtung, musste Athen aber auch die unbotmäßigen Melier ver-nichten, wollte es seinen Anspruch behaupten.

Kommen wir zu den Verdiensten, die das Buch nicht nur ver-spricht, sondern auch einlöst. Münkler richtet den Blick aufden entscheidenden Punkt zum Verständnis der gegenwärtigen in-ternationalen Politik: Auf die Bipolarität der Konstellationdes Ost-West-Konflikts ist die unipolare Konstellation derneuen Weltordnung gefolgt. Die USA verstehen sich als alleini-ge Weltordnungsmacht, die so handelt, wie Weltordnungsmächtehandeln müssen. Nach der Niederringung des letzten großen im-perialen Widersachers, der Sowjetunion im Kalten Krieg, desletzten „Steppenimperiums“ (Münkler) der Weltgeschichte, gibtes nur noch eine Supermacht, die sich, wenn es um fundamentalestrategische Interessen wie etwa die Ölversorgung geht, auchüber die Imperative des Marktes hinweg setzt. So wie Rom nachder Niederringung Karthagos einer neuen Legitimation bedurfte,die darin bestand, die römische Zivilisation gegen die Barba-ren zu verteidigen, so besteht die amerikanische Mission da-rin, die amerikanischen Werte gegen die „Achse des Bösen“ ausSchurkenstaaten, islamistischem Terrorismus und zerfallendenStaaten zu verteidigen. Ganz so wie die Römer oder Chineseneine Mischung aus Limes bzw. großer Mauer und Strafexpeditionverfolgten, verfolgen auch die USA eine Mischung aus Abschot-tung (der Zaun an der mexikanischen Grenze) und Intervention,die bei Bedarf humanitär begründet wird.

Münkler belebt eine akademische Tradition, die aufgrund der„Hegemonie“ (im Sinne Gramscis) der idealistischen Friedens-und Konfliktforschung in Deutschland kaum zu finden ist. Inden USA sah das anders aus. In den 1980er Jahren gab die Lite-ratur über den american decline den Ton an. Nach dem Ende der

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Sowjetunion und der Erkenntnis, dass Japan doch nicht der neueHerausforderer ist12, sondern mit denselben strukturellen Pro-blemen zu kämpfen hat wie das alte Europa, gab es die kurzeEuphorie der Revival-Literatur13. Übersehen wurde allerdings,dass Macht und Wohlstand immer auch relative Kategorien sind.Die amerikanische Macht hat zugenommen, weil diesowjetisch/russische abgenommen hat. Der Wirtschaftsboom inOst- und Südostasien ist ungebrochen, nur dass statt Japanoder den Tigerstaaten mittlerweile China die pace macht. Auchso wird die relative Wirtschaftskraft der USA vermindert. In-sofern haben Neodecline-Theoretiker wie Chalmers Johnson, Ben-jamin Barber oder Robert Brenner14 recht. Die strukturellenProbleme der USA, wie sie etwa im neuerlichen Doppeldefizitvon Außenhandel und Staatshaushalt zum Ausdruck kommen, sindgeblieben. Die imperiale Überdehnung ist nicht vom Tisch, derWiderspruch zwischen Mission und den Schattenseiten des impe-rialen Alltags in Guantanomo oder Abu Ghraib zeigt sich aufsNeue. Das Thema chinesische Herausforderung bleibt bei Münklerleider unterbelichtet, weil, hier setzt eine Kritik an, erüber das Ziel hinausschießt und zu viel Ideengeschichte und zuwenig empirische Analyse betreibt.

Sein drittes Verdienst ist schließlich, dass Münkler die zen-tralen Begriffe und Gegensatzpaare und die darin jeweils ent-haltene Logik herausarbeitet. Weil Territorialmächte großeRäume und Grenzen kontrollieren müssen, brauchen sie ein gro-ßes Heer und sind viel eher der Gefahr imperialer Überdehnungunterworfen als Seemächte, die sich auf eine bewegliche Flotteund ein System von Marinebasen stützen. Während die einen da-rauf angewiesen sind, dass der Tribut, den sie aus den erober-ten Ländern ziehen, höher ist als die imperialen Kosten, die12 Extremes Beispiel war George Friedman/Meredith Lebard, The Coming Warwith Japan. New York: St. Martin’s Press 1991.13 Joseph N. Nye, Bound to Lead: The Changing Nature of American Power. NewYork: Basic Books 1990; Henry R. Nau, The Myth of America’s Decline: Lead-ing the World Economy into the 1990s. New York: Oxford UP 1990.14 Chalmers Johnson, Ein Imperium verfällt. Wann endet das amerikanischeJahrhundert? München: Blessing 2000; Robert Brenner, The Boom and the Bub-ble: The US in the World Economy. London: Verso 2003; Benjamin R. Barber,Imperium der Angst. Die USA und die Neuordnung der Welt. München: Beck2003.

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sie zur Beherrschung des Reiches aufzubringen haben, setzendie Seemächte auf den Handelsprofit und die Externalisierungder Kosten durch das Agieren privater Akteure wie etwa dieHandelskompanien der Engländer und Niederländer. Seemächtesind also eher Handelsmächte und Landmächte eher Militärmäch-te. Seemächte waren in der Regel stabiler, lebten länger undvermochten ihren Niedergang hinauszuzögern, während Territori-almächte kurzlebiger waren und ihr Ende sich überstürzte -siehe die Mongolen, das napoleonische Frankreich, Hitler-Deutschland oder zuletzt die Sowjetunion. Deutlich bei Münklerwird auch die stabilisierende Wirkung von soft power, also diezivilisatorische Ausstrahlung des Imperiums und die Macht sei-ner Medien, aber auch die Gefährdung, wenn eben diese Mediendurch ihre Präsenz ins Bewusstsein rücken, dass der missiona-risch-zivilisatorische Anspruch und die alltägliche Wirklich-keit der Behauptung imperialer Macht nicht übereinstimmen.Nicht nur die neuen Partisanen, sondern auch das neue „Imperi-um der Angst“15 führt die „neuen Kriege“.

Die Rückkehr der Lehre vom gerechten Krieg interpretiert Münk-ler als den Rückgriff auf eine alte Legitimationsfigur, mit-tels derer Imperien die Intervention jenseits des Limes ge-rechtfertigt haben. An dieser Stelle geraten die USA in einkardinales Dilemma. Ihre Tradition ist antiimperial, ihre Mis-sion ist die Ausbreitung von Demokratie, Markt und Menschen-rechten. Wenn sie auf Widerstand stoßen durch das Aufkommendes globalen Terrorismus, neuerdings sogar im eigenen Land,müssen sie zu Mitteln greifen, die ihrer Sendung widerspre-chen, weil, so Münklers Argument, die Asymmetrie der Macht denWiderstandskämpfer zur Partisanentaktik und zum Terrorismuszwingt. Bei einem solchen Gegner versagen aber die Grundsätzedes Kriegsvölkerrechts. Zwar werden dessen Verletzungen vonamerikanischer Seite, so gut es geht, kaschiert, wenn die ei-genen Medien dies aber aufdecken, bricht die Legitimation im-perialer Politik zusammen. An dieser Stelle zeigt sich die

15 Benjamin Barber, Imperium der Angst. Die USA und die Neuordnung der Welt. Mün-chen: Beck 2003.

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Kraft seiner strukturellen Argumentation, während BenjaminBarber den gleichen Widerspruch moralisch geißelt. Die Konse-quenz ist der Wechsel von der Wehrpflicht zur Berufsarmee, diesich nicht mehr aus einer kritischen Mittelschicht (wie in Vi-etnam), sondern aus der Unterschicht rekrutiert und sozialenAufstieg verspricht. Noch konsequenter ist die Verschlankungder Armee durch den Einsatz der neuen Söldner in Form der Pri-vate Military Companies16.

Kommen wir zur Kritik. Das, was die Stärke des Buches aus-macht, das Bemühen um begriffliche Klarheit und imperiale Ty-penbildung, wird dann zur Schwäche, wenn dieses in der Anwen-dung, also der Analyse der historischen Fälle, zu wenig be-rücksichtigt wird. Diese Feststellung gilt insbesondere fürden Unterschied zwischen Imperium und Hegemonie. Münkler er-kennt zwar den Unterschied, nennt ihn „heikel“ (wieso eigent-lich?) und ist bemüht, ihn zu definieren, verfolgt diese Un-terscheidung im Verlauf des Buches aber nicht weiter. Letzt-lich sind für ihn alle großen Reiche, von Rom bis zu den USA,Imperien und damit einer imperialen Logik unterworfen. Dabeiist der Unterschied doch ganz klar und lässt sich bereits ety-mologisch fassen. Imperium ist ein lateinischer Begriff undheißt „Herrschaft“, ηί (hägemonia) ist ein griechischerBegriff und heißt „Führerschaft“. In diesem Sinne war Rom einImperium, das den gesamten Mittelmeerraum und Westeuropa bisnach England beherrschte, sind es die USA trotz ihrer Flottenund Stützpunkte im Ausland nicht, auch wenn das Kapitol unddie übrige Memorial-Architektur in Washington die Assoziationan das Forum Romanum wecken, da es neben den USA nahezu 200selbständige Staaten gibt. Im Imperium Romanum gab es, abgese-hen von dem kleinen gallischen Dorf, keine selbständigen Staa-ten. Weniger das Entwicklungsgefälle, wie Münkler mußmaßt,entscheidet, ob es zu Hegemonie oder Imperium kommt, sondernin welchem Maße sich quantitativ und qualitativ das Souveräni-tätsprinzip gegenüber dem Anspruch der Universalmonarchie

16 Vgl. dazu Herbert Wulf, Internationalisierung und Privatisierung vonKrieg und Frieden. Baden-Baden: Nomos 2005.

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durchgesetzt hat. Die Sowjetunion war nicht imperial, weil siehöher entwickelt war als der übrige Ostblock, sondern weil siedie Souveränität seiner Mitglieder einzuschränken vermochte.

Deshalb konnte es neben dem römischen weitere souveräne Impe-rien in China oder Persien geben, während die amerikanischeHegemonie derzeit von keiner anderen Macht ernsthaft in Fragegestellt werden kann. Insofern war die Konstellation des Ost-West-Konflikts eine Doppelhegemonie oder präziser: Es handeltesich um die Rivalität von Hegemonialmacht (USA) und Imperial-macht (Sowjetunion). Die Sowjetunion war deshalb viel eher einImperium, weil sie massiv und offen in die inneren Verhältnis-se der Ostblockstaaten eingreifen konnte und dies auch immerwieder tat. Frankreich vermochte ungestraft aus der NATO aus-zutreten. Der Versuch Ungarns, aus dem Ostblock auszutreten,wurde militärisch niedergeschlagen. Zwar haben auch die USAsich überall eingemischt, je größer das Machtgefälle, destomehr, aber sie mussten dabei eher auf diplomatischen Druckoder klandestine Geheimdienstaktionen setzen. Imperial agier-ten sie noch am ehesten in ihrem zentralamerikanischen „Hin-terhof“.

Das chinesische Reich war mehr als bloß ein Imperium wie Rom.Rom war ein Vielvölkerstaat wie das Osmanische Reich, das Za-renreich oder beide Habsburger Reiche. In China bildetenNicht-Chinesen immer nur eine kleine Minderheit von wenigerals 10 Prozent der Bevölkerung, wenn auch das Territorium dernationalen Minderheiten wesentlich größer war. China war damitfast schon Nationalstaat und zugleich Hegemonialmacht gegen-über den angrenzenden tributpflichtigen Staaten von Japan bisSüdostasien. Auf dem Höhepunkt der chinesischen Machtentfal-tung, der frühen Ming-Zeit in den ersten drei Jahrzehnten des14. Jahrhunderts, sandten die Fürsten Zentralasiens, Indiensund weiterer Anrainer des Indiks bis zur arabischen Halbinselund der ostafrikanischen Küste ihre Tributgesandtschaften nachPeking, leisteten den Kotau, orientierten sich am chinesischenKalender und suchten die Legitimierung ihrer lokalen Herr-

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schaft durch den chinesischen Kaiser. Auch in Europa gab esMischformen, aber in anderer Form. Einerseits errichteten dieGroßmächte in Übersee Imperien, andererseits rangen sie inEuropa um die Hegemonie. Ludwigs Dehios „Gleichgewicht oderHegemonie“ bezieht sich auf das „Konzert“ der fünf Großmächtein Europa.

Imperium setzt immer direkte Beherrschung voraus. Hegemonial-mächte bedienen sich bei ihrer Führerschaft indirekter Mecha-nismen. Imperien dürfen auf die Ausübung von Zwangsmitteln beiUnbotmäßigkeit nicht verzichten, sonst lösen sie sich auf. He-gemonie hingegen wird vielfach sogar akzeptiert, weil sie auchVorteile bietet, weil die soft power der Hegemonialmacht Fas-zination ausübt. Deshalb können Hegemonialmächte Unbotmäßig-keit bisweilen wie im Falle Frankreichs sogar tolerieren. Ter-ritorialmächte neigen eher zur Bildung von Imperien und zurKontrolle von Grenzen, Ressourcen und Menschen, während See-mächte ohne feste Grenzen eher hegemoniale Ordnungen errichtenund eher an der Kontrolle von Strömen (Waren, Kapital) inte-ressiert sind. Die Sowjetunion musste eine imperiale Zwangs-herrschaft errichten, um die zentrifugalen Kräfte zu unterdrü-cken und die Ressourcen zu mobilisieren, die sie in ihrem he-gemonialen Ausscheidungskampf mit den USA verschlang. Die USAbesitzen zwar ein großes Territorium und auch eine große Ar-mee, agieren aber eher wie eine Seemacht bzw. neuerdings wieeine Luftmacht, nicht zuletzt, weil sie geopolitisch eine In-sel sind. Die USA brauchen, um ihr Handelsdefizit auszuglei-chen, nur Dollarnoten zu drucken, die alle Welt gern akzep-tiert. Hegemonien sind stärkere politische Gebilde als Impe-rien. Der Ausgang des Kalten Krieges bestätigt diese These.Insofern ist auch fraglich, ob die „Seaborn Empires“ wie Por-tugal oder die Niederlande wirklich Imperien waren, ganz zuschweigen von ihren Vorläufern Genua und Venedig.

Dass diese Unterschiede bei Münkler verschwinden, liegt viel-leicht daran, dass er, trotz aller nachvollziehbaren Sympathiefür den geisteswissenschaftlichen Ansatz, doch zu viel Ideen-

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geschichte und zu wenig empirisch, d.h. durch Fakten gesättig-te historische Fallstudie betreibt. Hätte er beides kombi-niert, wäre deutlich geworden, dass seine Typologie zwar heu-ristisch sinnvoll und erkenntnisfördernd ist, dass die Reali-tät aber viele Mischformen, regelrechte Zwitter, Paradoxienhervorgebracht hat. China war beides, Imperium und Hegemonial-macht mit über die Jahrhunderte schwankender Reichweite. Eswar Territorialmacht, die sich hinter der großen Mauer gegendie Einfälle der Steppenvölker verschanzte, es war aber auchSeemacht, die seit der Song-Zeit das südchinesische Meer, denGolf von Bengalen, zeitweilig sogar das Arabische Meer und dieostafrikanische Küste erkundet, kommerziell durchdrungen undmilitärisch beherrscht hat, bis es sich in der zweiten Hälftedes 15. Jahrhunderts in die Selbstisolation zurückzog, damitauf seine Hegemonie verzichtete und nur noch Imperium seinwollte. Spanien war zeitweise sicherlich beides oder sogar al-les drei. Hegemonialmacht in Europa, imperiale Macht in Ameri-ka und Seaborn Empire nach 1580, als Portugal und dessen über-seeische Besitzungen inkorporiert wurden. Auch das OsmanischeReich war nicht nur territoriales Imperium, sondern bis zurSeeschlacht von Lepanto (1571) eine veritable Seemacht, diedie östliche Hälfte des Mittelmeers, das Rote Meer, den Persi-schen Golf bis an die Indische Küste befuhr und den Portugie-sen Paroli bot. Selbst das Mongolenreich war Steppenimperiumnur bis zur Eroberung von China. Unter Kublai Khan wurden dieMongolen zur Seemacht, die zweimal die Invasion Japans ver-suchten und nur durch den Kamikaze (den göttlichen Wind) darangehindert wurden, die Flotten nach Annam, Java und andere In-seln Südostasiens aussandten. Zudem waren sie eine erstaunli-che Symbiose mit der Handelsmacht Genua eingegangen. Das Mon-golische Reich erstreckte sich vom Schwarzen Meer bis nach Ko-rea. Genuesische Händler befuhren die später sog. Seidenstraßevon Tana an der Mündung des Dons in das Asowsche Meer bis nachPeking. Auf der ganzen Route verströmte Genua seine softpower, galten genuesische Maße und Gewichte, fungierte die ge-nuesische Währung als Weltgeld, die überall akzeptiert wurde,während die Mongolen die hard power der Sicherheit der Karawa-

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nenwege und das Netz der Poststationen beisteuerten. Der Be-griff „Pax Mongolica“ machte 100 Jahre lang bis zur großenPest, die um 1350 Europa erreichte, seinen Sinn und verträgtsich so gar nicht mit dem Image der plündernden und brand-schatzenden Horden aus der Steppe. Auch die Mongolenfürstensetzten nicht nur auf die zwangsweise Eintreibung des Tributs,sondern reinvestierten einen Teil davon in die Geschäfte derItaliener. Marco Polo hat von der Zivilisation, der soft powerder mongolischen Yuan-Dynastie in China berichtet. Selbst dasim Vergleich zu Venedig kleine Genua war noch ein Zwitter. Inder Rivalität zu den anderen italienischen Seestädten wie Pisaoder Amalfi, sogar gegenüber Venedig, konnte es zeitweise ei-nen Hegemonieanspruch dank seiner Kriegsgaleeren durchsetzen.Im Handel mit der Levante bedurfte es hingegen der Kooperationmit den Mongolen. Die Dauerrivalin Venedig hingegen setzte aufdie asymmetrische Kooperation mit Byzanz, ein Imperium unterder Hegemonie der Serenissima – eine vollends paradoxe Kon-stellation - und auf die symmetrische Partnerschaft mit demSultan der Mameluken, die die Route via Alexandria und RotesMeer in den Fernen Osten kontrollierten.

Die historische Wirklichkeit war vielfältig, offeriert mehr,als Athen und Rom zu bieten haben. Imperien waren immer be-grenzt durch die Reichweite ihrer Armeen und Flotten, dieLeistungsfähigkeit ihrer Ökonomie, ggf. auch durch die Natur.Hegemonialmächte hatten zumindest ihrem Anspruch nach immereine globale Orientierung – soweit jedenfalls, wie der Globusbekannt war. Das galt für Genua und Venedig, deren Faktoreien,Karawanen, Galeerenrouten, Goldmünzen und Kreditbriefe vonEngland im Westen bis China im Osten reichten; das galt fürMing-China, das nahe daran war, 80 Jahre vor Kolumbus den See-weg nach Europa durch Indik und Rotes Meer nicht zu finden(den kannte man schon längst), sondern zu kontrollieren; dasgalt für Portugal und Spanien, die in den Verträgen von Torde-sillas (1494) und Zaragossa (1529) die gesamte „Neue Welt“ un-ter sich aufteilten, um dritte Europäer von Atlantik und Pazi-fik fernzuhalten; das galt für die Niederländer, die auf drei

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Kontinenten (in Afrika, in Asien und in Brasilien) gegen Por-tugal Krieg führten, um ihm den Gewürz- und Sklavenhandel ab-zujagen, während sie daheim auf engstem Raum einen erbittertenLandkrieg gegen Spanien und drei Seekriege gegen England imÄrmelkanal zu führen hatten. Auch das Phänomen der global ci-ties, der virtuellen Kontrolle von Finanz- und Warenströmenist nicht neu. Genua finanzierte die portugiesische maritimeExpansion und dem imperialen Anspruch Spaniens, Antwerpen tratin Konkurrenz zu Venedig als europäische Drehscheibe des Han-dels mit der Levante und verlor später seine Rolle als Finanz-zentrum an Genua und Amsterdam. Schon vor 800 Jahren gab esein integriertes asiatisches Seehandelsnetz mit Knotenpunktenvon Zayton über Malakka, Calicut, Cambay, Hormuz, Aden bisAlexandria, das den wechselnden Monsunwinden folgte17.

Neu ist eigentlich nur, dass im 20. Jahrhundert neben den ter-ritorialen und den maritimen Raum die Beherrschung erst desLuftraums18 und dann des Weltraums getreten ist. Diese Diffe-renzierung der Typologie fehlt bei Münkler. Flugzeug und Rake-te relativieren den Unterschied zwischen Land- und Seemacht,heben ihn aber nicht. Regime wie das von Saddam Hussein oderMilosevic lassen sich aus der Luft stürzen. Um ein Land zu be-frieden, es gar zu „transformieren“ im amerikanischen Sinn,bedarf doch wieder der Armee und bietet damit die alte Achil-les-Verse des asymmetrischen Guerilla-Krieges, die noch sogroßer hightec-Aufwand nicht kompensieren kann.

Also: Die USA sind trotz Irak und Afghanistan Hegemonialmachtund kein Imperium. An diesem kategorischen Unterschied mussauch das Verständnis der neuen weltpolitischen Konstellationansetzen. Grundlage ihrer Hegemonie ist die überlegene techni-sche und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, ihre seit Endedes 19. Jahrhunderts gegenüber allen anderen Mächten überra-gende Innovationskraft. Diese ist wiederum die Ursache, dass

17 Vgl. dazu Janet L. Abu-Lughod, Before European Hegemony: The World SystemA.D. 1250-1350. New York: Oxford UP 1989.18 Vgl. dazu erstmals Guilio Douhet, The Command of the Air. Washington D.C.1983 (ital. 1921).

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die USA als einzige Macht über die Ressourcen verfügen, dasnicht vorhandene internationale Gewaltmonopol zu ersetzen. Sievertrauen auf die hard power des Pentagons und nicht auf diesoft power des Hexagons. Ihr erster Hegemoniezyklus hat etwavon 1890-1990 gedauert. Sein Zenit war 1945/49 erreicht, bisdie Sowjetunion das Atommonopol gebrochen hat. Davon bleibtunberührt, dass sie erst nach 1945 den Isolationismus überwun-den und ihre hegemoniale Rolle auch aktiv wahrgenommen haben.Präsident Wilson wurde 1919 noch von einer isolationistischenMehrheit im Kongress zurückgepfiffen. Da die Innovationskraftder USA immer noch ungebrochen ist, durchlaufen sie seit 1990einen zweiten Hegemoniezyklus, dessen Zenit noch nicht abseh-bar ist. Sie haben sich also nicht vom Hegemon zum Imperiumverwandelt, sondern sind Hegemon geblieben, brauchen deshalbauch keine „augusteische Schwelle“ zu überschreiten. Die „Be-herrschungskosten“ im Sinne Münklers kann der Hegemon vieleleganter durch burden sharing senken als das Imperium, da dieNutznießer der hegemonialen Ordnung freiwillig dazu bereitsind wie das Beispiel des zweiten Golfkrieges gezeigt hat. Die„neuen Kriege“ sind aus dieser Perspektive nicht der Ausdruckvom Staatszerfall, sondern die Spätfolgen des Zerfalls von Im-perien.

Hegemonie im Sinne von Führerschaft wird ausgeübt durch dieBereitstellung internationaler öffentlicher Güter, ganz so,wie das jeder Nationalstaat im Inneren seines Landes tut. Diebeiden wichtigsten internationalen öffentlichen Güter sind Si-cherheit im Sinne militärischen Schutzes und Stabilität imSinne funktionierender weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen,wozu nicht zuletzt auch die Gewährleistung einer möglichstreibungslosen Ölversorgung für alle gehört. Zu Zeiten der Se-gelschiffahrt war die Versorgung mit Schiffsholz aus den wich-tigen Herkunftsregionen der Ostsee, des Schwarzen Meeres undspäter Kanadas eine Aufgabe von ähnlicher strategischer Bedeu-tung. Nicht nur um Öl im Persischen Golf, auch um die Zugängezu Ostsee und Schwarzem Meer wurden Kriege geführt, um die

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Versorgung mit Schiffsmasten zu garantieren19. Bereit gestelltwerden diese öffentlichen Güter durch internationale Regime.Das sind Normen, Prinzipien, Regeln und Entscheidungsverfah-ren, mittels derer die Freiheit der Meere, ein internationalesZahlungssystem oder die Nichtverbreitung von Atomwaffen durch-gesetzt werden. Der Hegemon sorgt für die Initiierung und po-litische Durchsetzung, ggf. auch für die Ressourcen zum Unter-halt des Regimes. Alle anderen partizipieren daran als FreeRider. Sie tun dies freiwillig, sie ordnen sich der Hegemoniesogar ganz gern unter, weil es für sie von Vorteil ist undweil es nichts kostet. Selbst in der Phase des hegemonialenNiedergangs können solche Regime noch weiter bestehen, wenndie Free Rider bereit sind, sich im Zuge eines burden sharingsan den Kosten zu beteiligen. Nachdem die USA lange Zeit kos-tenlos die nukleare Garantiemacht für Europa und Teile Asiens(Japan, Südkorea, etc.) waren, also auch gegenüber der neutra-len Schweiz oder Frankreich nach dessen NATO-Austritt, spielensie jetzt die hegemoniale Rolle im Hinblick auf die Nonproli-feration von Massen-vernichtungswaffen, den Kampf gegen denTerrorismus und sonstige Feinde der westlichen Welt. Auf wirt-schaftlichem Gebiet zeigen sie zwar immer wieder Schwächen, so1971, als das Bretton Woods-System (auch ein internationalesRegime) aufgegeben wurde, bei der Durchsetzung eines liberalenWelthandelssystems oder bei der Garantie der weltweiten Ölver-sorgung ist ihre Funktion aber nach wie vor gegeben.

Benevolent ist diese Hegemonie immer dann, wenn sich amerika-nische Interessen mit denen der anderen Staaten decken. Dieaktuelle USA-Kritik entzündet sich genau an dieser Frage: Sindsie eher die gütige Macht, die auch anderen nützt, oder dieeigensüchtige, die nur eigene Interessen durchsetzt? Wird dieWahrung der Interessen anderer missachtet, wie im Fall der Um-weltpolitik, kommt es zwar zu weltweiter Kritik, doch niemandkann die USA zur Einhaltung des Kyoto-Protokolls zwingen. Zueiner Hegemonialmacht gehört auch, dass sie nicht bereit ist,

19 Vgl. dazu Robert Greenhalgh Albion, Forest and Seapower: The Timber Prob-lem of the Royal Navy 1652-1862. Cambridge, Mass.: Harvard UP 1926.

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Einbuße an Souveränität hinzunehmen, sei es von Seiten derVereinten Nationen oder eines Internationalem Strafgerichts-hofs. Wenn es passt, wird der UN-Sicherheitsrat bemüht undsein Mandat erwirkt, wenn nicht, geht es auch ohne UN-Mandat.Wenn es passt, werden die Regeln der WTO befolgt, im Zweifels-falle wird aber auch bilaterale Handelspolitik unter Einsatzdes amerikanischen Handelsbeauftragten betrieben.

Insofern ist die Weltgeschichte seit der frühen Neuzeit, alsdie Globalisierung an Fahrt gewann, eher durch eine Abfolgevon Hegemonialmächten als durch eine Abfolge von Imperien ge-prägt. Auch die Seaborn Empires der Portugiesen und Niederlän-der, der Spanier und Briten hatten Aspekte von Hegemonie. Auchdamals gab es schon einen Bedarf nach internationalen öffent-lichen Gütern. Die Freiheit der Meere, der Schutz vor Pirate-rie, die Versorgung mit Schiffsholz, die Bereitstellung einesinternationalen Zahlungsmittels (Silber), die Organisation derinternationalen Arbeitsteilung über Faktoreien, Konsularge-richtsbarkeit, Karawanenrouten, Poststationen, Kreditbriefe,aber auch die Erstellung und Verbreitung von Land- und Seekar-ten, nautischen Instrumenten, Hafenbüchern und Beschreibungender Karawanenrouten, so etwa das Handbuch des Pegliotti überdie Seidenstraße, gehörten dazu. Indem die Genuesen mit denMongolen und die Venezianer mit den Mameluken gute Beziehungenpflegten, partizipierten daran alle übrigen Europäer, die inden Genuss der begehrten orientalischen Gewürze, Seidenstoffeund Pretiosen kommen wollten.

Der Aufstieg einer Hegemonialmacht wurde immer ausgelöst durchbesondere innovatorische Leistungen, die technischer oder in-stitutioneller Art sein konnten, aber auch wirtschaftliche undmilitärische Wirkungen zeigten. Die Entwicklung der Nassreis-kultur machte es möglich, die chinesische Landwirtschaft inder Song-Zeit nach Süden auszudehnen und deren Überschussfä-higkeit beträchtlich zu steigern. Die zusätzliche Grundrentefloss in die Kassen des Staates und finanzierte Armee undFlotte. Die Erfindung des Steigbügels in Verbindung mit dem

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Reflexbogen ermöglichte es den mongolischen Reitern, aus vol-lem Galopp in alle vier Himmelsrichtungen zu schießen. Damitwaren sie in punkto Mobilität und Feuerkraft jedem noch soschwer gepanzerten europäischen Ritterheer überlegen. Die Be-stückung der Karavelle mit Kanonen machte diese zu einem mobi-len Fort und setzte die Portugiesen instand, jeden maritimenWiderstand vor Asiens Küsten zu brechen. Die arbeitsteiligeund fließbandmäßige Organisation des Arsenals in Venedig unddas System der Galeere da Mercato begründete die militärischeund kommerzielle Überlegenheit der Lagunenstadt. Die nieder-ländischen und britischen Handelskompanien waren dem staatli-chen Pfeffermonopols Portugals überlegen. Die Innovationen derIndustriellen Revolution - Dampfmaschine, Mule Jenny und Hüt-tentechnik - begründeten den Aufstieg Großbritanniens zurWerkstatt der Welt, zum Herrscher der Meere und zum Handels-und Finanzzentrum. Grundlage der amerikanischen Hegemonie wa-ren bzw. sind die Innovationen im Automobilbau, in der Nukle-artechnik, in der Informationstechnik und Datenverarbeitung,im Flugzeugbau und der Raumfahrt.

Wenn eine Macht nicht wirklich innovativ war und ihr Militärsich nicht auf das Fundament überragender wirtschaftlicherLeistungsfähigkeit stellen konnte (siehe Byzanz, Spanien, Os-manisches Reich, China seit der späten Ming-Zeit, Russlandbzw. die Sowjetunion), blieb nur die imperiale Logik, bei derder Zwang kompensieren musste, was dem Hegemon von alleine zu-fließt. Die imperiale Macht verfolgt aus ihrer relativenSchwäche heraus eine Tonnenideologie, bei der die schiere Mas-se die qualitative Überlegenheit, die den Hegemon auszeichnet,kompensieren soll. Die großen Konflikte und Kriege der Weltge-schichte sind aus dieser Perspektive immer Ausscheidungskämpfegewesen, bei denen die absteigende Macht sich gegen den neuenHerausforderer zu erwehren hatte. Bei diesen Konflikten istsehr genau zu unterscheiden, ob es sich um hegemoniale Aus-scheidungskämpfe oder das Ringen zwischen Imperien und Hegemo-nialmächten handelt. So gesehen ist auch der „Abstieg“ von derHegemonialmacht zum Imperium wie im Falle der Osmanen nach Le-

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panto (1571) eine mögliche Konstellation, wenn die Innovati-onskraft nachlässt und nur die schiere Masse noch kompensato-risch wirkt. Deshalb musste der Kalte Krieg so ausgehen, wieer ausgegangen ist, ist der anhaltende Konflikt im Kaukasusimmer noch ein Stück Imperiums- und nicht Staatszerfall, wäh-rend im Irak versucht wird, die hegemoniale Ordnung durchzu-setzen. Letztlich ist es gleichgültig, ob nachlassende Innova-tionskraft, imperiale Überdehnung oder das relative Aufholender Nachzügler im Zuge von Gegeninnovationen zum Auslöser ei-nes Niedergangs werden. Die VR China ist das seltene Beispiel,wie nach grundlegenden inneren Reformen ein früheres Imperiumdynamisiert werden kann.

Wenn die Innovationsfähigkeit zur entscheidenden machtpoliti-schen Variable wird, dann ist das Zeitalter der Imperien defi-nitiv vorüber. Die Sowjetunion war das letzte Imperium, dasnicht über Innovation, sondern über Zwang den Hegemon USA he-rausgefordert hat. Der neue hegemoniale (nicht der imperiale)Herausforderer steht schon bereit. Es ist nicht Japan, wie diedecline-Theoretiker der 1980er Jahre mutmaßten, sondern China,das derzeit mit Riesenschritten die industrielle Leiter empor-stürmt und weltweit eine Handelsbastion nach der anderenschleift als Freerider eines internationalen öffentlichenGuts, des Freihandelsregimes, das die USA errichtet haben. Je-der Hegemon muss langfristig die Free Rider-Problematik fürch-ten. Deshalb das zähe Ringen, bis China die WTO-Mitgliedschaftzugestanden wurde. Anders als Japan sind in China auch die mi-litärischen Ambitionen ungebrochen bis hin zur bemannten Raum-fahrt, und ähnlich wie die USA ist China nicht bereit, Souve-ränität an internationale Organisationen preiszugeben, verbit-tet sich strikt jede Einmischung in seine „inneren Angelegen-heiten“. Tibet wird damit leben müssen. Was bislang fehlt, istdie chinesische Trägerflotte, die ggf. künftig auch dafür sor-gen kann, die Deckung des rasant wachsenden chinesischen Ölbe-darfs militärisch abzusichern.

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Was heißt das für Europa? Sicherlich nicht die Rückkehr zu im-perialer Politik. Selbst für eine hegemoniale Politik mit glo-baler Reichweite fehlen die Kapazitäten, zumal Europa mitfortschreitender Erweiterung immer heterogener wird. Europasollte sich beschränken auf Europa und dort auf die multilate-rale Karte setzen. Die Erfolgsgeschichte seiner Süderweiterung(Spanien, Portugal, Griechenland) in punkto Demokratisierungund Wohlstandsmehrung zeigt, dass dies auch Programm für dieOsterweiterung inklusive Türkei sein kann. Allerdings, wennich dem Multilateralismus der EU zu einem dauerhaften Erfolgverhelfen will, dann brauche ich auch starke europäische In-stitutionen, also nicht die Hierarchisierung der EU, sondernweitere Abgabe nationaler Souveränität nach Brüssel. Die ame-rikanische Hegemonie ist eine nicht zu leugnende Tatsache undsie bedeutet auch Vorteile für Europa. Europa kann die USAnicht zum Multilateralismus zwingen, sollte es auch nicht ver-suchen, sehr wohl aber mehr Gewicht gegenüber dem amerikani-schen Freund zur Wahrung eigener Interessen auf die Waagebringen, indem das Projekt der europäischen Einigung vorange-trieben wird. Die Klärung der Frage, was Europa ausmacht undwo seine Grenzen sind, ist eine dringende Aufgabe. Innerhalbwie jenseits dieser Grenzen ist der demokratische Frieden dieAlternative zum gerechten Krieg.

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