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Hegemonie. Imperialität. Imperialismus. Ein Kommentar zu Ulrich Menzel David Salomon Es ist keine leichte Aufgabe, einen Beitrag zu kommentieren, der den „theoretischen Ertrag“ 1 einer langjährigen Forschungspraxis darlegt, deren ausführliches und in Buchform angekündigtes Er- gebnis ca. 1.000 Seiten umfassen wird. 2 Es steht zu erwarten, dass einige der Fragen, die sich nach der Lektüre des Artikels von Ulrich Menzel stellen, im Buch beantwortet werden und vielleicht auch so mancher Einwand widerlegt wird. Die Aufgabe, das Thema „aus imperialismustheoretischer Sicht zu behandeln“, 3 schafft zusätzliche Schwierigkeiten. Menzel verweist selbst darauf, dass die von ihm herangezogene Theorie des Imperiums keine Imperialismustheorie ist. Wenig würde es die Diskussion befruchten, seinen Überlegun- gen einfach nur eine imperialismustheoretische Perspektive auf die Fragen nach Weltordnungen, der Funktionsweise von Imperien oder von (internationaler) Hegemonie entgegenzuhalten. Zwei un- terschiedliche Paradigmen stünden dann nebeneinander, ohne ins „Gespräch miteinander“ kommen zu können – zudem wären termi- nologische Missverständnisse vorprogrammiert. Ins Uferlose müsste hingegen der Versuch ausarten, jede einzelne These Menzels zu rekapitulieren und zu diskutieren. Im Folgenden wird daher ein auf drei Aspekte beschränkter Versuch unternommen, einen Weg zwi- schen diesen beiden Möglichkeiten zu finden. Zunächst (I) gilt es, auf Ulrich Menzels axiomatische Setzung einer Anarchie bzw. Hier- archie der Staatenwelt einzugehen und aufzuzeigen, wo der zentrale paradigmatische Unterschied zwischen Imperialismustheorien und seinem Ansatz besteht. Anschließend (II) wird aufgezeigt werden, welche begrifflichen Differenzen zwischen Menzels Konzeption des Imperiums bzw. der Hegemonie und der Verwendungsweise dieser Begriffe im Umfeld von (neueren) Imperialismustheorien bestehen. 1 Alle in Klammern stehenden Angaben beziehen sich auf Ulrich Menzels Aufsatz „Imperium vs. Hegemon“ – Überlegungen zur Ordnung der Welt, in: WeltTrends 86, September / Oktober 2012. Das Kürzel „LF“ markiert Zitate aus dem mit „Die Ord- nung der Welt durch die Bereitstellung internationaler öffentlicher Güter und die Kontrolle der globalen Allmenden“ überschriebenen Manuskript der Langfassung des Artikels, die dem Verfasser dankenswerterweise von Ulrich Menzel zur Verfü- gung gestellt wurde. 2 Ulrich Menzel: Die Ordnung der Welt. Berlin 2013, im Erscheinen. 3 So Erhard Crome in seiner Einladung an den Verfasser.

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Hegemonie. Imperialität. Imperialismus.Ein Kommentar zu Ulrich Menzel

David Salomon

Es ist keine leichte Aufgabe, einen Beitrag zu kommentieren, der den „theoretischen Ertrag“1 einer langjährigen Forschungspraxis darlegt, deren ausführliches und in Buchform angekündigtes Er-gebnis ca. 1.000 Seiten umfassen wird.2 Es steht zu erwarten, dass einige der Fragen, die sich nach der Lektüre des Artikels von Ulrich Menzel stellen, im Buch beantwortet werden und vielleicht auch so mancher Einwand widerlegt wird. Die Aufgabe, das Thema „aus imperialismustheoretischer Sicht zu behandeln“,3 schafft zusätzliche Schwierigkeiten. Menzel verweist selbst darauf, dass die von ihm herangezogene Theorie des Imperiums keine Imperialismustheorie ist. Wenig würde es die Diskussion befruchten, seinen Überlegun-gen einfach nur eine imperialismustheoretische Perspektive auf die Fragen nach Weltordnungen, der Funktionsweise von Imperien oder von (internationaler) Hegemonie entgegenzuhalten. Zwei un-terschiedliche Paradigmen stünden dann nebeneinander, ohne ins „Gespräch miteinander“ kommen zu können – zudem wären termi-nologische Missverständnisse vorprogrammiert. Ins Uferlose müsste hingegen der Versuch ausarten, jede einzelne These Menzels zu rekapitulieren und zu diskutieren. Im Folgenden wird daher ein auf drei Aspekte beschränkter Versuch unternommen, einen Weg zwi-schen diesen beiden Möglichkeiten zu finden. Zunächst (I) gilt es, auf Ulrich Menzels axiomatische Setzung einer Anarchie bzw. Hier-archie der Staatenwelt einzugehen und aufzuzeigen, wo der zentrale paradigmatische Unterschied zwischen Imperialismustheorien und seinem Ansatz besteht. Anschließend (II) wird aufgezeigt werden, welche begrifflichen Differenzen zwischen Menzels Konzeption des Imperiums bzw. der Hegemonie und der Verwendungsweise dieser Begriffe im Umfeld von (neueren) Imperialismustheorien bestehen.

1 Alle in Klammern stehenden Angaben beziehen sich auf Ulrich Menzels Aufsatz „Imperium vs. Hegemon“ – Überlegungen zur Ordnung der Welt, in: WeltTrends 86, September / Oktober 2012. Das Kürzel „LF“ markiert Zitate aus dem mit „Die Ord-nung der Welt durch die Bereitstellung internationaler öffentlicher Güter und die Kontrolle der globalen Allmenden“ überschriebenen Manuskript der Langfassung des Artikels, die dem Verfasser dankenswerterweise von Ulrich Menzel zur Verfü-gung gestellt wurde.

2 Ulrich Menzel: Die Ordnung der Welt. Berlin 2013, im Erscheinen.3 So Erhard Crome in seiner Einladung an den Verfasser.

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Abschließend (III) folgt eine knappe Skizze der normativen Un-terschiede zwischen einer zeitgemäßen Imperialismustheorie und Menzels Überlegungen.

I. Staaten oder Gesellschaft?

Die Geschichte der wissenschaftlichen Theorien des Imperialismus beginnt vor etwa 100 Jahren, als Autoren wie John A. Hobson (1968), Rudolf Hilferding (1955), Rosa Luxemburg (1990), Nikolai Bucha-rin (1969), Karl Kautsky (2004) und Wladimir I. Lenin (1960) vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg in einer „ersten Welle der Imperialismustheorie“ (Andersson 2001) zeitdiagnostische Arbeiten über die damals gegenwärtige Entwicklung des Kapitalismus und ihren Zusammenhang mit der unübersehbaren Großmacht- bzw. Expansi-onspolitik in den kapitalistischen Zentren vorlegten. Die Bedeutung dieser Werke sowie der um sie geführten Debatten zeigt sich auch an dem Einfluss, den sie auf die spätere faschismustheoretische Zeit-diagnose ausübten – man denke etwa an Georgi Dimitroff (1957), aber auch an Hannah Arendt (1986/2001).

Nach 1945 lassen sich zwei Stränge der Imperialismustheorie re-konstruieren: Während sich der erste eher der Analyse der politi-schen und ökonomischen Verfasstheit der kapitalistischen Zentren widmete – zu erwähnen wären hier die Monopolkapitaltheorie von Paul A. Baran und Paul M. Sweezy (1973) sowie zahlreiche Arbei-ten zur Theorie eines Staatsmonopolistischen Kapitalismus (etwa Hemberger u. a. 1965, Reinhold u. a. 1971, Boccara u. a. 1973, Jung / Schleifstein 1979) –, lag der Schwerpunkt des Zweiten stärker auf der Analyse der Verhältnisse von Nord und Süd, „Erster“ und „Dritter“ Welt (siehe etwa Senghaas 1973). Dieser „zweiten Welle“ (Andersson 2001) folgte insbesondere in den 1990er-Jahren eine seltsame Stille um den Imperialismusbegriff. Seit etwas mehr als zehn Jahren lässt sich hingegen eine Renaissance von imperialis-mustheoretischen Ansätzen (Salomon 2008a) konstatieren. Neben einer reichhaltigen und ausdifferenzierten kapitalismustheoretischen Literatur zum „neuen Imperialismus“ 4 finden sich im Umfeld der Debatte auch Arbeiten, welche die Begriffe „Imperium“ bzw. „Im-perialismus“ (durchaus affirmativ) benutzen, um den Charakter der USA (etwa Ignatieff 2003) oder auch der Europäischen Union (Posener 2007) zu beschreiben. Schließlich sorgte auch ein Debat-tenstrang für Aufsehen, der in den Kontext der zeitgenössischen

4 Erwähnt seien hier nur die zentralen Arbeiten von Harvey 2005 und Panitch / Gin-din 2009. Verwiesen sei auch auf die Gesamtdarstellungen bei Deppe u. a. 2004 und Deppe / Salomon / Solty 2011.

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imperialismustheoretischen Diskussion gehört, jedoch als Imperi-alismustheorie nicht richtig beschrieben wäre. Michael Hardts und Antonio Negris bereits im Jahr 2000 (dt. 2002) erschienener Band „Empire – Die neue Weltordnung“ interpretiert aktuelle Entwick-lungen im Licht einer Krise der Souveränität: Die für klassische Konzeptionen kennzeichnende Unterscheidung von Innen und Au-ßen sei in Erosion begriffen, das (eine) Empire trete an die Stelle der einstmals konkurrierenden imperialistischen Mächte. Es ist in diesem Fall keine – wie so oft – Verlegenheitslösung, von einem „post-imperialismustheoretischen“ Ansatz zu sprechen (vgl. hierzu auch die Beiträge in Randeria / Eckert 2009).

Mit Ausnahme des erwähnten proimperialen Diskursstranges in Eu-ropa und den USA sowie (mit Einschränkungen) der Theorie Hannah Arendts teilen alle erwähnten – und durchaus heterogenen – Ansätze eine gemeinsame Basisprämisse: Der Imperialismus gilt ihnen als modernes Phänomen, dessen Ursachen in der politisch-ökonomischen Verfasstheit des Kapitalismus liegen. So unterschiedlich in den ge-nannten Ansätzen auch die Verhältnisse von Wirtschaft und Politik bzw. von Kapitalismus und Staat gefasst werden, so sehr ihre Ver-treter darüber streiten, wie sich Kapitalinteressen und Außenpolitik genau vermitteln, so sehr herrscht doch Einigkeit darüber, dass die in der „Lehre von den Internationalen Beziehungen“ angenommene Axiomatik einer „anarchischen Staatenwelt“ (S. 35) ebenso wie die von Menzel als Axiom des „strukturalistischen Paradigmas“ benannte „Hierarchie der Staatenwelt“ (ebd.) letztlich Abstraktionen sind. Der Begriff der „Abstraktion“ sollte hier ganz im Hegelschen Sinn einer Einseitigkeit verstanden werden, die das Ergebnis der Nichtbeachtung sozialer Verhältnisse ist, als deren Produkte der Staat ebenso wie die internationale Politik oder die Erscheinungsweise der „Staatenwelt“ gefasst werden können. Anders formuliert: Der Staat ist nicht der kleinste (axiomatisch gesetzte) Teil oder gar der einzige „Akteur“, dem imperialismustheoretische Perspektiven sich zuwenden. Vielmehr gilt es, Staaten selbst und die Rollen, die sie in der Welt spielen, vor dem Hintergrund sozialer Kräfte- und Klassenverhältnisse, mithin im Ganzen eines antagonistischen Modus der Vergesellschaftung zu analysieren. Diese zentrale Differenz in den Prämissen hat weit-reichende Folgen sowohl für die Erklärung von Weltordnungen als auch für die Frage nach einer normativen Theorie der weltpolitischen Beziehungen: „Realismus“ und „Idealismus“, „Strukturalismus“ und „Institutionalismus“ etwa, um in der von Menzel (2001, S. 23) sei-nerzeit vorgeschlagenen Matrix zu bleiben, erscheinen aus imperia-lismustheoretischer Sicht defizitär, soweit sie sich darin genügen, mit axiomatischen Setzungen zu operieren und sich nicht der Aufgabe stellen, ihre Prämissen soziologisch zu erden.

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II. Hegemonie oder Imperialität?

Die Begriffe „Hegemonie“ und „Imperialität“, selbst der des „Im-periums“, spielten lange Zeit kaum eine Rolle im Kontext imperia-lismustheoretischer Überlegungen. Wie Rainer Rilling (2008, S. 17) betont, kam gerade ein mehr als bloße Suprematie bezeichnender Begriff der Hegemonie im Kontext von Theorien der Internationalen Beziehungen just in dem Moment auf, in dem es allmählich still um die klassische Definition des Imperialismus zu werden begann. Es ist daher nicht ganz falsch, im hegemonietheoretischen Ansatz eine Alternative zur (klassischen) Imperialismustheorie zu sehen (ebd.). Durch die zentrale, axiomatische Dimension einer Priorität der Gesellschaftsanalyse vor der Analyse der „Staatenwelt“ stehen allerdings jene hegemonietheoretischen Arbeiten, die nicht zuletzt durch Vertreter der neogramscianischen Schule(n) im Feld der In-ternationalen Politischen Ökonomie (IPÖ) seit den 1980er-Jahren vorgelegt wurden, durchaus in imperialismustheoretischer Tradition.5 Ähnlich verhält es sich mit einigen neueren Studien zum Charakter und zur Funktionsweise von Imperien. So kritisiert der Imperia-litätsforscher Rainer Rilling (Haug 2012, S. 65) auch an neueren Imperialismustheorien: „Ob und wie […] ‚Imperialismus‘ […] und ‚Imperium‘ bzw. Imperialität voneinander zu unterscheiden sind und ob es, vor allem im letzten Fall um eine ‚Form politischer Organi-sation‘ oder um mehr geht, hat die weit überwiegende Mehrheit der Imperialismustheoretiker der Linken nicht thematisiert.“ (Rilling 2008, S. 16).6 Auch hier erscheint die Imperialitätstheorie somit als nicht identisch mit Imperialismustheorie – in mancher Hinsicht wohl sogar als ihre Nachfolgerin. Wie im Fall der Hegemonietheorie ist jedoch zu konstatieren, dass die imperialitätstheoretische Perspektive der axiomatischen Basisprämisse aller Imperialismustheorien nicht widerspricht: „Wer heute von Imperien redet, muss auch nach ihrer kapitalistischen Spezifik und nach den Spezifika des Kapitalistischen fragen, die sich in ihnen zusammenfassen.“ (ebd., S. 25) Hier wird ebenfalls von einer Priorität des Gesellschaftlichen und der (interna-tionalen bzw. globalen) politischen Ökonomie vor dem Staatlichen ausgegangen. Bei allen Unterschieden erweisen sich die – zumeist in Marx ‘scher Tradition formulierten – Ansätze einer Imperialismus-, Imperialitäts- und (neogramscianischen) Hegemonietheorie somit doch als einer „Familie“ zugehörig.

5 Etwa: van der Pijl 1984, Jacobitz 1991, Cox 1998, Gill 2000, Bieler / Morton 2003, Bieling 2003, Holmann 2005.

6 Rilling verweist auf die Ausnahmen und nennt neben Wolfgang Fritz Haug und Peter Gowan „vor allem Leo Panitch, Ellen Meiksins Wood, Alejandro Colás und, in anderer Weise, David Harvey sowie Giovanni Arrighi“ (ebd.).

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Hegemonie: Konsens und Zwang

Tatsächlich scheint zwischen der Begriffsbestimmung von „Hegemo-nie“ bei Menzel und dem Begriff der „Hegemonie“, wie er in der Tradi-tion Antonio Gramscis gefasst wird, zunächst eine Überschneidung der Ansätze konstatierbar: „Hegemonie […] fokussiert […] im Kern auf Fragen der Legitimation von Herrschaft durch Führung und Konsens-bildung.“ (Rilling 2008, S. 17) In Ähnlicher Weise betont auch Menzel: „Hegemonie meint Führung.“ (S. 36) Der Unterschied, der jedoch festgehalten werden muss, wird bereits im folgenden Satz offenbar: „Imperium meint Herrschaft.“ (ebd.) Für Menzel bilden Herrschaft und Führung ein Gegensatzpaar, wobei Erstere, in Komplementari-tät zu „Knechtschaft“ gefasst, ein „Zwangsverhältnis“ voraussetze, während Letztere, komplementär mit „Gefolgschaft“, „Akzeptanz und Freiwilligkeit“ beinhalte. Die Herrschaftssoziologie Gramscis geht hier einen, sich allerdings erst dem zweiten Blick erschließenden, anderen Weg: „Die Machtausübung besteht seiner Meinung nach aus zwei unterschiedlichen Funktionen: aus der Herrschaft und aus der Führung, das heißt der Hegemonie: Die Herrschaft wird gegen jene ausgeübt, gegen die sich die Macht richtet […]. Hegemonie beruht auf Zustimmung, Gleichberechtigung, Anerkennung, auf Konsens seitens derer, auf die sie sich erstreckt; Hegemonie ist eine Voraussetzung sowie eine ständige Bedingung für Machtausübung im Allgemeinen, für Herrschaft im Besonderen. […] Herrschaft ist nach Gramsci also Gewaltanwendung, und Hegemonie ist politische Führung auf kon-sensualer Ebene, wobei beide im Verhältnis zueinander stehen und im besten Falle miteinander kombiniert werden.“ (Neubert 2001, S. 66 f.) Weit davon entfernt, einfach ihr Gegenteil zu sein, verbürgt Hegemonie, also Führung, bei Gramsci gerade die Stabilität von Herrschaftsverhältnissen (zwischen Klassen und sozialen Gruppen und dann auch – als Funktion von Klassenverhältnissen – zwischen Staaten). Ganz in der Tradition Niccolò Machiavellis (Deppe 1987, S. 424) spricht Gramsci an einer Stelle in seinen Kerkerheften von einer „‚Doppelperspektive‘ im politischen Handeln“, die er durch einige gegenläufige, sich aber keineswegs ausschließende Begriffe skizziert: Zwang und Konsens, Autorität und Hegemonie, Gewalt und Kultur, individuelles und universelles Moment (Kirche und Staat), Agitation und Propaganda, Taktik und Strategie usw. (Gramsci 1991, S. 1553 f.). Dass es gerade das Verhältnis von Zwang und Konsens ist, das stabile Hegemonie und Herrschaft hervorbringt, erläutert er in einer – auch von Neubert (2001, S. 67 f.) zitierten – Passage, in der es heißt: „Die ‚normale‘ Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch eine Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne dass der Zwang zu sehr

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gegenüber dem Konsens überwiegt.“ (Gramsci 1991, S. 1610) In dieser Perspektive erscheint somit die Bestimmung der jeweils konkreten Verhältnisse von Zwang und Konsens, von Herrschaft und Hegemo-nie als empirische Forschungsaufgabe – wobei begrifflich durchaus einiges dafür spricht, „Hegemonie“ als Bezeichnung für eine Form der Herrschaftsausübung zu rekonstruieren, als einen Verhältnisbegriff, der sowohl Momente des Zwangs als auch solche des Konsenses erfasst.7 In keinem Fall allerdings erscheint die Kennzeichnung einer Machtposition als hegemonial als eine normative Aussage über ihre Wünschbarkeit oder auch nur die Legalität der geübten Machtmittel. Suprematie der USA in der westlichen Hemisphäre bedeutete im Kalten Krieg: Marshallplan und Koreakrieg, Westintegration der Bun-desrepublik und Putsch in Chile, Hollywood und McCarthy, Dollar und Strukturanpassungsprogramme zur Liberalisierung peripherer Märkte. Analog hierzu wäre ihre „globale“ Suprematie heute unzurei-chend beschrieben, reduzierte man sie auf (in der „westlichen Welt“ ungebrochene) kulturelle sowie – seit der großen Krise zumindest angeschlagene – ökonomische Faktoren und verschwiege das instru-mentelle Verhältnis zu Völker- und Menschenrecht, das nicht nur im Krieg gegen den Irak und in Guantanamo deutlich wurde (und wird), sondern sich permanent in den Drohnenanschlägen in Pakistan zeigt. Den komplexen Verhältnissen von Konsens und Zwang oder – was nicht unbedingt dasselbe ist – „freiwilliger“ Zustimmung und gewalt-förmiger Unterdrückung kommt dabei nur auf die Spur, wer genauer fragt, welche gesellschaftlichen Kräfte eingebunden, welche gewalt-sam in Schach gehalten oder von Repräsentation in der politischen Entscheidungssphäre ausgeschlossen werden.

Imperialität und Imperialismus

Jede Theorie der Imperialität – nicht unbedingt jede Imperialismus- theorie im oben explorierten, auf die Moderne beschränkten Sinn – steht vor dem Problem der begrifflichen Fixierung ihres Gegenstands: „Imperien“ (oder „Reiche“) sind kein neues Phänomen. Folgt man der Verwendungsweise allein etwa der geschichtswissenschaftlichen Literatur, sind sie – als mehr oder minder bestimmte Form politischer Räumlichkeit – weitaus älter als der National- oder der Territorial-staat (Rilling 2008, S. 21), von einer politischen Welt 8 oder einem

7 Gramsci oszilliert, wie die genannten Zitate belegen, zwischen einer solchen und einer stärker dualistischen Verwendungsweise dieser Begriffe.

8 Eine Welt beginnt dort, wo – durch das schiere gegenseitige Wissen um die Exis-tenz des anderen – zumindest die Möglichkeit besteht, sich gegenseitig als fremd zu empfinden. So wäre es ein Trugschluss, das Inkareich (vor der „Entdeckung“ Amerikas) und die europäischen Reiche des Mittelalters in derselben Welt zu

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internationalen Staatensystem ganz zu schweigen. Menzels Typologi-sierung 9 mutet daher durchaus etwas ahistorisch an, wenn er schreibt: „Große Mächte haben, seit es sie gibt, besonders seit der Herausbildung des vormodernen Weltsystems in der Ära der Pax Mongolica (ca. 1250 bis 1350), für internationale Ordnung gesorgt und werden dies zukünftig tun. Imperium und Hegemonie unterscheiden sich allerdings fundamental darin, wie und in welcher Absicht sie Weltstaatsfunktionen wahrnehmen.“ (S. 37) Ist die mittelalterliche Mongolei als „Ordnungs-macht“ richtig beschrieben, wenn die gestiftete Ordnung mit dem Terminus „international“ spezifiziert wird, oder wird hier nicht viel eher – um den Preis historischer Konkretion – ein spezifisch moderner Begriff in eine vormoderne Gesellschaft projiziert? Überzeugt der Ver-weis auf die hegemoniale Rolle des kaiserlichen China (S. 42), wenn gleichzeitig betont wird: „Ordnungspolitisch ist der Hegemon der Ga-rant einer liberalen und arbeitsteilig verfassten Weltwirtschaft, weil er als Wettbewerbsfähigster am meisten von einer liberalen Weltordnung profitiert. Deshalb muss er selber liberal verfasst sein […].“ (S. 44) Gleiches gilt, wenn die für den hegemonialen Typus konstitutive Of-fenheit – Club of Rome hin oder her – damit begründet wird, dass „der Prozess der Kapitalakkumulation grenzenlos“ sei (LF, S. 26)? War das kaiserliche China liberal verfasst? Beruhte seine ökonomische Macht auf Wettbewerbsfähigkeit und Kapitalakkumulation? Auch hier keimt der Verdacht auf, dass spezifisch moderne Begriffe weniger Licht ins Dunkel bringen, als dass sie historische Unterschiede nivellieren, die sich für die Verfasstheit der als Beispiele herangezogenen politischen Formen im Vergleich zu den heutigen als konstitutiv erweisen dürften.

Auch Rilling (2008, S. 24) verweist auf die Schwierigkeiten und Nivellierungsgefahren eines allzu überhistorischen Gebrauchs des Im-periumsbegriffs: „Für eine beträchtliche Unsicherheit bei der Verwen-dung des Begriffs steht […] die Fülle von Subtypen, die in der langen Debatte vorgeschlagen wurden: Land- oder Seeimperien, moderne prä- oder postmoderne Imperien, formelle und informelle, tributäre, bürokratische, nationale, territoriale, koloniale oder kontinentale, mili-tärische oder ökonomische, diktatoriale oder demokratische Imperien

lokalisieren. Tatsächlich barg die Erde lange Zeit unterschiedliche Welten, deren Zusammenfließen seit den großen Entdeckungsreisen nicht minder aufregend war, als im Science-Fiction-Genre der Erstkontakt zwischen Erdlingen und Außerirdi-schen imaginiert wird. Ganz in diesem Sinne schreibt auch Rainer Rilling (2008, S. 43): „ ‚Welt‘ selbst nun ist natürlich ein historisches Konstrukt und fällt erst seit dem letzten Jahrhundert mit der Realdimension des ‚Planeten‘ zusammen.“

9 Nur am Rande sei erwähnt, dass nicht ganz klar wird, ob es sich hier um Ideal-typen oder Realtypen handelt, mithin um heuristische Konstrukte zur Ordnung ei-nes empirischen Materials, das keinem Typus jemals voll entsprechen kann, oder um aus Empirie gewonnene Klassifikationen.

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etc.“ Insbesondere die Unterscheidung von See- und Landmächten ziehe – und hier lesen sich Rillings Ausführungen beinahe wie eine direkte Entgegnung auf Menzel – „aus den Formen indirekter Herr-schaft, die für Seeimperien gleichsam naturgemäß typisch waren – den äußerst fraglichen Schluss, dass hier recht akzeptable ‚liberale Imperien‘ herrschten, wogegen Landimperien als militaristische und autoritäre Ordnungen abgelehnt werden – ganze geopolitische Schulen (Mahan versus Mackinder oder Ratzel) bauten auf diesem Gegensatz auf.“ (ebd., S. 25) Unter Bezugnahme auf Ellen Meiksins Wood empfiehlt Rilling eine andere, stärker historische und soziologisch präzisere Typologisierung, welche die Frage nach der „Eigentums-verfassung“ ins Zentrum stellt: „zu unterscheiden sei also zwischen den Imperien des Landeigentums mit starkem Staat (Rom, China), des Handels (arabische Reiche, Venedig, Holland, Spanien) und des imperialistischen Kapitalismus (britisches Imperium, französisches Kolonialimperium oder das ‚Kontinentalreich‘ des deutschen Faschis-mus).“ (ebd.) Um die moderne Imperialität verstehen zu können, sei es deshalb unerlässlich die Eigentumsverfassung des Kapitalismus zu analysieren:

„Die Besonderheit der kapitalistischen Form von Imperialität gegenüber den vorangegangenen Imperien besteht […] ers-tens darin, dass sie nicht in erster Linie auf direktem Zwang beruhte, sondern auf dem indirekten Zwang des Marktes, der durch die Eigentumslosigkeit der Produzenten konstituiert und reproduziert wurde. […] Zu diesem grundlegenden ökonomi-schen Modus imperialer und imperialistischer Herrschaft tritt ein zweiter Aspekt: die im Kapitalismus institutionalisierte Trennung zwischen Ökonomie und Politik heißt, dass der Raum der ökonomischen Macht des Kapitals den Einfluss-raum jeder politischen und militärischen Macht bei weitem überschreiten kann […]. Ein solcher kritischer Zugang, der zur Unterscheidung grundlegender Typen der Imperialität deren Eigentumsverfassung heranzieht, verortet Imperien also nicht nur im Raum des Politischen. Er sieht Imperien nicht nur als besondere Strukturen des Politischen, sondern spürt deren Inhalt und Funktionszusammenhänge in ihren Eigentums- und Aneignungsbeziehungen nach.“ (ebd.)

„Eigentumsordnung“ zeichnet – wie Rilling betont – „noch kein Bild von den typischen, charakteristischen und besonderen Merkmalen dieser politischen Form“ (ebd., S. 28).10 Trotzdem wird deutlich, dass

10 Rilling freilich skizziert im Folgenden (ebd., S. 29 ff.) detailliert die Funktions-weise kapitalistischer Imperialität und arbeitet heraus, wie gerade die USA als

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eine Perspektive, die von der sozialen Basis politischer Formen und nicht von Staaten als letzten Subjekten der (internationalen) Politik aus argumentiert, bei einer Entgegensetzung von Hegemonie und Imperium nicht stehen bleiben kann: „Imperialität […] interessier(en) […] vor allem Fragen des Raumes, der Expansivität und der Grenzen der Herrschaft. Hier geht es um selbstbevorteilende Neuordnung der Welt.“ (ebd., S. 17) Für Rilling besteht die Struktur imperialer Ord-nungen vor allem in der Ungleichheit von Zentrum und Peripherie (ebd., S. 29 f.) bei gleichzeitiger Klassenspaltung (ebd., S. 32), der Fähigkeit, innere „Vielfalt und Vielheit“ zu managen, über Einschluss und Ausschluss in die bzw. aus der imperial beherrschten Räumlichkeit zu entscheiden (ebd., S. 38) und nicht zuletzt im Prinzip permanenter Expansion: „Imperien sind nicht, sie werden.“ (ebd., S. 41) Fasst man den Begriff in dieser Vielschichtigkeit, so scheinen tatsächlich „Hegemonie“ und „Imperialität“ weit eher als Bezeichnungen für unterschiedliche Aspekte internationaler bzw. imperialer Herrschafts-verhältnisse, als dass sie als einander ausschließende Konzepte rich-tig begriffen wären. Folgerichtig betont Rilling, „dass gerade auch hegemoniale Ordnungen mit breitem Konsens durchaus imperialen Zuschnitt haben können“ (ebd.).

Entscheidend ist vor allem zweierlei: Kapitalistische Imperialität als politisches und ökonomisches Regime der permanenten Produktion von Ungleichheit kann sich ebenso wenig allein auf Zwang oder gar direkte Gewalt stützen, wie sie ohne Zwang und Gewalt bestehen und wachsen kann. Gerade hier setzt auch eine zeitgemäße Impe-rialismustheorie an. Ein – verglichen mit dem Erklärungsanspruch klassischer Imperialismustheorien, die (in der Folge von Hilferding und Lenin) oftmals die umfassende Zeitdiagnose einer kapitalistischen Periode sein wollten – bescheidener Vorschlag, den Imperialismus-begriff auf Formen offener oder latenter, manifester und struktureller Gewalt – etwa Strukturanpassungsprogramme und scheinbar „rein ökonomische“ Sachzwänge – und somit ebenfalls auf einen Aspekt kapitalistischer Weltordnung zu beschränken (Deppe u. a. 2004, S. 17; Deppe / Salomon / Solty 2011, S. 21) stieß auf z. T. vehemente Kritik (Wehr 2011). Seine Einordnung in den Rahmen der hier skizzierten, mittlerweile weitverzweigten und ausdifferenzierten Begriffsbildung dürfte jedoch zeigen, dass er keineswegs einer anspruchsvollen Zeit-diagnose im Weg steht oder gar in den begründeten Verdacht geraten kann, mit der imperialismustheoretischen Basisprämisse eines Zusam-menhangs zwischen Imperialismus, kapitalistischer Produktionsweise und antagonistischer Vergesellschaftung zu brechen.

Imperium den politischen und ökonomischen Raum einer Weltordnung des Ge-genwartskapitalismus strukturieren.

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III. Verregelung oder Verrechtlichung?

Hegemonietheorie, Imperialitätstheorie und Imperialismustheorie teilen nicht nur die zentrale Prämisse, sondern auch die kritische Perspektive: Als Theorien und wissenschaftliche Ansätze, die die Analyse von Ungleichheitsverhältnissen an das explizite Ziel der Aufhebung von Ungleichheit knüpfen, sind sie normative Theorien. Auch Menzels Ansatz ist nicht frei von Normativität: „Die Hierarchie der Staatenwelt, sowohl in hegemonialer als in imperialer Variante, bietet die Möglichkeit, die Anarchie der Staatenwelt zu überwinden, weil die großen Mächte in der Lage sind, den Bedarf nach Verregelung zu decken. Sie übernehmen Weltstaatsfunktionen und können dies, weil sie am ehesten über die notwendigen Ressourcen verfügen und sie sind dazu bereit, weil sie das größte Interesse an internationaler Ordnung haben.“ (S. 36) Ordnung, Verregelung und die Überwindung der „Anarchie der Staatenwelt“ erscheinen hier durchaus als (ange-strebte) Ziele, von denen her die Organisationsweise internationaler Suprematie, die Menzel „hegemonial“ nennt, wünschenswert, dieje-nige, die er als „imperial“ klassifiziert, weniger wünschenswert ist. An eine Aufhebung sozialer Ungleichverhältnisse oder eine konse-quente Demokratisierung der Gesellschaft ist diese axiomatisch ge-setzte Normativität allerdings nicht gebunden. Weltordnung erscheint als Staatensache, wobei die Ungleichheit zwischen den Staaten ebenso gesetzt scheint wie die Ungleichheit innerhalb der Staaten, deren Eliten traditionellerweise Außenpolitik betreiben. Auch die – einer populären Typologie entlehnte – Rede von „internationalen öffentlichen Gütern“ (S. 38) und „Allmenden“ (S. 40) sucht keineswegs Anschluss an die breite Debatte um das Öffentliche, die seit einiger Zeit im Kontext der Krise des Finanzmarktkapitalismus und der Demokratie in den west-lichen Kernländern geführt wird (vgl. etwa die Beiträge in Candeias / Rilling / Weise 2009). Die Normativität von Verregelung und Ordnung scheint auch nicht gebunden an die Einhaltung völkerrechtlicher und menschenrechtlicher Standards oder gar an das Ziel einer Etablierung „globaler, sozialer Rechte“ (Fischer-Lescano / Möller 2012). Dies über-rascht und macht eine letzte Positionsbestimmung zeitgenössischer Imperialismustheorie im Verhältnis zum Ordnungsdenken Menzels erforderlich. Was ist ein zeitgemäßer Antiimperialismus? Worin liegt seine normative Perspektive? Mit welchen Formen imperialer Nor-mativität ist er konfrontiert?

Die Geschichte imperialer Geopolitik und selbst imperialistischer Ge-waltpolitik lässt sich fraglos auch als eine Geschichte ihrer Legitima-tionsideologien erzählen. Carl Schmitt, dessen geopolitische Arbeiten (Schmitt 1995, 2011a, 2011b) nicht zuletzt dadurch auffallen, dass sie die Strukturierung des Raumes als eine (wenn auch streng autoritär

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und imperial konzipierte) rechtliche und politische, nicht zuvörderst als geografische Frage begreifen, konnte sich durchaus auf existierende Diskurse berufen, als er dem Liberalismus seiner Zeit unter Berufung auf Proudhon entgegenhielt: „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“ (Schmitt 2009, S. 51) Von Rudyard Kiplings Betonung einer „Bürde des weißen Mannes“ über zahlreiche Formen eines „ethischen Im-perialismus“ bis zu Ignatieffs Buch „Empire lite“ (2003) und der immer wieder zur Legitimation von Militärinterventionen bemühten Menschenrechtssemantik reicht die „moralpolitische“ (Rilling 2008, S. 38) Ideengeschichte nur der jüngeren Legitimationserzählungen für imperiale und imperialistische Praxen. Gleichzeitig erwiesen sich diese Praxen als äußerst unzuverlässig, wenn es darum ging, bereits erreichte rechtliche Standards einzuhalten. Juristische und moralisti-sche Argumentationen verlieren oft ihre Trennschärfe. Häufig spottet imperialistische Gewaltpolitik offensichtlich der „Werte“, die ihre Apologeten nicht müde werden, zu beschwören, und macht auch vor manifestem Rechtsbruch nicht halt.11

Die normative Perspektive der klassischen Imperialismustheorien lag demgegenüber freilich nie in einem „moralischen“ Relativismus. Für die größtenteils aus der europäischen Arbeiterbewegung stammen-den Autoren der „ersten Welle“ imperialismustheoretischer Analysen schien die proletarische Revolution, die den Spuk der zwischenimpe-rialistischen Konkurrenz überwinden würde, nur eine Frage der Zeit zu sein. Bestenfalls stritten sie – wie Hilferding und Kautsky mit Luxemburg und Lenin – um die Modalitäten der (baldigen) Transfor-mation. Auch die Theoretiker der „zweiten Welle“ betonten die Not-wendigkeit von veränderten globalen Strukturen, die Ausbeutung und Abhängigkeit – als prägende Elemente imperialer Weltordnung (sei sie nun hegemonial oder nicht) – ein Ende bereiten würden. Nicht zuletzt hofften sie auf anti- und postkoloniale Erhebungen und Revolutionen, wie sie die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich zahlreich zu bieten hatte. Für Hobson und in seiner Folge Hannah Arendt stellte sich die Frage nach einer Überwindung der imperialistischen Gewalt und Konkurrenz hingegen vor allem als Frage nach der Etablierung von Rechtsverhältnissen, die keineswegs nur als völkerrechtliche Größe, sondern als individuelle Bürgerrechte in den Blick traten. Eine gleichermaßen antiimperialistische wie antiimperiale Strategie, die in ihrer Begründung auf der Höhe der Zeit sein will, darf hinter den erreichten Diskussionsstand nicht zurückfallen und muss – so die These – die beiden klassischen Perspektiven synthetisieren. Als auf Frieden und Demokratie gerichtete normative Theorie können

11 Vgl. zu diesem Komplex der Legitimation imperialistischer Praxen Salomon 2010, Deppe / Salomon / Solty 2011, S. 103 ff., Rilling 2008, S. 38 ff.

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Imperialismus- und Imperialitätstheorie sich heute nur erweisen, wenn sie die Dimension einer Demokratie, die stets nur historisch und in Auseinandersetzungen wirklich wird, in denen die Gleichheitsinter-essen subalterner Klassen und Gruppen zur Geltung kommen, und die Dimension globaler sozialer sowie politischer Rechte zusammendenkt. Dass auch Imperialität und Imperialismus – so instrumentell auch ihr Verhältnis zu Völker- und Menschenrecht sein mag – sich auf globales Recht, insbesondere auf ein ausgefeiltes Privatrecht, stützen, das im Kern der Aufrechterhaltung von Ungleichheitsverhältnissen dient und der Kapitalakkumulation sowie gerade auch der „Akkumulation durch Enteignung“ (Harvey 2005, Zeller 2003) die erforderliche Rechts-sicherheit garantiert (Salomon 2005, 2008b), bedeutet nicht, dass es ratsam wäre, das Kind mit dem Bade auszuschütten und die Rechtsform selbst mit dem imperialen Recht zu bekämpfen.12 Eine „Weltordnung“ jenseits imperialer Herrschaft und imperialistischer Gewaltpolitik im Interesse der Kapitalakkumulation und mit dem Ziel der Verstetigung von Ungleichheit kann nur auf dem auch rechtlich kodifizierten Prinzip sozialer Demokratie (Salomon 2012) begründet sein – eine Einsicht, die nach dem Zweiten Weltkrieg auch in die Formulierung sozialer Menschenrechte eingegangen ist. Solange dieser normative Kern nicht begrifflich eingeholt und zur Maxime des politischen Handelns wird, erscheint eine vorgeblich „ordnungsstiftende“ Verregelung weit eher als Teil des Problems denn als Teil der Lösung.

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12 Gerade im Rechtsgedanken, der weit mehr ist als bloß ein idealistischer Apell zur Kooperation, liegt bekanntlich für den Hobbesianer Immanuel Kant der Grund ei-ner friedensgarantierenden Weltordnung (Eberl 2008) – auch wenn für Kant, der hier ganz Bürger des 18. Jahrhunderts ist, ein möglicher Zielkonflikt zwischen Re-publikanismus und sozialer Demokratie noch kein Thema ist.

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