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Andreas Strunk ([email protected]) Junge Menschen in Wohnungsnot_Referat Seite 1 Prof. Dr. Andreas Strunk In Between – Junge Wohnungslose Die jungen Menschen, über die wir hier reden, befinden sich in einem Dilemma: „Ohne Wohnung – keine Arbeit und ohne Arbeit keine Wohnung.“ Sie befinden sich mithin in einer erheblich gestörten Person – Umwelt – Beziehung, die nicht über eine Strategie der isolierten Wohnungsnotfallarbeit behoben werden kann. Es geht um eine umfas- sende Lebensraumentwicklung, die multiperspektivisch bearbeitet werden muss. Von zentraler Bedeutung sind die Probleme, die diese jungen Menschen haben mit der Sicherung des eigenen Lebensunterhaltes durch eigene Arbeit als Ergebnis einer gelingenden Berufsbiografie. Aber wie will eine Berufsbiografie gelingen, wenn nicht die Wohnbiografie angemessen ins Lot ge- bracht werden kann? Wir müssen also über eine integrierte Strategie für die jungen Menschen nachdenken und diese entsprechend entwickeln. Es geht mithin um die Thematisierung eines Zusammenhanges von Wohnungsnot und Arbeitslosig- keit und das heißt: es geht um die Auseinandersetzung mit Armut und Armutsrisiken. Im 14. Kinder- und Jugendbericht 2013 wird dazu folgendes ausgeführt: „Die in den letzten Jahren deutlich gestiegene und überproportionale Betroffenheit von Armutsrisi- ken bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen weist auf wachsende soziale Risiken bei der Bewälti- gung von Übergangsprozessen im jungen Erwachsenenalter hin. Junge Menschen, die unter Bedin- gungen materieller Ressourcenknappheit leben müssen, müssen z.T. erhebliche Einschränkungen ihrer Teilhabechancen in Kauf nehmen und verfügen z.T. nicht über ausreichende finanzielle Mittel, um anspruchsvollere und länger andauernde Qualifizierungswege zu beschreiten…“ 1 Die Fragestellung muss also so lauten: Was muss passieren, damit junge Menschen in prekären Lebenslagen – wozu Wohnungsnot zählt – aus diesen heraus kommen, um durch eigene Arbeits- kraft ihr Leben finanzieren zu können? Zunächst geht es also um das Thema „Jugend in Berufsnot“. Das Thema „Jugend in Berufsnot“ ist ein Thema, das nicht alle jüngeren Menschen betrifft. Es ist ein Thema, das nach den Ergebnissen der 16. Shell Jugendstudie „Jugend 2010“ aber immerhin 20% der Jugendlichen beschäftigt. „An vorderster Stelle der dringend zu bearbeitenden akuten Probleme steht die Tatsache, dass dauerhaft etwa ein Fünftel der Jugendlichen keine oder schlechte Schulabschlüsse erzielt, lange in Arbeitslosigkeit oder in hochprekären Arbeitsverhältnissen im Niedriglohnbereich verharrt (oder eine Erwerbsbiografie erst überhaupt nicht beginnt) und entsprechend auch geringere Chancen in vielen anderen Lebensbereichen hat.“ 2 Es bringt wenig zur Einschätzung der aktuellen Lage, ob der Anteil der sozial an den Rand gedräng- ten jungen Menschen früher größer oder kleiner war. Der gegenwärtige Befund ist erdrückend genug. So wird im zitierten 14. Kinder- und Jugendbericht im Kapitel „Wege in die Ausbildungslosigkeit“ (S. 199 ff.) folgendes ausgesagt: Nur 15% der jungen Menschen im Alter von 25-35 Jahren haben einen berufsqualifizierenden Abschluss. 1 Vergl. dazu: Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode, Drucksache 17 (12200), Junge Erwachsene im SGB II- Leistungsbezug, S. 223 ff. 2 Shell Deutsche Holding (Hrsg.). Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich. Frankfurt 2010, S. 349

In Between Junge Wohnungslose

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Andreas Strunk ([email protected]) Junge Menschen in Wohnungsnot_Referat Seite 1

Prof. Dr. Andreas Strunk

In Between – Junge Wohnungslose

Die jungen Menschen, über die wir hier reden, befinden sich in einem Dilemma:

„Ohne Wohnung – keine Arbeit und ohne Arbeit keine Wohnung.“

Sie befinden sich mithin in einer erheblich gestörten Person – Umwelt – Beziehung, die nicht über eine Strategie der isolierten Wohnungsnotfallarbeit behoben werden kann. Es geht um eine umfas-sende Lebensraumentwicklung, die multiperspektivisch bearbeitet werden muss.

Von zentraler Bedeutung sind die Probleme, die diese jungen Menschen haben mit der Sicherung des eigenen Lebensunterhaltes durch eigene Arbeit als Ergebnis einer gelingenden Berufsbiografie. Aber wie will eine Berufsbiografie gelingen, wenn nicht die Wohnbiografie angemessen ins Lot ge-bracht werden kann? Wir müssen also über eine integrierte Strategie für die jungen Menschen nachdenken und diese entsprechend entwickeln.

Es geht mithin um die Thematisierung eines Zusammenhanges von Wohnungsnot und Arbeitslosig-keit und das heißt: es geht um die Auseinandersetzung mit Armut und Armutsrisiken.

Im 14. Kinder- und Jugendbericht 2013 wird dazu folgendes ausgeführt:

„Die in den letzten Jahren deutlich gestiegene und überproportionale Betroffenheit von Armutsrisi-ken bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen weist auf wachsende soziale Risiken bei der Bewälti-gung von Übergangsprozessen im jungen Erwachsenenalter hin. Junge Menschen, die unter Bedin-gungen materieller Ressourcenknappheit leben müssen, müssen z.T. erhebliche Einschränkungen ihrer Teilhabechancen in Kauf nehmen und verfügen z.T. nicht über ausreichende finanzielle Mittel, um anspruchsvollere und länger andauernde Qualifizierungswege zu beschreiten…“1

Die Fragestellung muss also so lauten: Was muss passieren, damit junge Menschen in prekären Lebenslagen – wozu Wohnungsnot zählt – aus diesen heraus kommen, um durch eigene Arbeits-kraft ihr Leben finanzieren zu können? Zunächst geht es also um das Thema „Jugend in Berufsnot“.

Das Thema „Jugend in Berufsnot“ ist ein Thema, das nicht alle jüngeren Menschen betrifft. Es ist ein Thema, das nach den Ergebnissen der 16. Shell Jugendstudie „Jugend 2010“ aber immerhin 20% der Jugendlichen beschäftigt.

„An vorderster Stelle der dringend zu bearbeitenden akuten Probleme steht die Tatsache, dass dauerhaft etwa ein Fünftel der Jugendlichen keine oder schlechte Schulabschlüsse erzielt, lange in Arbeitslosigkeit oder in hochprekären Arbeitsverhältnissen im Niedriglohnbereich verharrt (oder eine Erwerbsbiografie erst überhaupt nicht beginnt) und entsprechend auch geringere Chancen in vielen anderen Lebensbereichen hat.“2

Es bringt wenig zur Einschätzung der aktuellen Lage, ob der Anteil der sozial an den Rand gedräng-ten jungen Menschen früher größer oder kleiner war.

Der gegenwärtige Befund ist erdrückend genug. So wird im zitierten 14. Kinder- und Jugendbericht im Kapitel „Wege in die Ausbildungslosigkeit“ (S. 199 ff.) folgendes ausgesagt: Nur 15% der jungen Menschen im Alter von 25-35 Jahren haben einen berufsqualifizierenden Abschluss.

1 Vergl. dazu: Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode, Drucksache 17 (12200), Junge Erwachsene im SGB II-

Leistungsbezug, S. 223 ff. 2 Shell Deutsche Holding (Hrsg.). Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich. Frankfurt 2010, S. 349

Andreas Strunk ([email protected]) Junge Menschen in Wohnungsnot_Referat Seite 2

In der Altersgruppe darunter (U-25) waren 33% langzeitarbeitslos. Und wenn es Arbeit gab, dann waren die Arbeitsangebote in der Regel schlecht (sehr hoher Anteil an Teilzeitarbeit, hohe Fluktua-tion im Arbeitssystem, sehr geringe Beschäftigungsdauer und ein Bruttoarbeitsentgeld unter der OECD-Niedriglohnschwelle.)

Der gegenwärtige Zustand wird skandalisiert aus einem Bereich, der sich bisher kaum um die Le-benslage der Gruppe randständiger junger Menschen gekümmert hat: ich verweise auf ein Buch der Wirtschaftsjournalistin Inge Kloepfer: "Aufstand der Unterschicht. Was auf uns zukommt". Die Autorin, die im Jahr 2005 als „Wirtschaftsjournalistin des Jahres“ geehrt wurde und Mitglied der Wirtschaftsredaktion der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ist, beschreibt anhand der Schilderung der Lebensentwicklung von Jascha eine Biografie des Scheiterns, die aus ihrer Sicht typisch für die Masse der Unterschichtskinder ist.

Warum widmet sie sich überhaupt dem Thema? Ihr Ausgangspunkt sind ökonomische Überlegun-gen:

Deutschland leidet generell an einer „Humankapital-Schwäche“, die wir uns nicht leisten können: wir müssten jeden Menschen qualifizieren, um das „Humankapital“ der deutschen Wirtschaft zu stärken.

Angesichts der demografischen Entwicklung dürften wir es nicht zulassen, dass es viele Menschen gibt, die nichts in die Rentenkasse einzahlen bzw. die dauerhaft der Sozialkasse auf der Tasche liegen.

Eine entsprechende Aussage der Autorin ist:

„Wir können darüber hinaus heute schon absehen, dass es im Jahr 2020 in Deutschland ein Heer von Menschen geben wird, die zum Fortschritt und Wohlstand unserer Gesellschaft nichts mehr beitragen können. Das wird nicht nur die steigende Zahl der Rentner sein, von denen ein erhebli-cher Teil in bitterer Armut leben wird. Im Jahr 2020 wird Jascha, der heute 19 Jahre alt und im Grunde schon gescheitert ist, fast sein ganzes junges Leben lang von der Sozialhilfe gelebt haben. Er wird einer von mehreren Millionen Menschen sein, die ihre erste Lebenshälfte noch nicht hinter sich gebracht haben und dennoch nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt mit eigener Arbeit zu verdienen. Jascha und Millionen anderer junger Menschen werden Deutschland seit Jahren auf der Tasche liegen und unsere Sozialsysteme einem erbarmungslosen Stresstest unterziehen. „3

Inge Kloepfer ermahnt uns, endlich aufzuwachen und nachhaltig wirksame Strategien zur Bekämp-fung der Jugendberufsnot und der damit zusammenhängenden Belastungen im Lebensraum der jungen Menschen zu unternehmen.

Es sei denn, dass wir stillschweigend einen "geheimen Plan" akzeptieren, der bewusst zur gesell-schaftlichen Spaltung führen soll nach dem Motto "Je sichtbarer und umfangreicher Armutskarrie-ren werden", desto besser lassen sich die Potentiale der Leistungswilligen und Leistungsbereiten in unserer Gesellschaft entwickeln.4

Dazu könnten Forschungsergebnisse von Wilhelm Heitmeyer passen (Herausgeber der Langzeitstu-die „Deutsche Zustände“), der feststellte, dass das soziale Klima in der Bundesrepublik immer eisi-

3 Kloepfer, Inge. Aufstand der Unterschicht. Was auf uns zukommt. Hamburg 2008, S. 16 4 Diese Auffassung vertrat Stefan Sell in einem Referat anlässlich des Bundeskongresses der Evangelischen

Obdachlosenhilfe e.V. "Bürger oder Bettler" am 03.11.2010 in Mainz. Der "geheime Plan" bestünde in der Ausrichtung der neuen "Sozialhilfe" (SGB II) an einem sehr einseitigen Menschenbild ("Arbeitskraft") und einer teilweisen besinnungslosen Praxis des Forderns. In diesem Zusammenhang ist es beachtenswert, dass der Gründer des dm-Drogeriemarktes Goetz W. Werner das System Hartz IV als "offenen Strafvollzug" be-zeichnet hat.

Andreas Strunk ([email protected]) Junge Menschen in Wohnungsnot_Referat Seite 3

ger wird. Die Zahl der Deutschen steigt, die mit Abneigung auf Fremde und Menschen blicken, die nicht als Leistungsträger dieser Gesellschaft gelten.

Heitmeyer spricht von einem „eisigen Jargon der Verachtung durch die Eliten“5

Inge Klöpfer hat eine umfangreiche wissenschaftliche Recherche durchgeführt und beschreibt eine Problem- und Konfliktlandschaft, in der sich junge und problembelastete Menschen orientieren müssen. Das Ergebnis kann man mit folgender Abbildung verdeutlichen.

Vererbte Armut

Probleme in der Schule (Sortieranstalt)

Schulschwänzen

Leben auf der Straße („Deckgeschichte“)

Aneignung des Verhaltenskodex dort („Disziplin-

Übung“) als eine andere Art der Ersatzfamilie

Wachsende Hoffnungslosigkeit in der Familie

Perspektivlosigkeit der Kinder

Verengung der Erfahrungswelt

Kein Einstieg in eine gelingende Berufsbiographie

Multiple Problemlagen

Gewalterlebnisse („Du stehst im Mittelpunkt“)

Radikalisierung

Die „heile Welt“ der MittelschichtPrekäre Lebenslagen in der

Mittelschicht

Abstiegsängste

Wachsendes Distanzverhalten der

Mittelschicht

„Sozialdarwinismus“

Manifestierung der Spaltung

Mängel in der Wohnungs- und

Sozialpolitik

Segregation

Neo-Urban-

Underclass

Verwerfungen

am Arbeitsmarkt

Erziehungs-

defizite„Sonderschule“

Teufelskreis

Abb. 1: Modellierung einer Problem- und Konfliktlandschaft, in der sich junge und deklassierte Menschen orientieren müssen.

Diese Systematisierung lässt sich durch folgende Aussagen ergänzen bzw. vertiefen.

1. Jascha war im Job-Center und hat Sanktionen erlebt. Junge Menschen werden dort wesentlich häufiger sanktioniert als ältere Hartz-IV-Bezieher. Generell nehmen Sanktionen zu. Anlässlich einer Bundestagsanfrage mehrt sich die Kritik am „Strafsystem“ (vergl. dazu: „Frankfurter Rundschau“ vom 14.2.2011).

5 Vergl. dazu: „Rechtspopulismus wächst unter Besserverdienern“ in: „Frankfurter Rundschau“ vom 04.12.2010

Andreas Strunk ([email protected]) Junge Menschen in Wohnungsnot_Referat Seite 4

In diesen Zusammenhang passt auch eine Aussage, die der Gründer des dm-Drogeriemarkts Götz W. Werner gemacht hat: das System Hartz IV sei „offener Strafvollzug“ (Stern 17-2006). Ein Fallmanager aus einem Jobcenter schreibt: „Sanktionen geben ein vollkommen falsches Sig-nal an den Jugendlichen. Du hast es wieder nicht geschafft! Und nur du bist schuld!... Es macht wütend und traurig zu sehen, wie wenig Menschen sich für diese Probleme interessieren. Die gesellschaftliche Relevanz dieses Themas wird vernachlässigt…aber wenn wir als Gesellschaft keine Perspektive abseits von Arbeitsgelegenheiten bieten und mit der Sanktionspraxis so wei-termachen, werden wir uns in 15 Jahren über die Probleme der Kinder meiner jetzigen Kunden unterhalten müssen. Denn dann werden diese Hartz IV beziehen.“6 Zur Sanktionspraxis liegt aus der Sicht der Sozialen Arbeit und der Menschenrechte inzwischen eine sorgfältige Analyse vor.7 In diesem Zusammenhang ist auch die Frage zu erörtern, ob die alte BSHG-Norm und die ent-sprechende höchstrichterliche Rechtsprechung nicht auch noch für den Rechtskreis des SGB II gilt. Im BSHG galt das Prinzip: Wenn Sanktionen ausgesprochen werden, muss die pädagogische Begleitung intensiviert werden, weil nur so ermittelt werden kann, ob durch die Sanktion das Ziel („Verhaltensänderung“) erreicht wird. Wenn das nicht der Fall ist, musste die Sanktion zu-rückgenommen werden, weil sonst der Tatbestand des „Arbeitszwanges“ erfüllt wird.

2. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung hat anlässlich der Datenerhebung zum „So-zioökonomischen Panel“ festgestellt, dass der prozentuale Anteil an sogenannten unverbunde-nen Jugendlichen in Deutschland im aktuellen Untersuchungszeitraum (2006-2008) im Gegen-satz um zum gesamten Untersuchungszeitraum (2000-2008) von 13% auf 17,7% gestiegen ist. Die Zielgruppe wird beschrieben als Jugendliche zwischen 17 und 19 Jahren, die nicht zur Schu-le gehen, arbeitslos sind und in keiner Beziehung leben8.

3. Ein Mitarbeiter des Deutschen Jugendinstitutes berichtet aus der Forschungspraxis des genann-ten Institutes und wird wie folgt zitiert: „Arme Kinder haben zu wenig Bildung, zu wenig In-tegration, zu wenig Freunde und zu wenig Möglichkeiten, dies zu kompensieren….Diese Kinder sind irgendwann nicht mehr fähig, in dieser Gesellschaft Fuß zu fassen. … Wir reproduzieren ei-ne Armutsgruppe, die sich nicht aus dem Armutsschlamassel rausziehen kann.“ ("Frankfurter Rundschau“ vom 28.8.10).

4. Bessere Bildung führt zu deutlich weniger Verbrechen. Das ist das Ergebnis einer Studie der Bertelsmann Stiftung. Die Autoren weisen darin erstmals einen kausalen Zusammenhang zwi-schen unzureichender Bildung und Kriminalität nach. Demnach würde die Zahl der Gewalt- und Eigentumsdelikte deutlich sinken, könnte die Zahl der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss halbiert werden. Hochgerechnet auf das vergangene Jahr hätte es in diesem Fall rund 420 Fälle von Mord und Totschlag, 13500 Raubüberfälle und 320 000 Diebstähle weniger gegeben, so die Forscher. (Pressemitteilung der Bertelsmann Stiftung vom 11.11.2010).

Die Autoren fordern u. a. 9

Förderschulsystem konsequent umbauen

Hauptschulen - schwierige Milieus identifizieren und verändern

Gute Schule ist guter Unterricht - individuelle Förderung für starke und schwache Schüle-rinnen und Schüler an jeder Schule

Früh investieren statt reparieren

Lebensperspektiven schaffen - Recht und Pflicht auf Ausbildung.

6 Aussage eines Fallmanagers; veröffentlicht in: FORUMsozial 1 (2010), S. 34 7 Nicolas Grießmeier, Der disziplinierende Staat, Grünwald 2012 8 "Immer mehr unverbundene Jugendliche" in: SOZIALwirtschaft aktuell 12 (2010), S. 5f.

9 Entorf, Horst, Philip Sieger (im Auftrag der Bertelsmann Stiftung), Unzureichende Bildung: Folgekosten durch Kriminalität, Bielefeld 2010, S. 54-59

Andreas Strunk ([email protected]) Junge Menschen in Wohnungsnot_Referat Seite 5

Die Aussage „Lebensperspektiven schaffen“ wird im Prinzip auch im 14. Kinder- und Jugendbe-richt betont, wenn im Sinne einer „öffentlichen Verantwortungsübernahme“ gefordert wird, dass vor allem für junge Menschen entsprechende Angebote gemacht werden müssen,

die aus bildungsschwachen Elternhäusern kommen,

die schlechte schulische Bildungsvoraussetzungen mitbringen,

die von Migrationshintergründen bestimmt sind,

die nicht die Möglichkeit des Weiterlernens im Bildungssystem nutzen können und die aus

Regionen mit hoher und mittlerer Siedlungsdichte kommen.

5. Weniger Jugendhilfepolitik mehr Kinder- und Jugendpolitik! Das ist eine Forderung der Autoren der 16. Shell Jugendstudie. Sie beklagen, dass die Gestaltung der Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche vor allem für die „abgehängten“ Jugendlichen zu sehr fokussiert wird auf den engen Bereich der Jugend-hilfe, also auf jene Teilpopulation junger Menschen, die schon in den „Brunnen gefallen“ sind. Die Normalisierung der Lebenszusammenhänge durch die Abstimmung von Jugend-, Bildungs-, Familien- Wohnungs- und Wirtschaftspolitik u. a. durch eine stärkere Sozialraumorientierung sei dringend nötig.10 Die Forderung nach einer integrierenden Jugendpolitik wurde aktuell vom Deutschen Bundes-jugendring in einem Beitrag „Jugendcheck für die Politik“ formuliert: „Weil zudem Beschäftigungs- und Einkommensunsicherheit eine langfristige Lebensplanung er-schweren, weil besonders der Berufseinstieg immer schwieriger wird und ein hohes Maß an Flexibilität erfordert, gerade deshalb ist es auch die Aufgabe der Jugendpolitik, den Übergang von jungen Menschen in die Arbeitswelt zu stützen. Der Berufseinstieg junger Menschen muss durch eine neue, faire Ordnung des Arbeitsmarktes abgesichert sein. Jugendliche müssen eine ernsthafte Möglichkeit haben, über ihren Lebensweg und ihre berufliche Weiterentwicklung frei zu entscheiden. Jugendpolitik steht in der Verantwortung, frühzeitig anzusetzen, Perspekti-ven zu eröffnen und Lösungen für diese Problemlagen zu bieten.“11

6. Die Entwicklung einer solchen integrierten Politik wäre eine Aufgabe vor allem der Bundesre-gierung. Nur scheint es so zu sein, dass eine solche Vision möglicherweise an zwei Sachverhal-ten scheitert.

In den letzten Jahren hat sich Politik weitgehend als „unmündig“ erklärt durch solche Sätze wie: „Probleme, die der Markt lösen kann, soll dieser auch lösen.“ Dieses Selbstverständnis hat verheerende Konsequenzen: einerseits führt es zu einer wachsenden Ökonomisierung der Sozialen Arbeit, andererseits führt es zur Fremdbestimmung öffentlicher Verwaltung durch falsch verstandene Managementtechniken. Solche Zusammenhänge, die viele soziale Bezüge zerstört haben, werden unter dem Stich-wort „Postdemokratie“ erörtert12.

Andererseits fühlen sich viele Abgeordnete machtlos im Politikbetrieb durch die Zwänge der Fraktions- und Parteiapparate13. Eine integrierte Politik, die sich im Sozialraum - also auch dort, wo die „randständige Ju-gend“ lebt, bewähren muss - ist eher eine Angelegenheit basisorientierter Politik, die sich in den Apparaten kaum artikulieren kann: denn dort nimmt die Wirtschaftslobby einen viel zu starken Einfluss.

10 Shell Deutschland Holding (Hrsg.), op. cit., S. 343ff. 11 Sven Frye, Jugendcheck für die Politik, in: ndv 5 (2013), S. 205f. 12

Ein lesenswertes Essay gibt es vom Politikwissenschaftler Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt 2008 13 Vergl. dazu einen Bericht in der "Frankfurter Rundschau" vom 09.02.2011 über ein Forschungsprojekt an der Universität Düsseldorf.

Andreas Strunk ([email protected]) Junge Menschen in Wohnungsnot_Referat Seite 6

7. Reinhold Gaier, Richter des Bundesverfassungsgerichtes macht darauf aufmerksam, dass sich die Angst vor sozialem Abstieg offensichtlich oft verwandelt in Fremdenfeindlichkeit und Ge-walt gegen Arme. Er argumentiert gegen die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermö-gen in unserer Gesellschaft: „Vielleicht ist es an der Zeit, sich der zentralen Bedeutung von Gleichheit für eine stabile, freie und solidarische Gesellschaft ohne Ausgrenzung namentlich von Fremden, aber auch von Schwachen und Armen bewusst zu werden.“ („Frankfurter Rund-schau“ vom 7.2.2011). Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt der Historiker Hans-Ulrich Wehler, der das „Auseinan-derdriften von Arm und Reich für die gefährlichste Herausforderung einstuft, vor der Deutsch-land steht.“ („Der Spiegel 7-2013, S. 40ff.). Um diese Einschätzung zu belegen, hat Wehler eine Untersuchung veröffentlicht.14

8. Wir sind gemeinsam in einem "Niemandsland" und suchen nach Auswegen aus dem gegenwär-tigen Dilemma: es könne weder ökonomisch, noch ökologisch und auch nicht sozial so weiter-gehen wie bisher. Auf einem Symposium, das gemeinsam veranstaltet wurde von der BHF-Bank-Stiftung und dem Frankfurter Institut für Sozialforschung15 skizzierte der Ökonom Werner Plumpe u. a. folgenden Ausweg aus dem "Niemandsland":

Ruhe bewahren und darüber nachdenken, ob es nicht sinnvoller sei, einen Bank-Crash hinzu-nehmen, um dann die Zeit zu haben, um darüber nachzudenken zu können, was nun wirklich systemrelevant sei.

Systemrelevant ist sicherlich ein adäquater Umgang mit jungen Menschen in Berufs- und Woh-nungsnot. Solange aber präventive Strategien wenig greifen, müssen wir das gegenwärtige Unter-stützungssystem und seine Logik anschauen. Dieses ist vor allem gegenüber den jungen Menschen von Misstrauen geprägt. Schauen wir uns das anhand der folgenden Grafik an (Abb 2. Systemarchetyp "Misstrauen").

Wie ist dieser "Systemarchetyp" modelliert?

Mit "Systemarchetyp" wird ein Bedeutungs- und Handlungsraum bezeichnet, in dem relevante In-stitutionen bzw. Personen jeweils symbolisch betrachtet "Sätze" sprechen, die Ausdruck ihrer je-weiligen Selbstorganisation beim Umgang mit Jugendarmut sind.

Skizziert wird hier die Selbstorganisation von

Öffentlichkeit

Politik

Träger der Sozialen Arbeit (hier: Jugendberufshilfe)

Job Center

Junge Menschen.

Die Selbstorganisation wird jeweils von systemischen Kräften aufrechterhalten und erzielt entspre-chende Effekte.

Bezogen auf die jungen Menschen kann es bezüglich ihrer Wohn- und Berufsbiografie eine gute Lösung geben ("Gelungene Resozialisierung") oder eine schlechte Lösung ("Weg in die Chronifizie-rung").

14

Hans-Ulrich Wehler, Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland, München 2013 15 Vergl. dazu: "Wo bleibt die neue Sozialordnung?" in: Frankfurter Rundschau" vom 07.01.11. Die Referate können bei der BHF-Bank-Stiftung in Frankfurt angefordert werden.

Andreas Strunk ([email protected]) Junge Menschen in Wohnungsnot_Referat Seite 7

Politik

Träger

Abb. 2: System-Archetyp „Misstrauen“

„Schmarotzer“

„Du bist

ein Fall“

„Leckt mich

am Arsch!“

„Du musst mit

einer Bestrafung

rechnen!“

„Eigentlich bist

Du nicht so

wichtig!“

„Geheimer Plan“

Bearbeitung von Abstiegsängsten

Inszenierung einer Leistungsmoral

GELUNGENE

RESOZIALISIERUNG ALS

„GLÜCKSZUFALL“

„FLIPPERSPIEL“

WEG IN DIE

CHRONIFIZIERUNG

Zu wenig normalisierende Angebote

Strukturelle Rahmenbedingungen stimmen nicht

Vernachlässigung einer offensiven Jugendpolitik

Konzentration auf Jugendhilfepolitik

Verhinderung von Innovation

Reaktionszwang auf lebensweltferne Standardisierung

Fokussierung auf „Bestandserhaltung“

Kein lebensweltorientiertes Case Management

Geringe Fachlichkeit

Vertreibungseffekte für junge Menschen

„Drop out“ als Erfolg

Ausweichen in Schwarzmarkt und Delinquenz

„Aufstand der Unterschicht“

Öffentlichkeit

EINTRITT INS

SYSTEM

[email protected]

Job Center

Junge

Menschen

Ich gehe davon aus, dass wir diesen Systemarchetyp „Misstrauen“ schleunigst verlassen müssen. Wir müssen lernen, anders mit diesen jungen Menschen umzugehen. (Der Begriff "Flipperspiel" kommt nicht von mir16.)

16 Die Aussage "Resozialisierung als Flipperspiel" stammt von einem Klienten, der im Rahmen eines Bildes, das er gemalt hat, zum Ausdruck bringen wollte, dass die helfenden Institutionen und ihr Personal, die Hilfsbe-dürftigen oft wie eine "Kugel" behandeln würden, die im Gesamtsystem der Hilfe hin- und Her geschossen würde. Das Bild kann als Kunstdruck vom Autor des vorliegenden Textes bezogen werden.

Andreas Strunk ([email protected]) Junge Menschen in Wohnungsnot_Referat Seite 8

An dieser Stelle müssten wir ausführlich über das Prinzip Vertrauen in helfenden Organisationen nachdenken.

Dazu reicht aber der hier vorgegebene Rahmen nicht.

Die Jugendhilfeforschung hat aber eindeutig belegt, dass wir bei diesen jungen Menschen in multip-len Problemlagen nur dann eine Chance haben, wenn sie uns vertrauen können.

Das bedeutet17

tragfähige und belastbare Beziehungen zu einem Kollegen oder einer Kollegin, die Erfahrungen hat im Umgang mit jungen Menschen

bewusstes „Matching“ zwischen Bezugsperson und dem Jugendlichen

aktive vertrauensbildende Maßnahmen, damit eine erfahrbare Koproduktion entstehen kann

bewusste Momente der Exklusivität im Unterstützungs-Setting

wahrnehmbare Orientierungsgebung

und schließlich muss bei einer erfolgreichen Unterstützung die gesamte Lebenslage des jungen Menschen beachtet und gegebenenfalls restrukturiert werden. Eine lebensraumorientierte Vorgehensweise kann anhand der folgenden Abbildung deutlich werden (Abb. 3 Lebensraumentwicklung für junge Menschen). Dieses Lebensraummodell haben wir im Rahmen einer Evaluationsstudie für einen Träger der Wohnungslosenhilfe entwickelt, der gleichzei-tig im Auftrag des Jobcenters die Koordination der Berufshilfe übernahm.

Der junge Mensch in

einer nicht akzeptablen

Situation der

Lebensführung

Probleme mit WOHNEN und

HAUSHALTUNG

Probleme mit BEZIEHUNGEN

Probleme mit DELINQUENZ P8

P1

P2

L3

P4

P5

P6

P7 L1

L8L7

L6

L5

L4P3

L2

Probleme mit dem

LEBENSUNTERHALT

und SCHULDEN

Probleme mit

AUSBILDUNG UND ARBEIT

Probleme mit SUCHT

Probleme mit der

GESUNDHEIT

Probleme mit dem HILFESYSTEM

Der zu entwickelnde

Lebensraum

Unterstützung

Abb. 3: Lebensraumentwicklung für junge Menschen

Die Skizze soll zeigen, welche Person-Kontext-Konstellationen relevant sind für die Gestaltung und Unterstützung im Bereich der Hilfe für junge Menschen. Strategisch geht es darum, den Lebens-

17 Vergl. dazu: Dirk Nüsken, Erwachsen werden in öffentlicher Verantwortung, in: "Jugend, Beruf, Gesell-schaft" 1(2007), S. 63-72

Andreas Strunk ([email protected]) Junge Menschen in Wohnungsnot_Referat Seite 9

raum eines jungen Menschen zu normalisieren. Ausgangspunkt ist, dass sich ein junger Mensch in einer nicht akzeptablen Situation der Lebensführung befindet. Es handelt sich um einen sehr einge-schränkten Lebensraum, der gekennzeichnet sein kann durch nicht gelungene Problembewältigung in den Bereichen:

Wohnen und Haushaltung

Lebensunterhalt

Beziehungen

Ausbildung und Arbeit

Sucht

Gesundheit18

Hilfesystem

Delinquenz

Entsprechende Kräfte engen diesen Lebensraum ein. Ziel der Sozialen Arbeit wäre nun, Gegenstra-tegien für und mit den jungen Menschen zur Entwicklung in Richtung auf die Ausweitung des Le-bensraumes für eine gelingende und integrierte Haushaltung.

In der von uns entwickelten Strategie der Sozialen Arbeit haben sich folgende Prinzipien der Unter-stützungsgestaltung bewährt:

(1) Rechtsverwirklichung

(2) Ankoppeln an die Lösungsideen des jungen Menschen

(3) Beachtung und Nutzung der individuellen Menschenkräfte

(4) Differenzierung der Möglichkeiten von Wohnen und Arbeit (Kriterien/verschiedene Typen)

(5) Konzentration auf Strategien entsprechender Ressourcenbeschaffung

(6) Organisation einer integrierten persönlichen Unterstützung unter Beachtung der jeweiligen Sektoren

(7) Erfolgskontrolle

(8) Organisationsentwicklung im Sinne eines lernenden Systems

(9) Sozialraumorientierung.

Zu einem für diesen Hilfeansatz notwendigen Gesamtplan kommt man, wenn man diesen in fol-gender Matrix entwickelt.

18 Probleme mit Gesundheit im Kontext von Jugendobdachlosigkeit werden oft nicht ausreichend themati-siert. Eine Ausnahme bildet das Forschungsprojekt: Uwe Flick, Gundula Röhsch, Gesundheit auf der Straße. Gesundheitsvorstellungen und Umgang mit Krankheit im Kontext von Jugendobdachlosigkeit, Weinheim und München 2008

Andreas Strunk ([email protected]) Junge Menschen in Wohnungsnot_Referat Seite 10

Lebens-unterhalt

Beziehun-gen

Aus-bildung

und Arbeit Sucht

Gesund-heit

Hilfe-system

Delin-quenz

Wohnen, Haus-

haltung

Wie stellt der junge Mensch seine Lebenslage selbst dar?

Welche Lösungs-ideen formuliert der junge Mensch?

Beurteilung durch die Fachkraft der Sozialen Arbeit

Konsequenzen für einen Gesamtplan

Abb. 4: Ebenen der Lebensraumbeschreibung

Eine solche Strategie der Lebensraumentwicklung betrifft nun mindestens vier Rechtskreise, die auf sehr unterschiedliche Normstrategien setzen. Das kann an folgender Abbildung deutlich werden:

U - 25

Arbeitsförderung

harte Marktorientierung

Kundendifferenzierung

Eingliederungsprofil

Eingliederungsvereinbarung

Sozialhilfe

mäßige Marktdistanz

Sozialarbeit unter der Perspektive

„Sicherung der Menschenwürde“

Prinzip der Freiwilligkeit

Gesamtplanung

“Es ist nicht Aufgabe des Staates,

seine Bürger gegen ihren Willen zu

bessern.“

Jugendhilfe

hohe Marktdistanz

Sozialarbeit unter der Perspektive

des Rechts auf Erziehung und

Förderung junger Menschen

Prinzip der Freiwilligkeit

Hilfeplanung

Grundsicherung für Arbeitssuchende

Marktorientierung

Betreuungsstufen

(Kundendifferenzierung)

Eingliederungsvereinbarung

(Kontrahierungszwang)

Sanktionen

Sozialarbeit unter Zwang

Abb. 5: Überblick über Normstrategien

Wenn man eine solche Strategie der Unterstützung als fachlich geboten fordert, dann ergeben sich eine Reihe von Fragen der Zusammenarbeit zwischen den Handelnden in den unterschiedlichen Rechtssystemen.

Andreas Strunk ([email protected]) Junge Menschen in Wohnungsnot_Referat Seite 11

Vor allem geht es um eine Abstimmung zwischen den Bereichen SGB II, SGB III, SGB VIII und SGB XII.19

Das ist gar nicht so einfach, weil die unterschiedlichen Rechtskreise – wie dargestellt - sehr ver-schiedenen Selbstorganisationsmustern folgen. So sind die Rechtskreise nach SGB II und III sehr arbeitsmarktorientiert. Die Rechtskreise VIII und XII sind eher therapeutisch und resozialisatorisch orientiert, was im Zweifelsfall dazu führen kann, dass Interventionen zunächst arbeitsmarktfern verlaufen. So gibt es Autoren, die sagen, dass sich Maßnahmen nach SGB VIII zu denen nach SGB II sich verhalten wie "Feuer und Wasser".

Nun kann man sein Heil in der additiven Verknüpfung von Maßnahmen im Sinne einer Vorstellung Bundesarbeitsagentur für Arbeit suchen, wie diese das in folgender Grafik vorstellt.20

Transparenz

Durchlässiger

Informations-

austausch

Harmonisierte

Abläufe und

Maßnahmen

One-stop-

government

Angebotsseite:

Trägerangebote,

Ggf. Betreuungs-

lücken oder

Doppelstrukturen

Nachfrageseite:

Kundenstruktur,

Aktionsfelder

Zielgerichteter IT-

unterstützter

Daten- und

Informations-

transfer

Z.B. dezentrale

Ausgestaltung

und Vernetzung

relevanter

Handlungs-

strategien

Z.B. enge

räumliche

Zusammenarbeit

unter einem Dach

„Arbeitsbündnis Jugend und Beruf“

Kooperationsvereinbarung

Grundsicherungsstelle Agentur für Arbeit, Kommunaler Träger der

Jugendhilfe

Abb 6: Eckpunkte lokaler Kooperationen (Quelle: Bundesagentur für Arbeit)

Dazu ist aus meiner Sicht folgendes zu sagen.

(1) Auffallend ist, das die Zuständigkeit der Sozialhilfe im Sinne der §§ 67 ff. überhaupt nicht er-wähnt wird, obwohl dort ausdrücklich der Personenkreis der jungen Erwachsenen angespro-

19

Vergl. dazu: Positionspapier der AGJ vom 2./3.12.2010 "Chancen für junge Menschen beim Übergang von Schule zu Beruf verbessern - Schnittstellenprobleme zwischen SGB II, III und VIII beheben! 20 Vergl. dazu: Bundesagentur für Arbeit, Projekt Arbeitsbündnis Jugend und Beruf, Verbesserung der Zu-sammenarbeit zwischen Berufsberatung, Jugendhilfe und Grundsicherung im Bereich U 25, Nürnberg o.J.

Andreas Strunk ([email protected]) Junge Menschen in Wohnungsnot_Referat Seite 12

chen und die Bereiche „Wohnen“ und "Ausbildung, Erlangung und Sicherung eines Arbeitsplat-zes" thematisiert wird. Dieser Hilfeansatz ist durch SGB II und III nicht obsolet geworden. Im Gegenteil: es entstehen wichtige methodische Fragen; z.B. wie verhalten sich die Gesamtplanung nach SGB XII zur Ein-gliederungsvereinbarung nach SGB II? Wer hat den Hut auf?

(2) Aus meiner Praxis der Sozialarbeit mit jungen Menschen, die sich in besonderen Lebensverhält-nissen befinden, die mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind, weiß ich, dass additive Hilfen in der Regel zur Verwirrung bei den Betroffenen führen. Ein Kollege bezeichnete das in einem Interview: "Die Betroffenen werden parzelliert. Arbeitsgelegenheit bei Träger C, Bewerbungs-training bei Träger Y, sozialpädagogische Begleitung bei Träger Z. und Wohnraumversorgung bei Träger X."

(3) Oft stehen im System der Bundesagentur nicht genügend Mittel zu einer bedarfsgerechten Unterstützung der Betroffenen zur Verfügung. Beispiel: Maßnahmen nach § 16 f. SGB II (Freie Förderung). Diese Mittel beschneiden den Gesamtetat der örtlichen Jobcenter, stehen also in Konkurrenz mit anderen Instrumenten für erfolgsversprechende Zielgruppen, bzw. auch direkt mit Mitteln für Arbeitsgelegenheiten. Zusammen mit er generellen Kürzung der Eingliede-rungsmittel erklärt dies die beobachtbare Zurückhaltung bei der Bewilligung nach SGB II. Hierzu kommt die allgemeine Orientierung der Mitarbeitenden in den Jobcentern auf schnelle Erfolge. Dazu wieder eine Aussage aus unseren Interviews: "Grundsätzlich ist die Instrumenten-reform auf schnelle Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet und wendet sich an die fitten Menschen."

Hinzu kommt die generelle Kritik an der Arbeit der Jobcenter – so wieder der 14. Kinder- und Ju-gendbericht (a.a.O., S. 227): „Faktisch erweist sich das Angebot an Leistungen und Maßnahmen der Förderung und Unterstüt-zung junger Menschen in prekären materiellen Lagen als zu undifferenziert und wenig tragfähig und kommt – angesichts der Überlastung des Personals in den Jobcentern und Arbeitsagenturen - ent-gegen den ursprünglichen Absichten der Gesetzgebung deutlich zu kurz. Demgegenüber wird die verschärfte Sanktionspraxis gegenüber jungen Menschen unter 25 Jahren ganz offensichtlich ohne Abstriche umgesetzt mit der Folge, dass die Gewichte zwischen Fordern und Fördern aus der Balan-ce geraten. Hier deutet sich ein erheblicher Nachjustierungsbedarf sowohl im Wirkungskreis des SGB II als auch vor allem in der Abstimmung zwischen den Ansätzen und Angeboten im Wirkungs-kreis von SGB VIII, SGB II und SGB III an.“

Was ist hier rechtssystematisch passiert?

Für viele junge Menschen in der Gruppe U-25 bestehen Rechtsanspräche auf eine umfassende Hilfe nach § 67 ff. SGB XII, sofern sich diese in besonderen Lebensverhältnissen befinden.

die verbunden sind mit sozialen Schwierigkeiten

aus denen sich die jungen Menschen nicht aus eigener Kraft befreien können.

In besonderer Weise sind hier - wie erwähnt - vom Gesetzgeber auch Hilfen zur Ausbildung und zur Erlangung und Sicherung eines Arbeitsplatzes gemeint.

Diese jungen Menschen haben bei vorhandener Bedarfslage einen Rechtsanspruch auf entspre-chende persönliche Unterstützung. Der Träger der Sozialhilfe kann diese Hilfen nicht ablehnen mit der Begründung, dass nicht genügend Geld in seiner Kasse sei.

Maßnahmen nach SGB II substituieren nicht die Hilfe nach SGB XII.

Diese Zusammenhänge werden oft übersehen - wie wir gesehen haben auch von der Bundesagen-tur für Arbeit in dem erwähnten Papier.

Im Bereich von U-25 stehen wirklich viele junge Menschen in einem "Dazwischen"

→ Möglichkeiten der Unterstützung nach § 67 ff. SGB XII werden systematisch übersehen und entsprechend nicht aktiviert. Das betrifft übrigens auch Hilfen nach § 41 SGB VIII (Hilfen für

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junge Volljährige, Nachbetreuung). Generell habe ich Zweifel, ob die Jugendhilfe für den Personenkreis U-25 immer der richtige Kooperationspartner ist. Die Erfahrung zeigt, dass bei der überwiegenden Zahl der jungen Men-schen Hilfe nach SGB XII zielführender sind. Das kommt auch darin zum Ausdruck, dass sich die Jugendhilfe für diesen Sektor der Armutsarbeit bisher nicht sonderlich professionalisiert hat. Für viele junge Menschen endet Jugendhilfe oft unmittelbar mit Erreichen der Volljährigkeit aufgrund verweigerter Kostenzusagen seitens der Jugendämter. Hinzu kommt, dass 75% der betreffenden jungen Menschen Angebote der Wohnungslosenhilfe nutzen – so das Ergebnis ei-ner Düsseldorfer Studie meines Kollegen Reinhold Knopp, die im Herbst 2013 veröffentlicht wird.

→ Für viele dieser jungen Menschen stellen die Maßnahmen nach § 16 f. SGB II Notlösungen dar, die nach Kassenlage gewährt werden.

→ Das Armutspotential in dieser Zielgruppe wächst bundesweit und dies vor allem in den Städten. Dazu Aussagen des Monitors Jugendarmut 2012.21

"Junge Menschen zwischen 14 und 27 Jahren sind in Deutschland die am stärksten von Armut betroffene Altersgruppe. Dabei ist Jugendarmut vor allem ein urbanes Phänomen…..Junge Menschen sind vor allem nach dem Erleben von Misserfolgen und Lebenskrisen von Ausgren-zung bedroht. Mindestens 80.000 junge Menschen leben am äußersten Rande unserer Gesell-schaft ohne Anschluss an das Erwerbs-, Bildungs- oder Sozialsystem. Nach Meinung von Exper-ten der Jugendhilfe führt vor allem die Streichung der Bezüge durch die Jobcenter am stärksten zu gesellschaftlicher Ausgrenzung und Jugendarmut……"Junge, von Armut bedrohte Menschen dürfen nicht im Niemandsland unseres Sozialstaates landen"22.

Was müssten wir tun?

1. Ich gehe davon aus, dass wir zunächst einen STRATEGIEWECHSEL im Umgang mit jungen Men-schen brauchen, die sich in Berufs- und Wohnungsnot befinden. Nicht "Misstrauen" sollte im Mittelpunkt unserer Maßnahmen stehen, sondern Vertrauen. Das bedeutet, dass wir das System so attraktiv machen müssten, dass die jungen Menschen gerne kommen. Unsere professionelle Grundhaltung wäre dann: Ressourcenorientierung (An-knüpfung an das, was die jungen Menschen können und wollen) und Lösungsorientierung (per-sönliche Begleitung bis zu einem von den Betroffenen akzeptierten Ziel).

2. Aus dem Verwirrspiel der vier Rechtskreise kommen wir nur heraus, wenn es vor der Verwirkli-chung der Unterstützung die Möglichkeit einer Zuweisung der Betroffenen zu einem Anbieter der Sozialen Arbeit mithilfe einer Clearing-Stelle gibt. Aufgabe einer solchen Clearingstelle wä-re:

Lebensraumanalyse im Einzelfall

Ausarbeitung eines Gesamtplanes und darin eingeordnet entsprechende Eingliederungs-vereinbarungen

Beschreibung eines Case Managements

Festlegung eines Finanzierungsmix

Auswahl eines geeigneten Trägers der Sozialen Arbeit

Beauftragung des Trägers

Sicherstellung von Monitoring und Evaluation

21

Der "Monitor Jugendarmut 2012" findet sich unter www.jugendarmut.de 22 so Simon Rapp, ein Autor des Monitors

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Entwicklung einer kommunalen Sozialplanung, die auf der systematischen Auswertung re-levanter Einzelfälle basiert.

In der Clearingstelle müssten Vertreter der Jugendhilfe, der Sozialhilfe, des Job Centers und der kommunalen Sozialplanung arbeiten. Für eine solche Clearings-Stelle sollten Verfahrensregeln gelten, die mit den Kostenträgern und Leistungserbringern verbindlich abgestimmt sind.

Sie hätten die Aufgabe der Regelung aller für den integrierten Hilfevollzug notwendigen Modali-täten - und zwar "hinter dem Ladentisch".

3. Der Vollzug der Hilfe wird verwirklicht von einem Träger der Sozialen Arbeit, der den Prinzipien folgt, die wir schon als Ergebnis eines Forschungsprojektes skizziert hatten:

tragfähige und belastbare Beziehungen zu einer Fachkraft, die Erfahrungen hat im Umgang mit jungen Menschen

bewusstes "Matching" zwischen Bezugsperson und dem Jugendlichen

aktive vertrauensbildende Maßnahmen, damit eine erfahrbare Koproduktion entstehen kann

bewusste Momente von Exklusivität in der helfenden Beziehung

wahrnehmbare Orientierungsgebung

Ein solcher Träger braucht Planungssicherheit in den Bereichen Finanzierung, Netzwerkintegra-tion und Fachlichkeit.

4. Notwendig wäre, dass der Träger der Sozialen Arbeit viele seiner Angebote im konkreten Le-bensraum der jungen Menschen entwickeln kann:

Definition von Arbeits- und Beschäftigungsangeboten im Quartier

Entwicklung zivilgesellschaftlicher Unterstützungsmöglichkeiten vor Ort

Abstimmung mit den Anbietern der Normalmärkte von Wohnen und Arbeit

Entwicklung von Arbeits- und Beschäftigungsangeboten im Subsidiärmarkt der Arbeit für junge Menschen, die keinerlei Perspektive im Normalmarkt haben (sog. Nischenprojekte dauerhaft finanziert).

Ich komme zum Schluss.

Was fordert eigentlich die Wirtschaftsjournalistin Inge Kloepfer in ihrer Analyse?

Deutlich wird, dass sie ähnliche Vorstellungen hat bezogen auf den Umgang mit den jungen Men-schen und ihren Problemen, wenn sie sagt bzw. fordert:

(1) Vertrauensorientierung und Talente entdecken

(2) Offensive Politik für Kinder, Jugendliche und ihre Familien

(3) Paradigmenwechsel vor allem in der örtlichen Politik: mehr Infrastruktur, engmaschigere Netz-werke, nachhaltige Unterstützung im Einzelfall

(4) Netzwerkentwicklung für Familien

(5) Quartiersentwicklung

(6) Schulentwicklung: Schluss mit der Sortieranstalt.

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