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In der Todeswüste von Esh

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Thorin Band 2

In der Todeswüste von Esh von Al Wallon

Er suchte Ruhm und Ehre als Söldner für Kh'an Sor -

Aber der finstere Magier wollte seinen Tod...

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Das Steppenreich von Kh'an Sor war groß und gewaltig. Es erstreckte sich von den Ausläufern der Hochebenen von Andustan bis jenseits zum Horizont - dort wo die Todeswüste von Esh das Reich vom Fürs-tentum Samara trennte. Keron, der Herrscher von Kh'an Sor, wollte Samara erobern und es zu einem Teil seines Reiches machen. Deshalb ließ er eine Armee von kampfeswilligen Söldnern aufstellen, die dann Samara unterwerfen sollte.

Auch Thorin, der Krieger aus den Eisländern des Nordens, hatte davon gehört und versprach sich viel davon, sich diesem Söldnerheer ebenfalls anzuschließen. Nach seinen Erlebnissen in der Schmiede der Götter und der Drachenburg des Nachtherzogs wollte er Ruhm und Ehre erringen und natürlich Sold und Beute.

Aber das Schicksal, welches Einar, der einäugige und allwissende Gott, dem Nordlandwolf vorausgesagt hatte, folgte ihm auch bis nach Kh'an Sor. Denn dort traf er auf Loon, den finsteren Magier - und schließlich fiel die letzte Entscheidung IN DER TODESWÜSTE VON ESH...

*

Er hatte die dunklen Wolken am fernen Horizont schon frühzeitig be-merkt und ahnte, dass das Wetter schon bald umschlagen würde. Wei-ter oben in den Bergen war die Sonne ab und zu noch zu sehen gewe-sen. Aber je mehr er sich von den Ausläufern der Hochebene von An-dustan entfernte und sein Pferd einer holprigen Straße folgen ließ, die in tiefer gelegene Regionen führte, um so rascher änderte sich das Wetter.

Thorin blickte mit gemischten Gefühlen zum wolkenvergangenen Himmel auf und wusste, dass er sich um einen trockenen Unterschlupf kümmern musste, bevor es zu regnen anfing. Aber noch bevor er die-sen Gedanken zu Ende gebracht hatte, öffnete der Himmel auch schon seine Schleusen. Zuerst waren es nur einige dicke Regentropfen, die ihm der aufkommende Wind ins Gesicht blies. Aber dann verwandelten sich die Tropfen in einen handfesten Regenguss.

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Der blonde Krieger stieß einen handfesten Fluch aus, als er inner-halb weniger Minuten bis auf die Haut durchnässt wurde. Der Wind schnitt in seine Haut und ließ ihn frösteln, obwohl hier unten in der Steppe der Winter schon seit langem vorbei war. Er kniff die Augen zusammen und versuchte in den wirbelnden Regenschleiern irgend etwas zu erkennen, was ihm Schutz vor diesem heftigen Schauer bot, während das Pferd sich seinen Weg durch das Unwetter kämpfte.

Innerhalb weniger Augenblicke war die alte Straße, die ins Herz des Reiches von Kh'an Sor führte, zu einem Schlammpfad geworden - und das behinderte das Pferd um so mehr, das gequält aufwieherte, als es Thorin noch mehr antrieb.

Aber die Götter schienen es an diesem trüben Tag gut mit ihm zu meinen, denn schon bald darauf erkannte der Nordlandwolf irgendwo vor sich eine Gruppe Bäume und Büsche, die einen scharfen Kontrast zu der ansonsten eher steppenartigen Landschaft bildete, die so ty-pisch für Kh'an Sor war. Das konnte nur bedeuten, dass es an dieser Stelle auch eine Quelle gab oder sogar ein Bach oder Fluss dort vorbei-führte. Egal, was es war - Thorin würde es gleich erkennen, denn die Bäume boten ihm ausreichend Schutz vor dem permanenten Regen.

Regntropfen liefen ihm die Wangen hinunter bis in den Kragen seines Gewandes, das ihm am muskulösen Körper klebte und ein un-angenehmes Frösteln verursachte. Hastig stieg er aus dem Sattel, führte das Pferd unter das schützende Dach eines weit verzweigten Baumes und atmete dann erleichtert auf, als er spürte, dass das dichte Blätterdach an dieser Stelle kaum Regen durchkommen ließ. Hier wür-de er solange ausharren, bis der Regen nachgelassen hatte und dann seinen Weg nach Kh'an Sor fortsetzen.

Thorin streifte das nasse Gewand ab und suchte dann nach einer Decke, die er in einem Lederbündel am Sattel festgeschnallt hatte. Das kräftige Ziegenleder hatte verhindert, dass die Decke auch nass wurde und gab ihm so wenigstens etwas Wärme zurück, die sein Körper be-reits verloren hatte. Im Lendenschurz und von der Decke umhüllt, hockte er sich nun unter das Blätterdach des Baumes und wartete ge-duldig ab, dass der Regen nachließ. Aber danach sah es gar nicht aus, denn der Wind wurde jetzt sogar noch etwas heftiger und die Schauer

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intensiver. Wie sehr sehnte sich Thorin jetzt nach einem wärmenden Feuer! Aber er hatte keinen einzigen Zündstein bei sich, um ein Feuer zu entfachen, denn er hatte damit gerechnet, noch vor Einbruch der Dunkelheit eines der kleinen Dörfer zu erreichen, die sich am Rande der Berge erstreckten. Der plötzliche Wolkenbruch hatte das jedoch verhindert.

Wahrscheinlich würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als die Nacht hier draußen in der Steppe zu verbringen und erst wieder bei Anbruch des Tages seinen Weg fortzusetzen. So würde er eben erst morgen Cor'can, die Hauptstadt des Reiches Kh'an Sor, erreichen. Die Ereignisse der letzten Wochen hatten es bis jetzt verhindert, dass sich Thorin dem Heer von Söldnern anschließen konnte, das der Herrscher von Kh'an Sor aufstellen ließ, um dann in das benachbarte Fürstentum von Samara einzufallen und es zu erobern. Thorin hatte davon schon auf der anderen Seite der Berge gehört - aber damals hatte er nicht wissen können, dass ihm der Nachtherzog Arian und seine dunklen seelenlosen Kreaturen begegnen sollten. Thorin hatte diese Gefahren jedoch mit Hilfe seines neu geschmiedeten Schwertes Sternfeuer schließlich doch noch meistern können.

Nur wenige Schritte hinter ihm führte ein kleiner Bach vorbei, der jetzt angesichts dieses heftigen Regens etwas mehr Wasser führte. Aber die Steppe von Kh'an Sor würde immer eine karge Landschaft bleiben, denn solche Unwetter hielten nicht lange an - und danach wurde das Wasser von der trockenen Erde gierig aufgesogen. Für ein, zwei Tage blühten das Land und einige Pflanzen vielleicht sogar noch auf - aber danach würde es sich wieder in die Steppe verwandeln, die sich bis jenseits des Horizontes erstreckte.

Seine Gedanken brachen von einem Atemzug zum anderen ab, als er von Südwesten her plötzlich Hufschläge zu hören glaubte, die sich genau der Stelle näherten, wo er Schutz vor dem Regen gesucht hat-te. Sofort warf der blonde Krieger die Decke beiseite und griff nach Sternfeuer, denn in diesem einsamen Landstrich war Vorsicht geboten.

Mit dem Götterschwert in den Händen suchte er rasch nach einer Deckung und hastete dann hinüber zu einigen dichten Büschen. Es blieb keine Zeit mehr, sich um das Pferd zu kümmern, denn die Huf-

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schläge waren jetzt so nahe, dass die Reiter jeden Augenblick auftau-chen mussten.

Von seinem Versteck aus sah Thorin, dass es zwei Reiter waren, die nun in seinem Blickfeld auftauchten. Auch sie schienen von dem heftigen Regen plötzlich überrascht worden zu sein. Es waren Männer, die ebenfalls Schwerter trugen, aber Thorins Augen entgingen auch nicht die Lanzen, die sie seitlich an den Sätteln befestigt hatten. Und sie machten ganz den Eindruck, als wenn sie diese Waffen auch zu handhaben wussten.

Gespannt wartete Thorin ab, was nun weiter geschah. Er hörte den kehligen Dialekt eines der Männer, der in diesem Moment das Pferd des Nordlandwolfs entdeckte.

»Jerc, sieh doch!«, rief er dann so laut, dass Thorin das klar und deutlich hören konnte. »Hier muss noch jemand sein!«, schlussfolgerte nun der zweite Reiter, der etwas größer war als sein Gefährte. Wäh-rend er das sagte, blickte er sich auch schon misstrauisch nach allen Seiten um.

Thorin wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte, sich zu verste-cken. Auch wenn die beiden Männer bewaffnet waren, so hatte er doch keine Furcht. Wie Wegelagerer oder hinterhältige Mörder sahen sie jedenfalls nicht aus. Eher wie Kämpfer, die das Handwerk eines Soldaten kannten.

»Ich will Frieden!«, rief Thorin nun so überraschend, dass die bei-den Männer im Sattel zusammenzuckten, als er mit gezogenem Schwert aus den Büschen trat. »Es liegt an euch, ob dieser Frieden bestehen bleibt. Aber wenn ihr lieber kämpfen wollt, dann fließt Blut. Entscheidet also, was ihr tun wollt!«

Thorin fühlte die prüfenden Blicke der Männer auf sich gerichtet. Sie schienen ihn genau so einzuschätzen, wie es der Nordlandwolf im stillen erhofft hatte. Denn die Hände, die angesichts des plötzlichen Auftauchens von Thorin zu den Waffen gegangen waren, hielten nun inne.

»Wir suchen nur Schutz vor dem Regen!«, rief nun der größere der Männer. »Auch wir wollen Frieden. Krieg führen können wir immer noch in Samara!«

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Diese Worte gaben schließlich den Ausschlag für Thorin, sein Miss-trauen sinken zu lassen. Er entspannte sich und trat noch einen weite-ren Schritt vor, so dass die Männer seinen nackten muskulösen Ober-körper sehen konnten.

»Ich bin Thorin«, sagte der blonde Krieger. »Mein Ziel ist Cor'can - und wer seid ihr?«

»Ich heiße Jerc«, antwortete der größere der beiden Männer. »Das ist mein Gefährte Polt«, wies er auf dann auf den Kleineren. »Wir wollen ebenfalls nach Cor'can. Willst du auch als Söldner für das Reich von Kh'an Sor kämpfen?«

Thorin nickte. »Wir haben also ein gemeinsames Ziel«, sagte er nach kurzem

Überlegen. »Warum steigt ihr nicht ab und schützt euch vor dem Re-gen? Die Kälte wird es zwar nicht mindern, aber es ist besser als nichts...«

Jerc war der Erste der abstieg, während Polt sich anschließend um die beiden Pferde kümmerte und sie rasch unter das schützende Blät-terdach führte. Er ging auf Thorin zu und streckte seine Hand aus, die der blonde Krieger dann ergriff und Jercs kräftigen Händedruck erwi-derte.

»Wir sollten ein Feuer machen«, schlug er Thorin vor. »Zündstei-ne haben wir dabei. Wenn sie in diesem Unwetter trocken geblieben sind, können wir Glück haben...« Er fing den Beutel auf, den ihm Polt nun zuwarf.

Gemeinsam gingen sie dann ans Werk und schafften es, noch eine Handvoll trockenes Zweigwerk zu finden - direkt in der Nähe der schützenden Bäume. Denn hier kam der Regen nicht bis unten durch und das Holz war somit ziemlich trocken geblieben. Wenige Augenbli-cke später entzündeten sich Funken und schließlich leckten die ersten zögernden Flammen nach den Ästen, die die Männer zurechtgelegt hatten.

*

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»Söldner kommen aus allen Teilen des Landes nach Cor'can«, meinte Jerc zu Thorin, während er sich mit dem Messer ein Stück von dem Dörrfleisch abschnitt, das Thorin mit den beiden Männern geteilt hatte. »Jeder von ihnen will reiche Beute machen - und genau das verspricht Keron. Jedenfalls wenn man den Worten der Werber Glauben schen-ken darf, denn Kh'an Sor ist nicht unbedingt ein reiches Land, das im Überfluss lebt...«

»... deshalb wollen wir kämpfen«, vollendete Polt kauend die Wor-te seines Gefährten. »Jerc und ich kommen aus dem Osten von Kh'an Sor. Außer Steinen und einigen kümmerlichen Feldern gibt es da so-wieso nichts.«

»Und was habt ihr vorher gemacht?«, wollte Thorin von dem Männern nun wissen. »Wie einfache Bauern seht ihr jedenfalls nicht aus.«

»Wir waren die Leibwächter eines einflussreichen Kaufmanns aus Osh«, klärte Jerc den blonden Krieger auf, während er sich noch ein Stück Dörrfleisch genehmigte. »Aber wir wussten nicht, dass er sein ganzes Geld mit Ware aus Andustan verlor. Und da konnte er uns nicht mehr weiter bezahlen - wir mussten also gehen. Aber zum Glück er-fuhren wir ja dann von der Söldnerarmee...«

»Und weshalb willst du für Keron und sein Reich kämpfen, Tho-rin?«, fragte Polt nun unvermittelt. »Du bist doch nicht von hier - und du stammst auch nicht aus einem der benachbarten Länder. Von wo-her kommst du?«

»Aus den Eisländern des Nordens«, erwiderte Thorin und bemerk-te, wie ihn Jerc und Polt ganz erstaunt anschauten. »Aber meine Hei-mat habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Mein Weg führte immer weiter nach Süden und auf der anderen Seite der Berge habe ich erfahren, dass Söldner für einen bevorstehenden Feldzug gesucht werden.«

»Du hast die Berge um diese Jahreszeit überquert?«, fragte Jerc erstaunt und sah, wie der Nordlandwolf nickte. »Dann hast du aber mächtig Glück gehabt, denn die Pässe sind um diese Zeit immer noch schnee- und eisbedeckt.«

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»Ganz einfach war es ja auch nicht«, antwortete Thorin und be-schloss, lieber nichts über die Schrecken zu berichten, die er in der einsamen Bergwelt erlebt hatte. Sonst würden die beiden Söldner viel-leicht doch noch misstrauisch werden. »Aber wie ihr seht, habe ich es doch noch geschafft«, fuhr er fort. »Mit einem guten und ausdauern-den Pferd ist das möglich.«

»Und mit einem scharfen Schwert, mit dem man sich gegen Räu-ber und Wegelagerer schützen kann«, fügte Jerc hinzu, dessen neu-gierige Blicke sich schon seit einiger Zeit auf Sternfeuer gerichtet hat-ten. Was Thorin natürlich schon längst aufgefallen war, aber er hatte bis jetzt nichts dazu gesagt. »Du hast eine gute Klinge, Thorin«, mein-te Jerc. »Mit so einer Waffe kann man sich gut wehren. Es muss ein ganz besonders erfahrener Schmied gewesen sein, der diese Waffe hergestellt hat. Woher stammt sie? Auch aus den Eisländern, wo du herkommst?«

Auch wenn die beiden Söldner nichts gegen Thorin im Schilde führten, so zögerte er dennoch, den beiden Söldnern zu berichten, auf welche Weise er in den Besitz der Götterklinge gekommen war und wer Sternfeuer geschmiedet hatte. Sie würden ihm das gewiss nicht glauben, also ließ er sich besser eine Ausrede einfallen.

»Du hast recht, Jerc«, pflichtete er ihm dann bei. »Es ist wirklich eine gute Klinge und sie hat mich bisher auch noch nicht im Stich ge-lassen. Das wird sie auch dann nicht, wenn wir uns bald der Armee von Kh'an Sor anschließen...«

Eigentlich hatte er noch mehr sagen wollen, aber in diesem Mo-ment begannen die drei Pferde, die die Männer einige Schritte weiter drüben an den Büschen angeleint hatten, aufgeregt zu wiehern. Selbst Thorins Tier riss nun an den Zügeln und gebärdete sich ganz nervös. Das war der Augenblick, wo in den Büschen ein drohendes Knurren zu hören war, das die Pferde ganz verrückt machte.

Die drei Männer sprangen auf vom wärmenden Feuer, das ihre Gewänder in der Zwischenzeit schon so gut wie getrocknet hatte. Im selben Augenblick teilten sich die Büsche und ein riesiger Bär mit schwarzbraunem Fell kam heraus. Die Bestie hatte sich schon auf die Hinterbeine gestellt und holte jetzt mit den gewaltigen Tatzen zu ei-

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nem alles vernichtenden Hieb aus. Ein lautes Brüllen entrang sich der fürchterlichen Kehle.

»Die Pferde!«, schrie Jerc nun seinem Gefährten zu. »Wir müssen die Pferde retten!«

Polt hatte aber auch so schon den Ernst der Lage begriffen und eilte hinüber zu den Tieren, um sie loszubinden. Allerdings unter-schätzte er die rasche Reaktion der wilden Bestie, die sich in dieser Sekunde schon auf eines der Pferde gestürzt hatte und es mit einem einzigen Hieb seiner gewaltigen Pranken niederriss und es dann tötete.

»Polt!«, brüllte Thorin nun dem Söldner zu, als er sah, dass dieser nicht begriff, in welche Gefahr er sich jetzt begab. »Zurück, der Bär kommt!«

Der kleine Polt hatte zwar sein Schwert aus der Scheide gerissen, zögerte aber für einen winzigen, dafür aber um so entscheidenderen Moment. Polt sah die roten Augen des Bären und den weit aufgerisse-nen Rachen, der ihn für einen Atemzug lang lähmte. Aber genau das reichte aus für die Bestie, um mit der linken Pranke dem Lebewesen einen Hieb zu versetzen, das es gewagt hatte, den mächtigen Herr-scher der Steppe bei seiner Jagd zu stören.

Polt schrie laut vor Schmerz auf und taumelte einige Schritte zu-rück. Die scharfen Klauen des Bären hatten die rechte Schulter des Söldners verletzt, so dass er jetzt keine Kraft mehr besaß, um sein Schwert noch festhalten zu können. Es entglitt seinen Händen, wäh-rend Polt unglücklicherweise über einen Felsen stolperte und hinter-rücks zu Boden fiel.

»Jerc! Thorin!«, brüllte Polt vor Angst, als er sah, dass der Bär sich nun jeden Augenblick auf ihn stürzen und ihm den Garaus ma-chen würde.

Thorin war inzwischen mit gezogener Waffe nach vorn geeilt und ignorierte die drohende Gefahr, die von dieser mächtigen Bestie aus-ging. Er reckte die Waffe dem Bären entgegen und stieß einen lauten Schrei aus, um ihn von seinem jetzigen Opfer abzulenken.

»Bring Polt in Sicherheit!«, rief Thorin Jerc zu, als er sah, wie der Kopf der Bestie nun herumfuhr und sich die mordlustigen Augen jetzt auf den blonden Krieger richteten. Ein gefährliches Grollen kam aus

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dem geifernden Rachen des Bären, der Thorin fixierte und sich dann auf ihn stürzte.

Thorin hatte das aber kommen sehen und war deshalb im letzten Moment einen Schritt zur Seite gesprungen. Der vernichtende Hieb mit der Pranke des Bären ging so ins Leere. Die Klinge des blonden Krie-gers dagegen traf ihr Ziel und versank eine Handspanne tief im Fell des Bären, der nun laut aufbrüllte, als er den Schmerz spürte.

Während Thorin hastig die Klinge herauszog und zur Seite sprang, wurde die Bestie noch wilder als es ohnehin schon der Fall war. Der Nordlandwolf musste höllisch aufpassen, dass ihn die Pranken nicht doch noch erwischten, denn ein einziger Hieb würde ausreichen, um ihn zu töten. Er musste also jetzt rasch handeln, um diese Gefahr zu bannen.

Er riskierte viel, als er so lange abwartete, bis der Bär so nahe kam, dass sich auch Thorin in Reichweite der Pranken befand. Aber die Bestie hatte nur eins im Sinn - dieses Wesen zu töten, das ihm Schmerz zugefügt hatte und deshalb ignorierte sie die Klinge. Thorin stieß Sternfeuer vor und erwischte den Bären in der Brust. Der Bär brüllte so laut, dass es in Thorins Ohren dröhnte und begann jetzt zu wanken. Thorin nutzte diesen Moment, um mit dem Schwert der Bes-tie den entscheidenden Todesstoß zu versetzen.

Dabei wagte er sich allerdings für einen winzigen Atemzug zu weit nach vorn, so dass die wild um sich schlagenden Pranken des Bären einen Riss auf seiner Brust verursachten. Jedoch ignorierte Thorin das Brennen und konzentrierte sich stattdessen ganz auf die Chance, die sich ihm nun bot. Sternfeuer, die Götterklinge, zuckte vor - und dies-mal erwischte die scharfe Waffe den Bären in der Kehle. Das tosende Gebrüll wurde nun zu einem grässlichen Gurgeln, weil dieser Stich mit-ten ins Leben gegangen war. Der Bär stolperte, schlug noch einmal mit den gefährlichen Pranken um sich, bevor der schwarzbraune zotti-ge Körper dann zu Boden stürzte und mit einem letzten Röcheln ver-endete. Danach rührte sich die Beste nicht mehr.

Erst jetzt konnte Thorin aufatmen. Langsam näherte er sich mit Sternfeuer dem leblosen Körper des Bären, als wenn er damit rechne-te, dass noch irgendwo tief in Inneren der Bestie ein Funken Leben

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steckte. Aber dann erkannte er, dass dem nicht so war. Die Götterklin-ge hatte den gewaltigen Bären schließlich doch noch getötet!

»Bei den steinernen Götzen von Chandra!«, rief nun Jerc, wäh-rend er dem stöhnenden Polt beim Aufstehen half. »Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, so würde ich es nicht glauben. Tho-rin - weißt du denn überhaupt, was du riskiert hast?«

»Sollte ich zulassen, dass die Bestie alle unsere Pferde nieder-reißt?«, stellte Thorin die Gegenfrage und reinigte die Klinge am Fell des Bären. »Söldner ohne Pferde - wir hätten in Cor'can bestimmt ei-nen prächtigen Anblick geboten, wenn wir zu Fuß gekommen wären, oder?«

Jercs Blicke waren eine Mischung aus sichtlichem Erstaunen und auch Respekt vor dem Mann, der es trotz der drohenden Gefahr ge-wagt hatte, sich dieser Bestie entgegenzustellen und sie dann noch im Kampf zu besiegen. Wäre Jerc an Thorins Stelle gewesen - wer weiß, wie alles dann ausgegangen wäre! Und das Wissen darum ließ den Söldner in diesem Moment lieber schweigen.

»Kümmern wir uns um Polt«, ergriff Thorin nun wieder das Wort, weil er wohl zu ahnen schien, was Jerc jetzt durch den Kopf ging. »Wir müssen seine Wunden verbinden...«

*

Als sich am fernen Horizont die ersten hellen Sonnenstrahlen zeigten, brachen Thorin und die beiden Söldner auf. Polt musste notgedrungen zu Jerc aufs Pferd steigen. Er fühlte sich ziemlich elend an diesem Morgen, denn obwohl Thorin und Jerc ihr Möglichstes getan hatten, um Polts Schmerzen zu lindern, so hatte der kleine Söldner doch noch Fieber bekommen und war jetzt ziemlich schwach. Es blieb ihm aber keine Zeit mehr, um sich noch mehr Ruhe zu gönnen, denn Thorin und Jerc drängten darauf, endlich weiter reiten zu können.

Als die Sonne schließlich ganz aufging, sahen die Männer, dass an vielen Stellen Pflanzen aus der Erde sprießten, die noch gestern ver-dorrt und unscheinbar gewirkt hatten. Aber alle wussten, dass diese blühende Pracht schon bald wieder zu Ende sein würde.

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Thorin orientierte sich nach dem Stand der Sonne und ritt voran. Jercs Pferd kam nicht ganz so schnell nach, weil das Tier ja jetzt die doppelte Last zu tragen hatte. Es würde noch bis zum späten Nachmit-tag dauern, bis sie endlich ihr Ziel erreichten.

Sie durchquerten die offene Steppe, während die Sonne immer höher stieg. Keiner der drei sprach nun ein Wort. Die Stille wurde nur von Polts gelegentlichem Stöhnen und den Hufschlägen durchbrochen. Aber nur solange bis auf einmal der Reitertrupp weiter westlich auf-tauchte.

Thorin zügelte sofort sein Pferd und sah zu Jerc, der die Reiter na-türlich auch bemerkt hatte. Es waren mehr als zehn und sie hielten nun genau auf die drei Gefährten zu.

»Nein, Thorin!«, rief ihm Jerc zu, als er sah, dass der blonde Krie-ger schon wieder im Begriff war, seine Klinge aus der Scheide auf sei-nem Rücken zu ziehen. »Es sind keine Feinde - ich kann die Rüstungen genau erkennen. Solche Rüstungen trägt nur die Garde von König Ke-ron - das sind besonders gut ausgebildete Soldaten. Aber was bei den Göttern haben die soweit außerhalb von Cor'can verloren?« Er grübelte nur so lange, bis ei Augenblicke später sah, warum das so war.

Die letzten beiden Soldaten der Truppe führten fünf Pferde mit sich. Vier der Tiere trugen leblose Körper, die man in blutige und zer-rissene Decken gehüllt hatte. Auf dem fünften Tier saß ein Mann, den man die Hände auf dem Rücken und die Beine unter dem Bauch des Pferdes zusammengebunden hatte. Sein Kopf war auf die Brust gesun-ken und er schien gar nicht mehr wahrzunehmen, was um ihn herum eigentlich geschah.

Inzwischen hatten die Gardisten Thorin und seine beiden Gefähr-ten erreicht. Der Anführer der Soldaten, ein Hüne von mehr als sechs Fuß Gestalt, richtete seine strengen Augen nun auf Thorin, während die anderen nur auf einen Befehl warteten, um ihre Waffen zu zücken.

»Wer seid ihr?«, wurde die Frage barsch an Thorin gerichtet. »Wohin wollt ihr?«

»Nach Cor'can«, erwiderte Thorin und bemühte sich, den aggres-siven Tonfall in der Stimme des Soldaten zu überhören. »Wir haben gehört, dass ein Heer aufgestellt wird...«

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»Das stimmt«, nickte der Hüne nun und musterte Thorins kräftige Gestalt. »Du siehst so aus, als wenn du auch gut kämpfen kannst, Fremder. Aber der kleine Bursche da hinten ist wohl am Ende...«

»Es... es ist nur eine leichte Verletzung!«, rief nun Polt rasch, als er das hörte. »Ein Bär hat mich verletzt - und er hätte mich bestimmt zerrissen, wenn Thorin mir nicht geholfen hätte. Er hat den Bären zur Strecke gebracht und...«

»Soso, ein Bärentöter also!«, unterbrach ihn der Anführer, der noch nicht so recht wusste, ob er das glauben sollte oder nicht.

»Wie weit ist es noch bis nach Cor'can?«, richtete Thorin nun die Frage an den Anführer der Soldaten.

»Wenn ihr euch ranhaltet, könnt ihr am späten Nachmittag dort sein«, erwiderte der Hüne, grinste dann aber abfällig, als er kurz zu dem Verletzten schaute. »Aber das wird wohl etwas länger dauern, denke ich...« Dann sah er Thorin nochmals lange an, bevor er fortfuhr. »Sind euch Reiter begegnet in der letzten Nacht? Nun los, redet schon!«

Jerc und Polt schüttelten stumm den Kopf und auch Thorin winkte nur ab.

»Diese Hunde sind uns wahrhaftig entkommen!«, fluchte der Hü-ne. »Aber die anderen haben wir wenigstens noch erwischt.«

»Wer sind diese Männer?«, fragte Thorin und sah zu den reglosen Gestalten auf den Rücken der Pferde.

»Soldaten!«, lachte der Anführer, als handele es sich um einen guten Scherz. »Das heißt, sie haben uns vorgetäuscht, es zu sein. Sie kamen nach Cor'can, um in König Kerons Heer zu dienen - genauso wie ihr es vorhabt. Aber dann kassierten sie das Handgeld, das jeder bekommt und machten sich in der Nacht aus dem Staub. Vier haben wir erwischt und sofort getötet - der fünfte da drüben wird bald in der Stadt hingerichtet werden. Wer König Keron zu betrügen glaubt, der hat nur ein kurzes Leben!« Er spuckte bei diesen Worten verächtlich aus. »Ja, seht nur genau hin!«, riet er Thorin und seinen Gefährten. »Dann bekommt ihr wenigstens gleich mit, welche Strafe euch erwar-tet, wenn ihr euch anheuern lasst und dann hinterher doch noch knei-fen wollt! Reitet nur nach Cor'can - aber vergesst nie, was ihr gerade

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gesehen habt. Los jetzt!«, rief er dann den restlichen Soldaten zu und beachtete Thorin und die beiden anderen Männer gar nicht mehr. Er gab seinem Pferd die Zügel frei und ritt los. Die übrigen folgten ihm, ritten in die Richtung, aus der Thorin, Jerc und Polt gekommen waren. Nur wenige Minuten später waren die Reiter auch schon am fernen Horizont verschwunden.

Jerc wirkte nun doch gegen seinen Willen etwas eingeschüchtert, als er zu Thorin sah.

»Raue Sitten sind das«, murmelte er. »In einem großen Heer muss man immer hart durchgreifen«, er-

widerte Thorin. »Sonst gewinnt man nie eine Schlacht. Und was uns betrifft - wir wollen doch zu den Siegern gehören, oder?«

Dem hatte keiner der anderen mehr etwas hinzuzufügen. Darauf-hin setzten Thorin, Jerc und Polt ihren Weg fort. Irgendwo jenseits des Horizontes befand sich Cor'can, die Hauptstadt des Reiches Kh'an Sor...

*

Die Sonne stand schon weit im Westen, als Thorin und seine beiden Gefährten schließlich Cor'can erreichten. Je näher die Männer kamen, um so mehr Einzelheiten konnten sie erkennen. Cor'can war eine ge-waltige Stadt, von festen Mauern umgeben, die bestimmt jedem An-griff trotzten. Weiter abseits befand sich ein großes Zeltlager. Dort war die Armee des Königs untergebracht und dieses Lager war auch das Ziel der drei Männer. Denn nur dort konnten sie erfahren, ob sie die-sen langen Ritt nun vergeblich auf sich genommen hatten oder nicht.

Inmitten des Zeltlagers herrschte ein ständiges Kommen und Ge-hen. Thorin sah einige Söldner mit blitzenden Schwertern, die von ei-nem Hauptmann gedrillt wurden. Andere wiederum waren mit der Pflege und dem Füttern von Pferden beschäftigt. Eine weitere Gruppe war unter Aufsicht eines kräftigen, laut fluchenden Mannes damit zu-gange, sich gegenseitig im Ringkampf zu messen. Laute Stimmen er-füllten das Lager. Befehle ertönten und die Männer gehorchten.

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Zuerst fiel es gar nicht auf, dass Thorin, Jerc und Polt ins Lager geritten kamen. Aber dann sah sie einer der Männer, die in der Nähe eines Zeltes Sättel flickten und Zaumzeug ausbesserten. Der Mann hielt in seiner Arbeit sofort inne und rief einem seiner Kameraden et-was zu. Worauf dieser im Inneren des Zeltes verschwand. Nur um kurz darauf später wiederzukommen - allerdings nicht allein. Ein Mann mit einem schwarzen Wams und einem messingfarbenen Brustschutz war an seiner Seite und richtete seine prüfenden Blicke auf die drei Neuan-kömmlinge, die ihre Pferde nun in unmittelbarer Nähe zügelten.

»Was wollt ihr hier?«, fragte er in barschem Ton. »Das hier ist kein Ort für Kranke und Schwächlinge!« Sein verächtlicher Blick galt dem verletzten Polt, den der Ritt bis hierher ziemlich erschöpft hatte.

»Dann gib uns eine Chance, um zu beweisen, dass wir hier richtig sind!«, antwortete Thorin und erwiderte den Blick des Mannes mit dem Brustpanzer. »Der König von Kh'an Sor sucht Söldner für den Feldzug nach Samara - deswegen sind wir gekommen!«

»Du siehst wenigstens so aus, als wenn du mit dem Schwert um-gehen könntest«, meinte der Mann daraufhin. »Dein Gefährte vielleicht auch. Aber Verletzte schleppen wir hier nicht durch!«

»Ein Bär hat Polt verletzt«, antwortete nun Jerc, der diese Worte nicht länger schweigsam hinnehmen konnte. »Er braucht nur ein paar Tage Ruhe, dann kommt er ganz sicher wieder auf die Beine. Bis das Heer aufbricht, wird er Kraft genug haben...«

Der Mann mit dem Brustpanzer wollte gerade darauf etwas erwi-dern, als plötzlich eine Stimme erklang, die Thorin schon einmal gehört hatte - und das vor nicht allzu langer Zeit.

»Sieh an - der Bärentöter und seine beiden Gefährten!«, erklang es höhnisch. »Ihr wollt also unbedingt für Kh'an Sor kämpfen?«

Thorin wandte den Kopf und erkannte den Anführer der Gardesol-daten, die auf der Spur von fahnenflüchtigen Söldnern gewesen wa-ren. Offensichtlich hatten sie ihre Hetzjagd doch schon abgebrochen und waren wieder nach Cor'can zurückgekehrt.

»Wir wollen kämpfen«, sagte Thorin. »Wenn du daran Zweifel hast, dann prüfe doch einfach selbst, ob wir für die Armee von Kh'an Sor tauglich sind!«

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Mit diesen Worten schwang er sich mit einer geschmeidigen Be-wegung vom Rücken seines Pferdes und zog gleichzeitig Sternfeuer aus der Scheide. Thorin hatte mittlerweile eingesehen, dass man hier nur mit einer gewissen Portion Mut und Frechheit vorankam. Und da dieser arrogante Hüne ihn ohnehin immer mehr zu reizen begann, beschloss Thorin auf dieses Spiel einzugehen. Natürlich entging ihm nicht das staunende Murmeln der anderen Männer, die in der Nähe standen und die wohl nicht glauben konnten, dass es der blonde Krie-ger tatsächlich wagte, einen solchen Mann auch noch herauszufordern.

»Ich glaube, du weißt nicht, wer ich bin, Bärentöter!«, spottete der Hüne. »In der Garde König Kerons dienen nur auserwählte und besonders tapfere Männer. Und ich - Maris - bin der Beste von allen...«

Jetzt zog er ebenfalls sein Schwert heraus und reckte es Thorin la-chend entgegen. Es war eine gute Waffe, die er bestimmt auch zu handhaben wusste.

»In drei Atemzügen liegst du am Boden und bist ohne Waffen!«, rief Maris siegessicher. »Nun komm schon, Bärentöter - ich bin aber nicht so plump wie die Bestie, die du angeblich getötet hast.«

»Zumindest deine Worte sind es!«, hielt ihm Thorin entgegen und erreichte damit genau das, was er eigentlich bezweckt hatte. Maris sollte als erster angreifen und das geschah auch. Der Gardist stürmte vor und schlug mit dem Schwert nach Thorin, zielte nach dessen Waf-fe. Er wollte ihm die Klinge aus der Hand schlagen, aber das gelang ihm nicht. Weil der Nordlandwolf die Absicht seines Gegners natürlich schon geahnt hatte und deshalb entsprechend reagierte. Er parierte den Schwerthieb. Die beiden Klingen trafen mit einem hellen Singen aufeinander. Maris war überrascht, dass es ihm nicht im ersten An-sturm gelungen war, den blonden Krieger zu besiegen. Stattdessen musste er erkennen, dass Thorin durchaus mit dem Schwert umgehen konnte. Viel besser als er es erwartet hatte.

Wieder prallten die beiden Männer aufeinander und diesmal han-delte Thorin um den entscheidenden Moment schneller. Er blockte einen Hieb ab, stieß sofort nach und schlug mit Sternfeuer dann so heftig zu, dass Maris sein Schwert nicht mehr festhalten konnte. Von der Wucht des Schlages wurde die Waffe des hünenhaften Gardisten

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aus seinen Händen gerissen und fiel dann einige Schritte neben ihm zu Boden.

Thorin zielte mit Sternfeuer nun nach der Kehle des Gardisten. Seine Miene war ausdruckslos, als er sich an Maris wandte.

»Ich denke, der Feind ist in Samara und nicht hier im Lager«, meinte er. »Also sollten wir unsere Kräfte auf dieses Ziel lenken.«

Natürlich ahnte er, dass Maris unter den Söldnern und erst recht in der Garde des Königs eine wichtige Stellung innehaben musste. Also durfte er ihn vor den Augen der Umstehenden nicht zu sehr bloßstellen und gab ihm auf diese Weise eine Chance, wenigstens würdig aus die-ser Auseinandersetzung herauszukommen. Maris begriff und nickte schließlich.

»Es ist wahr«, sagte er. »Kämpfen wir also gemeinsam gegen den Fürsten Dion von Samara. Helkor - ich denke, dass dieser blonde Bar-bar ein guter Söldner wird...«

Maris letzte Worte galten dem Mann mit dem Brustpanzer, der wohl einer der Ausbilder im Söldnerlager war.

»Zahl ihnen das Handgeld - auch dem kleinen Burschen dort!«, fuhr Maris nun fort. »Und dann nimm sie dir vor und zeig ihnen, was wir von einem guten Krieger erwarten. Im Sturm auf Samara können sie dann beweisen, was sie hier gelernt haben.«

»Es soll geschehen, wie du sagst, Maris«, versicherte ihm Helkor. »Also los - ihr drei!«, rief er dann Thorin und seinen Gefährten zu. »Kümmert euch erstmal um eure Pferde und kommt dann zu mir ins Zelt. Dort erledigen wir alles andere. Ihr werdet ein Handgeld bekom-men, das angemessen ist. Aber glaubt ja nicht, dass ihr dann heimlich damit flüchten könnt. Von nun an gehört ihr zum Heer König Kerons - und auf Feiglinge wartet nur noch der Tod!«

Thorin nickte nur und griff dann nach den Zügeln des Pferdes. Dabei sah er kurz in die Augen von Maris - und was Thorin dort er-kannte, ließ ihn ahnen, dass der Gardist die plötzliche Niederlage vor den Augen der anderen noch lange nicht verdaut hatte. Eher das Ge-genteil war der Fall. Vor diesem Mann musste sich Thorin in acht neh-men...

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*

Vor zwei Stunden war die Sonne am fernen Horizont versunken. Nacht senkte sich über die Stadt Cor'can und in den engen Gassen begannen sich die zahlreichen Wirtshäuser und Schänken mit Leben zu füllen. Auch am Tage herrschte in dieser Stadt schon ein emsiges Kommen und Gehen - aber jetzt, wo die Dunkelheit den Tag vertrieben hatte, ging es hier noch hektischer zu. In den vergangenen Nächten sowie heute Abend würden die Wirte wieder ein gutes Geschäft machen, denn sie gierten nach dem Sold der Krieger, die für Kh'an Sor kämpf-ten und einen Teil ihres Soldes heute Nacht verprassen würden. Und es gab nicht wenige unter ihnen, die das schamlos ausnutzten und den Söldnern jede einzelne Münze aus der Tasche zogen. Das war eben der Preis der Vergnügens, der nach einem langen und harten Tag lock-te!

»Kommt herein in die Stube, Krieger!«, hörte Thorin eine nasale Stimme, während er mit Jerc eine schmale Gasse passierte, wo sich ein Wirtshaus neben dem anderen befand. Entsprechend groß war natürlich auch der Lärm, der hier herrschte. Wein und Met flossen in Strömen. Thorin blickte zur Seite und schaute in das Gesicht des Man-nes, der ihn und Jerc mit aller Gewalt als Gäste gewinnen wollte.

»Was habt ihr zu bieten, wenn wir hier einkehren?«, wollte Thorin von ihm wissen, weil die Schänke von außen einen ziemlich herunter-gekommenen Eindruck machte. Deshalb bedurfte es wohl eines Man-nes, der der Unentschlossenheit einiger Gäste noch etwas nachhalf.

»Alles, was das Herz eines Kriegers begehrt, Freund!«, versicherte ihm der andere hastig. »Wir haben guten Wein aus dem Osten des Reiches und das Fleisch ist gut hier. Und unsere Mädchen sind die schönsten von ganz Cor'can. Ihr werdet viel verpassen, wenn ihr wo-anders hingeht...«

»Was meinst du, Jerc?«, wollte Thorin von seinem Gefährten wis-sen, der im ganzen Trubel der engen Gasse etwas hilflos wirkte. »Sol-len wir der Einladung dieses aufdringlichen Burschen nun folgen oder nicht?«

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Jerc hatte nicht gleich eine Antwort parat, also sprach Thorin nun für sie beide.

»Nun gut«, meinte er mit grimmiger Miene, die den Mann ziemlich einschüchterte. »Aber wenn du gelogen hast, dann wirst du wünschen, niemals geboren worden zu sein!«

Das ließ den Mann noch eine Spur bleicher werden als er ohnehin schon war. Er murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und trat dann hastig einige Schritte zur Seite, um den neuen Gästen den Weg freizumachen. Thorin beachtete den Burschen überhaupt nicht mehr, sondern widmete sein Interesse nun der Schänke, deren Namen er noch nicht einmal kannte.

Auch wenn es noch früh am Abend war, so herrschte hier ein ziemlicher Betrieb. Thorin und Jerc mussten ihre Blicke lange schwei-fen lassen, um schließlich weiter hinten an der Hauswand noch einen freien Tisch zu entdecken. Dort ließen sie sich nieder und mussten tatsächlich nicht lange warten, bis ein junges schwarzhaariges Mäd-chen zu ihnen an den Tisch kam und Thorin anlächelte.

»Was kann ich euch bringen?«, fragte sie und warf Thorin einen Blick zu, der ziemlich eindeutig war. Jerc bemerkte das und grinste, weil Thorin darauf nicht reagierte.

»Bring uns einen Krug Wein und etwas zu essen, was unseren Hunger stillt, Mädchen«, sagte Thorin und holte drei Münzen aus sei-nem Gewand. »Eine davon gehört dir, wenn du dich beeilst!«

Das musste er dem Mädchen nicht zweimal sagen. Die Schwarz-haarige nickte nur und eilte dann in die Küche, um Thorins Wünsche so schnell wie möglich zu erfüllen. Jerc sah dem Mädchen eine Zeit lang nach, bevor er sich schließlich wieder an Thorin wandte.

»Die wäre was für Polt gewesen«, schmunzelte er. »Wenn Polt ei-ne schwarzhaarige Hexe wie die da sieht, dann kann er keinen einzi-gen klaren Gedanken mehr fassen...«

»Polt hat im Augenblick wohl andere Sorgen, Jerc«, meinte Tho-rin. »Es war schon gut, dass er im Lager geblieben ist. Er soll erst einmal wieder Kräfte sammeln. Ans Vergnügen kann er dann immer noch denken. Du kannst ihm ja erzählen, was du hier gesehen hast.«

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»Bei allen Göttern - nur das nicht!«, rief Jerc mit gespieltem Ent-setzen. »Polt wird mich eigenhändig erwürgen, wenn ich ihm von dem Mädchen erzähle. Ich werde stattdessen wie ein Grab schweigen. Was dich und mich betrifft - falls Polt danach fragt, dann sagen wir ihm einfach, dass wir hier nur unseren Hunger und Durst gestillt haben. Was wir sonst noch so gemacht haben - davon muss er ja nichts er-fahren, oder?«

Jerc ließ keinen Zweifel daran, dass er heute Nacht noch einen anderen Hunger stillen wollte als den nach Wein. Aber Thorin erwider-te nichts darauf, sondern nickte nur. Augenblicke später bekamen die beiden Männer von dem Mädchen alles aufgetischt, wonach sie ver-langt hatten.

»Nicht so schnell, hübsches Kind!«, rief ihr Jerc zu, bevor sie sich wieder abwandte. »Wie ist dein Name?«

»Finde es heraus!«, lachte die Schwarzhaarige und ließ Jerc ein-fach stehen.

»Nur nichts überstürzen«, riet ihm Thorin und machte sich dann über das Essen her. In der Tat hatte man ihm und Jerc nicht zuviel versprochen. Auch wenn die Schänke schon ziemlich alt war und die Tische und Stühle schon bessere Zeiten erlebt hatten, so konnte man sich über das Essen nicht beklagen. Das Fleisch war gut gewürzt und das Brot frisch und wohlschmeckend. Thorin stillte den Hunger in sei-nen Eingeweiden und spülte mit feurigem dunklen Rotwein nach. Da-nach war er deutlich zufriedener als gestern, wo er durch den Regen geritten und völlig durchnässt worden war.

»Bring noch einen Krug Wein!«, rief er der Schwarzhaarigen zu, als sie wieder am Tisch vorbeikam. »Bei Odan, dem Weltenzerstörer, das ist ein guter Tropfen!«

»Ein starker Krieger wie du verträgt sicher mehr als nur einen Krug«, schmunzelte das Mädchen. »Vielleicht hast du ja auch noch mehr Ausdauer als nur beim Trinken? Für drei Münzen kannst du es herausfinden...«

Das Angebot war wohl eindeutig genug, um es sofort zu verste-hen. Aber Thorin ging nicht darauf ein. Es war sein erster Abend in

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Cor'can und er wusste nicht genau, was ihn am nächsten Tag erwarte-te. Deshalb schüttelte er nur den Kopf.

»He, ich habe drei Münzen!«, meldete sich nun Jerc hastig zu Wort und kramte in seiner Tasche nach dem Geld. »Mädchen, ich be-sitze genügend Kraft, um dich alles vergessen zu lassen...«

Er legte die Münzen auf den Tisch. Das Mädchen wollte das Geld schon an sich nehmen, aber Jerc war schneller und griff nach der Hand der Schwarzhaarigen.

»Kein Lohn im voraus, hübsches Kind«, sagte er dann. »Den musst du dir erst noch verdienen. Wo ist deine Kammer?«

»Hinter der Schänke«, bekam er dann als Antwort. »Eine kleine Hütte. Warte dort auf mich. Ich werde bald dort sein.«

»Und ob ich warte!«, rief Jerc hocherfreut, weil er gar nicht ver-stehen konnte, warum Thorin so eine Gelegenheit ungenutzt hatte verstreichen lassen. Schließlich war er es doch gewesen, für den sich das Mädchen interessiert hatte. »Freund Thorin«, wandte er sich dann an den blonden Krieger. »Wie du siehst, habe ich jetzt was Wichtiges vor. Du kommst doch allein zurecht?«

»Geh nur«, antwortete Thorin. »Aber vergiss nicht, wo du hier bist. In dunklen Hinterhöfen muss man mit allem rechnen. Sieh dich vor, Jerc.«

»Natürlich werde ich das«, versicherte dieser Thorin. »Wir sehen uns dann im Lager. Ich denke, ich werde mit dem Mädchen einige Zeit zugange sein.«

Mit diesen Worten erhob er sich und verließ das Wirtshaus. Natür-lich nicht, ohne noch einmal zurückzusehen. Augenblicke später war Jerc Thorins Blicken entschwunden und der blonde Krieger blieb allein am Tisch zurück.

Schließlich entschied auch er sich, zu gehen. Er war satt und spür-te darüber hinaus auch schon den Wein, der doch etwas schwerer gewesen war als er ursprünglich angenommen hatte. Da half nur fri-sche Luft, sonst würde er womöglich noch am nächsten Morgen mit einem gewaltigen Brummschädel aufwachen! Thorin erhob sich vom Tisch, bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge in der ver-räucherten Stube und war froh, als er endlich wieder draußen war.

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Er atmete die frische Luft ein, genoss den lauen Wind, der nun aufgekommen war. Die Wärme des vergangenen Tages war zwar längst abgeflaut, aber es war nachts hier in der Ebene nicht so kalt wie oben in den Bergen. Das Stimmengewirr in der Schänke wurde leiser, als er sich von dem Haus entfernte und ein Stück der Gasse folgte.

Eine weibliche Stimme schimpfte laut und deutlich im nächsten Haus, als Thorin daran vorbeiging. Augenblicke später war von dort ein schepperndes Geräusch zu hören und im selben Moment ertönte die mürrische Stimme eines Mannes. Da war wohl ein handfester Streit im Gange!

Dutzende verschiedener Gerüche hingen in der Luft. Der Duft von Gewürzen aus dem Inneren des Landes, mit denen man hier das Essen zubereitete, mischte sich mit dem strengen Geruch von Schweiß der vielen Söldner, die sich zu dieser Stunde in der Stadt aufhielten und ihr Geld unter die Leute bringen wollten. Thorin genoss diesen Moment, während er dem Verlauf der engen Gasse folgte. Das war eben wirkli-ches Leben!

Seltsam - aber ausgerechnet jetzt musste er wieder an all das denken, was er in den Bergen erlebt hatte. Er erinnerte sich wieder an die prophezeienden Worte des einäugigen Gottes Einar, der behauptet hatte, Thorins weiterer Weg sei schon vom Schicksal vorbestimmt. Vielleicht stimmte das ja auch, aber dann war sein Schicksal der Weg eines Kriegers, der nach Ruhm und Beute strebte. Alles andere hatte Einar wohl nur gesagt, um den Nordlandwolf zu verunsichern, um ihn dann für seine eigenen Pläne zu gewinnen. Aber Thorin hatte genug davon, in die Auseinandersetzungen der Götter verstrickt zu werden.

Noch bevor er diesen Gedanken zu Ende gebracht hatte, hörte er auch schon die lauten Hilfeschreie einer Frau. Im ersten Moment zuck-te Thorin zusammen. Aber als er dann erkannte, dass die Rufe aus unmittelbarer Nähe kamen, da beschloss er einzugreifen. Er riss Stern-feuer aus der Scheide und rannte dann mit der Waffe in der Hand los. Hinüber zum Ende der Gasse und zu den Häusern, von wo die Hilfe-schreie gekommen waren.

*

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Das silberne Licht des Mondes ergoss sich über die engen Gassen von Cor'can und erhellte sie mit seinem Licht soweit, dass Thorin die bei-den vermummten Gestalten erkennen konnte, die eine Frau und ihren Begleiter eingekreist hatten und sich ihnen mit nun blitzenden Dolchen näherten. Während die Frau, deren Gesicht von einem Schleier verhüllt war, mit lauter Stimme um Hilfe schrie, versuchte ihr Begleiter den Angriff der beiden Halunken zu verhindern. Auch er hatte nun einen Dolch gezückt und wehrte sich gegen den ersten der beiden Ver-mummten.

Allerdings kam er gegen die rohen Kräfte des Gegners in keinster Weise an. Er schaffte es noch nicht einmal, den Feind abzuwehren, sondern fing sich selbst einen schmerzhaften Stich ein, der ihn laut stöhnen ließ. Diesen kurzen Augenblick nutzte der Vermummte, um dem anderen den Todesstoß zu versetzen. Die Spitze des Dolches bohrte sich bis zum Heft in den Magen des Unglücklichen, der dann zusammenbrach und schon tot war, bevor er auf dem steinigen Boden der Gasse aufschlug.

All dies war in Sekundenschnelle vonstatten gegangen, ohne dass dies Thorin hätte verhindern können. Denn der Todesstoß hatte den Begleiter der Frau bereits ereilt, bevor der blonde Krieger hatte ein-greifen können. Jetzt aber war rasches Handeln gefragt, denn der zweite Vermummte hatte die Frau schon fast erreicht.

»Halt!«, schrie Thorin so laut, dass die beiden Mörder für Sekun-denbruchteile innehielten. Weil natürlich keiner von ihnen ernsthaft damit gerechnet hatte, dass noch ein anderer Zeuge dieses Mordan-schlages wurde und sogar noch eingriff!

Diese kurze Verzögerung reichte aus, dass Thorin nun mit der Waffe in der Hand einen der Vermummten angriff. Der Mörder, der mit seiner Klinge der Frau so nahe gekommen war, dass diese schon mit ihrem Leben abgeschlossen hatte, musste nun erkennen, dass er selbst einen gefährlichen Gegner vor sich hatte. Er duckte sich im letz-ten Moment zur Seite und entging dem tödlich geführten Hieb mit der gewaltigen Klinge.

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»Töte ihn!«, schrie der andere Vermummte seinem Gefährten zu, während in seiner Stimme eine Spur von Panik anklang. Thorin konnte allerdings darauf nicht achten, denn er hatte genug mit dem anderen Halunken zu tun, der sich verbissen zu wehren versuchte.

Diese Gegenwehr hielt jedoch nicht lange an, denn der Dolch war nichts gegen die scharfe Klinge des Götterschwertes, die nun den Vermummten in der Seite traf und ihn zurücktaumeln ließ. Ein dumpfer Schrei entrang sich der Kehle des Halunken, während Thorin zu einem zweiten Hieb ausholte und das verruchte Leben des hinterhältigen Mörders von einem Atemzug zum anderen auslöschte. Er riss Stern-feuer aus der Brust des zusammenbrechenden Gegners und wirbelte herum. Blut tropfte von der Klinge, während er seine funkelnden Blicke auf den zweiten Vermummten richtete, der es jetzt so sehr mit der Angst zu tun bekam, dass er stattdessen jetzt sein einziges Heil in der Flucht suchte. Mit einem grässlichen Fluch wandte er sich hastig ab und verschwendete keinen einzigen Gedanken mehr an seinen Gefähr-ten, der sein Leben hatte lassen müssen.

»Bleib stehen, du Hund!«, rief ihm Thorin nach und rannte dann ebenfalls los. Dieser vermummte Bastard durfte ihm nicht entkommen! Er lief los, aber der andere kannte sich natürlich besser in den engen Gassen der alten Stadt aus. Thorin versuchte ihn einzuholen, aber der Bursche war flinker als ein Wiesel. Er erreichte gut zehn Mannslängen vor Thorin eine Stelle, wo die enge Gasse eine plötzliche Biegung machte. Für Sekunden entschwand die vermummte Gestalt Thorins Blicken, bis auch er schließlich keuchend die Biegung erreichte und dann zu seinem großen Erstaunen feststellen musste, dass die Straße vor ihm menschenleer war.

Erst dann entdeckte er den unscheinbaren Durchgang zwischen zwei eng nebeneinander stehenden Häusern und begriff, dass der Vermummte ihn doch noch getäuscht hatte. Thorin hörte nur noch das rasche Tappen hastiger Schritte, die sich immer weiter entfernten, während drüben an dem Platz, wo die beiden Mörder der Frau aufge-lauert hatten, aufgeregte und laute Stimmen zu vernehmen waren.

Schließlich ließ er das Schwert wieder sinken, als ihm bewusst wurde, dass der zweite Mörder doch noch im letzten Augenblick ent-

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kommen war. Er verfluchte sich selbst dafür, dass er das nicht hatte verhindern können. Aber Thorin war nun einmal ein Fremder in Cor'-can und dieser Nachteil hatte schließlich den Mörder entkommen las-sen.

Schwer waren seine Schritte, als er sich dann wieder auf den Rückweg machte. Er kam gerade in dem Moment aus der Gasse her-vor, um zu sehen, dass mittlerweile eine Handvoll Gardesoldaten auf der Bildfläche erschienen war. Zwei Lanzen richteten sich jetzt auf den Nordlandwolf, als die Soldaten die große hünenhafte Gestalt mit dem blutigen Schwert erblickten. Einer der Soldaten hatte sogar einen Bo-gen gespannt und richtete nun einen Pfeil auf Thorins Brust. Bis ihn die Stimme der Frau schließlich davon abhielt, doch noch den Pfeil auf Thorin zu schießen.

»Haltet ein, Soldaten!«, hörte Thorin die verschleierte Frau nun so laut rufen, dass es jeder der anderen Männer hören konnte. »Dieser Fremde hat mir das Leben gerettet. Ohne ihn wäre ich jetzt tot. Komm doch näher, Krieger.«

Thorin blickte sich misstrauisch um. Seltsamerweise schienen die Worte der Frau bei den Gardesoldaten große Bedeutung zu haben, denn keiner der Männer wagte es, eine Waffe auf Thorin zu richten. Ein einziger Befehl der verschleierten Frau hatte ausgereicht, um jede Feindseligkeiten gegen Thorin sofort zu unterbinden. Wer war diese Frau, deren Begleiter dem Mordanschlag zum Opfer gefallen war?

»Was zögerst du, Fremder?«, richtete die verschleierte Frau das Wort an Thorin. »Komm nur - niemand wird dich angreifen...«

In der Stimme der Frau klang eine natürliche Autorität mit an, der sich auch ein Mann wie Thorin nicht entziehen konnte. Die Frau schien sich verhältnismäßig schnell wieder gefasst zu haben. Ein erneutes Zeichen dafür, dass es sich offensichtlich um keine Frau niedriger Her-kunft handelte. Aber was hatte sie dann in diesen engen Gassen der Altstadt zu suchen gehabt?

Thorin warf einen kurzen Blick auf den Toten, der die Frau zu be-schützen versucht hatte. Sie bemerkte das und seufzte jetzt.

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»Alcan war tapfer - auch wenn er sich kaum wehren konnte. Ein treuer und verlässlicher Diener. Ich werde ihn so schnell nicht verges-sen...«

»Wer seid Ihr?«, wollte Thorin nun von der verschleierten Frau wissen. »Meint Ihr wirklich, dass dieses Stadtviertel der richtige Ort für Euch ist, um hier einen nächtlichen Spaziergang zu unternehmen? Bei Thunor, dem Donnerer - Ihr hättet tot sein können, wisst Ihr das ei-gentlich?«

»Halte dein vorlautes Mundwerk, Barbar!«, fuhr ihn einer der Gar-desoldaten mit strenger Stimme an. »Du unwissender Kerl weißt wohl nicht, wen du vor dir hast, wie? Verneige dich gefälligst vor Prinzessin Dania, der Schwester unseres Königs Keron!«

Thorin war jetzt sichtlich überrascht, als er das hörte. Und er wur-de es noch um so mehr, als die Frau nun ihren Schleier lüftete und Thorin in ein ebenmäßiges Gesicht mit großen grünen Augen blickte, das von einer Flut roter Haare umrahmt wurde.

»Selbst eine Prinzessin kann sich manchmal leichtsinnig beneh-men«, erwiderte Thorin und erntete dafür einen vernichtenden Blick des Soldaten, den Thorins Respektlosigkeit fast bis zur Weißglut trieb.

»Es ist in Ordnung«, ergriff nun die rothaarige Frau das Wort. »Die Götter und du haben das Schlimmste verhindern können. Ich schulde dir Dank, Fremder. Wie ist dein Name? Du bist doch nicht aus Kh'an Sor?«

»Ich heiße Thorin«, erwiderte dieser. »Meine Heimat sind die Eis-länder im fernen Norden. Ich kam nach Cor'can, um als Söldner gegen Samara zu kämpfen. Dies ist meine erste Nacht in der Stadt und sie verlief alles andere als ruhig...« Er brach ab und ging dann zu der Stel-le, wo der vermummte Mörder lag, den er im Zweikampf besiegt hatte. Er kniete nieder und riss dem Toten dann das Tuch herunter, mit dem dieser sein Gesicht zu verbergen versucht hatte.

Prinzessin Dania schrie erschrocken auf, als sie einen kurzen Blick in das verzerrte Gesicht des Toten warf. Ungläubig sah sie dann zu Thorin und den übrigen Gardesoldaten, die nun auch näher gekommen waren und mit angesehen hatten, was Thorin getan hatte.

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»Unfassbar«, stieß sie dann heftig hervor. »Ich kenne diesen Mann. Er ist einer unserer Knechte. Was hat das nur zu bedeuten?«

»Das weiß ich nicht, Prinzessin«, erwiderte Thorin. »Aber ich den-ke, dass Ihr vielleicht nicht nur Freunde in eurem Palast habt. Wer weiß, wer der andere Halunke war, der mir leider entkommen ist?«

Die rothaarige Dania begriff, was Thorin damit hatte sagen wollen. Sie überlegte einen kurzen Moment, bevor sie wieder das Wort ergriff.

»Keron muss davon erfahren, was hier geschehen ist«, sagte sie. »Wenn es einen Verräter gibt, so werden wir ihn finden...« Dann wandte sie sich an die Soldaten. »Bringt den treuen Alcan zurück und ebenso diesen verruchten Mörder hier.«

Die Soldaten führten den Befehl der Prinzessin sofort aus. Wäh-rend die beiden Toten weggetragen wurden, sah Dania zu dem blon-den Krieger und ging einen Schritt auf ihn zu. So nahe, dass Thorin ihr Parfüm roch.

Diese schlanke grazile Prinzessin schlug Thorin irgendwie in ihren Bann - auch wenn er es jetzt niemals zugegeben hätte.

»Hab nochmals Dank für deine Hilfe, Thorin«, sagte sie zu ihm und berührte seine kräftige Schulter kurz mit ihrer linken Hand. Dann wandte sie sich rasch ab und ging zu den Soldaten, die sie nun sicher in den Palast zurückbringen würden.

Thorin blickte ihr noch so lange nach, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Dann machte auch er sich auf den Rückweg zum Zeltlager der Truppen. Für heute hatte er wirklich genug Aufregung hinter sich!

*

»Was ist eigentlich mit Jerc los, Thorin?«, erkundigte sich der kleine Polt bei dem blonden Krieger. »Er wirkt heute morgen so seltsam mür-risch. Habt ihr beide vielleicht doch mehr als nur einen Krug Rotwein geleert?«

»Frag ihn doch selbst«, riet ihm Thorin, der sich im stillen darüber amüsierte, dass Jerc an diesem Morgen wirklich ziemlich erschöpft aussah. Er hatte dunkle Ringe um seine Augen und hätte sogar das schmetternde Fanfarensignal überhört, das jeden Morgen im Lager der

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Söldner ertönte. Wahrscheinlich hatte er sich in der letzten Nacht stark verausgabt und war deswegen missgelaunt, weil er nur wenig Schlaf gefunden hatte.

Das Söldnerlager erwachte langsam. Schallende Befehle ertönten zwischen den Zelten. Männer machten sich bereit für die Aufgaben, die sie heute erwarteten. Garküchen verbreiteten wenig anlockende Gerü-che, aber das Essen schmeckte dann doch halbwegs gut, wie Thorin sich selbst davon überzeugen konnte. Schließlich war es wichtig, dass eine Armee gut verpflegt wurde - um so besser konnte sie dann auch kämpfen, wenn es hart auf hart ging.

Polt machte an diesem Morgen einen weitaus besseren Eindruck als gestern. Der Wundarzt hatte sich um seine Verletzung gekümmert und der Schlaf hatte viel dazu beigetragen, dass der kleine Söldner sich allmählich auf dem Weg der Besserung befand. Vielleicht noch ein, zwei Tage - dann würden seine Kräfte wieder soweit hergestellt sein, dass er voll einsatzfähig war.

»Es geht das Gerücht herum, dass es schon in den nächsten Ta-gen nach Samara geht«, meinte ein dunkelhäutiger Hyrkenier, der in der Nähe von Thorin, Jerc und Polt saß und seine Mahlzeit hastig hi-nunterschlang. »Wisst ihr was davon?«

»Geredet wird manchmal viel«, erwiderte Thorin, schüttelte dann aber den Kopf. »Wir wissen aber auch nicht mehr. Sie werden es uns schon sagen, wann es soweit ist.«

»Wart ihr schon einmal in Samara?«, wollte der Hyrkenier wissen. »Ich meine, bevor König Keron dem Fürstentum den Krieg erklärte?«

»Das ist aber Jahre her«, meinte Jerc daraufhin. »Genau kann ich mich daran schon gar nicht mehr erinnern. Ich weiß nur, dass es ein langer und harter Weg bis nach Samara ist...«

»Die Todeswüste von Esh wird so manches Opfer verlangen«, sin-nierte der dunkelhäutige Krieger daraufhin. »Ich habe schon zu den Göttern mehr als einmal gebetet, dass auf dem langen Marsch nach Samara die wenigen Quellen genügend Wasser haben. Sonst ist der Feldzug schon beendet, bevor er richtig begonnen hat...«

Thorin hörte schweigend zu, über was Jerc und der Hyrkenier sprachen. In solchen Augenblicken wie diesen wurde, ihm wieder ein-

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mal so richtig bewusst, dass er im Grunde genommen gar nichts über Kh'an Sor wusste.

Weder über das Land noch über sein Volk und warum es über-haupt in den Krieg gegen Samara zog. Aber eigentlich hatte das einen Söldner nicht zu interessieren. Er kämpfte für Gold und Silbermünzen und für die Beute, die man ihm im Falle eines Sieges versprach...

Der kleine Polt wollte gerade etwas sagen, brach dann aber ab, als sein Blick zufällig auf die Tore der Stadt fiel, die sich jetzt öffneten.

»Seht doch mal!«, rief er dann seinen Gefährten zu und wies auf-geregt auf die Gardesoldaten in ihren blitzenden Rüstungen, die sich nun dem Zeltlager näherten. »Sie kommen direkt hierher! Jerc, wenn sie dich sehen, dann werden sie glauben, dass du dem Tod um Haa-resbreite entkommen bist...« Er lachte, als er sah, wie der noch etwas blass wirkende Jerc einen kräftigen Fluch ausstieß und Polt einen ver-nichtenden Blick zuwarf.

Inzwischen hatten die Gardesoldaten auch schon das Zeltlager er-reicht. Thorin bemerkte, dass die Soldaten direkt auf das Zelt zuhiel-ten, in dem Helkor, der Ausbilder dieser Schwadron, schlief. Einer der Soldaten verschwand im Inneren, nur um wenige Augenblicke später wieder herauszukommen. Helkor war jetzt an seiner Seite und er schaute genau hinüber zu der Stelle, an der Thorin und seine Gefähr-ten die letzten Reste ihrer Mahlzeit hinunterschlangen.

»Thorin!«, erschallte dann Helkors laute und kräftige Stimme. »Steh auf und komm herüber. Nun mach schon!«

Erstaunt blickte der blonde Krieger auf, denn er war genauso ü-berrascht jetzt wie Jerc und Polt.

»Verdammt, hast du nicht gehört, was ich befohlen habe?«, er-mahnte ihn die ungeduldige Stimme des barschen Ausbilders. »Der allmächtige König Keron will dich sehen. Lass alles stehen und liegen und beeil dich - und vermeide, dass der König ungeduldig wird!«

»Sag mal, was hast du denn eigentlich angestellt, nachdem ich dich im Wirtshaus zurückließ?«, wollte Jerc von Thorin wissen. »Ich dachte, du wolltest wieder zurück ins Lager gehen und...«

»Moment mal!«, fiel ihm der kleine Polt nun ins Wort. »Gerade eben hast du doch noch behauptet, dass ihr beide zusammen im

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Wirtshaus wart. Also hast du doch gelogen, du hinterhältiger Schwind-ler!«

Thorin blieb keine Zeit mehr, den beiden Gefährten zu erklären, was sich in der vergangenen Nacht alles ereignet hatte. Jerc war oh-nehin noch zu müde gewesen, um sich dafür zu interessieren und mit Polt hatte er nur wenige Worte gewechselt. Deshalb erhob er sich rasch, griff nach Sternfeuer und schnallte sich dann die mächtige Klin-ge mit der Scheide um, bevor er zu Helkor und den Gardesoldaten ging.

»Der König erwartet dich«, sagte nun einer der zehn Soldaten zu Thorin. Der blonde Krieger glaubte sich daran zu erinnern, dass er dieses Gesicht schon einmal in der letzten Nacht gesehen hatte. Wahr-scheinlich war er einer der Männer gewesen, die die Prinzessin zurück in den Palast gebracht hatten.

Mehr sagte er aber nicht mehr, sondern deutete dem Nordland-wolf nur an, ihm zu folgen. Die Gardesoldaten nahmen Thorin dann in ihre Mitte und marschierten in Richtung Stadttor.

Keiner der Soldaten wechselte ein Wort mit Thorin. Das gab dem blonden Krieger Zeit, sich auf das vorzubereiten, was ihn jetzt erwarte-te. Und er hoffte natürlich im stillen darauf, die rothaarige Prinzessin wieder zu sehen. Bestimmt war das so, denn der König konnte ihn nur deshalb zu sich befohlen haben, weil ihm seine hübsche Schwester von dem Mordanschlag berichtet hatte, dem sie beinahe zum Opfer gefallen war.

Egal - er würde es schon bald erfahren und dann auch wissen, ob ihm der König als Dank für sein Eingreifen eine Belohnung zahlte. Sol-chen Dingen war Thorin nämlich nie abgeneigt. Aber mindestens ge-nauso brennend interessierte es ihn, ob man zwischenzeitlich vielleicht schon herausgefunden hatte, wer der zweite Vermummte gewesen war, der Thorin hatte entkommen können...

*

Thorin fühlte zahlreiche Augenpaare auf sich gerichtet, als er zusam-men mit den Gardesoldaten das Stadttor durchschritt und dann auf

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den Königspalast zuhielt, dessen Größe ihm jetzt erst so richtig auffiel. Denn als er in der vergangenen Nacht die Stadt betreten hatte, da war sein Ziel eines der zahlreichen Wirtshäuser gewesen. Dieses Viertel lag allerdings weiter westlich der gepflasterten Straße, der Thorin nun folgte. Sie führte in einen Bezirk der Stadt, in dem etwas größere Ge-bäude errichtet waren, die wohl darauf schließen ließen, dass sich Cor'can zumindest in dieser Hinsicht von anderen Städten gar nicht so sehr unterscheidet - denn auch hier gab es die Gegensätze zwischen Reich und Arm.

Der Palast des Herrschers selbst war ganz aus rotem Sandstein gebaut und schien schon seit Ewigkeiten hier zu stehen. Es war ein Gebäude mit wuchtigen Türmen und Zinnen, das unerstürmbar wirkte. Den Hauptzugang bildete ein großes schmiedeeisernes Tor, das natür-lich genauso streng bewacht wurde wie auch schon die Straße, der Thorin gefolgt war. Wer zum König vorstoßen wollte, der musste erst einmal eine Reihe von gründlichen Kontrollen hinter sich bringen.

Das traf jedoch nicht auf den Nordlandwolf zu. Die Soldaten machten der Eskorte sofort Platz und ließen sie passieren. Augenblicke später hatten sie das Hauptportal durchschritten und befanden sich nun im Inneren des Palasthofes. Thorin war überrascht von den vielen Pflanzen, die hier wuchsen und einen Springbrunnen umsäumten, der sofort ins Auge stach. Wahrscheinlich war Prinzessin Dania hierfür ver-antwortlich.

Lange konnte er sich an diesem Anblick jedoch nicht erfreuen, denn schon hieß es weitergehen. Thorin folgte den Soldaten in das gegenüberliegende große Gebäude und kam über zahlreiche Treppen-stufen schließlich in die oberen Räume des Palastes. Über einen schier endlosen Gang erreichten er und die Soldaten schließlich eine schwere Tür aus massivem Stahl, vor der zwei mit großen Lanzen bewaffnete Gardesoldaten standen und erst dann reagierten, als einer der anderen Gardisten kurz einige Worte mit ihnen wechselte.

»Dein Schwert!«, verlangte der Soldat dann von Thorin und blick-te missbilligend auf die gewaltige Klinge, die in der Scheide auf Tho-rins breitem Rücken ruhte. »Gib es heraus und lass es hier, bevor du den Thronsaal betrittst.«

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»Nein!«, erwiderte Thorin heftig. »Ich komme als Söldner hierher - nicht als Gefangener. Wenn du mein Schwert haben willst, so musst du es dir holen!«

Auch wenn sich mehr als zehn Soldaten in seiner unmittelbaren Nähe aufhielten, so schien Thorin doch fest entschlossen zu sein, es darauf ankommen zu lassen. Der Soldat erinnerte sich in diesem Mo-ment wieder daran, was in der vergangenen Nacht geschehen war und nickte schließlich - auch wenn es ihm noch so schwer fiel.

»Gut - aber sieh dich vor. Wir sind ständig in der Nähe, um den Herrscher zu beschützen. Vergiss das nicht, wenn du jetzt hinein-gehst.«

Thorin nickte nur, während einer der Soldaten dann die schwere Tür öffnete und ihn mit einer stummen Geste aufforderte, einzutreten.

Augenblicke später stand Thorin in einem gewaltigen Saal, der je-den einfachen Menschen sofort als winzig hätte erscheinen lassen. Der Fußboden schimmerte und spiegelte das Licht der brennenden Fackeln wider, die an eisernen Halterungen in den Wänden hingen. Die Decke war aus massivem, kunstvoll geschnitztem Holz gebaut. Aber das, was sofort ins Auge stach, war der mächtige Thron am anderen Ende des Saales, auf dem ein Mann saß, der Thorin nun mit einer eindeutigen Geste zu verstehen gab, näher zu kommen.

»Komm zu uns, Krieger!«, hörte Thorin nun eine Stimme, die er sofort wieder erkannt hätte. Erst dann sah er die rothaarige Prinzessin, die sich etwas im Hintergrund gehalten hatte und die ihm bei seinem Eintreten deshalb nicht aufgefallen war. König Keron dagegen war ein Mann, den man einfach nicht übersehen konnte. Er war ein mächtiger Hüne, der wie ein Fels in der Brandung auf seinem Thron saß. Ein Mann von Thorins Größe und mindestens genauso breitschultrig. Er war noch jung für einen so mächtigen Herrscher, hatte schwarze Haa-re, die ein bärtiges ernstes Gesicht umrahmten. Die Kleidung und die Insignien, die er trug, hätten vom Wert her ausgereicht, um die Hälfte der Bevölkerung des Hochlandes von Andustan nie wieder hungern zu lassen.

Thorin hatte jetzt den Fuß des Thrones erreicht und verneigte sich kurz und stumm vor dem König und seiner Schwester. Auch wenn er

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ein stolzer Mann war, der sich so leicht nicht verbeugte, so tat er es doch aus Respekt vor dem König.

»Du bist also der Mann, der Dania das Leben gerettet hat!«, sagte König Keron nun zu dem blonden Krieger. »Offen gestanden war ich schon sehr neugierig darauf, dich zu sehen. Denn wenn ich den Wor-ten meiner Schwester Glauben schenken soll, dann war der Mann, der den Mordanschlag vereitelt hat, ein Krieger, wie es ihn bisher in Kh'an Sor noch nicht gegeben hat. Nun, ich muss zugeben, dass an ihren Worten durchaus etwas dran ist...«

Er lächelte Dania zu, die jetzt natürlich heftig errötete und die Au-gen niederschlug.

»Ich habe nur das getan, was jeder unternommen hätte, König«, ergriff Thorin nun das Wort. »Die Prinzessin war in Not und ich hielt mich zufällig in der Nähe auf - das war alles.«

»Deine Bescheidenheit ehrt dich, Thorin - das ist doch dein Name, oder?«, fuhr der Keron nun fort und sah, wie der blonde Krieger kurz nickte. »Ich habe Erkundigungen über dich einziehen lassen. Du bist gestern erst nach Cor'can gekommen. Weshalb willst du mit uns in den Krieg ziehen? Du bist doch ein Fremder - ein Mann, der von weither kommen muss. Dein Dialekt verrät dich - du bist aus dem fernen Nor-den.«

»Aus den Eisländern«, bestätigte Thorin mit einem kurzen Nicken. »Aber meine Heimat habe ich schon vor langer Zeit verlassen. Seitdem bin ich immer weiter nach Süden gezogen. Auf der anderen Seite der Berge hörte ich dann, dass Ihr einen Feldzug plant und dafür Söldner sucht, König. Deshalb bin ich hier - um für einen guten Lohn zu kämp-fen.«

»Mit dieser Waffe dort wird dir das auch gelingen«, meinte Keron, dem die mächtige Klinge natürlich schon bei Thorins Eintreten aufge-fallen war. »Es ist ein prächtiges, scharfes Schwert, Thorin. Dania sag-te, dass du gut damit umgehen kannst.«

»Ich habe damit so manchen Gegner besiegt«, erwiderte Thorin knapp, denn er wollte nicht über Sternfeuers eigentliche Herkunft re-den. Erstens hätte ihm Keron das womöglich gar nicht geglaubt und zweitens hätte es Thorin auch wieder daran erinnert, dass es irgendwo

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tief in seinem Inneren noch einige Zweifel darüber gab, ob Einar nicht doch recht gehabt hatte mit seiner Prophezeiung über Thorins weite-res Schicksal.

»Ich glaube dir«, sagte Keron. »Und deshalb will ich dich beloh-nen. Für deinen Mut und dein rasches Eingreifen ernenne ich dich hiermit zum Hauptmann einer Legion Krieger. Du wirst sie nach Sama-ra zum Erfolg führen. Und sobald Fürst Dions Reich zerstört ist, sollst du keine Sorgen mehr haben. Kämpfe für Kh'an Sor, Thorin - du wirst es ganz bestimmt nicht bereuen.«

»Euer Vertrauen ehrt mich, König«, erwiderte der Nordlandwolf. »Trotzdem mache ich mir noch Gedanken über das, was gestern Nacht geschehen ist. Der zweite Mörder ist ja entkommen - und vielleicht hat er es immer noch auf das Leben der Prinzessin abgesehen. Habt Ihr inzwischen etwas herausfinden können?«

»Bis jetzt noch nicht«, gestand der König ein. »Aber wir werden diesen Hund gewiss noch stellen - und dann wird er einen grausamen Tod sterben, weil er es gewagt hat, ein Mitglied der Königlichen Fami-lie zu überfallen.«

»Du solltest alle Bediensteten verhören lassen, Keron«, meldete sich nun Prinzessin Dania zu Wort. »Aber dein Herz beschäftigt sich wohl mehr mit dem bevorstehenden Feldzug als mit einer Gefahr, die noch nicht endgültig gebannt ist...«

»Wenn es um einen glorreichen Krieg geht, dann ist alles andere von zweitrangiger Bedeutung!«, erklang nun auf einmal eine tiefe Stimme. Das geschah so plötzlich, dass Dania unwillkürlich zusammen-zuckte. Auch Thorin drehte sich nun um und sah einen hageren, in dunkle Gewänder gekleideten Mann, der auf seinem grauhaarigen Haupt einen schmuckvollen Turban trag und dessen Gesichtsfarbe unnatürlich bleich war. Er hatte so lautlos den Thronsaal betreten, dass es keiner der Anwesenden bemerkt hatte.

»Loon, mein Freund - kommt doch näher!«, rief ihm nun König Keron zu und winkte ihn herbei. »Ihr kommt gerade rechtzeitig, um Zeuge zu werden, wie ich einem überaus tapferen und entschlossenen Söldner den Rang eines Hauptmanns verleihe.«

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Während Dania sichtlich enttäuscht dreinblickte, weil ihr Bruder nun einfach auf etwas anderes zu sprechen kam, spürte Thorin die prüfenden Blicke des dunkelgekleideten Mannes auf sich gerichtet, den Keron mit Loon angesprochen hatte. Es waren unangenehme, fast kalte leblose Augen, die einen Atemzug zu lange auf Thorin haften blieben.

»Ich sehe nur, dass dieser Barbar eine Waffe im Thronsaal trägt«, erwiderte Loon. »Er ist ein Fremder, dessen Heimat nicht Kh'an Sor ist. Vertraut keinem Fremden, König - Ihr wisst doch, wohin das geführt hat...«

Seine Worte verwandelten die anfängliche Gelassenheit und Of-fenherzigkeit des Königs in eine Mischung aus Zurückhaltung und Un-sicherheit. Er zögerte ein wenig, bevor er darauf etwas erwiderte.

»Dieser Krieger hat meiner Schwester Dania das Leben gerettet, Loon«, klärte ihn Keron auf. »Falls Ihr es noch nicht erfahren haben solltet - gestern Nacht wurde sie beinahe Opfer eines gefährlichen Überfalls.«

»Man trug mir so etwas zu, mein König«, erwiderte Loon. »Ver-zeiht, dass ich nicht eher gekommen bin - aber ich wollte die Nacht in Zwiesprache mit dem mächtigen Baa'Lan verbringen. Ich habe seinen Beistand in unserem bevorstehenden Kampf gegen Samara erfleht. Wir werden ihn gebrauchen können, denn die Armee von Fürst Dion ist stark.«

»Um so entschlossener sind unsere Truppen«, hielt ihm Keron daraufhin entgegen. »Und wir werden siegen, das weiß ich. Es ist ganz sicher auch Baa'Lans Wille.«

»Natürlich habt Ihr recht, mein König«, sagte Loon daraufhin und blickte anschließend zu der rothaarigen Schwester Kerons. »Und was Euch betrifft, Dania - so waren es wohl nur zwei Pferdeknechte, die Euch den Schmuck rauben wollten. Es war sehr leichtsinnig von Euch, dieses Stadtviertel zu dieser späten Stunde aufzusuchen - selbst wenn Euer Diener Euch begleitete. Den Überfall hat er ja auch nicht verhin-dern können, oder?«

»Ich war nicht im Kaschemmenviertel, wenn Ihr das meint, Loon«, antwortete Dania in vorwurfsvollem Ton. »Ich besuchte nur die Toch-

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ter des Kaufmanns Amend und war schon auf dem Rückweg zum Pa-last, als es geschah. Und das war geplant, sage ich Euch. Jemand steckt dahinter, der noch ganz andere Dinge im Schilde führt. Jemand, der genau weiß, was er will!«

Die Art und Weise, wie sie das sagte, ließen keinen Zweifel daran, dass sie Loon offensichtlich nicht mochte. Thorin war zwar erst wenige Augenblicke im Thronsaal, aber auch er spürte etwas von der Feindse-ligkeit, die sich zwischen Dania und dem bleichen Mann aufgebaut hatte. Im Gegensatz zu König Keron, der Loon mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Respekt betrachtete und dann seine Schwester mit ei-nem kurzen Wink zum Schweigen brachte.

»Es ist genug, Dania!«, wies er sie zurecht. »Geh jetzt und lass mich mit Loon allein. Ich habe noch sehr viel mit ihm zu besprechen, bevor die Armee nach Samara aufbricht. Und was dich betrifft, Haupt-mann Thorin - die Götter mögen mit dir sein. Erobere die Stadt Sama-ra - und der Ruhm wird dir gewiss sein. Du kannst jetzt gehen!«

Damit war alles gesagt. Thorin musste sich nun zurückziehen - auch wenn er gerne gewusst hätte, was dieser Loon mit König Keron zu besprechen hatte. Denn auch Thorin spürte eine seltsame Abnei-gung gegen den hageren Mann, die er sich einfach nicht erklären konnte. Seit Loon den Thronsaal betreten hatte, lastete eine eigenartig düstere und kalte Aura in dem großen Raum. Oder bildete sich das Thorin vielleicht doch nur ein, weil ihm Loon so unheimlich vorkam? Er würde es wohl nicht herausfinden, denn er war hier, um als Söldner gegen Samara zu kämpfen und nicht zu ergründen, welche Rolle Loon hier in Cor'can spielte.

So verneigte er sich nochmals kurz vor Keron und seiner Schwes-ter und drehte sich dann um. Er verließ den Thronsaal, ohne sich noch einmal umzusehen. Vielleicht wäre es gut gewesen, wenn er das doch getan hätte. Denn so hätte er vielleicht die blitzenden Augen des dun-kelgekleideten Loon gesehen, die Thorin einen Moment zu lange nach-blickten.

*

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Er hatte bereits schon das Ende des langen Ganges erreicht, wo es hinunter in die ebenerdigen Räume des Palastes ging, als ihn plötzlich eine Stimme innehalten ließ.

»Thorin!« Der Nordlandwolf drehte sich um und sah eine aschblonde Frau,

die nun auf ihn und die Soldaten zukam, die ihn aus dem Palast gelei-ten sollten. Deshalb blieb er stehen und deutete den Gardisten an, zu warten. Sie nickten nur, denn auch sie wussten, dass König Keron ihn höchstpersönlich zum Hauptmann befördert hatte und er demzufolge im Rang noch über ihnen stand.

»Folge mir«, murmelte die Frau zu ihm. »Es ist wichtig...« Thorin begriff zwar nicht, was das alles zu bedeuten hatte, aber

eine innere Stimme riet ihm, mit der Frau zu gehen. »Ich bringe den Krieger selbst hinaus«, sagte die Frau zu den Sol-

daten und zu Thorins Erstaunen schienen die damit einverstanden zu sein. Also ein Zeichen dafür, dass diese Frau hier zumindest etwas zu sagen hatte.

»Ich bin Prinzessin Danias Zofe«, klärte sie dann den Nordland-wolf auf, während sie voran ging und eine Tür öffnete, die in einen weiteren Gang führte, der parallel zu dem Hauptgang verlief, auf dem Thorin entlanggekommen war. »Sie ist es auch, die unbedingt mit dir sprechen möchte. Ich bringe dich nun zu ihr...«

Das war also des Rätsels Lösung. Wenn das so war, dann hatte Thorin natürlich nichts dagegen, seine Rückkehr ins Zeltlager der Söldner noch ein wenig hinauszuzögern. Vor allen Dingen deshalb, weil er jetzt wohl eine Gelegenheit bekam, mit Dania allein zu reden. Gleich würde er es wissen.

»Dort befinden sich die Räume der Prinzessin«, sagte die Zofe und wies auf zwei Türen weiter links am Ende des Ganges. »Geh nur hinein - ich werde hier solange warten und aufpassen...«

Sie wirkte seltsam nervös, aber darum kümmerte sich Thorin nicht mehr. Er tat das, was sie ihm gesagt hatte und ging auf die erste Tür zu, öffnete sie und trat dann ein. Augenblicke später stand er dann der Prinzessin gegenüber, die sehr erleichtert dreinblickte, als sie ihn sah.

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»Den Göttern sei Dank, dass du gekommen bist, Thorin«, sagte sie zu ihm. »Hat Cula auch darauf geachtet, dass euch beide niemand gesehen hat?«

»Prinzessin, ich verstehe nicht recht, was Ihr damit sagen wollt«, meinte Thorin. »Ihr müsst schon etwas deutlicher werden und mir genau sagen, warum Ihr so geheimnisvoll tut.«

»Verzeih«, murmelte Dania und strich sich eine Strähne ihres wi-derspenstigen roten Haares aus der Stirn. »Ich wollte mit dir noch einmal in Ruhe sprechen, ohne dass... Loon etwas davon weiß. Ich muss einfach mit jemandem über alles reden und nachdem du mir das Leben gerettet hast, dachte ich, dass du vielleicht...« Sie brach ab und suchte nach den passenden Worten, um fortzufahren was ihr aber zumindest jetzt nicht so recht gelingen wollte.

»Was geht hier eigentlich vor?«, wollte Thorin nun wissen. »Prin-zessin, bestimmt geht es mich nichts an, welche Ränke und Intrigen innerhalb des Palastes geschmiedet werden. Ich bin nur ein einfacher Krieger, der das Glück hatte, von Eurem Bruder zum Hauptmann be-fördert zu werden. Ich werde ihn deshalb nicht hintergehen - das sage ich nur, damit Ihr wisst, dass ich treu zum König stehen werde.«

»Dies kannst du am besten tun, wenn du mir jetzt einfach zu-hörst«, bat sie ihn. »Es geht nämlich um meinen Bruder. Keron ist nicht mehr derjenige, der er mal gewesen ist. Alles hat sich geändert, seit Loon nach Cor'can kam. Er übt einen schlechten Einfluss auf Keron aus und es wird mit jedem Tag immer schlimmer. Jetzt hat er sogar Keron überzeugt, dass dieser Mordanschlag auf mich nur von zwei Hungerleidern ausgeübt wurde. Aber das ist falsch - und ich denke, du spürst das auch, Thorin. Du warst doch dabei, als es geschah. Alles wurde doch von langer Hand geplant - und ohne dich wäre ich jetzt tot. Willst du mir glauben, wenn ich jetzt sage, dass ich große Angst um den König habe?«

»Wer ist dieser Loon eigentlich?«, fragte nun Thorin. »Ist er der Berater des Königs, oder welche Aufgaben führt er sonst noch aus?«

»Er kam als Heiler und Schriftgelehrter nach Cor'can, um Keron zu helfen, der vor einem Jahr an einer schlimmen Krankheit litt, die ihn fast ausgezehrt hatte. Keiner unserer Ärzte kannte ein Mittel gegen

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dieses heimtückische Fieber, das ihn befallen hatte. Wir rechneten damit, dass er stirbt - aber dann kam plötzlich Loon nach Cor'can und schaffte es, alle von seiner Heilkraft zu überzeugen. Das Fieber hatte damals auch in der Stadt gewütet und etliche Menschenleben gefor-dert. Er heilte viele Kranke und auch meinen Bruder. Seitdem ist er hier in der Stadt und wurde von Keron zu seinem persönlichen Berater ernannt. Es ist wahr, dass Loon ihn den Fängen des Todes entrissen hat - aber Keron hat sich seitdem irgendwie verändert. Auf mich hört er kaum noch, auf Loons Ratschläge dagegen um so mehr.«

»Dazu ist er wohl auch der Berater des Königs«, hielt ihr Thorin entgegen, da er noch nicht so recht wusste, was er von dieser ganzen Geschichte eigentlich halten sollte. »Aber er macht schon einen eigen-artigen Eindruck auf jeden, der ihn zum ersten mal sieht. Ein düsterer Mensch - aber wenn er dem König trotzdem gut zur Seite steht, sind solche Äußerlichkeiten unwichtig, oder?«

»Thorin, es geht hier etwas vor, das eine Gefahr für ganz Kh'an Sor darstellt!«, entfuhr es nun Dania, als sie sah, dass ihr Thorin nicht glauben wollte. »Erst seit Loon in Kh'an Sor ist, sind diese Streitigkei-ten mit dem Fürstentum Samara aufgetreten. Vorher lebten wir alle in Frieden miteinander, aber dann gab es plötzlich einige Grenzzwischen-fälle, die dazu führten, dass den Menschen aus Samara die Einreise nach Kh'an Sor verweigert wurde. Keron ließ die Grenze abriegeln und daraufhin begannen die ersten Überfälle von samarischen Truppen. Es hat viele Tote gegeben und deshalb will Keron mit diesem Feldzug die Sache ein für allemal beenden. Aber ich denke dennoch, dass man eine friedliche Lösung hätte finden können. Du lebst nicht in diesem Land und weißt zu wenig über seine Bewohner. Aber ich versichere dir, dass dieser Krieg ebenfalls nicht zufällig kommt. Ich will nicht, dass Kh'an Sor diesem Krieg zum Opfer fällt. Denn wenn es Keron nicht gelingen sollte, den ersten Schlag siegreich zu führen, dann wird Fürst Dion seine Truppen losschicken. Auch er war einmal ein Mann des Friedens und er sagte von sich einmal, dass er ein Freund unserer Fa-milie sei. Aber das war zu einer Zeit, als mein Vater noch über Kh'an Sor regierte. Jetzt sind Keron und Dion Todfeinde - und keiner weiß mehr, warum es überhaupt soweit gekommen ist.«

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»Und was kann ich tun, Prinzessin?«, fragte Thorin. »Vergesst nicht, ich bin ein Krieger, der fremd in diesem Land ist. Zwar bin ich nun Hauptmann geworden - aber ich kann keine Reiche neu entstehen oder versinken lassen.«

»Alles, um was ich dich bitte, ist, dass du ein Auge auf Keron hast, wenn er in den Krieg zieht«, antwortete Dania. »Denn Loon wird ihn begleiten und immer in seiner Nähe sein. Es würde mich beruhigen, wenn ich weiß, dass es wenigstens einen Menschen gibt, dem ich ver-trauen kann.«

»Wenn es Euch beruhigt, dann will ich das gerne tun«, versicherte ihr Thorin. »Sollte es wirklich so sein, wie ihr behauptet, dann bin ich zur Stelle, um dem König beizustehen.«

»Dafür danke ich dir, Thorin«, sagte Dania mit sichtlicher Erleich-terung. »Ich wünschte, ich könnte an der Seite Kerons sein, aber er würde es nie zulassen, dass ich ihn auf diesem Feldzug begleite.«

»Womit er ganz recht hat«, nickte Thorin. »Der Krieg ist immer eine hässliche Sache und nichts für Frauen, Prinzessin. Ihr helft dem König am besten hier in Cor'can.«

»Ich will nur das Beste für ihn und unser Volk«, sagte Dania. »Und jetzt gehst du besser wieder - ich will nicht, dass jemand Zeuge dieses Gespräches wird.«

»Wenn dieser Feldzug vorbei ist, werde ich wieder hier in Cor'can sein, Prinzessin«, kam es über Thorins Lippen, als er sich zum Gehen wandte. Sie hob nur noch kurz die rechte Hand und Thorin sah den funkelnden Ring an ihrem Finger, in dem das Licht der Sonne glitzerte, das durch das dahinter liegende Fenster fiel. Dann verließ er rasch wieder die Kammer der Prinzessin. Obwohl er gerne noch länger geblieben wäre. Aber Dania war zu besorgt um ihren Bruder, so dass sie in Thorin nur einen Vertrauten und zu seinem großen Bedauern nichts anderes sah.

*

Draußen wartete Danias Zofe schon mit spürbarer Ungeduld auf Tho-rins Rückkehr. Als er die Tür hinter sich schloss, winkte ihm die Frau

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schon hastig zu und deutete ihm an, sich zu beeilen. Jetzt, wo Thorin wusste, was das alles zu bedeuten hatte, beschleunigte er seine Schritte und folgte Danias Zofe. Die beiden verließen auf unbeobachte-ten Wegen den Teil des Palastes, in dem die Prinzessin lebte und er-reichten somit schließlich den Innenhof, wo sich Cula schnell von dem Nordlandwolf verabschiedete.

Thorin sah ihr nur noch kurz nach, denn nun hatte er es eilig, wieder zurück ins Lager der Söldner zu kommen. Jerc und Polt würden staunen, wenn sie erst erfuhren, was er ihnen alles zu berichten hatte. Als einfacher Söldner hatte er den Palast betreten, als Hauptmann einer Legion würde er wieder zurückkehren.

Er hatte das Tor schon fast erreicht, das zur Stadt führte, als er auf einmal Hufschläge vernahm. Nur wenige Sekunden später sah er einen Reiter die schmale Straße hinaufkommen, der soeben die ersten Wachen passiert hatte und sich dann dem eigentlichen Palast näherte. Die Soldaten ließen ihn ohne jegliche Kontrollen passieren und Thorin sah dann auch, warum das so war. Denn er kannte den Mann in der blitzenden Rüstung der Gardesoldaten. Thorin war schon einmal im Söldnerlager mit ihm zusammengestoßen und hatte sich schon die ganze Zeit über gewundert, weshalb er ihm hier im Palast noch nicht begegnet war.

Auch Maris hatte jetzt den blonden Krieger entdeckt und zügelte überrascht sein Pferd in unmittelbarer Nähe. Seine Miene war eine Mischung aus Überraschung und Misstrauen, denn er fragte sich wahr-scheinlich, was ein Barbar wie Thorin hier in den Mauern des Königs-palastes überhaupt zu suchen hatte.

»So sieht man sich also wieder, Bärentöter!«, rief er mit spötti-scher Stimme und blickte vom Sattel aus hinunter auf Thorin. »Hast du dich vielleicht verirrt hier? Männer deines Schlages gehören ins Söld-nerlager - oder hast du das vielleicht schon vergessen?«

Natürlich waren Maris Worte eine einzige Provokation, aber Thorin beschloss, erst gar nicht darauf einzugehen. Stattdessen grinste er in stiller Vorfreude, als er zu einer Antwort ansetzte.

»In der Tat habe ich mich schon gefragt, wo du überhaupt steckst, Maris«, sagte er. »Ich hätte viel dafür gegeben, wenn ich dein

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Gesicht gesehen hätte, als König Keron mich zum Hauptmann einer Legion beförderte...«

»Was?«, entfuhr es dem vollkommen erstaunten Gardisten, als er das hörte. »Das ist doch nicht...«

»Jetzt weißt du es jedenfalls!«, unterbrach ihn Thorin. »Und nun mach den Weg frei!«

Der entschlossene Ausdruck in den Augen des blonden Kriegers verstärkte jetzt Maris Ungewissheit.

»Wenn du es nicht glaubst, dann frage doch König Keron danach - falls du überhaupt bis zu ihm vordringen darfst!«, fügte Thorin mit spöttischem Ton noch hinzu. »Und jetzt steig vom Pferd und bring es mir. Ein Hauptmann soll nicht zu Fuß zu seinen Truppen zurückkehren. Du kannst dir das Tier ja wieder im Lager abholen. Auf was wartest du?«

Maris wurde bleich, als er Thorins Worte vernahm. Aber dann beg-riff er, dass es wirklich wahr sein musste, was er gerade erfahren hat-te. Schließlich fügte er sich, stieg hastig aus dem Sattel und drückte die Zügel Thorin in die Hände, wich allerdings dem Blick des blonden Kriegers dabei aus.

Thorin verschwendete keinen weiteren Blick mehr, sondern saß mit einer geschmeidigen Bewegung auf. Er nahm dann die Zügel des Pferdes, drückte dem Tier die Hacken in die Weichen und ritt los.

Natürlich wusste er, dass er in dem Gardesoldaten Maris nun ei-nen Feind hatte. Jedoch war das Thorin vollkommen gleichgültig. Er würde Maris ohnehin schon bald nicht mehr zu Gesicht bekommen. Denn wenn er König Keron richtig verstanden hatte, dann würde das Heer schon bald zur Grenze des Reiches aufbrechen, um den Feldzug nach Samara zu beginnen. Thorin hatte jetzt ein Ziel vor Augen - er würde als Hauptmann einer Legion kämpfen wie ein Löwe und ruhm-reich nach Cor'can zurückkehren. Was kümmerten ihn dann der Neid und die Missgunst eines einzelnen Gardesoldaten? Vielleicht würde Maris mit der Zeit begreifen, dass er noch einiges an Menschenkennt-nis nachholen musste, bevor er voreilig handelte...

*

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Noch bevor die Sonne an diesem Morgen das Steppenreich von Kh'an Sor mit ihren wärmenden Strahlen überschüttete, waren die Söldner im Lager bereits damit zugange, alle Zelte abzubauen und zusammen-zupacken. Holzstangen, Leinentücher und alle anderen Dinge, die man benötigte, um in der Einöde weiter südlich Unterkünfte für die Solda-ten zu errichten, wurden jetzt auf den Packtieren verstaut, während aus der Stadt bereits die ersten Ladungen mit Trockenfleisch, Mehl und Obst herantransportiert wurden. König Keron wollte, dass sein Heer nicht zu hungern brauchte, wenn es in die Schlacht zog und des-halb hatte er befohlen, dass jeder Händler in der Stadt den zehnten Teil seiner Lebensmittel an die Soldaten abgab. So ergoss sich schon vor Sonnenaufgang ein ständiger Strom von Menschen aus der Stadt ins Lager, die auf Kerons Befehl hin die Vorräte hierher brachten.

Auch Thorin war schon lange vor Sonnenaufgang wach und hatte nun ein Auge auf die ihm unterstellten Männer, die soeben die letzten Arbeiten am Abbau der Zelte abschlossen. Es gab keinen unter seiner Legion, der sich daran störte, dass man den blonden Krieger so schnell zum Hauptmann befördert hatte. Natürlich zählten auch Jerc und Polt zu Thorins Legion und die standen erst recht voll und ganz auf seiner Seite. Genauso wie der dunkelhäutige Hyrkenier und dessen Gefährten sowie der Rest der Legion, entschlossene Männer aus dem Norden von Kh'an Sor. Die Soldaten hatten ihre Pferde bereits gesattelt und saßen nun auf. Alle warteten schon ungeduldig darauf, dass nun bald auch der König und ein Teil seiner Getreuen den Palast verließen - und dann hieß es aufbrechen. Genau in diesem Moment erklang ein schmettern-des Fanfarensignal. Augenblicke später kamen Reiter durch das Stadt-tor.

Ein freudiges Raunen ging durch die Reihen der Krieger, als sie schließlich ihren König Keron inmitten der Reiterschar erblickten. Der Herrscher von Kh'an Sor und zukünftige Eroberer von Samara trug eine prachtvoll schimmernde Rüstung sowie einen Umhang aus dunk-lem Samt über seinen breiten Schultern. Seinen Kopf zierte ein mar-kanter Helm, der sofort ins Auge stach. Als er sein Pferd unweit des

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ehemaligen Zeltlagers zügelte und den Söldnern zuwinkte, erfüllten Freudenrufe die morgendliche Luft.

Thorin jedoch konnte die Freude der Soldaten nicht so recht tei-len, denn er hatte den dunkelgekleideten Loon bemerkt, der direkt neben Keron ritt und mit ausdruckslosen Augen die zum Aufbruch be-reiten Soldaten beobachtete. In diesem Augenblick erinnerte er sich wieder an die Worte von Prinzessin Dania, die vorausgesagt hatte, dass der geheimnisvoll wirkende Mann aus einem fremden Land den König auf dem Feldzug sicherlich begleiten würde - und genauso war es auch eingetreten!

Die Blicke des Nordlandwolfs schweiften umher, als wenn er ins-geheim hoffte, die schöne Dania noch einmal zu sehen, bevor das Heer Cor'can verließ. Und seine Ahnungen erwiesen sich als richtig, denn gerade kam eine weitere Gruppe aus dem Stadttor heraus, be-gleitet von den Gardesoldaten des Königs. Bedienstete trugen eine prachtvoll geschmückte Sänfte und setzten sie unweit von der Stelle ab, wo König Keron und Loon ihre Pferde gezügelt hatten. Dann öffne-te sich ein Vorhang in der Sänfte und Prinzessin Dania kam heraus. Ihr Anblick raubte Thorin an diesem Morgen den Atem. Dania trug ein kunstvoll besticktes Kleid, das trotzdem jeden Zoll ihres Körpers beton-te. Das rote Haar fiel ihr wallend über die Schultern und ihr Blick rich-tete sich nicht nur auf ihren Bruder, sondern auch auf Thorin, den sie ebenfalls erspäht hatte. Natürlich konnte sie ihm nicht zuwinken, da sie als Schwester des Herrschers vor dem Volk, das sich auf den Mau-ern und vor dem Stadttor versammelt hatte, Würde zeigen musste. Aber Danias und Thorins Blicke trafen sich für winzige Sekunden und Thorin las darin die erneute Bitte, dem König beizustehen. Deshalb nickte er nur kurz und sah das kurze Lächeln, das über Danias eben-mäßige Züge huschte.

Er erneuter Fanfarenstoß erfüllte die Luft und das war das Zei-chen, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, auf den sie alle so lange gewartet hatten. König Keron trieb sein Pferd an und setzte sich zu-sammen mit Loon und einem kleinen Teil der Gardesoldaten an die Spitze des Heeres. Die meisten der Gardisten blieben mit Prinzessin Dania zurück in Cor'can. Dania würde in Abwesenheit ihres Bruders die

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Geschicke von Cor'can lenken - und dazu brauchte sie auch die Elite-soldaten, da die Stadt nicht ohne Schutz bleiben durfte. Als Thorin nun ebenfalls in den Sattel stieg und das Pferd antrieb, bemerkte er für einen kurzen Moment die breitschultrige Gestalt des Gardesoldaten Maris, der ebenfalls in Cor'can zurückblieb. Ihn in Danias Nähe zu wis-sen, beunruhigte ihn ein wenig. Aber dann sagte er sich, dass Maris trotz seiner Arroganz ein treuer Soldat des Königs war und dass dieser sein Leben für die Prinzessin gab, falls sie sich jemals in Gefahr be-fand.

Auch Thorins Stimme war nun zu hören. Er befahl seiner Legion, los zu reiten und die Männer trieben ihre Pferde an. Der ganze schwer-fällige Tross setzte sich in Bewegung und brach in Richtung Süden auf. Das Heer führte zahlreiche Wagen und Ausrüstungsgegenstände mit sich. Staub wurde von den Rädern der Karren und Wagen aufgewir-belt, als das Heer Cor'can schließlich am fernen Horizont hinter sich ließ.

Der Feldzug nach Samara hatte in diesen Minuten begonnen und Thorin zählte jetzt zu einer schlagkräftigen und sehr gut ausgerüsteten Armee, die fest entschlossen war, das Fürstentum zu erobern...

*

Kh'an Sor nannte man zu Recht das Reich der Steppe, wie Thorin schon nach wenigen Stunden feststellen konnte. Wohin das Auge auch blickte - das Land war flach und nur von vereinzelten Büschen und gestrüppähnlichen Gewächsen umgeben. Ein Zeichen dafür, dass hier im Inneren des Landes die Flüsse und Quellen weniger wurden. Aber das war erst der Anfang, wie Thorin schon gehört hatte. Bald schon würde selbst die karge Steppe endgültig in die Dünenlandschaft der Todeswüste von Esh übergehen, die sich jenseits der Grenze zwischen Kh'an Sor und Samara erstreckte - und genau diese Wüste musste das Heer durchqueren, wenn sie das Fürstentum erobern wollten.

Am ersten Tag kamen die Soldaten mitsamt dem ganzen Tross gut voran. Die Männer waren ausgeruht und hatten noch keinerlei Strapa-zen erleiden müssen. Gesänge aus rauen Kehlen erfüllten die Steppe,

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als das Heer weiter zog und die zahlreichen Wagen und Karren ließen breite Spuren in der staubigen Ebene zurück. Ganz zu schweigen von den unzähligen Hufspuren der Pferde!

Thorin ritt an der Spitze seiner Legion, die eine der beiden Flanken der Streitmacht bildete. Auch wenn es fast unwahrscheinlich war, dass zu diesem Zeitpunkt mit Gefahr zu rechnen war, so ließ sich Thorin davon nicht täuschen. Schließlich war und blieb er immer noch ein Fremder in diesem Land und er verhielt sich deshalb entsprechend vorsichtig.

Irgendwann kam dann die Grenze zwischen Kh'an Sor und Samara in Sicht. Ausgerechnet an dieser Stelle veränderte sich die Steppen-landschaft jetzt ein wenig. Aus der weiten kargen Ebene wurde nun eine sanft gewellte hügelige, mit zahlreichen Gesteinsbrocken übersäte Landschaft.

Als Thorin dann die drei Reiter erblickte, vermutete er im ersten Moment feindliche Späher - aber es waren König Kerons Männer. Sol-daten, die seit Ausbruch der ersten Feindseligkeiten zwischen Kh'an Sor und Samara ständig hier postiert waren, um rechtzeitig zu erken-nen, wann der Feind einen Übergriff plante. Aber bis jetzt war alles ruhig geblieben.

Thorin war Zeuge, wie die drei Soldaten dem König Meldung machten und berichteten, dass sie ganz in der Ferne - fast schon am Rande der Todeswüste - einmal feindliche Reiter gesehen hatten. Aber diese hatten es dann doch nicht gewagt, näher zu kommen oder gar die Soldaten anzugreifen. Vielleicht hielten sie sich aber noch immer irgendwo in der Nähe auf und beobachteten von ihrem Versteck aus König Kerons Heer, das nun im Begriff war, die Grenze zu überschrei-ten.

Deshalb entschied Keron jetzt, dass das Heer heute Nacht hier la-gerte und erst bei Sonnenaufgang weiterziehen würde. Denn wenn die Dunkelheit erst hereingebrochen war, konnte sich diese unübersichtli-che Landschaft an der Grenze zu einer tödlichen Falle entwickeln. Ke-ron rief seine Offiziere zu sich und trug ihnen auf, Wachposten aufzu-stellen und dafür Sorge zu tragen, dass von keiner Seite irgendwelche Gefahren drohten.

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Thorin spürte seltsamerweise erneut die Augen des dunkelgeklei-deten Loon auf sich gerichtet, als er sich in der Nähe des Königs auf-hielt. Als wenn Loon den blonden Krieger warnen wollte. Aber vor was?

Jedenfalls schaffte er es immer wieder, ständig in der Nähe des Königs zu bleiben - als wenn er es für seine Pflicht hielt, Keron nicht eine einzige Sekunde aus den Augen zu lassen.

Aber noch hatte Thorin keinen Grund, mit Keron zu sprechen. Schließlich war er nur ein Hauptmann und der König hatte sicher ganz andere Dinge im Kopf, als mit einem seiner Untergebenen längere Gespräche zu führen - selbst wenn es jemand war, der seine Schwes-ter durch viel Mut vor einem feigen Mordanschlag bewahrt hatte.

Deshalb hielt sich Thorin nach wie vor im Hintergrund und wartete auf seine Chance. Und als gegen Einbruch der Nacht entschieden wur-de, dass morgen kurz nach Sonnenaufgang Spähtrupps losgeschickt werden sollten, die zu erkunden hatten, ob sich Feinde in der Nähe des Heeres aufhielten, meldete sich Thorin sofort freiwillig zu diesem Unternehmen. Denn er wollte sich selbst davon überzeugen, dass nicht doch schon unsichtbare Augen das Heer beim Überschreiten der Gren-ze beobachteten...

*

Die Sonne vertrieb die letzten Schatten der kalten Nacht, als Thorin mit zehn Männern das Lager der Armee von Kh'an Sor verließ und in Richtung Süden aufbrach. Er selbst ritt an der Spitze des Spähtrupps und war fest entschlossen, das vor ihm liegende Gelände so gut zu erkunden, dass König Keron seinen Marsch nach Samara sicher fort-setzen konnte. Falls es wirklich im Hinterhalt lauernde Feinde gab - Thorin und seine Späher würden es herausfinden!

Trotzdem gab es da noch eine gewisse Spur von Zweifeln, da im-mer noch anhielten, je weiter Thorin und seine Männer nach Süden vordrangen. Unwillkürlich ertappte er sich bei dem Gedanken, wie sein eigenes Volk wohl reagieren würde, wenn es erst erfuhr, dass eine feindliche Armee im Begriff war, die Grenzen des Landes zu über-

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schreiten und es dann mit einem blutigen Krieg zu überziehen. Sicher-lich würde Thorins Volk nicht tatenlos zusehen, was geschah und das gleiche vermutete er bei den Samaranern. Es musste also einen guten Grund geben, weshalb das Heer aus Kh'an Sor bisher noch so wenig Feindberührung gehabt hatte.

Das Armeelager war schon längst am fernen Horizont verschwun-den und die Einsamkeit der bizarren Felsenlandschaft umgab Thorin und seinen Spähtrupp. Jeder der Männer hatte die Hand griffbereit, um dann um so rascher das Schwert ziehen zu können. Thorin sandte zwei Reiter voraus, als das Gelände immer unübersichtlicher wurde und wartete dann die Rückkehr der beiden Späher ab.

»Kein Samaraner weit und breit zu sehen!«, berichtete einer der beiden hyrkenischen Söldner, als sie eine halbe Stunde später zu den anderen zurückkehrten. »Es ist, als wenn dieses Land noch niemals Menschen beherbergt hat...«

»Was hat das zu bedeuten, bei allen Göttern?«, fragte sich der kleine Polt jetzt, der es sich nicht hatte nehmen lassen, den Spähtrupp an diesem Morgen zu begleiten. Jetzt, wo er seine Verletzung ziemlich auskuriert hatte, dürstete er förmlich nach Tatendrang und deswegen hatte Thorin natürlich sofort zugestimmt, ihn mitzunehmen.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Thorin und ließ seine Blicke miss-trauisch in alle Richtungen schweifen. »Irgendwie gefällt mir die ganze Sache nicht. Sind die Samaraner wirklich solche einfältigen Narren, dass sie tatenlos zusehen, wie wir in ihr Land einfallen?«

Falls er wirklich eine Antwort auf diese Frage von seinen Leuten erwartete, so blieb sie zumindest jetzt unbeantwortet. Die Männer blickten unsicher in die Runde und Thorin konnte in ihren Mienen er-kennen, dass ihnen die Einsamkeit ziemlich zu schaffen machte. Jeder von ihnen kam sich seltsam verloren und hilflos vor. Es schien fast so, als wenn Thorin und seine Späher die einzigen lebenden Wesen über-haupt in diesem unwirklichen Grenzstreifen waren.

Als die Sonne dann ein gutes Stück gestiegen war, ließen die Spä-her schließlich das felsige Gelände hinter sich. Vor ihren Augen breite-te sich eine schier endlose Dünenlandschaft aus, die so abrupt be-gann, dass Thorin seinen Männern erst einmal das Zeichen zum Anhal-

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ten gab. Das war sie also - die Todeswüste von Esh, an deren ande-rem Ende das eigentliche Herrschaftsgebiet von Samara lag. Beim Blick auf diese Wüstenlandschaft ahnte Thorin, welche Strapazen noch vor ihnen lagen, bis sie diese weite Wüste hinter sich gebracht hatten.

»Wir reiten noch ein Stück in die Wüste hinein!«, beschloss Thorin und gab seinen Männern ein Zeichen, weiter zu reiten. Keiner der Söldner widersprach nun ihrem Hauptmann. Auch wenn der eine oder andere ab und zu zurückblickte - als wenn er hoffte, dass das Heer von Kh'an Sor rechtzeitig zur Stelle sein würde, falls die Männer doch noch in Gefahr gerieten...

Leiser Wind kam auf und trug feinen Sand mit sich, der dann den Söldnern entgegen wehte. Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel und ließ die Männer ahnen, was sie in diesem Wüstenland-strich nun erwartete. Ohne Wasser und ohne das Wissen von Quellen würde es schwer sein, das andere Ende der Wüste zu erreichen. Tho-rin hatte schon Geschichten von entschlossenen Herrschern und deren mutigen Soldaten vernommen, die mitten im Eroberungsfeldzug doch noch besiegt worden waren - nicht von gegnerischen Soldaten, son-dern von der tödlichen Dürre der Wüste!

Plötzlich war ein leises Zischen zu hören, das das Wehen des Wüs-tenwindes übertönte. Im selben Moment schrie er einer der Späher gurgelnd auf, als sich ein Pfeil in seinen Hals bohrte und ihn dann vom Pferd stieß.

Noch bevor der unglückliche Söldner sein Leben aushauchte, zer-rissen auf einmal laute Kriegsschreie die Stille, gefolgt von weiteren Pfeilen, die Thorins Männern entgegengeschickt wurden. In Sekunden-schnelle begriff Thorin, dass der Feind bewusst abgewartet hatte, bis er und seine Männer die ersten Dünen erreicht hatten. Jetzt, wo auch er nicht mehr mit einem ernsthaften Angriff gerechnet hatte, kam er nun um so überraschender. Und genau das war die Absicht des Geg-ners gewesen!

»Kämpft, Männer!«, schrie Thorin nun seinen Leuten zu, während er selbst Sternfeuer aus der Scheide riss und erkennen musste, dass ein zweiter Pfeil der Feinde nun sein Ziel getroffen hatte. Der Hyrke-nier neben Polt wurde in den Oberarm getroffen, als er gerade nach

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seinem Schwert hatte greifen wollen. Aber der Söldner verbiss den Schmerz und nahm die Waffe mit der anderen Hand an sich.

Das war der Augenblick, wo nun auch die Feinde ihre Deckung verließen und den Spähtrupp angriffen. Thorin sah die wallenden wei-ßen Gewänder der Samaraner und die blitzenden Klingen in den Hän-den der Männer. Erneute Kriegsschreie erfüllten die Luft, als sie sich Thorins Spähern entgegenstürzten. Sekunden später begann bereits der gnadenlose Kampf Mann gegen Mann, als die beiden Reitertrupps aufeinander trafen. Sand wurde aufgewirbelt und Pferde stürzten, als sie mit anderen heftig zusammenprallten.

Thorin sah das vor Wut verzerrte olivefarbene Gesicht eines Sa-maraners dicht vor sich, als dieser mit seinem Krummsäbel ausholte, um dem blonden Nordlandwolf einen Todesstoß zu versetzen. Thorin hatte die Absicht des Gegners jedoch kommen sehen und duckte sich tief über den Hals seines Pferdes. So entging er der Klinge des Feindes und stieß stattdessen selbst mit der scharfen Götterwaffe vor. Stern-feuer traf den Samaraner in die weiche Gegend des Magens. Der Feind schrie vor Schmerz laut auf. Er war schon tot, bevor er aus dem Sattel stürzte und hart auf dem Wüstenboden aufkam.

Thorin hatte schon längst Sternfeuer zurückgerissen und musste sich jetzt gegen zwei weitere Angreifer wehren, die ihm nun den Ga-raus machen wollten. Vielleicht ahnten die Samaraner auch, dass er der Anführer dieses Spähtrupps war und dass man den Söldnern von Kh'an Sor einen entscheidenden Schlag versetzen konnte, wenn man den Befehlshaber zuerst tötete. So etwas löste erfahrungsgemäß im-mer Furcht und Unsicherheit bei den anderen aus, so dass man sie dann leichter besiegen konnte.

Soweit wollte es Thorin allerdings nicht kommen lassen, denn er würde sein Leben mit aller Härte verteidigen. Er schwang die gewalti-ge Klinge und reckte sie den heranstürmenden Feinden drohend ent-gegen. Den ersten Gegner erwischte er bereits, bevor dieser ahnte, dass er von einem Atemzug zum anderen sterben musste, weil er ge-gen einen Feind angetreten war, dessen eisernen Überlebenswillen er nicht richtig eingeschätzt hatte. Sternfeuers Klinge teilte einen vernich-tenden Hieb aus und trennte das Haupt des Samaraners vom Rumpf.

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Mit schreckgeweiteten Augen registrierte der zweite Gegner, wie plötzlich sein Gefährte sein Leben hatte lassen müssen. Trotzdem drang er todesmutig auf Thorin ein und schaffte es auch tatsächlich, den Nordlandwolf mit seiner Klinge leicht an der Schulter zu treffen. Aber das war auch das letzte, was er erreichen konnte, denn nur einen Atemzug später traf ihn Thorins Klinge in die Brust und stieß ihn im Sattel zurück. Mit gebrochenen Augen stürzte er dann vom Pferd.

Thorin hatte sich so sehr auf seine Gegner konzentriert, dass er nicht hatte sehen können, was in der Zwischenzeit geschehen war. Aber dann erkannte er, dass auch seine Männer sich mit allen Kräften gegen diesen hinterhältigen Angriff zu wehren begannen. Vielleicht hatte es den einen oder anderen unter den Samaranern gegeben, die den kleinen Polt wegen seiner geringen Körpergröße als einen leicht zu besiegenden Gegner eingestuft hatten. Aber Polt wehrte sich wie ein Löwe. Er ließ seine Klinge kreisen und lehrte die Angreifer das Fürch-ten.

Die Hyrkenier hatten für einen winzigen Moment nicht auf ihre Flanke geachtet. So hatten es sechs Feinde geschafft, in ihren Rücken zu gelangen und bedrängten sie nun ziemlich hart. Auf diese Männer hielt Thorin nun zu und stieß den lauten Kriegsschrei der Nordlandwöl-fe aus, um die Samaraner auf sich aufmerksam zu machen. Damit er-reichte er genau das, was er eigentlich beabsichtigt hatte. Die in weiße Gewänder gehüllten Krieger hielten in ihrer ursprünglichen Absicht für einen winzigen Moment inne und teilten sich dann auf. Drei von ihnen ritten nun mit hoch emporgereckten Klingen auf den blonden Krieger zu, während die anderen sich auf die Hyrkenier stürzten. Diese hatten aber ihre eigene Schrecksekunde bereits überwunden und wehrten sich nun mit aller Todesverachtung.

Einer der Söldner aus dem Norden von Kh'an Sor kam Thorin nun zu Hilfe. Er nahm sich einen der Angreifer vor und lenkte ihn von Tho-rin ab.

Einer der beiden Samaraner, die nun Thorin das Leben schwerma-chen wollten, preschte mit seinem Pferd so urplötzlich vor, dass er genau in die Schussbahn eines Pfeils ritt, den ein anderer Gegner auf Thorin abfeuerte. So erreichte er damit genau das Gegenteil von dem

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was er bezweckt hatte. Der Samaraner starb so schnell, dass er gar nicht begriff, dass es einer aus den eigenen Reihen gewesen war, der ihn getötet hatte. Der Pfeilschütze kam nicht mehr dazu, einen weite-ren gefiederten Todesboten Thorin entgegenzuschicken, denn in dieser Sekunde war der kleine Polt zur Stelle und erledigte den Mann.

Nun war nur noch ein Angreifer übrig, der Thorin bedrohte und der stellte natürlich keine Gefahr für einen kampferprobten Mann wie den Nordlandwolf dar. Thorin zögerte keine Sekunde mehr und drang nun auf den Samaraner ein, der zu ahnen schien, was ihm blühte. Der Gegner wollte sich hastig zurückziehen und dem unvermeidlichen Kampf ausweichen, aber dazu kam es nicht mehr. Thorins Klinge er-wischte den Samaraner in der Seite und beendete sein Leben plötzlich. Von den Angreifern waren nur noch drei Reiter übrig, die nun mit Schrecken erkannten, dass die Söldner aus Kh'an Sor trotz ihrer Min-derzahl doch noch den Kampf für sich entschieden hatten. Dieser hü-nenhafte blonde Krieger hatte sicherlich einen großen Teil dazu beige-tragen. Also suchten sie nun ihr Heil in der Flucht, ließen ihre toten und schwer verletzten Gefährten zurück. Sie rissen ihre Pferde herum und ritten wie die Teufel davon. Polt und zwei weitere Söldner wollten ihnen nachsetzen, aber Thorins laute Stimme hinderte sie daran.

»Lasst sie reiten!«, rief Thorin und daraufhin zügelten Polt und die beiden anderen Söldner ihre Pferde.

Erst jetzt legte sich die Anspannung wieder, die von allem Besitz ergriffen hatte. Als sich die Staubwolken des empor gewirbelten San-des verzogen, war der Blick auf die Leichen der Gegner frei, die im Kampf gegen die Söldner von Kh'an Sor gefallen waren. Thorins Män-ner hatten ebenfalls zwei Krieger verloren, aber sie konnten alle den Göttern danken, dass es nicht noch schlimmer gekommen war. Denn wenn sie alle nicht so geistesgegenwärtig reagiert hätten, so wären die Verluste in den eigenen Reihen gewiss noch zahlreicher gewesen - vielleicht hätten sie sogar den Kampf verloren und wären alle unter den Klingen der Samaraner gestorben, wenn Thorin nicht so hart und entschlossen mit seinem Götterschwert Sternfeuer die Feinde das Fürchten gelehrt hätte!

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Bewundernde Blicke richteten sich nun auf den blonden Krieger, dessen Schulter leicht blutete. In diesen Sekunden wirkte er wie ein finsterer Rachegott und das zeigte den anderen Männern, dass Thorin zu Recht den Rang eines Hauptmanns innehatte.

»Das war ziemlich knapp«, meldete sich nun der kleine Polt keu-chend zu Wort, dem der Schweiß der Anstrengung auf der Stirn stand. »Aber wir haben diese elenden Hunde doch noch in die Flucht ge-schlagen. Sollen sie doch reiten bis nach Samara und Fürst Dion be-richten, dass wir uns so schnell nicht besiegen lassen...«

Damit sprach er genau das aus, was auch all die anderen dachten. Thorin riss einen Streifen aus seinem Gewand und verband damit

die Wunde an seiner Schulter notdürftig. Das musste ausreichen, bis sie wieder ins Lager zurückgekehrt waren. Dann begruben sie ihre beiden toten Gefährten, bevor sie wieder nach Norden ritten. Die Lei-chen der toten Samaraner ließen sie achtlos liegen - als Beute für die Wüstenvögel, die bereits ihre ersten Kreise über der Stätte des Todes zogen...

*

Das Heer zog weiter nach Süden, aber schon längst waren die Schritte langsamer geworden und die einst so lauten Kriegsgesänge waren allmählich ganz verstummt. Unbarmherzig brannte die heiße Sonne vom Himmel und tauchte die Todeswüste in eine wabernde Hitze, die Mensch und Tier viel Kraft abverlangte. Schon bald mussten die Was-servorräte rationiert werden, weil es noch ein weiter Weg bis zu der Quelle war, zu der Loon das Heer König Kerons fuhren wollte. Der dunkelgekleidete Mann schien der einzige zu sein, der Durst und Er-schöpfung ignorierte und stattdessen immer mehr Kraft zu schöpfen schien, je tiefer König Kerons Heer in die Wüste eindrang.

Thorins Kehle war wie ausgetrocknet und schmerzte unangenehm. Aber auch er musste sparsam mit dem Wasser umgehen, das man ihm und seiner Legion zugeteilt hatte. Das würde sich erst wieder ändern, wenn sie die Quelle erreicht hatten und sich mit frischem Wasser aus-rüsten konnten.

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»Ein verfluchtes Land ist das!«, beklagte sich der Hyrkenier, der neben Thorin und Jerc ritt. Salzige Schweißflecken hatten sich auf sei-nem Gewand gebildet und das Pferd, auf dem er saß, machte auch einen ziemlich entkräfteten Eindruck. Deshalb tat der erfahrene Krieger in diesem Augenblick das einzig richtige - er opferte nämlich etwas von seinem Wasser, feuchtete ein Tuch damit an und strich dann gründlich über die Nüstern des Tieres.

»Wie lange wird es noch dauern, bis wir die Quelle endlich er-reicht haben?«, wollte nun Jerc wissen. »Ich will erst gar nicht daran denken, wenn wir an unserem Ziel ankommen und dann nur noch ein trockenes Sandloch vorfinden.«

»Halt den Mund, Jerc!«, wies ihn der Hyrkenier zurecht. »Wir alle müssen schon genug durchstehen. Und nun komm du nicht mit sol-chen Dingen - die Männer sind schon fast am Ende ihrer Kräfte. Das einzige, was sie noch vorantreibt, ist die Hoffnung auf frisches Wasser und einige Stunden Ruhe von diesen Strapazen...«

Jerc lag eine heftige Erwiderung auf der Zunge, schwieg dann a-ber doch. Thorin hatte den kurzen Wortwechsel seiner Männer nur am Rande registriert, denn in Gedanken war er augenblicklich mit Loon beschäftigt. Ausgerechnet Loon war es jetzt, der das Heer scheinbar ganz zielsicher durch die Dünenlandschaft führte. König Keron vertrau-te den Ortskenntnissen seines Beraters vollkommen - was man von Thorin wirklich nicht sagen konnte. Er war schon misstrauisch gewe-sen, seit er Loon das erste mal gegenübergestanden hatte. Und dieses Gefühl hatte sich seitdem immer mehr verstärkt.

König Keron hatte weitere Spähtrupps vorgeschickt, um sicherzu-gehen, dass die Männer nicht noch einmal in einen Hinterhalt gerieten. Vereinzelt war es zu kurzen Gefechten gekommen, aber seltsamerwei-se hatten sich die Feinde aber meistens immer zurückgezogen und überließen dem Heer von Kh'an Sor das Territorium. Thorin schien wirklich der einzige zu sein, der sich insgeheim daran störte, dass die Sache etwas zu reibungslos verlief. Keron dagegen schrieb diese Tat-sache der Feigheit von Fürst Dions Soldaten zu und Loon bestärkte ihn natürlich in dieser Annahme.

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Ewigkeiten schienen vergangen zu sein, seit das Heer Cor'can ver-lassen hatte. Wie lange sie schon diese endlose Wüste durchquerten, konnte keiner mehr so recht sagen. Die Hitze lastete unsichtbar über ihnen und machte jeden Schritt zur Qual.

»Ein Kampf Mann gegen Mann ist mir hundert mal lieber als diese elende Wüste!«, meldete sich nun wieder Jerc zu Wort. »Ob ihr mir nun glaubt oder nicht, ich habe schon im stillen zu den Göttern gebe-tet, dass die Oase schon bald am Horizont auftaucht. Du warst doch schon beim König, Thorin«, wandte er sich dann an den blonden Krie-ger. »Hast du etwas mitbekommen, wie lange es noch dauern wird?«

»Wenn ich richtig verstanden habe, dann sollen wir gegen Ende des Tages bei der Oase sein«, erwiderte Thorin und erinnerte sich nun wieder an einen Teil des Gespräches zwischen dem König und seinem Berater, das er mit angehört hatte. »Aber wenn das Heer weiterhin so langsam vorankommt, dann wird es bestimmt Nacht, bis wir dort sind - natürlich, wenn uns sonst nichts dazwischenkommt...«

Auch wenn es Thorin vor den ihm unterstellten Söldnern niemals zugeben würde, so spürte er doch eine wachsende Unsicherheit in sich. Denn er hatte sich schon mehr als nur einmal gefragt, wie es Loon eigentlich fertig brachte, mit solcher Sicherheit den richtigen Weg zur Oase einzuschlagen. Thorin selbst konnte sich noch so sehr bemü-hen, aber die Dünen, die sich bis jenseits des Horizontes erstreckten, sahen doch alle irgendwie gleich aus - und der stetige Wüstenwind, der ihnen heiße Luft entgegen blies, trug den feinen Sand stetig ab, veränderte die Dünen innerhalb weniger Tage. Was also war es, das Loon so sicher machte, dass das Heer überhaupt den richtigen Weg eingeschlagen hatte? Oder stand Loon vielleicht mit Mächten im Bun-de, die jenseits des menschlichen Verstandes standen - und waren es solche Mächte, die ihn führten?

Thorin brachte diesen Gedankengang nicht mehr zu Ende, denn auf einmal spürte er, dass eine plötzliche Unruhe die Söldner vor ihm erfasste. Da er und seine Legion sich mehr seitlich vom Kern des Hee-res aufhielten, erkannten sie erst etwas später, was die anderen Krie-ger schon längst entdeckt hatten. Als der Wind nämlich für einen Au-genblick lang nachließ und die Sandschleier nicht mehr so stark tanz-

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ten, entdeckten Thorin, Jerc und der Hyrkenier am fernen Horizont eine dunkle Stelle, die seltsam undeutlich in der Hitze zu flimmern be-gann.

Der Nordlandwolf hörte die erregten Stimmen der anderen Krie-ger, für die dieses Ereignis neu war. Thorin jedoch wusste, was dies zu bedeuten hatte. Auf seinem langen und gefahrvollen Weg durch die Länder des Südens war er schon einmal Zeuge einer solchen Luftspie-gelung geworden. Das war die Oase - das Ziel des Heeres. Aber sie befand sich nicht in greifbarer Nähe - so wie es vielen der Söldner jetzt vielleicht erscheinen mochte - sondern war noch viele Stunden ent-fernt.

»Wir sind noch lange nicht am Ziel!«, klärte Thorin dann rasch seine Männer auf, bevor sie in einen allzu großen Freudentaumel ver-fielen. »Die Hitze bringt das zustande, was ihr jetzt seht. Tatsächlich werden wir aber erst viel später dort ankommen - aber wir haben we-nigstens den richtigen Weg eingeschlagen...«

Irgendwie beruhigte das den größten Teil der Männer unter Tho-rins Kommando und sie ertrugen tapfer die Hitze und alle weiteren Strapazen - in der Gewissheit, dass aus der Luftspiegelung, die mitt-lerweile wieder ihren Blicken entschwunden war, irgendwann eine wirkliche Oase werden würde - ein Ort mit klarem kühlen Wasser!

Wenigstens ließ die schlimmste Hitze etwas nach, je mehr sich die Sonne allmählich gen Westen neigte. Sie stand schon ziemlich tief, als einer der Spähreiter im Galopp zurück kam und schon von weitem heftig winkte.

Minuten später breitete sich dann die freudige Nachricht unter den Söldnern des Heeres aus. Der Späher hatte die Oase entdeckt und sie war nicht mehr weit entfernt. Und was noch viel mehr zählte - es gab dort viel frisches, kühles Wasser. Genug davon, um alle Pferde und Zugtiere zu tränken und sich dann selbst zu erfrischen.

Jetzt vergaßen die erschöpften Männer ihre Lethargie und die Qualen, die ihnen die Hitze bereitet hatte. Nun mobilisierten sie ihre letzten Reserven. Die berittenen Söldner trieben ihre Pferde an und die Fußtruppen beschleunigten ihre Schritte, denn jeder von ihnen wollte die Oase natürlich so schnell wie möglich erreichen. Auch Thorin und

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seiner Legion erging es da nicht anders und ein Stein fiel ihnen vom Herzen, als hinter den Dünen schließlich ein Palmenwald auftauchte, der ein untrüglicher Beweis dafür war, dass es dort reichlich Wasser geben musste. Denn anders als in unmittelbarer Nähe einer Quelle hätte keine dieser Palmen auch nur einen einzigen Tag überleben kön-nen.

Thorin wischte sich den Sandstaub aus dem Gesicht und trieb nun ebenfalls sein Pferd an. Aber das Tier hatte bereits das nahe Wasser gewittert und verfiel vom langsamen Schritt in einen raschen Trab. Schon bald hatte Thorin die Palmen erreicht und sah das Wasser im Licht der Sonne glitzern. Es war ein recht großer Teich und er führte trotz der permanenten Hitze hier in der Todeswüste genügend Wasser.

Der Nordlandwolf erreichte als einer der ersten die Wasserstelle. Er stieg hastig ab und eilte dann auf den Rand des Teiches zu, wäh-rend sich sein Pferd selbst einen Weg bahnte. Auch wenn Thorin einen schier unbeschreiblichen Durst verspürte, so trank er im ersten Mo-ment doch nur wenige Schlucke. Denn in dieser Hitze war es viel zu gefährlich, zuviel auf einmal zu trinken - und genau das wollte er ver-meiden.

Andere Söldner wiederum hatten sich mitten ins Wasser gestürzt und spritzten sich gegenseitig wie kleine Kinder nass, während sie ih-ren schlimmsten Durst löschten. Vergessen waren jetzt die Strapazen des langen Marsches durch die Todeswüste, die soviel Kraft gekostet hatten. Sie hatten es bis hierher geschafft - also würde es ihnen auch gelingen, den Rest des Weges nach Samara hinter sich zu bringen!

*

Die Abenddämmerung war nicht mehr fern, als Loon das Zelt des Kö-nigs verließ und mit schnellen Schritten hinüber zu der Pferdeherde ging, die in der Nähe der Quelle graste. Mehrere Söldner hatte man hier als Wachen eingeteilt. Andere wiederum hatten einen weiten Ring um die Oase gezogen, um ganz sicher zu gehen, dass der Armee auch während der Nacht kein Unheil widerfuhr. Keron selbst hatte auf Anra-ten Loons die Wächter eingeteilt, denn sie waren mittlerweile schon

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weit von der Grenze zu Kh'an Sor entfernt und mussten deshalb um so vorsichtiger sein.

Loons Blicke schweiften zwischen den hastig errichteten Zelten hin und her. Er sah die erschöpften Gesichter der Söldner, die sich von den Strapazen ausruhten. Auch die Tiere brauchten eine längere Pau-se, so dass man bestimmt auch den morgigen Tag hier noch verbrin-gen und neue Kräfte sammeln würde. Die Wasservorräte mussten er-gänzt werden, Schmutz und Staub hatten sich in den Rädern der Wa-gen festgefressen, so dass es Keron für eine gute Idee hielt, so lange hier zu bleiben, bis sein Heer neu gestärkt weitermarschierte.

Loons eigenen Interessen kam das sehr entgegen, aber das wuss-ten natürlich weder König Keron noch irgend einer der vielen Söldner. Deshalb hielt der hagere Mann in den dunklen Gewändern jetzt den richtigen Zeitpunkt für gekommen, um das zu tun, was er schon von Anfang an geplant hatte.

»Hol mir mein Pferd und sattle es!«, befahl Loon mit barscher Stimme einem der Wächter bei der Herde und sah zu, wie der Mann sichtlich zusammenzuckte und dann heftig nickte.

»Selbstverständlich, Herr«, versicherte ihm der Krieger und beeilte sich dann, den Befehl Loons auszuführen. Schließlich war er der engs-te Berater des Königs und somit dessen rechte Hand. Das wusste jeder der Söldner und deshalb fragte auch kein Mensch danach, warum Loon so kurz vor Einbruch der Dunkelheit noch einmal nach seinem Pferd verlangte.

Augenblicke später führte der Söldner dann das gesattelte Tier zu Loon und drückte ihm die Zügel in die Hand. Der dunkelgekleidete Mann bedachte den Söldner keines einzigen Blickes mehr, sondern stieg sofort in den Sattel.

»Ihr wollt jetzt noch das Lager verlassen, Loon?«, erklang dann auf einmal eine Stimme seitlich hinter ihm. Überrascht wandte sich Loon im Sattel um und erkannte den blonden Krieger, der der Schwes-ter der Königs das Leben gerettet hatte und von ihm dann aus Dank zum Hauptmann ernannt worden war. Loon spürte die prüfenden Bli-cke Thorins auf sich gerichtet.

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»Was kümmert dich das?«, fragte er mit wütendem Unterton zu-rück, weil er schon von Anfang an eine heftige Abneigung gegen die-sen blonden Krieger verspürt hatte. »Willst du dem Berater des Königs etwa verbieten, das zu tun, was er für richtig hält?«

»Ich möchte Euch nur vor den Gefahren der Wüste warnen, Loon«, erwiderte Thorin daraufhin. »Vielleicht solltet Ihr besser einen bewaffneten Begleiter mit Euch nehmen, der Euch beschützt. Wenn Ihr wollt, dann komme ich mit...«

»Das ist nicht nötig!«, schnitt ihm Loon mit einer eindeutigen Ges-te das Wort ab. »Ich will draußen in den Dünen zu Baa'Lan beten und suche deshalb die Einsamkeit. Er wird uns und unserem Heer den Schutz geben, den wir alle so sehr nötig haben. Nur mit seinem Segen wird es uns gelingen, das Fürstentum von Samara zu besiegen.«

Er wartete gar nicht mehr ab, ob Thorin darauf noch etwas zu er-widern hatte, sondern drückte seinem Pferd einfach die Hacken in die Weichen. Das Tier trabte sofort los und Thorin musste sogar zwei Schritte zur Seite gehen, als Loon dicht an ihm vorbei ritt. Wenige Au-genblicke später war er zwischen den Dünen verschwunden, wo sich die Sonne in einem glutroten Feuerball immer mehr dem Horizont zu-neigte.

*

Thorin spürte auf einmal eine seltsame Unruhe, die immer stärker wurde, je länger er dem davon reitenden Loon hinterher blickte. Er konnte selbst nicht verstehen, weshalb er dann kurz entschlossen e-benfalls sein Pferd aus der Herde holte und es schnell sattelte.

»Willst du ihm doch noch folgen?«, vernahm er dann die Stimme des Wächters bei der Herde. »Ich würde das lieber nicht tun. Loon kann sehr zornig werden, wenn man seine Anweisungen nicht be-folgt...«

»Ich will nur sicher sein, dass ihm nichts zustößt«, erwiderte Tho-rin und gab seinem Tier dann ebenfalls die Zügel frei.

Er hatte es eilig, Loon zu folgen, denn er ahnte, dass es da noch etwas anderes geben musste als nur den Grund, in der Abgeschieden-

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heit der Dünen zu den Göttern zu beten. Das konnte er auch in seinem Zelt, wenn er es ernst meinte. So jedenfalls sah es Thorin, der mit den Göttern seine eigenen Erfahrungen gemacht hatte.

Er sah Jerc und Polt, die ihm etwas nachriefen, aber das konnte Thorin nicht mehr verstehen. Stattdessen trieb er sein Pferd an, damit er Loon noch einholen konnte. Und falls er dann immer noch etwas dagegen hatte, dass Thorin ihn begleitete, dann war das der endgülti-ge Beweis dafür, dass dieser finstere Mann etwas zu verbergen hatte. Genau wie es Dania von Anfang an vermutet hatte - und da Thorin ihr versprochen hatte, den König zu beschützen, hielt er es für seine Pflicht, die Augen und Ohren offen zu halten.

Thorin folgte den Hufspuren im Sand, die in Richtung Südwesten führten. Aber kaum hatte er das schützende Lager unter den Palmen verlassen, als er auch schon spürte, dass der Wind auf einmal heftiger wurde. Feiner Sand wurde aufgewirbelt und vom Wind direkt in sein Gesicht geblasen. Genau in dem Augenblick, als er die nächste Düne passiert hatte und weit vor sich einen dunklen Fleck in der Wüste er-kannte. Das war Loon auf seinem Pferd!

Der Wind wurde jetzt noch stärker. Die anfänglichen Sandschleier wurden jetzt zu überraschenden Böen, die den weit vor Thorin reiten-den Loon auf einmal seinen Blicken entzogen. Thorin gab dennoch nicht auf, sondern trieb sein Pferd weiter an, um der Spur des dunkel-gekleideten Mannes zu folgen. Aber dazu kam es dann doch nicht mehr, denn der Wind wurde immer stärker und blies Thorin soviel Sand entgegen, dass dieser die Augen schließen musste. Der Sand war so fein, dass er sich überall festsetzte und ihm das Atmen erschwerte. Auch für das Pferd war es eine Qual, jetzt noch der Spur zu folgen. Es war auch deshalb nicht mehr möglich, weil die Sandschleier sich über die Hufabdrücke legten und sie langsam verschluckten, als hätten sie niemals existiert.

Thorin stieß einen grässlichen Fluch aus, als er notgedrungen sein Pferd wieder wenden und sich auf den Rückweg begeben musste. Er hatte sich zwar nicht weit vom Lager entfernt, brauchte aber dennoch fast eine halbe Ewigkeit, um wieder die schützenden Palmen zu errei-chen. Denn der Wind war längst zu einem heftigen Sandsturm gewor-

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den, der die Sicht nur wenige Schritte weit ermöglichte. Auch unten im Heerlager beruhigten die Söldner nun die Reit- und Packtiere, sahen nach den hastig errichteten Zelten, an denen der Wind heftig zerrte und riss.

Thorin hustete gequält, als er endlich die Oase erreichte und aus dem Sattel stieg. Als er sich umdrehte und in die Richtung blickte, von wo er gerade gekommen war, konnte er nichts anderes sehen als hin- und herwirbelnde Staubschleier, die keine klare Sicht auf die Dünen mehr ermöglichten.

»Ein elender Sturm!«, schrie der Pferdewächter laut zu Thorin, um sich in dem heulenden Sandchaos überhaupt verständlich machen zu können. »Was ist mit Loon?«

»Ich weiß es nicht!«, rief Thorin zurück. »Ich habe ihn nicht mehr einholen können!«

»Wenn ihm jetzt etwas zustößt, dann wird der König uns hinrich-ten lassen!«, jammerte der Wächter und führte Thorins Tier weiter nach hinten zu der Quelle, wo man das Heulen des Sturms nicht so sehr spürte. Aber die Tiere waren auch schon so unruhig genug und einige Pferde gebärdeten sich so wild, dass die Söldner alle Hände voll zu tun hatten, um sie am Ausbrechen zu hindern. Denn der Sturm war zu unerwartet über sie hereingebrochen.

Thorin wusste es jedoch besser. Der Sturm war deswegen aufge-treten, weil er es sich in den Kopf gesetzt hatte, Loon zu folgen. Auch wenn er es wahrscheinlich niemals beweisen konnte - so ahnte er doch, dass dieser Sturm aus heiterem Himmel nicht natürlichen Ur-sprungs war. Loon musste auf ganz besondere Weise mit seinem Gott Baa'Lan in Verbindung stehen - und wenn es ihm gelungen war, mit der Hilfe dieses Gottes einen Sandsturm heraufzubeschwören, der ei-nen neugierigen Mann wie Thorin daran hindern sollte, ihm zu folgen, dann war Loon bestimmt auch noch zu ganz anderen Dingen fähig. Und je länger Thorin darüber nachdachte, um so mehr kam er zu der Überzeugung, dass dieser Feldzug gegen das Fürstentum von Samara unter einem schlechten Stern stand. Wolken des Unheils zogen am Horizont auf - und nur Thorin konnte sie erkennen...

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*

Zwischenspiel »Er ist eben nur ein Sterblicher«, grollte der Gott, den man den Wel-tenzerstörer nannte. »Wir hätten es alle wissen müssen, dass er an seine Bestimmung nicht glaubt - stattdessen denkt er nur an Ruhm und Beute, die er als Krieger erringen kann!«

»Wir hätten ihm das Schwert nicht überlassen dürfen«, meinte der in eine prachtvolle glänzende Rüstung gekleidete Thunor, der seine Festung hoch über den Berggipfeln von Andustan verlassen hatte, weil Odan ihn und seinen Götterbruder Einer in den Wolkenhort hatte kommen lassen. Hier im Kristallpalast des Weltenzerstörers sprachen sie nun über einen einzelnen Sterblichen und entschieden über dessen Schicksal, ohne dass dieser etwas davon ahnte.

»Handelt nicht zu voreilig, Brüder!«, ergriff nun der in ein Kapu-zengewand gehüllte Einar das Wort und blickte mit seinem blinden Auge, das milchig schimmerte, Odan und Thunor an. Sein gesundes Auge war dagegen von einer intensiven eisblauen Farbe, das normale Sterbliche sofort in ihren Bann schlug. »Denkt an die Prophezeiungen in den alten Schriften von Ushar. Dort steht geschrieben, dass nur ein Sterblicher die Macht haben wird, um am entscheidenden Tag die Mächte der Finsternis zurückzuschlagen...«

»Wer weiß, wie alt diese Prophezeiungen sind!«, brummte Odan und schlug mit seiner gewaltigen Faust auf die Lehne seines Marmor-throns. »Ob man ihnen überhaupt Glauben schenken kann? Wenn selbst wir daran noch zweifeln, kann es mit diesen Schriften nicht weit her sein...«

»Vielleicht gibt es auch noch andere Mächte jenseits des Lichts und der Finsternis«, warf Einar ein. »Kräfte, für die die bevorstehende Schlacht auf dieser Welt nur ein Spiel ist. Wer weiß das schon?«

»Wir sind Götter, Einar!«, erwiderte Thunor, der Donnergott, mit vorwurfsvoller Stimme. »Über uns gibt es nichts mehr. Wir stehen auf der einen Seite und unsere Feinde sind die Herrscher der Finsternis - Azach, R'Lyeh und der schreckliche Modor sowie deren Vasallen.«

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»Ich habe mich mit den Schriften von Ushar etwas gründlicher be-fasst als ihr, Brüder«, sagte Einar mit einem wissenden Lächeln. »Deswegen denke ich, dass Thorin doch wichtiger ist als ihr es viel-leicht glaubt.«

»Ich weiß, was du vorhast«, meinte Odan daraufhin. »Wahr-scheinlich willst du wieder in die Ereignisse eingreifen und Thorin auf den rechten Weg bringen - oder besser gesagt, auf den Weg, auf dem du ihn haben willst.«

»Es ist seine Bestimmung, Bruder«, antwortete Einar. »Und des-wegen kann ich nicht mehr untätig zusehen - ich muss eingreifen...«

»Ich habe große Zweifel daran, ob dein Plan gelingen wird«, hielt ihm Odan entgegen. »Nach allem, was du mir und Thunor erzählt hast! Oder hast du vergessen, was Thorin dir gesagt hat, als du ihm zum letzten mal begegnet bist?«

»Natürlich habe ich das nicht«, meinte Einar. »Aber wie würdet ihr beide reagieren, wenn ihr auf einmal herausfindet, dass der Wolken-hort und die anderen Festungen des Lichts nicht die alles entscheiden-den Kräfte sind?« Odan blickte nun zornig drein, als er die Worte sei-nes Götterbruders vernahm. Aber auch wenn er es nicht zugeben woll-te, so stimmten ihn diese Mutmaßungen doch irgendwie nachdenklich.

»Tu was du für richtig hältst«, sagte er dann. »Aber es ist trotz-dem beschlossene Sache: wenn es dir nicht gelingt, Thorin und Stern-feuer für den alles entscheidenden Kampf gegen die Mächte der Fins-ternis zu gewinnen, dann wird die letzte Schlacht eben ohne ihn statt-finden - wir werden aber trotzdem siegen. Denn das Licht regiert diese Welt seit ewigen Zeiten.«

»Auch Ewigkeiten haben irgendwann einmal ein Ende, Bruder«, antwortete Einar mit einer viel sagenden Geste. »Wenn ihr gestattet, dann will ich mich gleich auf den Weg machen. Ich habe bereits einen Plan, der etwas Zeit kosten wird...«

Mit diesen Worten wandte er sich ab und verließ den Thronsaal. Er wartete nicht ab, ob Odan und Thunor noch etwas zu sagen hatten, sondern war in Gedanken bereits bei seinem Vorhaben, das er noch heute in die Tat umsetzen wollte. Und diejenige, die nun zum Spielball

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seines Willens werden würde, ahnte noch nichts davon, dass auch ihr Schicksal von höheren Mächten entschieden wurde!

*

Prinzessin Dania schlief unruhig in dieser Nacht. Unruhig wälzte sie sich auf ihrem Lager hin und her, geplagt von dunklen und düsteren Träumen. So war das schon jede Nacht, seit ihr Bruder mit dem Heer von Kh'an Sor in Richtung Samara aufgebrochen war.

Mitternacht war schon längst vorbei, als sie von einem bösen Alp-traum plötzlich erwachte und mit weit geöffneten Augen um sich sah. Zuerst glaubte sie, dass nun ein neuer Alptraum begonnen hatte, als sie den hellen Lichtschein in der Nähe des Fensters bemerkte, der jetzt mit jeder Sekunde immer intensiver zu strahlen begann. Unwillkürlich begann sie zu zittern, als sich innerhalb dieses hellen Scheins die Kon-turen einer Gestalt in einem langen Kapuzengewand abzeichneten, die sich schließlich manifestierten.

»Dania«, vernahm sie dann eine flüsternde Stimme, die direkt von der Gestalt kam, die von dem hellen Lichtschein eingehüllt wurde. »Dania, wach auf!«

Die Kehle der rothaarigen Prinzessin war wie zugeschnürt. Ein lei-ses Stöhnen kam ihr über die Lippen und sie spürte wachsende Furcht tief in ihrem Inneren, die den letzten Rest der Müdigkeit vertrieb.

»Dania, das Reich Kh'an Sor ist in Gefahr«, flüsterte dann die Stimme der Kapuzengestalt. »Die Gefahr lauert bereits - aber der Kö-nig erkennt es nicht. Du musst ihn retten, bevor es zu spät ist - denn es geht auch um dein Leben...«

»Was ist...?«, entfuhr es ihr dann doch, aber die schimmernde Er-scheinung gebot ihr mit einer raschen Handbewegung, jetzt lieber zu schweigen und stattdessen zuzuhören. Dania verhielt sich deshalb ganz still.

»Auch für dich wird es gefährlich«, fuhr die flüsternde Stimme nun fort. »Man trachtet nach deinem Leben - in dieser Nacht. Sei auf der Hut, sonst ist alles zu spät. Denn du musst deinen Bruder retten und den Untergang des Reiches verhindern...«

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Während Dania die letzten Worte hörte, begann die Gestalt bereits zu verblassen, bis der helle Schimmer soweit nachgelassen hatte, dass Dania nur noch den Schein des Mondes erkennen konnte, der durch die Fensteröffnung zu sehen war. Der Rest ihrer Kammer lag bereits wieder völlig im Dunkeln und die Prinzessin fragte sich mehr als nur einmal, ob sie nicht vielleicht doch das alles nur geträumt hatte. Aber sie hatte dies als so real und echt empfunden - also war es kein Ge-spinst ihrer gereizten Nerven, sondern vielmehr ein Wink des Schick-sals, den sie nicht ignorieren konnte!

Die schimmernde Gestalt hatte den Untergang des Reiches pro-phezeit, wenn Dania nichts unternahm - und auch ihr eigenes Leben war in Gefahr. Woher wusste diese Erscheinung das alles? War ihr wirklich ein Gott begegnet, der ihr einen winzigen Einblick in die an-sonsten unbekannte Zukunft gegeben hatte?

Plötzlich zuckte sie zusammen, als sie draußen an der Tür ein lei-ses Kratzen vernahm. Als wenn jemand versuchte, nun die Tür zu öff-nen, ohne dass es Dania bemerkte. Sie wurde kreidebleich, als ihr klar wurde, dass dies womöglich der feige Mörder sein konnte, der es beim ersten mal nicht geschafft hatte, sie aus dem Weg zu räumen. Tage-lang hatte er abgewartet, bis der richtige Moment gekommen war. Hätte Dania jetzt noch tief geschlafen, so wäre sie aus diesem Schlaf viel zu spät erwacht...

Sofort hastete sie zurück zu ihrem Lager. Auf einer Anrichte lag dort ein langer Dolch, den sie seit dem feigen Hinterhalt vor einigen Tagen immer bei sich trug, um sich gegen einen weiteren Anschlag wehren zu können. War jetzt die Stunde gekommen, die sie insgeheim befürchtet hatte?

Dania trat einige Schritte nach hinten, wo das Zimmer von dem hellen Mondschein nicht erleuchtet werden konnte. Zuvor hatte sie die Felle auf ihrem Lager etwas zusammen geschoben, so dass beim ers-ten Anblick der Eindruck entstehen konnte, dass dort jemand tief und fest schlief. Weitere Einzelheiten ließen sich in diesem Halbdunkel oh-nehin nicht feststellen.

Dania starrte mit schreckgeweiteten Augen auf einmal zur Tür, die sich wie von Geisterhand einen Spaltbreit zu öffnen begann. Sie er-

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kannte die Konturen einer vermummten Gestalt, deren Schritte kaum zu hören waren. Wie eine geschmeidige Katze näherte sich der Mörder im Dunkel der Nacht und wich sogar dem Schein des hellen Mondes aus, als er ins Zimmer trat.

Sofort heftete sich sein Blick auf das Lager der Prinzessin, wäh-rend er gleichzeitig etwas unter seinem Gewand hervorholte, das im Licht des Mondes kurz aufblitzte. Dann stürzte er sich auch schon auf das Lager, wo er die schlafende Dania vermutete und stieß zu. Auch wenn Dania innerlich zitterte vor Angst, so wusste sie doch, dass sie jetzt handeln musste, bevor es zu spät war. Sie eilte nun auf leisen Sohlen nach vorn und stieß in dem Moment ihren Dolch dem ver-mummten Mörder von hinten in die Schulter, als dieser ebenfalls zu einem tödlichen Stich ausholte.

Die vermummte Gestalt stieß einen lauten Schrei des Entsetzens aus, als sie mit einem mal begriff, dass der hinterhältige Plan nicht aufgegangen war. Stattdessen war er in eine Falle getappt. Die Mör-derwaffe entglitt seinen Händen, während Danias Dolch tief in der Schulter des Vermummten stecken blieb.

»Hilfe!«, entrang sich nun ein gellender Schrei Danias Kehle. »So helft mir doch!«

Ein gurgelndes Stöhnen kam über die Lippen der vermummten Gestalt, die sich trotz der Schmerzen in der Schulter zu erheben und auf die Prinzessin zu stürzen versuchte. Aber bei dieser Absicht blieb es, denn der Mörder war zu schwach dazu. Er fiel zurück auf das Lager der Prinzessin, während draußen auf dem Gang nun laute Stimmen und hastige Schritte zu vernehmen waren. Nur wenige Atemzüge spä-ter traten bewaffnete Gardesoldaten in die Kammer der Prinzessin. Einer von ihnen trug eine brennende Fackel in der Hand, die nun er-hellte, was Danias Blicken bisher verborgen geblieben war. Zum ersten mal sah sie den Mörder im flackernden Licht der Fackel.

»Ergreift ihn!«, sagte Dania mit sichtlicher Erleichterung, als die vier Gardesoldaten nun in der Kammer standen. »Er hat versucht, mich umzubringen!«

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Nun betrat ein weiterer Gardist die Kammer der Prinzessin, der schon etwas älter war und deshalb nicht so schnell hatte herbeieilen können wie die übrigen Männer.

»Packt diesen Hund!«, befahl er dann den anderen Soldaten. »Nun macht schon - greift ihn euch und nehmt ihm die Maske ab!« Mit gezogenen Schwertern näherten sich die Gardisten dem stöhnenden Mörder, der laut fluchte, als man ihm die Maske vom Gesicht riss und darunter das Antlitz von Maris hervorkam.

»Nein!«, rief Dania ungläubig, als ihr nun klar wurde, was dies zu bedeuten hatte. Sie war die ganze Zeit über in Gefahr gewesen, denn ausgerechnet einer der treuesten und zuverlässigsten Gardisten steck-te hinter diesem feigen Anschlag. Sie hatte Mühe, ihre Fassung wie-derzugewinnen, trat dann aber doch einen Schritt nach vorn, als sie sah, wie der ältere Gardesoldat nach seinem Dolch griff, um den hin-terhältigen Mörder auf der Stelle zu töten, weil er es gewagt hatte, nach dem Leben der Prinzessin zu trachten.

»Warte, Ruhn!«, rief sie dem Gardisten zu. »Ich will wissen, wa-rum er das getan hat. Maris, rede!«, wandte sie sich an den Mörder. »Warum hasst du mich so sehr, dass du mich töten wolltest?«

»Seid alle verflucht!«, kam es nun über die Lippen des entlarvten Gardisten. »Tötet mich doch, wenn ihr wollt - aber keiner von euch wird den Untergang von Kh'an Sor verhindern können. Das glorreiche Heer wird nicht mehr zurückkehren - auch nicht der König. Die Fins-ternis wird herrschen und alle die verschlingen, die ihr nicht dienen wollen!«

Die Soldaten zuckten zusammen, als sie diese Worte vernahmen und auch der ältere Gardist blickte nun ziemlich ratlos drein.

»Diese Welt gehört den Mächten der Dunkelheit!«, rief Maris mit sich überschlagender Stimme. »Sie sind schon lange unter uns und ihr wisst es nicht. Der dunkle Magier wird euch alle vernichten und er ist der Wegbereiter für die, die noch kommen werden...«

Urplötzlich bäumte er sich auf und griff den älteren Gardisten an, um ihm den Dolch zu entreißen. Ruhn war jedoch darauf vorbereitet und handelte geistesgegenwärtig. Er stieß dem Mörder den Dolch in die Kehle und beendete das ruchlose Leben des Mörders von einem

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Augenblick zum anderen. Tot sank Maris zu Boden, wo sich schon bald darauf die Steine rot zu färben begannen.

Dania und alle anderen Anwesenden waren noch zu sehr gefan-gen von den letzten Worten des Mörders. Dann aber fasste sie sich wieder.

»Bringt ihn weg und verscharrt ihn außerhalb der Stadtmauern«, trug sie den Soldaten auf. »Ruhn, du bleibst noch hier. Ich möchte mit dir reden.«

»Selbstverständlich, Prinzessin«, versicherte ihr der ältere Gardist, während die anderen Soldaten die Leiche des Mörders aus der Kam-mer der Prinzessin schafften. Aber bevor sich Dania nun an Ruhn wenden konnte, erklang draußen auf dem Gang die ängstliche Stimme von Danias Zofe Cula, die in diesem Moment kreidebleich in die Kam-mer eilte und erst dann erleichtert aufatmete, als sie Dania erblickte.

»Den Göttern sei Dank!«, entfuhr es ihr dann. »Ich befürchtete schon das Schlimmste. Ich begegnete draußen auf dem Gang Maris, der mich dann plötzlich niederschlug. Wollte er Euch... töten?«

Dania nickte und die Zofe schlug entsetzt die Hände vors Gesicht. »Aber warum?«, fragte Cula. »Er stand doch treu zum König und

auch zu Euch. Was ist nur in ihn gefahren, dass er...?« »Das Böse und die Mächte der Finsternis«, kam ihr Dania zuvor

und blickte dann zu Ruhn, der sich in der Zwischenzeit auch schon seine eigenen Gedanken gemacht hatte. »Wir waren alle blind und haben einem Menschen vertraut, der den Untergang von Kh'an Sor erreichen will. Er ist der Sendbote des Bösen und wir haben ihn emp-fangen wie einen guten Freund!«

»Loon?«, schlussfolgerte Ruhn nun mit noch zögernder Stimme. »Prinzessin, meint Ihr wirklich, dass Loon...?« Er brach mitten im Satz ab, als ihm bewusst wurde, was das zu bedeuten hatte.

»Er ist ein Magier im Dienste des Bösen«, vollendete Dania Ruhns Gedankengänge. »Ich hatte ihm niemals vertraut - der König dagegen um so mehr. Nun ist er in großer Gefahr und wir müssen so rasch wie möglich handeln. Ein Mann, der es geschafft hat, selbst die treuesten Soldaten in seinen Bann zu schlagen, ist zu allem fähig. Ruhn, lass mein Pferd satteln!«, befahl sie dann dem Gardisten. »Ich brauche vier

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treue und erfahrene Männer, die mich begleiten. Wir müssen sofort aufbrechen. Hoffentlich gelingt es uns noch rechtzeitig zur Stelle zu sein.«

Ruhn wusste sofort, worauf Dania hinauswollte und beschloss deshalb, keine unnötigen Fragen mehr zu stellen. Er nickte nur rasch und eilte dann hinaus, um die Befehle der Prinzessin in die Tat umzu-setzen.

»Pack alles zusammen, was ich auf diesem langen Ritt brauche«, sagte Dania nun zu ihrer Zofe. »Ich muss Keron einholen und ihn ein-weihen, was Loon wirklich bezweckt. Ich werde beten, dass wir nicht doch noch zu spät kommen...«

*

Cor'can war zwar schon seit Stunden am fernen Horizont verschwun-den, aber die rothaarige Prinzessin spürte mit jeder Meile, mit der sie und ihre Begleiter sich von der Hauptstadt entfernten, eine wachsende Unruhe tief in ihrem laueren. Deshalb trieb sie ihr Pferd zur Eile an, denn als sie nach einem langen und harten Ritt schließlich die unüber-sichtliche und zerklüftete Felsenregion erreichte, die die Landesgrenze zum Fürstentum von Samara bildete, wurde ihr klar, dass das Heer schon viel weitermarschiert war, als sie vermutet hatte.

Vor den Augen der Prinzessin und denen der Soldaten erstreckte sich schließlich die weite Ebene der Sanddünen - die Todeswüste von Esh. Sie sah die Spuren des Heeres, der Wagen und Karren, die mitten in die sonnendurchglühte Landschaft führten. Wie weit waren sie in diesen trostlosen Landstrich wohl schon vorgedrungen? Waren seit-dem nur Stunden oder schon Tage vergangen?

Auch wenn sie von Sorgen gequält wurde, so blieb ihr und den Soldaten doch nichts anderes übrig, als den Pferden erst einmal eine Ruhepause zu gönnen. Die Tiere waren seit dem Aufbruch aus Cor'can hart geritten und das konnte man ihnen auch ansehen. Sie mussten verpflegt und versorgt werden - also entschied die Prinzessin, bis zum späten Nachmittag abzuwarten und dann den Ritt in die Todeswüste fortzusetzen.

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In den Mienen der Soldaten konnte sie lesen wie in einem Buch. Zwar waren es kampferfahrene und auch treue Soldaten, die Ruhn ausgesucht hatte - trotzdem konnten die Männer ihre stille Furcht vor dem Meer der Sanddünen nicht ganz verbergen. Denn so mancher, der die Todeswüste hatte durchqueren wollen, war niemals an seinem Ziel angelangt. Hitze, Sandstürme und die immer gleich wirkende Landschaft hatten ihr übriges dazu beigetragen, dass sich viele einsa-me Wüstenwanderer dann schließlich in der Weite des Sandmeeres verirrt hatten und dann ganz elend gestorben waren. Dania und die Soldaten hatten deshalb um so mehr Wasservorräte und Proviant bei sich - es blieb aber trotzdem ein Wagnis. Aber das musste Dania auf sich nehmen, denn schließlich ging es um das Schicksal des Königrei-ches!

Als die Sonne schließlich weiter nach Westen wanderte, brachen die Prinzessin und ihre Begleiter auf. Sie verließen die vertraute Fels-landschaft und näherten sich nun dem leer aus Sand und Dünen, das sich bis weit über den Horizont hinaus erstreckte. Von nun konnten sie sich nur noch nach dem Stand der Sonne richten - und natürlich nach den Spuren, die das Heer im Sand zurückgelassen hatte. Aber schon bald kam Wind aus dem Inneren der Todeswüste auf, der den feinen Sand mit sich trug und allmählich begann, die sich noch klar abzeich-nenden Spuren mit der Zeit zuzuwehen. Dania verhüllte ihr Gesicht mit einem Tuch, um sich vor den Sandkörnern zu schützen, aber das half nicht viel. Der Wüstensand war so fein, dass er sogar durch ihr Ge-wand drang und sich überall festzusetzen begann. Ihre Haut begann unangenehm zu jucken und ihre Zunge fühlte sich an wie ein ausge-trockneter Schwamm, während der Wind mit jeder verstreichenden Minute immer stärker wurde. Seltsam, dass dieser heftige Sturm von einem Augenblick zum anderen aufgetreten war. Niemand hatte doch zuvor eine Wolke am Horizont bemerkt. Es war ganz plötzlich gesche-hen, gewissermaßen von einem Atemzug zum anderen...

Als der Wind schließlich so heftig wurde, dass ein Vorwärtskom-men praktisch unmöglich war, ohne die Pferde größten Strapazen aus-zusetzen, entschied sich Dania für das einzig Richtige in dieser Situati-on. Sie lenkte ihr Tier zwischen zwei hohe Dünen, wo sie und ihre Be-

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gleiter wenigstens halbwegs Schutz vor dem Sturm fanden. Zwar weh-te auch hier der Wüstenwind, aber er trug den größten Teil der Sand-körner über ihre Köpfe hinweg, blies sie über die Spitzen der Dünen in Richtung Norden davon.

Die Soldaten zwangen ihre Pferde, weiterhin ruhig zu bleiben und dabei hatten sie ziemliche Mühe, denn die Tiere hatten Angst vor dem stetigen heulenden Wind. Weder Dania noch die Soldaten konnten in dem wirbelnden gelben Sandwolken irgend etwas erkennen. Es war so, als wenn die ihnen bekannte Welt nur wenige Schritte entfernt zu Ende war und dort stattdessen das Chaos begann. Auch die Prinzessin und die Soldaten suchten nun Schutz unterhalb der Düne so gut es eben möglich war, hüllten sich noch zusätzlich in Decken, um so den feinen Sand nicht bis auf ihre Haut durchkommen zu lassen. So ver-harrten sie dort, warteten geduldig das Ende des Sandsturms ab.

Wie viel Zeit wirklich vergangen war, bis der orkanartige Sturm schließlich abebbte, konnten weder Dania noch die Soldaten sagen. Es erschien ihnen aber wie eine Ewigkeit, bis sie es schließlich wagten, die Decken abzulegen und sich wieder zu erheben. Dania schöpfte tief Luft und war sehr erleichtert darüber, dass sie und die Soldaten in dieser Situation das einzig Richtige getan hatten - sie hatten Schutz gesucht und dann geduldig abgewartet. Nun würden sie ihre Suche nach dem Heer schon bald fortsetzen können.

Die Soldaten waren damit zugange, sich um die Tiere zu küm-mern, während Dania einige Schritte weiter nach oben ging. Sie hatte den höchsten Punkt der Düne schon beinahe erreicht, als plötzlich Hufschläge an ihr Ohr drangen, die sie zu Tode erschrecken ließen. Hastig warf sie sich in den Sand und riskierte dann erst einen vorsich-tigen Blick über den oberen Rand der Düne.

Was sie dann sah, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rü-cken. Sie erkannte einen Trupp von zehn Reitern in weißen wallenden Gewändern, die ihre Körper verhüllten und sie gleichzeitig vor der Hit-ze der Wüste schützten. Krieger aus Samara!

Im ersten Moment war Dania wie gelähmt vor Angst, aber dann wusste sie, dass ihr und den Soldaten keine Zeit mehr blieb. Hastig wandte sie sich ab und lief dann zu den Soldaten zurück, winkte ihnen

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mit beiden Händen zu. Die Männer waren natürlich verwundert über das eigenartige Verhalten der Prinzessin. Aber sie begriffen schon bald, um was es jetzt ging. Denn als sie einen kurzen Blick in Danias bestürztes Gesicht warfen, wurde ihnen klar, dass Gefahr drohte.

»Samaraner«, murmelte sie leise und zeigte hinüber zur anderen Seite der Düne. »Es sind zehn Krieger und sie reiten direkt auf unser Versteck zu. Haltet den Pferden die Nüstern zu, bei allen Göttern. Wenn die Tiere nur ein einziges Schnauben von sich geben, dann sind wir alle verloren...«

Sofort beeilten sich die Soldaten, Danias Befehle zu befolgen. Sie kümmerten sich um die Tiere, hielten sie an den Zügeln fest und hat-ten tatsächlich Glück. Da der Sturm abgeflaut war, waren die Pferde auch nicht mehr so aufgeregt wie während des Orkans. Sie verhielten sich ruhig.

Dania spürte den pochenden Schlag ihres Herzens, während sie sich um ihr eigenes Tier kümmerte. Der Wind trug die Stimmen der samaranischen Krieger schwach bis zu ihnen hinüber. Sie waren nur einen Speerwurf entfernt von der Stelle, wo Dania und die Soldaten sich verborgen hielten und es grenzte schon fast an ein Wunder, dass keiner der Feinde auf den Gedanken kam, zur anderen Seite der Düne zu reiten.

Die Prinzessin zuckte zusammen, als sie plötzlich hörte, dass die Krieger aus Samara über Kh'an Sor sprachen. Sie konnte zwar nur Wortfetzen verstehen, aber als sie dann hörte, wie Loons Name fiel, da wusste sie endgültig Bescheid, dass ihre Vermutungen nun zur Ge-wissheit geworden waren. Loon spielte ein eigenes Spiel - und dieses hatte den Untergang des Königreiches von Kh'an Sor zum Ziel!

Ihr und den Soldaten blieb nichts anderes übrig, als sich nicht zu rühren und zu hoffen, dass sie nicht doch noch in letzter Sekunde von den feindlichen Kriegern entdeckt wurden. Aber die Götter schienen in diesen so entscheidenden Sekunden auf ihrer Seite zu stehen. Sie ver-hinderten, dass die Samaraner die nähere Umgebung absuchten. Stattdessen trieben die Krieger wieder ihre Pferde an und verschwan-den schon wenige Augenblicke später am südwestlichen Horizont. Als wenn es ein Spuk gewesen wäre, der niemals existiert hätte!

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Trotzdem warteten Dania und die Soldaten noch einige Zeit ab, bis sie sich schließlich zwischen den Dünen hervorwagten und ihren Weg ins Innere der Wüste fortsetzten. Einmal hatten sie Glück gehabt - das musste aber nicht bedeuten, dass dies beim zweiten mal auch so sein würde...

*

Loon lachte gehässig, als er erkannte, dass der blonde Barbar ihm nicht länger folgen konnte. Der heftige Sandsturm, den der dunkelge-kleidete Magier heraufbeschworen hatte, befand sich nun zwischen ihm und Thorin und das würde diesen neugierigen Hund jetzt eines Besseren belehren.

Trotzdem wartete er noch ab, bevor er weiter hinein in die Wüste ritt. Der Wind machte Loon nichts aus - die aufgewirbelten Sandschlei-er streiften weder ihn noch das Pferd, das er ritt. Als befände sich Loon in einer schimmernden Aura, die ihn unverwundbar machte.

So ritt er noch weiter, bis er ganz in der Einsamkeit der Dünen-landschaft schließlich das Pferd zügelte und dann aus dem Sattel stieg. Mit seinen knochigen Händen strich er kurz über den Kopf des Tieres und dieses verhielt sich daraufhin vollkommen ruhig, während Loon selbst einige Schritte weiterging, bis er schließlich eine Stelle gefunden hatte, die er für die richtige hielt.

Hier kniete er nieder und betete mit monotoner Stimme zu den Mächten, denen er sich verschworen hatte. Mit geschlossenen Augen kam ein leiser Sprechgesang über seine Lippen - in einer Sprache, die die meisten der Menschen und Gelehrten bereits vergessen hatten. Nicht so Loon, denn seit er erkannt hatte, dass er sein Leben nicht der Ordnung, sondern den Mächten der Finsternis widmen musste, war ihm klar geworden, welchen Göttern er zu dienen hatte, um die Macht zu erlangen, die er sich zeit seines Lebens erhofft hatte.

»Azach, R'Lyeh und Modor - ihr Götter der dunklen Kräfte - erhört mein Flehen«, rief er gläubig, während nicht weit von ihm entfernt der Sandsturm an Heftigkeit noch zunahm und das Land jenseits des Hori-zontes - also dort, wo sich auch die Oase befand - in ein Meer aus

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Finsternis tauchte. »Schickt mir euren treuen Vasallen! Orcon Drac - Ritter der Finsternis - komm und zeig dich deinem gehorsamen Die-ner!«

Diese flehenden Worte murmelte er mehrmals vor sich und ver-beugte sich dabei immer wieder. Aber er musste dennoch lange war-ten, bis endlich etwas geschah. Denn von einem Atemzug zum ande-ren drehte plötzlich der Wind und blies Loon eine dichte Staubwolke ins Gesicht. Gleichzeitig zerriss ein lauter Donner das stetige Auf- und Abheulen des Windes.

Loon versuchte die Augen zu öffnen, aber der Wind war nun so heftig geworden, dass er die Lider zu schmalen Schlitzen zusammen-kneifen musste, um sich vor den feinen Sandkörnern zu schützen. Er-neut erfüllte ein Donnerschlag die Dünen und im selben Moment ebbte auch der heftige Wind wieder etwas ab. Zumindest in Loons unmittel-barer Umgebung, so dass er es jetzt wagen konnte, den Kopf zu he-ben.

Das war der Augenblick, wo er die Gestalt in der dunklen schim-mernden Rüstung auf der höchsten Stelle der Düne entdeckte. Der Panzer bedeckte den ganzen Körper und der prachtvolle Helm verhüll-te ebenfalls das Gesicht des Reiters. Die rechte Hand reckte ein flam-mendes Schwert empor, bevor der dunkle Ritter dann zu Loon schau-te.

»Du hast die Mächte der Finsternis gerufen, Sterblicher!«, erklang die dunkle Stimme laut und deutlich zu Loon herüber. »Und man hat dein Flehen erhört. Was willst du?«

Ein Schauder jagte den anderen in Loon, als er Orcon Drac nur wenige Schritte von ihm entfernt erblickte. Aber er durfte vor dem Ritter der Finsternis jetzt keine Furcht zeigen.

»Mächtiger Orcon Drac«, begann Loon nun und verneigte sich vor der unheimlichen Gestalt, die so unheimlich wirkte. »Ich habe meinen Teil des Blutpaktes erfüllt und das ahnungslose Heer in die Todeswüs-te geführt. Dort wird König Keron dann sterben. Werdet ihr mir auch weiterhin zur Seite stehen?«

»Zweifelst du an den Mächten der Finsternis, Loon?«, kam es höhnisch unter dem schimmernden Helm hervor. »Du hast dich für die

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dunklen Götter entschieden und uns dein Leben gegeben - also wer-den wir dich auch nicht im Stich lassen. Denn ich weiß, dass du uns sehr geholfen hast. Auch Fürst Dion in Samara glaubt dir - du hast ihn und diesen ahnungslosen Steppenkönig Keron geschickt gegeneinan-der aufgebracht. Die Götter der Finsternis wissen das, Loon. Sie wis-sen das und noch viel mehr!« Erneut lachte er laut und schallend. »Du wirst deine Belohnung erhalten, wenn die Zeit gekommen ist, Loon. Wenn die Schlacht zwischen dem Licht und der Finsternis geschlagen ist, werden wir diejenigen nicht vergessen, die auf uns den Eid ge-schworen haben. Denk daran, wenn du jetzt mit den Kriegern aus Sa-mara sprichst. Sie werden bald hier sein...«

Ein heftiger Windwirbel verschluckte die letzten Worte Orcon Dracs und Loon musste die Augen schließen. Als er sie wieder öffnete, war von dem Ritter der Finsternis weit und breit nichts mehr zu sehen. Aber Loon wusste, dass dem nicht so war. Auch wenn der unheimliche Ritter wieder zu den Göttern der Finsternis zurückgekehrt war, so spürte der Magier noch einen Teil des Grauens, das ihn beim Anblick Orcon Dracs erfasst hatte. Loon brauchte einige Zeit, um wieder zu sich selbst zu finden und war deshalb sehr erleichtert, als er dann schließlich Hufschläge vernahm, die sich ihm aus südlicher Richtung näherten. Schon bald darauf erblickte der Magier einen Reitertrupp von zehn samaranischen Kriegern, die ihre Pferde genau auf den war-tenden Loon zu trieben und dann dicht vor ihm zügelten.

Der Anführer des Kriegertrupps, ein hünenhafter Kämpfer mit bär-tigem, sonnenverbranntem Gesicht, hob jetzt die rechte Hand zum Gruß.

»Es ist gut, Euch zu sehen, Loon«, rief er ihm dann zu. »Habt Ihr Neuigkeiten für uns und den Fürsten?«

Loon hatte die Schrecken der letzten Minuten jetzt soweit verdaut, dass er nach außen hin wieder den mächtigen Magier spielen konnte. Für normale Sterbliche wie diese Krieger war er natürlich eine beein-druckende Gestalt. Aber im Vergleich zu den wirklichen Göttern und deren Vasallen war er ein Nichts!

»Es läuft alles nach Plan«, berichtete Loon dann und erzählte den Kriegern, dass König Kerons Heer in der Oase nicht weit von hier ihr

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Lager aufgeschlagen hatte. »Wir können sie einkreisen und dann alle töten, wenn Ihr wollt, Loon«, erwiderte der Anführer der samarani-schen Krieger daraufhin. »Es genügt nur ein einziger Befehl von Fürst Dion - und wir werden zuschlagen.«

»Noch nicht«, winkte Loon ab. »Das würde zu viele Krieger auf Seiten Samaras kosten. Nein, ich will es anders haben. Morgen bei Sonnenaufgang führe ich das Heer weiter nach Süden, aber auf Um-wegen. Die Soldaten werden dann entkräftet bei den roten Felsen im Südwesten von Samara ankommen.«

»Ich verstehe«, grinste der bärtige Hüne. »In der Tat ist das ein vortrefflicher Plan. Ich werde Fürst Dion berichten, was Ihr vorhabt und es wird so geschehen, wie Ihr es denkt, Loon. Diese ahnungslosen Steppenhunde werden uns erst sehen, wenn wir den Tod schon unter sie getragen haben...«

»Wartet auf mein Zeichen!«, sagte Loon. »Und betet zu eurem Gott Parr, dass er euch erhört - auch ich werde das tun.«

Die Krieger nickten nur. Sie hatten das erfahren, was sie wissen wollten. Wenige Minuten später rissen sie auch schon ihre Pferde her-um und tauchten in der endlosen Dünenlandschaft der Todeswüste unter. Auch Loon ging nun zu seinem Pferd zurück und saß dann auf. Wirklich, bei diesen einfachen Völkern konnte man viel erreichen, wenn man vorgab, in Verbindung mit ihren jeweiligen Göttern zu ste-hen. Bei den Menschen von Kh'an Sor war es der Gott Baa'Lan und bei den Samaranern Parr. Aber was waren diese Götter gegen die Mächte der Finsternis? Nichts als Namen, die schon lange im Äther der Dimen-sionen verhallt waren. Nur noch ein paar dumme Menschen glaubten an sie und beteten zu ihnen. Aber diese Götter waren schon lange tot...

*

»Was grübelst du so, Thorin?«, riss ihn die neugierige Stimme Jercs aus seinen düsteren Gedanken, während draußen der Wüstenwind an den Planen der Zelte riss, die die Soldaten hastig errichtet hatten, um sich vor dem plötzlich hereingebrochenen Sturm zu schützen. »Denkst

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du immer noch daran, dass du Loon nicht folgen konntest? Vergiss ihn am besten - es ist ganz allein seine Schuld, dass er in diesem Sturm hinaus in die Wüste geritten ist. Wenn ihm etwas zustößt, dann hat er es sich eben selbst zuzuschreiben...«

»Ich denke nicht daran, ob ihm etwas zustößt, Jerc«, erwiderte Thorin und riskierte einen kurzen Blick aus dem Zelt hinaus. Draußen heulte der Wind immer noch und der größte Teil des Heeres hatte Un-terschlupf gesucht. Nur die von König Keron aufgestellten Wachen hatten eben das traurige Los gezogen, selbst in diesem Sturm auf ih-rem Posten bleiben zu müssen. »Mir gefällt der Gedanke nur nicht, was Loon da draußen in der Wüste zu suchen hat. Wenn er zu seinen Göttern beten will, dann kann er das genauso gut auch hier mitten unter uns tun, oder?«

»Was weiß ich?«, antwortete Jerc mit einer viel sagenden Geste. »Ich bin kein Gelehrter und auch kein Priester und mit den Göttern habe ich auch bisher noch nicht gesprochen. Vielleicht gibt es sie ja gar nicht...«

Thorin behielt seine Meinung in diesem Moment lieber für sich. Seine Aufmerksamkeit galt jetzt ohnehin dem Sturm, dessen Heulen gerade etwas nachließ, so dass Thorin einen zweiten Blick aus dem Zelt riskierte und erleichtert aufatmete, als er sah, dass sich die dich-ten gelben Wolken weiter nordwestlich verzogen. Bald darauf war das schlimmste Chaos auch vorbei, so dass Thorin und die anderen Solda-ten ihre Zelte verlassen konnten. Der Wind hatte den feinen Sand ü-berall hingeweht und alles damit bedeckt. Einige der Soldaten fluchten laut, während sie den Sand aus ihren Kleidern schüttelten und laut husteten. Thorin war froh, endlich wieder frei atmen zu können, denn seit der Sturm über sie alle so plötzlich hereingebrochen war, hatte er das Gefühl gehabt, langsam bei lebendigem Leibe zu ersticken. Er blickte sich im Lager um und ging dann hinüber zu dem Wasserloch, das vom Sand auch in Mitleidenschaft gezogen worden war.

Er hörte die fluchenden Stimmen der Pferdewächter, die immer noch alle Hände voll zu tun hatten, auch wenn der Sturm jetzt vorbei war.

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Thorin bückte sich kurz und spritzte sich etwas Wasser ins Ge-sicht, um den Staub loszuwerden. Dann trank er einige Schlucke und empfand es als das Kostbarste, was er seit langem zu sich genommen hatte.

Als er sich dann wieder erhob, fiel sein Blick in Richtung Nordwes-ten, weil er glaubte, von dort plötzlich Hufschläge gehört zu haben. Nur wenige Atemzüge später wurde ihm klar, dass er sich nicht ge-täuscht hatte. Einer der Wachposten kam nun hastig zurück zur Oase geritten und er war nicht allein. In seiner Begleitung befanden sich noch fünf Reiter - und einer davon war eine Frau!

»Dania«, murmelte Thorin voller Erstaunen, als er die langen ro-ten Haare der Prinzessin erkannte. »Was bei Odan...?«

Er brach mitten im Satz ab und hatte es nun sehr eilig. Der kleine Reitertrupp näherte sich nun der Stelle der Oase, wo sich auch die übrigen Pferde befanden. Thorins Blicke und die der Prinzessin trafen kurz aufeinander und Thorin glaubte grenzenlose Erleichterung in ih-ren Zügen zu erkennen, als sie ihn jetzt erkannte.

»Thorin!«, rief ihm Dania zu, während sie ihr Pferd hart zügelte und dann mit einer geschmeidigen Bewegung abstieg. »Bring mich sofort zum König - ich muss mit ihm reden!«

»Er wird nicht erfreut sein, Euch zu sehen, Prinzessin«, antwortete Thorin stattdessen. »Dieser Ritt durch die Wüste - es hätte Euch alles mögliche zustoßen können. Wisst Ihr das eigentlich?«

»Und ihr alle zieht in den Tod und seid vollkommen ahnungslos!«, erwiderte Dania mit blitzenden Augen. »In Samara weiß man schon längst, was hier geschieht...«

Thorin zuckte zusammen, als er die Worte der Prinzessin hörte. Er kümmerte sich auch nicht um das Murmeln der Männer, die das natür-lich jetzt auch mitbekommen hatten.

»Kommt mit«, meinte er dann nur knapp und ging dann mit der Prinzessin zum Zelt, in dem der König sich aufhielt.

»Geh mit hinein, Thorin«, bat ihn Dania dann, als sie bemerkte, dass sich der blonde Krieger zurückziehen wollte. »Ich möchte, dass du auch erfährst, welches schmutziges Spiel Loon treibt...«

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Als Thorin diesen Namen hörte, gab es auch für ihn kein Zurück-halten mehr. Er nickte nur und folgte dann der Prinzessin, die den bei-den Wachen vor dem Zelt des Königs einen hastigen Wink gab, beisei-te zu treten. Zwar waren die Soldaten erstaunt, die Prinzessin hier auf einmal zu sehen, aber sie kamen gar nicht mehr dazu, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, denn Dania hatte bereits das Zelt betreten und Thorin war ihr auch schon gefolgt.

»Dania!«, vernahm Thorin dann die erstaunte Stimme des Königs, der vollkommen überrascht war, seine Schwester jetzt und hier anzu-treffen. »Bist du denn vollkommen verrückt geworden, mir zu folgen? Ich hatte dir doch aufgetragen, in Cor'can zu bleiben und dich um...«

Er brach ab, weil er erst jetzt sah, dass Thorin ebenfalls hereinge-kommen war. Natürlich bemerkte Dania das und setzte rasch zu einer Antwort an.

»Ich habe Thorin gebeten, mitzukommen, weil ich möchte, dass er mit anhört, was ich dir zu sagen habe, Keron«, erwiderte sie rasch. »Es sind Dinge geschehen, die du unbedingt wissen musst, Bruder - sonst hätte ich diesen gefährlichen Ritt gewiss nicht auf mich genom-men. Aber du und das Heer - ihr alle seid in großer Gefahr!«

»Ein Krieg birgt immer ein Risiko, Dania«, sagte Keron. »Aber das wissen wir alle...«

»Nichts weißt du - aber auch gar nichts, Keron!«, fiel ihm seine Schwester mit blitzenden Augen ins Wort. »Während du dich auf einen Mann verlässt, der den Untergang des Reiches längst geplant hat, hat man versucht, mich umzubringen!«

Kerons Miene war nun eine Mischung aus Erstaunen und Grübeln, als er die Worte Danias vernahm. Auch Thorin, der nun Zeuge wurde, wie Dania ihrem Bruder und auch ihm erzählte, was in der Zwischen-zeit alles in Cor'can geschehen war, erging es nicht anders, als er von dem zweiten Mordanschlag erfuhr und wer dahinter steckte.

»Maris war ein treuer Gardesoldat«, sagte der König und strich sich gedankenverloren über seinen Bart. »Er hätte sein Leben für die Königsfamilie gegeben, wenn man es von ihm verlangt hätte. Und jetzt das? Ich begreife einfach nicht, was das zu bedeuten hat.«

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»Maris war das Werkzeug eines Mannes, der deinen Tod schon vorbereitet hat, Bruder«, fuhr Dania mit gezwungen ruhiger Stimme nun fort. »Wärest du dabei gewesen und hättest die letzten Worte des Mörders gehört, bevor er starb, dann würdest du es verstehen, Keron. Maris handelte in Loons Auftrag und er sagte auch, dass Loon zu den Mächten der Finsternis gehört!«

Nun war es heraus. Lähmende Stille breitete sich für endlose Se-kunden im Zelt des Königs aus. Fassungslosigkeit zeichnete sich auf den Zügen des Herrschers von Kh'an Sor ab, als er das erfuhr - und es kümmerte ihn auch nicht, dass ein einfacher Hauptmann jetzt Zeuge seiner persönlichen Erschütterung wurde.

»Loon hat mir doch das Leben gerettet«, sagte Keron schließlich mit bitterer Stimme. »Er war ein guter Berater und ich habe mich im-mer auf ihn verlassen können. Und das soll nur deswegen geschehen sein, damit er unser Reich in den Krieg stürzt? Bei allen Göttern, Dania - ich hätte doch nie geahnt, dass Loon einen Verrat plant! Das musst du mir glauben, Schwester.«

»Und mich wollte Loon von Anfang an aus dem Weg haben, weil ich misstrauisch wurde, Keron!«, fuhr Dania mit ungerührter Stimme fort. »Spätestens da hättest du auf meinen Rat hören sollen - aber du hast es nicht getan. Ich bin deshalb sofort aufgebrochen. In der Wüste wären meine Soldaten und ich beinahe mit einem Kriegertrupp aus Samara zusammengestoßen. Aber ich danke den Göttern dafür, dass uns die Feinde nicht entdeckt haben. Ich konnte aber einige ihrer Wor-te hören. Sie sprachen über Loon und über das, was er mit uns im Schilde führt. Spätestens dann wurde mir klar, welch großer Verrat hier geplant worden ist. Deshalb bin ich sehr erleichtert darüber, dass ich noch rechtzeitig das Lager erreicht habe, bevor noch etwas Schlimmeres passiert. Du musst Loon sofort ergreifen lassen!«

»Er ist nicht hier«, unterbrach Keron seine Schwester. »Kurz bevor der Sturm ausbrach, ritt er hinaus in die Dünen, um zu Baa'Lan zu beten.«

»Und ich versuchte, ihm zu folgen, König«, meldete sich Thorin nun zu Wort. »Weil ich ihm nicht glaubte, dass er zu seinem Gott be-ten wollte. Aber als ich das Lager verließ, begann der Sturm. Jetzt, wo

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ich die Worte der Prinzessin gehört habe, glaube ich, dass dieser Sturm nicht zufällig ausbrach. Loon wollte nicht, dass ihm jemand folgt - und dafür gibt es nur einen einzigen Grund. Er hat etwas zu verber-gen!«

»Dania, Thorin!«, sagte Keron und erhob sich nun hastig von sei-nem Lager. »Natürlich habt ihr recht. Ich muss blind gewesen sein, dass ich einem Mann wie Loon mein Vertrauen geschenkt habe. Ich werde, sofort befehlen, ihn zu ergreifen, sobald er von seinem Ritt zurückkehrt.«

»Ich kümmere mich darum«, sagte Thorin mit unterdrückter Wut in der Stimme, weil er selbst Loon nicht früher hatte entlarven können.

Eigentlich hatte er noch mehr sagen wollen, aber in diesem Au-genblick hörte er draußen vor dem Zelt Stimmen. Sofort riskierte er einen Blick hinaus und sah, dass von den Dünen her ein einzelner Rei-ter zurück ins Lager geritten kam. Ein Reiter, dessen dunkle Kleidung sich scharf vor dem gelben Sand abhob.

»Es ist Loon«, sagte er dann zu Keron und Dania. »Ihr bleibt bes-ser im Zelt zurück, bis der richtige Moment gekommen ist, Prinzessin«, bat er Dania, als er sah, wie sie hinauseilen wollte. »Wir sollten Loon ganz plötzlich überraschen mit dem, was wir wissen. Diesen Moment werde ich dann ausnutzen, um ihn zu ergreifen. Vergesst nicht, ein Mann, der mit bloßem Willen über solche Stürme gebietet, ist gefähr-lich. Wir alle kennen sein wahres Gesicht noch nicht - deshalb müssen wir vorsichtig sein.«

»Thorin hat recht«, pflichtete ihm der König bei. »Wenn ich nach dir rufe, dann kommst du aus dem Zelt - aber nicht früher. Den Rest überlass mir und meinen Männern!«

Dania nickte nur und zog sich zurück, während Keron einigen sei-ner Soldaten hastige Befehle erteilte. Ihr Herz pochte wie wild, als auch sie den heran reitenden Loon erkannte. Gleich würden sie alle das wahre Gesicht des Verräters erkennen!

*

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Loon wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit der Sturm, den er kraft seines Willens heraufbeschworen hatte, wieder abgeflaut war. Auf jeden Fall war die Sonne nun ein gutes Stück weitergewandert und neigte sich dem Westen zu. König Kerons Soldaten sollten diese Gele-genheit ruhig noch einmal nutzen, um ein paar ruhige Stunden hier an diesem Ort der Stille und des Friedens zu verbringen. Denn das Heer war bereits dem Untergang geweiht und keiner der Söldner ahnte et-was davon. Keron vertraute ihm so sehr, dass er nicht spürte, dass er und seine Soldaten schon bald wie Lämmer zum Opferaltar geführt werden würden...

Mit diesen Gedanken lenkte Loon sein Pferd genau auf das Zelt des Königs zu. Er sah auch schon von weitem, dass Keron in diesem Augenblick aus dem Zelt kam. Was ihm allerdings nicht gefiel, war die Tatsache, dass Thorin bei ihm war. Was hatte dieser blonde Barbar in der Nähe des Königs verloren? Nun, Loon würde es gleich erfahren und dann dafür sorgen, dass Thorin recht bald begreifen würde, dass er in unmittelbarer Nähe des Herrschers nichts zu suchen hatte.

Der dunkelgekleidete Magier zügelte sein Pferd unweit des Kö-nigszeltes, während er dem Herrscher kurz zuwinkte.

»Ihr wart lange weg, Loon«, wandte sich der König an ihn, bevor Loon selbst das Wort ergreifen konnte. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Ihr allein in diesem fürchterlichen Sturm da draußen - es hätte Euch doch etwas zustoßen können...«

»Baa'Lan beschützt die Seinen, mein König«, erwiderte Loon. »Außerdem kenne ich die Todeswüste gut genug, um mich in acht zu nehmen. Zum Glück konnte ich noch in den Schutz einiger Dünen ge-langen, bevor der Wind noch heftiger wurde. Dort habe ich dann Zwie-sprache mit dem mächtigen Baa'Lan gehalten und...«

»... und wahrscheinlich auch mit Kriegern aus Samara!«, schnitt ihm Keron das Wort ab. Er konnte sich nicht mehr länger zurückhalten und blickte Loon nun wütend an.

Diese schwerwiegende Anschuldigung kam so plötzlich über die Lippen des Herrschers, dass selbst Loon ein Zusammenzucken nicht verhindern konnte. Trotzdem hatte er aber seine Fassung sehr schnell

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wieder gewonnen. Seine Miene war nun eine Mischung aus Erstaunen und Unverständnis, als er sich wieder an den König wandte.

»Verzeiht mir, mein König - aber ich verstehe nicht, was Ihr sagen wollt«, sagte er. »Ihr werft mir Verrat vor? Hat Euch dieser Barbar dort aufgehetzt?« Er warf dabei Thorin einen zornigen Blick zu, weil er vermutete, dass der blonde Krieger nicht ganz unschuldig daran war, dass Keron sich ihm gegenüber nun so abweisend zeigte.

»Loon, sagt mir nur noch eins - warum habt Ihr das getan?«, fragte ihn stattdessen der König. »Welchen Preis zahlt Euch Fürst Di-on, damit Ihr mein Heer in den Tod führt? Und ich habe Euch vertraut - in allem!«

»Mein König, ich habe Euch Treue geschworen«, versuchte es Loon noch einmal, während er bemerkte, dass die Soldaten in seiner unmittelbaren Nähe ihre Hände gefährlich nahe an den Schwertern hatten. »Wenn Ihr mich als einen Verräter hinstellen wollt, so beweist es - ich werde Euch schon zeigen, dass an diesen Gerüchten nichts dran ist!«

»Trotzdem habt Ihr Maris gedungen, mich umzubringen!«, erklang nun eine helle Stimme aus dem Inneren des Zeltes. Augenblicke später trat zu Loons sichtlicher Überraschung Dania heraus und blickte ihn mit funkelnden Augen an. »Das Schicksal hat es verhindert, dass ich das Opfer eines zweiten feigen Mordes wurde, Loon. Kurz vor seinem Tod hat Maris gestanden, wer hinter allem steckt. Ich bin deshalb so-fort los geritten, um den König zu warnen - den Göttern sei Dank, dass ich noch rechtzeitig gekommen bin.«

»Prinzessin - ich war die ganze Zeit über hier mit dem Herrscher zusammen«, verteidigte sich Loon. »Wie also soll ich Maris angestiftet haben? Meint Ihr nicht, dass Ihr Euch nicht da wieder etwas einredet wie schon einmal?«

»Schweigt, Loon!«, fiel ihm Dania ins Wort und trat nun einige Schritte nach vorn, weil sie ihre Wut einfach nicht mehr zäumen konn-te. »Als der Sandsturm aufkam, entdeckten meine Männer und ich einige Krieger aus Samara, die uns aber zum Glück nicht gesehen ha-ben. Das, was diese Männer zu besprechen hatten, klang sehr interes-

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sant, Loon. Euer Name fiel nämlich - Ihr müsst also in Samara sehr bekannt sein und ich frage mich, warum das so ist!«

Jetzt war Loon doch sichtlich nervös, als er die Anschuldigungen der Prinzessin hörte. Er wich dem Blick Danias und dem ihres Bruders aus und sah gleichzeitig nach allen Seiten. Inzwischen hatten einige der Söldner bereits auf ein Zeichen des Königs ihre Waffen gezogen und waren unbemerkt in Loons Rücken gelangt.

»Steigt ab, Loon!«, forderte ihn Keron nun mit strenger Stimme auf. »Ihr werdet Euch für das zu verantworten haben - und dafür kann es nur eine Strafe geben. Nämlich den Tod!«

Falls der König jedoch geglaubt hatte, dass Loon angesichts dieser Beschuldigungen nun aufgab, so wurde er in den nächsten Sekunden eines Besseren belehrt. Anstatt sich den Soldaten zu ergeben, gab es für den Mager nur noch eine einzige Chance - nämlich die Flucht nach vorn! Urplötzlich drückte er dem Pferd die Hacken in die Weichen. Das Tier machte einen Satz nach vorn, direkt auf die Prinzessin zu, die zu spät reagierte. Loons Hand zuckte vor und riss die vollkommen über-raschte Dania an sich, zog sie dann hoch in den Sattel, während das Pferd weiter nach vorn preschte.

Die Prinzessin schrie laut auf und versuchte sich natürlich zu weh-ren. Aber Loon war der Stärkere - auch wenn man es seinem hageren Körper nicht ansah.

Während der Magier Dania in Sekunden in den Sattel zu sich zog, murmelte er einen leisen Bannspruch in einer längst vergessenen Sprache, der schon zu wirken begann, bevor Thorin, Keron oder irgend einer der anderen Soldaten etwas dagegen unternehmen konnte. Tho-rin, der schon das Unheil hatte kommen sehen, als die Prinzessin ent-gegen der Vereinbarung das Zelt zu früh verlassen hatte, um dem schurkischen Loon ihre Anschuldigungen selbst ins Gesicht zu schleu-dern, hatte zwar noch eingreifen wollen - aber bevor er es schaffte, Sternfeuer aus der Scheide zu reißen, wurde auch er ein Opfer des Bannfluchs, mit dem Loon seine Gegner belegte.

Thorin hörte die Hilferufe der Prinzessin auf einmal wie aus ganz weiter Ferne. Seine Beine wurden schwer wie Blei und schienen ihm zumindest jetzt gar nicht mehr gehorchen zu wollen. Er versuchte,

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einen Fuß vor den anderen zu setzen, aber das gelang ihm nicht. Auch der König und die anderen Soldaten, die auf Befehl ihres Herrschers Loon ergreifen wollten, konnten sich kaum noch bewegen. Es war fast so, als wenn eine unsichtbare Hand sämtliche Muskeln ihrer Körper lähmte und sie dazu verdammte, den Magier an der Flucht nicht mehr hindern zu können. Voller Entsetzen bemerkte Thorin, dass Loon den Kreis der Bewacher jetzt durchbrochen hatte und mit der Prinzessin nun hinaus in die Wüste ritt - genau in die Richtung, aus der er soeben gekommen war! Alles in Thorin sträubte sich dagegen, diesen Hund entkommen zu lassen.

Er versuchte, seinen Arm zu bewegen, aber der war so schwer, dass es eine Ewigkeit dauerte, bis er schließlich mit übermenschlicher Anstrengung mit den Fingern den Griff der Götterklinge ertastete. Ge-nau in diesem Moment fühlte Thorin die Wärme Sternfeuers, die auf ihn überging und die lähmende Starre, die von seinen Muskeln Besitz ergriffen hatte, allmählich vertrieb. Dann riss der blonde Krieger die Klinge ganz aus der Scheide und reckte sie hoch in den Himmel em-por, so dass sich das Licht der grellen Sonne darin spiegelte. Sternfeu-er begann in einem gleißenden Licht zu erstrahlen, während die übri-gen Söldner und König Keron nun ebenfalls ihre Starre ganz langsam verloren. Das nahm Thorin aber nur noch am Rande wahr, denn er rannte bereits hinüber zu seinem Pferd und schwang sich hastig auf den Rücken des Tieres. Um das Pferd zu satteln, blieb ihm keine Zeit mehr, denn er musste den flüchtigen Loon einholen, bevor dieser in der Weite der Todeswüste untergetaucht war.

Das Pferd schien zu begreifen, was sein Reiter von ihm erwartete und preschte sofort los. Thorin war ein guter Reiter und konnte sich auch ohne Sattel auf dem Rücken des Tieres halten. Mit der einen Hand hielt er die Zügel, in der anderen hatte er die Götterklinge bereit, während er der Spur Loons nun folgte.

Thorin achtete nicht mehr darauf, was mit dem König und seinen Soldaten geschah. Der Bannfluch Loons schien bei ihnen seltsamer-weise länger anzuhalten. Thorin schrieb dies einzig und allein den Kräften der Götterklinge zu, dass die Lähmung jetzt schon von ihm gewichen war. Nur so hatte er sich überhaupt an die Verfolgung des

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Magiers machen können. Und diesmal würde er ihn gewiss nicht mehr entkommen lassen. Selbst wenn dieser Ritt auf direktem Wege in den Schlund der Finsternis führen sollte...

*

Zwischenspiel Die Stadt schlief einen äonenlangen Schlaf. Königreiche waren ent-standen und bald darauf auch schon wieder untergegangen. Die Stadt hatte viele Herrscher kommen und gehen sehen - aber die Mauern hatten ewig gestanden. Bis zu dem Tag, an dem Hrun-ter-Khan der neue Herrscher seines Volkes wurde. Unter seiner Macht erlebte das Volk eine beispiellose Schreckensherrschaft und selbst die Priester der alten Götter hatten seiner Macht nichts entgegenzusetzen, denn die alten Götter schwiegen und erhörten ihre Gebete nicht mehr.

Hrun-ter-Khan hatte das größte Heiligtum seines Volkes aus dem Marmortempel entwendet. Der Ring der Zystar, der bisher die Geschi-cke des Volkes durch sein Orakel bestimmt hatte, war machtlos ge-worden. Hrun-ter-Khan hatte ihn außer Landes geschafft, um so die Macht der Priester zu brechen, die ihn hatten stürzen wollen. Er rächte sich dafür auf besonders grausame Weise an ihnen, indem er die Zu-gänge des Marmortempels versiegeln ließ und die Priester, die sich darin noch aufhielten und versuchten, Widerstand zu leisten, einem grausamen Tod überließ. Und das Volk sah zu und unternahm nichts gegen den Tyrannen, denn die Todestruppen Hrun-ter-Khans brachen jeden noch so geringen Widerstand, erstickten ihn sofort im Keim.

Als der letzte Priester der alten Götter in den Mauern des Marmor-tempels sein Leben aushauchte, schickte er einen letzten flehenden Hilferuf zu den alten Göttern und verfluchte sie, weil sie sein Volk un-tergehen ließen. Jedoch erhörten sie ihn nicht, denn der Ring der Zystar - die einzige Möglichkeit, um mit den Göttern in Verbindung zu treten - war und blieb verschwunden. Niemand wusste mehr etwas davon und schon bald darauf suchte eine grausame Plage die Stadt des Tyrannen Hrun-ter-Khan heim und wütete unter ihren Bewohnern. Die schwarze Pest raffte einen Großteil der Bewohner dahin. Dunkle

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Rauchwolken stiegen aus der Stadt empor, als man die Leichen zahl-reicher Toter verbrannte und versuchte, so Herr über die Seuche zu werden.

Der Herrscher selbst hatte sich in diesen Tagen ganz in seinem Palast verborgen, denn er fürchtete den Tod und erinnerte sich wieder an die Prophezeiungen eines alten Sehers, der der Stadt den Unter-gang vorausgesagt hatte, weil der Ring der Zystar verschwunden war. Hrun-ter-Khan hatte ihn daraufhin hinrichten lassen - aber die Worte des Mannes waren in seiner Erinnerung haften geblieben. Jetzt, wo die grausame Seuche sein Volk plagte, erinnerte er sich wieder daran.

Aber es war schon zu spät, denn der tödliche Keim der Krankheit suchte auch die Familie des Tyrannen heim. Zuerst wurde Hrun-ter-Khans Frau von der Seuche dahingerafft, darauf folgten seine Tochter und sein Sohn, der einmal der Erbe des Reiches werden sollte. Und zuletzt starb auch Hrun-ter-Khan in einem schlimmen Fieber, das ihn in den letzten Augenblicken seines Lebens ans Krankenlager fesselte.

Als der Herrscher starb, war die Stadt schon tot. Die Klagerufe und das Flehen des sterbenden Volkes waren verstummt. Die Häuser der Stadt verfielen und Ruinen säumten den Ort, der einst voller Glanz gewesen war. Die Natur eroberte zurück, was der Mensch ihr entrissen hatte. Sand überzog die Stadt, bedeckte sie und verbarg die Relikte eines Volkes, das man draußen in der übrigen Welt zu vergessen be-gann. Genau wie den Ring der Zystar, der auf Umwegen vor vielen Generationen nach Kh'an Sor kam.

Seitdem blieb er im Besitz der Königsfamilie und vererbte sich je-weils von Generation zu Generation weiter - ohne dass jemand die wahre Bestimmung dieses Ringes kannte. Für die Königsfamilie stellte dieser Ring nur ein wunderschönes Schmuckstück dar, das zwar au-ßergewöhnlich war, aber sonst keinerlei Bedeutung hatte - außer der Tatsache, dass es von Mutter zu Tochter vererbt wurde - viele Genera-tionen lang.

Die Stadt erwachte in dem Moment aus ihrem Schlaf, als sie die Nähe des Ringes spürte. In die alten Mauern des Tempels, die der Sand zugedeckt hatte, geriet Bewegung. Wind kam auf und vertrieb den feinen Sand, der den Tempel so viele Jahre lang verborgen hatte,

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wehte die Reste der untergegangenen Stadt wieder frei. Ruinen glit-zerten im Licht der Sonne. Ruinen eines alten Göttertempels, der die Nähe des Ringes spürte und jetzt darauf wartete, dass der Ring der Zystar wieder zurückkam...

*

Loon lachte noch immer, als er den heftigen Widerstand der Prinzessin spürte, während er aus der Oase ritt und seine Gegner, vom Bannfluch gelähmt, hinter ihm zurückblieben. Zwar würden sie wieder aus ihrer Starre erwachen - aber dann würde Loon mit seiner Geisel längst in der Weite der Wüste untergetaucht sein.

»Lass mich los, du Hund!«, rief die rothaarige Prinzessin verzwei-felt und versuchte sich aus dem harten Griff irgendwie zu befreien. Aber die Hände des Magiers waren stärker als Stahl, hielten sie noch fester umfangen als geschmiedete Ketten. »Keron wird dich einen grausamen Tod sterben lassen, wenn du mich nicht sofort freilässt!«

Ein lautes verächtliches Lachen war die Antwort Loons auf diese Drohung Danias.

»Keron wird sterben und zwar schon sehr bald, Prinzessin!«, sagte er. »Und niemand wird das noch verhindern können. Sollte der König sich nun zurückziehen - so werden die Truppen aus Samara ihn schon erwarten - an einem Ort, wo niemand damit rechnet. Und nun schweigt endlich und hört auf Widerstand zu leisten. Ich kenne auch noch andere Wege, um Euch gefügig zu machen. Wollt Ihr sie kennen lernen?«

Seine Stimme klang in diesem Augenblick so grausam, dass Dania schließlich einsah, dass ihr keine andere Möglichkeit mehr blieb, als sich in ihr augenblickliches Schicksal zu fügen - so ungewiss es auch sein mochte.

Trotzdem wagte sie einen Blick zurück, so weit ihr das überhaupt möglich war. Aber der Horizont war und blieb verlassen.

»Was habt Ihr mit ihnen gemacht, Loon?«, fragte sie den Magier. »Ihr würdet es doch nicht verstehen, Dania«, bekam sie dann zur

Antwort. »Ich kenne Dinge und Kräfte, die jenseits Eures Wissens lie-

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gen. Weshalb sollte ich also darüber reden? Der König und seine Söld-ner werden schon bald aus ihrer Lähmung erwachen, aber für einen Verfolger ist es dann schon zu spät.«

Während er das voller Hohn sagte, drehte er sich ebenfalls im Sat-tel um. Dann aber zuckte er zusammen, als er ganz fern am Horizont die Silhouette eines einsamen Reiters erkannte, der seiner Fährte folg-te. Ein grässlicher Fluch kam über seine Lippen, als ihm klar wurde, dass hier irgend etwas geschehen war, womit er nicht gerechnet hat-te. Natürlich bemerkte das nun auch die Prinzessin, die einen zweiten Blick riskierte und dann ebenfalls den Reiter sah, der mit allen Mitteln aufzuholen versuchte.

Gleichzeitig kam ein leiser Wind auf, der rasch an Intensität zu-nahm und Loon feinen Sand entgegen blies.

»Eure Macht ist doch nicht so groß wie Ihr denkt, Loon!«, rief die Prinzessin, als ihr klar wurde, dass der Plan des Magiers fehlgeschla-gen war. »Ihr werdet...«

Loon holte aus und schlug Dania so heftig, dass die Prinzessin er-schrocken aufschrie und dann rasch verstummte. Ihre Wange brannte wie Feuer. Aber das war auch ein Zeichen dafür, wie zornig Loon war, dass sein Bannfluch zumindest bei einem Menschen keine Wirkung gezeigt hatte.

Der Galopp des Pferdes, das nun schon seit geraumer Zeit die doppelte Last trug, wurde zusehends unruhiger. Weiße Schaumflocken hatten sich auf dem Fell des Tieres gebildet, weil Loon es so unbarm-herzig angetrieben hatte. Nun zeigte sich, dass dies ein Fehler gewe-sen war, der sich zusehends rächte. Denn der Verfolger verringerte nun den großen Vorsprung zwischen ihnen und holte auf. Loon be-merkte das natürlich, während ein verzweifelter Gedanke den anderen jagte. Indes wurde der Wind immer heftiger und der Magier verfluchte die Wüste dafür, dass ausgerechnet jetzt ein solch heftiger Wind auf-gekommen war.

Schließlich stolperte das Pferd zum ersten mal. Loon konnte es an den Zügeln gerade noch herumreißen, sonst wäre das Tier ganz sicher mit dem Vorderlauf eingeknickt und zusammengebrochen. Wieder drehte er sich im Sattel um und erschrak, als er sah, dass der Reiter

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nun noch mehr aufgeholt hatte. Vielleicht täuschte sich Loon auch jetzt, aber er glaubte, in dem Verfolger die hünenhafte breitschultrige Gestalt des blonden Barbaren zu erkennen.

»Thorin!«, murmelte der Magier voller Hass, als ihm bewusst wur-de, mit wem er es nun zu tun hatte. »Thorin, du Hund...«

Danias Herz pochte wie wild voller Hoffnung, als sie diesen Namen aus Loons Mund vernahm. Thorin war es also, der sich auf ihre Fährte gesetzt hatte und nun versuchte, die Prinzessin zu befreien.

»Thorin wird dich besiegen!«, rief Dania, als sie die Unruhe des Magiers bemerkte. Loon war im ersten Moment versucht, Dania noch einmal zu schlagen, aber dann unterließ er das, als er weiter vorn im wirbelnden Wind plötzlich etwas erkannte, das seine Aufmerksamkeit erregte. Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und ver-suchte, in den hin- und hertanzenden Sandschleiern noch mehr zu erkennen.

Erstaunen zeichnete sich in seinen blassen Zügen ab, als er die verwitterten Mauern der Reste einer Stadt erkannte. Ein seltsames Gefühl ergriff Loon, denn er hatte bisher noch nichts von der Existenz solcher Ruinen gehört. Die Todeswüste war schon seit Ewigkeiten ein unbewohnbarer Landstrich gewesen. Dann aber schob er diesen Ge-danken wieder rasch beiseite, als er spürte, wie das Tier immer lang-samer wurde. Es war am Ende seiner Kräfte!

In Bruchteilen von Sekunden wurde Loon klar, was er nun zu tun hatte. Wenn er schon seinem Verfolger nicht mehr entkommen konn-te, dann musste er sich eben auf einen alles entscheidenden Kampf vorbereiten. Und gab es denn eine bessere Möglichkeit als eben diese Ruinen, wo er aus sicherer Deckung das Herannahen seines Gegners abwarten und dann zuschlagen konnte? Dieser unwissende Barbar sollte ruhig kommen - Loon würde ihn vernichten wie eine unbedeu-tende Kreatur. Denn gegen die Kräfte eines Magiers wie Loon hatte dieser Krieger nichts entgegen zu setzen.

Er lenkte das Tier jetzt auf die Ruinen zu und erreichte sie wenige Augenblicke später.

Loon dirigierte das Pferd hinüber zu einigen wuchtigen verwitter-ten Mauern und stieg dann hastig aus dem Sattel, zerrte wenig später

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auch Dania hinunter. Der Magier zwang die Prinzessin, ihm ins Innere der Ruinen zu folgen, riss sie unbarmherzig mit sich.

Das Gebäude musste vor ewigen Zeiten einmal sehr groß und prächtig gewesen sein. Vielleicht ein Palast? Dann aber sah Loon am anderen Ende den gewaltigen Felsblock, der wohl eine Art Kultstätte aus vergangenen Zeiten darstellte.

Ein Grinsen schlich sich in seine Züge, als er in Sekundenschnelle einen Entschluss fasste. Er riss Dania zu sich herum und zerrte sie dann hinüber zu dem Felsen. Dann zwang er sie, ihn anzusehen, wäh-rend sich seine Augen auf sie richteten und sie in ihren Bann schlugen. Mit rascher Stimme murmelte Loon eine alte Beschwörung, die schnell ihre Wirkung zeigte. Dania sank bewusstlos vor dem Felsblock zusam-men.

Loon bückte sich daraufhin zu ihr nieder und riss Dania die Kleider vom Leib. Dann hob er die grazile bewusstlose Gestalt der Prinzessin hoch und legte sie dann auf den kalten Felsen. Die rothaarige Prinzes-sin spürte nicht, was mit ihr geschah, denn ihr Geist war von Loons Kräften gefangen. Sie würde es auch nicht spüren, wenn Loon sie schon bald den Mächten der Finsternis opferte - nachdem er Thorin besiegt hatte. Und das war nur noch eine Frage der Zeit - denn Thorin besaß nur seinen Mut und seine Kraft. Loon dagegen war mit den Mächten der Finsternis verbündet, die einen Sterblichen wie Thorin natürlich vernichten konnten. Und genau das würde nun geschehen, wenn der Barbar ebenfalls die Ruinen erreichte...

*

Thorin wurde mit jedem verstreichenden Augenblick immer ungeduldi-ger, als er den flüchtigen Loon mit seiner Geisel weit vor sich erblickte. Aber er machte nicht den Fehler, sein eigenes Tier jetzt noch mehr anzutreiben, denn er wusste, dass Loons Pferd die doppelte Last zu tragen hatte und irgendwann von selbst ermüden würde.

Und genau das geschah auch schließlich. Thorin bemerkte es dar-an, dass der Abstand zwischen Loon und ihm immer geringer wurde. Gleichzeitig kam auch Wind auf, der Sandkörner in Thorins Gesicht

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blies, so dass der blonde Krieger einige Mühe hatte, nach vorn blicken zu können. Er hielt deshalb den Kopf möglichst gesenkt und folgte den Spuren.

In den Staubschleiern, die vor seinen Augen tanzten, erkannte auch Thorin bald darauf die Konturen von Ruinen. Er sah die Reste von Mauern und Bruchstücke von Gebäuden, die Menschen einst Un-terkunft gegeben hatten. Das musste aber schon vor Ewigkeiten ge-wesen sein, denn mittlerweile war der Stein vom Zahn der Zeit ganz verwittert und arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Diese Ruinen waren nun auch Loons Ziel. Thorin sah, wie der Magier sein Pferd di-rekt darauf zulenkte und wenige Augenblicke später dann aus seinem Blickfeld verschwand.

Thorin zügelte nun sein Pferd, denn er ahnte instinktiv, dass sich Loon hier irgendwo verbergen würde, um ihm aufzulauern. Wahr-scheinlich war sein Pferd nun so langsam geworden, weil es vollkom-men entkräftet war. Nur deshalb war er es zu erklären, dass Thorin so gut hatte aufholen können.

Der Wind pfiff und sang in den Ritzen der brüchigen Steine, wäh-rend Thorin nun vorsichtig nach allen Seiten spähte. Er war nur noch einen Steinwurf von den ersten Ruinen entfernt und konnte jetzt er-kennen, dass hier einmal vor sehr langer Zeit eine größere Stadt ge-standen haben musste.

Die ganze Umgebung wirkte seltsam unwirklich auf Thorin und der stetig heulende Wind trag noch seinen Teil dazu bei. Mit hoch erhobe-nem Schwert dirigierte Thorin sein Pferd näher an die Ruinen heran, aber außer dem Hufschlag seines eigenen Tieres und dem hohlen E-cho, das der Wind in den Mauerritzen erzeugte, war sonst nichts zu hören, was ihm einen Hinweis gab, wo sich Loon versteckt halten konnte. Denn dass er irgendwo lauerte und nur auf den Moment war-tete, wo er unbemerkt zuschlagen konnte, das war gewiss!

»Komm heraus und stell dich zum Kampf, Loon!«, rief Thorin mit lauter Stimme. Der Wind trug seine Stimme weg und warf das Echo verzerrt wieder zurück. Thorins Herausforderung verhallte ungehört. »Elender Feigling!«, brüllte Thorin jetzt zornig und reckte sein Schwert

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empor. »Komm und kämpfe - oder hast du Angst vor mir, Loon? Hilft dir deine Magie nicht mehr?«

Täuschte er sich oder hatte er gerade ein leises höhnisches La-chen vernommen, das von weiter links kam? Sofort drehte sich Thorin im Sattel um, musste dann aber erkennen, dass das Gelächter nun von einer ganz anderen Seite her zu kommen schien. War das Echo daran schuld, dass Thorin nicht abschätzen konnte, wo sich dieser verfluchte Magier verborgen gehalten hatte, oder war das erst der Anfang eines teuflischen Plans, der Thorins Tod zur Folge hatte? Egal - er war fest entschlossen, das Spiel Loons hier und jetzt zu beenden. Und Stern-feuer würde ihm dabei helfen, dass er nicht ganz unvorbereitet in die-sen letzten Kampf ging.

Er stieg aus dem Sattel, umfasste den Knauf Sternfeuers mit bei-den Händen. So war er in der Lage, selbst auf einen Angriff aus dem Hinterhalt blitzschnell zu reagieren, denn der blonde Krieger wusste das Götterschwert zu handhaben. Schließlich war es nicht das erste mal, dass er sich in einer gefährlichen Situation befand und diese ir-gendwie meistern musste.

Dumpf klangen seine Schritte im Sand, als er sich den Resten ei-nes einstmals größeren Gebäudes näherte. Die Götterklinge begann genau in diesem Moment schwach zu glimmen und je näher Thorin der Ruine kam, um so heller wurde das Licht, in das die Klinge getaucht worden war - ein eindeutiger Beweis dafür, dass Sternfeuer auf die Kräfte reagierte, die über den Ruinen der untergegangenen Stadt hin-gen.

»Blendwerk der Finsternis«, murmelte Thorin und setzte seinen Weg fort. Je näher er der Ruine kam, um so heftiger wurde der Wind. Er blies ihm nun mit solcher Heftigkeit entgegen, dass er Mühe hatte, stehen zu bleiben. Hier im Schutze der Ruinen durfte der Wüstenwind eigentlich nicht so heftig wehen. Thorin schloss daraus, dass Loon hierfür verantwortlich war und hob den Kopf, um rasch reagieren zu können, wenn etwas Unvorhergesehenes geschah.

»Du elender Narr!«, erklang nun eine wütende Stimme jenseits der verwitterten Mauern. »Kehr um und verschwinde von hier, bevor

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es zu spät ist für dich - sonst werden dich die Mächte der Finsternis verschlingen!«

Thorin spürte die unverhüllte Drohung, die in den Worten Loons anklang. Aber er konnte und durfte jetzt nicht aufgeben, denn es ging auch um Danias Leben.

»Wo ist die Prinzessin?«, brüllte Thorin, um den pfeifenden Wind zu übertönen. »Wenn du sie getötet hast, dann wirst du tausend Tode sterben, Loon!«

»Nicht ich - du wirst es sein, der hier sein Leben verliert, Barbar!«, erklang auf einmal die Stimme seitlich hinter Thorin. Rasch fuhr der blonde Krieger herum und erkannte dann Loon, der ganz plötzlich auf-getaucht war.

In seiner Hand hielt der finstere Magier eine funkelnde Klinge, de-ren scharfe Spitze drohend auf Thorin zeigte. Zornige Blicke richteten sich auf den Nordlandwolf, als er fortfuhr.

»Ich werde Dania den Mächten der Finsternis opfern, sobald ich mit dir fertig bin, elender Hund!«, rief Loon. »Ich werde das Herz aus ihrem schönen Körper reißen und es meinen Göttern opfern. Nimm dieses Wissen jetzt mit in den Tod, Thorin!«

Noch bevor diese Worte verhallt waren, griff Loon ihn auch schon an. Aber Thorin hatte das kommen sehen und war deshalb rasch aus-gewichen. Der gut geführte Hieb traf ihn deshalb nicht und Thorin nutzte diesen Augenblick, um nun selbst mit Sternfeuer auszuholen. Aber als die Götterklinge dann mit dem Körper des Magiers in Berüh-rung kam, spürte Thorin überhaupt keinen Widerstand. Das Schwert schnitt durch Loon hindurch, als gebe es den tödlichen Gegner gar nicht. Sekundenbruchteile später löste sich die dunkelgekleidete Ges-talt vor Thorins Augen auf und verschwand spurlos. Zurück blieb nur ein hallendes Lachen.

Thorin blieb keine Zeit mehr, um Herr über seine Verwirrung zu werden, denn nur wenige Atemzüge später erkannte er erneut seinen Gegner. Diesmal stand Loon unter den brüchigen Resten eines alten Torbogens und hatte seine Klinge zum Kampf emporgereckt. Er lachte verächtlich, als er nun Thorin heranstürmen sah, denn diesmal wollte der blonde Krieger Loon keine zweite Chance geben und stattdessen

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den Kampf rasch beenden. Aber auch daraus wurde nichts, denn schon wie beim ersten mal löste sich die Gestalt des Magiers erneut vor Thorins Augen auf, als die blitzende Götterklinge mit ihr zusam-mentraf. Für Sekunden verharrte Thorin an dieser Stelle und wusste nicht, was er tun sollte.

In dieser Zeitspanne manifestierte sich eine weitere dunkelgeklei-dete Gestalt unmittelbar vor Thorin, die mit dem Schwert zu einem alles vernichtenden Hieb ausholte. Gleichzeitig stürmte eine zweite, völlig identische Gestalt aus dem Torbogen heraus und drang nun von hinten auf Thorin ein.

Selbst wenn diese Inkarnationen des finsteren Magiers nur Ge-schöpfe seines bloßen Willens waren, so spürte Thorin dennoch den scharfen Luftzug der Klingen, denen er wirklich im letzten Moment noch entgehen konnte. Das hielt aber nur solange an, bis Sternfeuer mit den Gestalten in Berührung kam. Danach lösten sie sich wieder in Luft auf.

Auf diese Weise konnte Thorin auch diese Auseinandersetzung für sich entscheiden. Er war so sehr in die Kämpfe mit den Geistererschei-nungen des gefährlichen Magiers verwickelt, dass er für einen winzi-gen Augenblick nicht darauf achtete, was hoch über seinem Kopf ge-schah. Dort hatte sich die ganze Zeit über nämlich der echte Loon ver-borgen gehalten und beobachtete, wie Thorin immer näher an die Mauern der Ruine herankam.

Als Thorin die letzte Erscheinung besiegt hatte und erschöpft Luft holte, traf ihn plötzlich etwas mit schmerzhafter Wucht am Kopf. Tho-rin brach in die Knie und stöhnte laut auf. Eine Lähmung breitete sich in seinem ganzen Körper aus, so dass er die Klinge nicht länger fest-halten konnte. Sie entglitt seinen Fingern und blieb nur wenige Schrit-te von ihm entfernt liegen, während Thorin noch weiter nach vorn taumelte und schließlich ganz zusammenbrach. Lang ausgestreckt und kraftlos blieb er im Sand liegen - eine wehrlose Beute für den finsteren Magier, der nun eilig von der Ruine hinunter stieg und mit gezogenem Schwert auf Thorin zuging. Thorin konnte ihn nur verschwommen wahrnehmen, denn er selbst war noch zu benommen.

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»Deine Klinge rettet dich jetzt auch nicht mehr, Thorin!«, erklang nun die Stimme des finsteren Magiers direkt vor Thorin. Ausgerechnet in diesem Moment verzogen sich die Schleier vor Thorins Augen und er sah, wie Loon mit der scharfen Klinge zu einem tödlichen Hieb aushol-te - und ausgerechnet jetzt war der Nordlandwolf vollkommen wehr-los!

*

Ihr Geist war gefangen in einer unbeschreiblichen Sphäre, während ihr nackter Körper vollkommen reglos auf dem kalten Felsblock lag. Nur der funkelnde Ring an Danias Hand mit dem grünen Stein in der Mitte begann aus unerklärlichen Gründen plötzlich zu pulsieren und zwar immer heftiger mit jeder verstreichenden Minute.

Dieses Pulsieren griff nun auch über auf den Opferaltar, der in ein schwaches Glimmen getaucht wurde und die Kälte vertrieb. Dania war immer noch bewusstlos, aber ihr Körper begann sich bereits zu bewe-gen, reagierte auf die Stimmen aus weiter Ferne, die nach ihr riefen.

DER RING DER ZYSTAR RUFT SEINE PRIESTERIN, erklang eine Stimme tief in ihrem umherirrenden Bewusstsein und ließ es innehal-ten. Dieser Ruf wurde immer stärker, bis Danias Geist schließlich wie-der in ihren Körper zurückkehrte und gleichzeitig dabei spürte, wie sie von einer neuen Kraft beseelt wurde, die die Schatten von Loons Zau-berspruch vertrieben, als habe er nie existiert.

DU BIST DIE TRÄGERIN DES RINGES DER ZYSTAR, hörte Dania dieselbe Stimme in ihrem Kopf, während sie nun auf dem Opferaltar die Augen aufschlug und sich im ersten Moment noch verwirrt umblick-te.

DEIN ERBE WARTET AUF DICH, fuhr dieselbe Stimme nun fort. DER RING GIBT DIR DIE MACHT - SEI IHRER WÜRDIG.

Auf einmal wusste Dania, was das alles bedeutete. Gedanken und Erinnerungen an eine vergangene Epoche waren jetzt in ihrer Erinne-rung so fest verankert, als hätten sie dort schon immer existiert und wären nur jetzt wieder hervorgerufen worden. Natürlich war dem nicht so, denn Dania kannte weder diesen Ort noch wusste um die Bedeu-

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tung des Ringes, den sie von ihrer Mutter und die wiederum von ihrer Mutter erhalten hatte. So war das schon seit vielen Generationen und jetzt wurde ihr die eigentliche Bedeutung dieses Ringes bewusst - des Ringes der Zystar.

Dania war zwar nackt, aber sie registrierte das nur am Rande, als sie sich langsam vom Opferaltar erhob. Ihre Augen schimmerten jetzt wissend, als sie begriff, dass sich der uralte Kreis, der seit Ewigkeiten kein Ende hatte finden können, nun endlich geschlossen hatte. Und ihr selbst war dabei eine wichtige Rolle zuteil geworden - vielleicht die wichtigste überhaupt!

Erst jetzt hörte sie draußen schwach die Geräusche, die nun an ihr Ohr drangen. Sie vernahm eine seltsam vertraute Stimme und eine zweite, aber weitaus zornigere Stimme. Wenige Augenblicke später zeigte ihr das Aufeinandertreffen von Schwertklingen an, dass dort ein Kampf stattfand.

DIESER ORT IST HELIG, meldete sich dieselbe intensive Stimme des Ringes in ihrem Bewusstsein wieder zurück. DER KRIEGER DER GÖTTER WIRD STERBEN, WENN DU NICHT EINGREIFST.

Dania - oder war sie jetzt eine Inkarnation der heiligen Zystar? - eilte nach draußen und kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der dunkelgekleidete Magier über dem besiegten Thorin stand und mit dem Schwert zu einem tödlichen Hieb ausholte.

»Halt!«, kam es ihr nun über die Lippen, als sie sich dem finsteren Magier stellte. Und dieser Ruf kam so entschlossen über ihre Lippen, dass Loon in seinem Tun unwillkürlich innehielt und sich hastig um-drehte. Seine anfangs noch siegessichere Miene verwandelte sich in eine Maske aus Erstaunen und grenzenloser Fassungslosigkeit, als er Dania sah, die er doch eigentlich bewusstlos auf dem Opferaltar wähn-te. Aber war das wirklich die Prinzessin? Ihr ganzer Körper schimmerte in einer glänzenden Aura und ihre Augen waren von einem unbe-schreiblich intensiven Leuchten, das tief aus ihrem Inneren zu kommen schien...

*

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Thorin schloss die Augen und erwartete den tödlichen Schwerthieb, während er sich verzweifelt der Tatsache bewusst wurde, dass sein gefährlicher Gegner doch stärker und listiger gewesen war als er an-genommen hatte. Nun hatte er verloren - aber auf eine Weise, die ihn mit Wehmut erfüllte.

Dann hörte auch er plötzlich die helle Stimme und wunderte sich gleichzeitig, warum Loon jetzt zögerte. Als er dann erneut die Augen aufriss, sah er, dass Loon jetzt hinüber zu der Ruine blickte. Thorin nutzte diesen Moment, um sich zur Seite zu rollen, denn er wollte sein Schwert wieder an sich zu reißen, um neue Kräfte zu schöpfen. Unter normalen Umständen hätte Loon das sicher zu verhindern gewusst, aber er starrte zornig auf die schimmernde Gestalt drüben bei der Rui-ne, die ihn daran hindern wollte, das zu tun, was er sich vorgenom-men hatte.

Erst jetzt sah auch Thorin, dass es Dania war. Sie war nackt und ihr makelloser Körper schimmerte in einem eigenartigen Licht.

Während sich Thorins Hände verzweifelt nach dem Knauf der Göt-terklinge ausstreckten und sie zu fassen versuchten, nahm in der Zwi-schenzeit etwas seinen Lauf, was höhere Mächte sicher eine schicksal-hafte Bestimmung genannt hätten.

Loon rief jetzt einen Fluch in einer alten Sprache. Ein greller Blitz zuckte aus seinem Schwert und erreichte noch im selben Atemzug Dania. Aber dieser Blitz tötete sie nicht, sondern ließ ihren Körper in einem noch helleren Licht erstrahlen. Flammen bildeten sich über ih-rem roten Haar, die um so stärker zu tanzen begannen, je mehr Blitze ihr der finstere Magier entgegenschleuderte. Dania dagegen ignorierte diesen Angriff und erhob stattdessen beide Arme gen Himmel, wäh-rend sie einen Gesang anstimmte, den Thorins Ohren als seltsam ü-berirdisch empfanden. Die nähere Umgebung begann zu verblassen, als Dania kraft ihres bloßen Willens nun ein Tor zwischen den Sphären zu öffnen begann. Thorin musste die Augen im ersten Moment unwill-kürlich schließen, weil das gleißende Leuchten so grell war, dass er es als Schmerz empfand.

Gleichzeitig hörte er den wütenden Schrei Loons, der erkennen musste, dass seine Zauberei diesen Mächten gegenüber vollkommen

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wirkungslos war. Trotzdem schleuderte er weiter seine Blitze - aber nur so lange, bis Dania sie zurückwarf und Loon von seinen eigenen Kräften niedergerissen wurde. Der finstere Magier schrie auf wie ein Tier, als ihn die Blitze trafen und seinen Körper in ein flammendes Rot tauchten. Loon brüllte so laut, dass die Erde unter ihm erbebte, aber er konnte seinen Untergang nicht mehr verhindern. Der Magier ver-brannte bei lebendigem Leib, bis schließlich nichts mehr von ihm übrig war als ein kümmerlicher Haufen Asche, den der Wind mit sich riss und wegwehte.

Fassungslos hatte Thorin beobachtet, was sich vor seinen Augen abgespielt hatte. Er konnte immer noch nicht glauben, was gerade geschehen war. Staunend sah er dann hinüber zu der Prinzessin, wäh-rend der Wind allmählich abflaute und die Umgebung wieder vertraute Konturen annahm.

»Dania!«, rief er und versuchte sich zu erheben. Zwar waren seine Beine noch schwach, aber er schaffte es trotzdem. »Prinzessin, was hat das...?«

»Ich bin Dania und bin es doch nicht«, unterbrach ihn nun die hel-le Stimme. »Ich bin die Priesterin des Ringes der Zystar, Thorin - das ist meine eigentliche Bestimmung. Erst jetzt habe ich das erkannt.«

»Aber was hat dieses Leuchten zu bedeuten?«, wollte Thorin nun von ihr wissen und ging einen Schritt auf sie zu. Aber eine kurze, je-doch um so eindeutigere Geste ließ den Nordlandwolf innehalten.

»Jeder hat seine Bestimmung, Thorin«, sagte Dania lächelnd, während ihre Augen in einem irisierenden Feuer leuchteten. »Manche erkennen das früh, andere wiederum fast zu spät. Auch du hast deine Bestimmung und du musst sie finden.«

Während sie das sagte, öffnete sich erneut der Riss zwischen den Sphären. Thorin hob schützend die Hand vor die Augen.

»Du wirst Keron erzählen, was du hier gesehen hast, Thorin«, fuhr Dania fort, während ihre Gestalt stärker zu schimmern begann. »Er wird es verstehen müssen, denn ich muss meine Bestimmung erfüllen - Zystar hat so lange warten müssen. Bleib an Kerons Seite und hilf ihm, seinen Weg zu gehen, Thorin. Denn die Feinde der Finsternis lauern überall - erst recht in Samara...«

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»Dania - so wartet doch!«, rief Thorin. Aber er konnte es nicht verhindern, dass Dania nun in die andere Sphäre überging. Augenbli-cke später schloss sich der Riss wieder und das intensive Leuchten nahm ab, verblasste schließlich ganz. Genau wie der Wind. Zurück blieb eine Stille, die so spürbar war, dass Thorin ein Frösteln nicht ver-hindern konnte, das ihn trotz der Wüstenhitze überfiel.

Er schüttelte stumm den Kopf, als ihm bewusst wurde, was er ge-rade miterlebt hatte. Jeder Mensch hat seine Bestimmung, hatte er gerade von Dania erfahren - also auch er. Und welcher Art sie sein würde, das musste er herausfinden.

Seltsamerweise erinnerte er sich jetzt wieder an die letzte Begeg-nung mit Einar, dem allwissenden einäugigen Gott, der ihm einiges von dem schon prophezeit hatte, was ihn erwartete. Thorin hatte es damals nicht wissen wollen und war davon geritten. Jetzt allerdings sah er das in einem anderen Licht, denn nun wurde ihm klar, dass die Mächte der Finsternis wirklich schon auf dieser Welt weilten und damit begonnen hatten, sie Stück für Stück an sich zu reißen.

Der Feind war überall, hatte Dania gesagt. Auch in Samara - und das Wissen darum war ausreichend für Thorin, um sein weiteres Han-deln zu bestimmen. Er würde Keron weiterhin folgen im Kampf gegen das Fürstentum - bis er Erkenntnisse über die Pläne der dunklen Mäch-te gewonnen hatte. Das war dann auch der Moment, wo er seine ei-gene Bestimmung selbst erkennen würde.

Schweren Herzens wandte er sich ab. Er hatte Mühe, sein Pferd wieder einzufangen. Dann aber schwang er sich wieder auf den Rü-cken und verließ diesen Ort der grenzenlosen Stille. Gleichzeitig über-legte er fieberhaft, wie er es dem König klarmachen konnte, was mit Dania geschehen war. Höhere Mächte hatten ihr Schicksal bestimmt. Genau wie das von Thorin und je länger er darüber nachdachte, um so klarer wurde für ihn, dass er mit dem Geschenk der Götterklinge Sternfeuer eine Verpflichtung eingegangen war - also eine Verantwor-tung, der er sich nicht entziehen konnte. Dania hatte das gewusst und Einar hatte schon vorher versucht, das Thorin deutlich zu machen.

Die Hufschläge des Pferdes verhallten, als der einsame Reiter die Ruinenstadt verließ und den Weg zurück ritt, den er gekommen war.

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Thorin ahnte jetzt, was ihn in den kommenden Tagen und Wochen erwartete und das Wissen um die schreckliche Bedrohung der mensch-lichen Welt beunruhigte ihn sehr. Mehr als er selbst zugeben wollte...

*

Epilog Orcon Drac zuckte zusammen, als er das Ende seines Helfershelfers spürte. Ungläubigkeit ergriff ihn, als er das Eingreifen einer bisher un-bekannten Macht spürte, die verhindert hatte, dass Loon seinen ge-schickten Plan hatte vollenden können. Der mentale Todesschrei sei-nes willigen Helfers verstummte schließlich in den Sphären und zurück blieb eine Stille, die selbst den Ritter der Finsternis überraschte.

Der dunkle Ritter stieß einen grässlichen Fluch aus, während er leise Worte murmelte und mit beiden Händen in der Knochenhöhle Umrisse formte, aus denen schließlich feine milchige Schleier wurden. Nur wenige Augenblicke später zeichneten sich in diesen Schleiern die Umrisse eines einzelnen Reiters ab.

Orcon Drac sah die hünenhafte Gestalt des blonden Kriegers, aber sein eigentliches Interesse galt der gewaltigen Waffe, die dieser Reiter in der Scheide auf seinem Rücken trug. Der Ritter der Finsternis spürte selbst aus dieser großen Entfernung die Bedrohung, die von dieser Waffe ausging - und auch von dem Mann, der sie sein eigen nannte.

»Die Schriften von Ushar...«, murmelte der Ritter der Finsternis schockiert. »Jemand hat sie gelesen und gehandelt...«

Orcon Drac ließ mit einem weiteren Wink das Bild wieder verblas-sen und wandte sich dann dem Feueraltar zu, der in der gewaltigen Knochenhöhle Tag und Nacht brannte und mit seinem kalten Feuer bizarre Schatten an die Höhlenwand warf. Mit gesenktem Kopf kniete Orcon Drac dann vor dem Altar nieder und betete zu den drei mächti-gen Göttern der Finsternis, deren Vasall er war. Er war der oberste Führer der dunklen Heerscharen, die jenseits der Sümpfe von Cardhor nur darauf warteten, dass er sich an ihre Spitze setzte und den Befehl zur Eroberung der Welt der Sterblichen gab. Vorbereitungen dafür waren längst getroffen und Orcon Drac hatte in Loon einen willigen

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Helfer für diesen vernichtenden Plan gefunden. Nun aber war eine andere Macht erschienen und hatte das verhindert.

Vollkommen in Trance versunken, nahm der Ritter der Finsternis Kontakt mit den mächtigen Herrschern auf, erzitterte vor deren Ge-danken. Aber die Herrscher sagten ihm, was er nun zu tun hatte und als Orcon Drac wieder aus seiner Starre erwachte, wusste er, dass er mit allen Mitteln zu verhindern hatte, dass die alten Schriften von Us-har Wirklichkeit wurden. Denn wenn sich diese uralten Weissagungen bewahrheiteten, bedeutete das nicht nur das Ende der dunklen Mäch-te, sondern auch den Tod Orcon Dracs! Aber soweit würde es niemals kommen...

Ende