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Inês Pedrosa Du fehlst mir

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Inês Pedrosa

Du fehlst mir

r o m a n

Aus dem Portugiesischen vonMaralde Meyer-Minnemann

Luchterhand

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Die Originalausgabe erschien 2002

unter dem Titel Fazes-me Faltabei Publicações Dom Quixote, Lissabon.

Der Verlag dankt demPortugiesischen Institut für das

Buch- und Bibliothekswesenfür die Förderung der Übersetzung.

© 2002 Inês Pedrosa und Publicações Dom Quixote© 2004 für die deutsche Ausgabe

Luchterhand Literaturverlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Durch Vermittlung von Tom Colchie, New YorkSatz: Filmsatz Schröter, München

Druck und Bindung: GGP Media, PößneckAlle Rechte vorbehalten. Printed in Germany

ISBN 3-630-87159-3

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Zur Erinnerung an meinen Vater, Ricardo Pedrosa

Für Nelson de Matos und José Francisco Feição,Bewahrer von Sehnsüchten, die noch

nicht gestorben sind

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Glücklich, weil du alles hast, was ich bin?

Glücklich, weil du alles verlierst, was ich weiß?

Nur was ich nicht sein werde, gebe ich dir nicht.

Nein, meinen Tod, den gebe ich dir nicht.

pedro tamen

1. Sterben reicht nicht, um Gottes Lächeln kennenzuler-nen – selbst wenn man, wie es bei mir der Fall war, einganzes Leben lang staunend darin gelebt hat. Als dasSchlimmste geschah, kam dieses Lächeln zu mir herunterin die Finsternis wie eine Schaukel, ein der Kindheit ent-rissenes Türangelquietschen. Ich setzte mich darauf undstieg schaukelnd zum Licht empor. Das Schlimmste ist mirfrüh passiert, ich hatte Glück. Gott sucht zuerst diejeni-gen, die leiden, bevor sie ganz genau erfahren, wie Schmerzsich anfühlt, möglicherweise weil die anderen zu viel wis-sen, um gerettet werden zu können.

Du sagst, es sei genau umgekehrt: daß Gott aus derUnwissenheit, aus zu früh erfahrenem Leiden entsteht.Aber du, mein liebster Schüler, hast dich früh vom Über-maß an Wissen erfüllen lassen. Gott wußte nichts über dasUniversum, als er es schuf. Ich stelle mir vor, daß er sicheinsam fühlte. Stelle mir vor, daß diese Einsamkeit in ei-nem nicht festzumachenden Augenblick größer wurde alser selbst, in einer riesigen Blume aus Licht explodierte.Und ich stelle mir vor, wie Gott später jedem Blütenblattdieses verstreuten Lichts einen Sinn zu geben versuchte.

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Jetzt, wo ich den Körper verlassen habe, der ich war – umPollen zu werden, Staub in deinen Augen, nur eine Vor-stellung von mir –, kann ich mir ihn besser vorstellen,trunken von Licht, leuchtend, von einem verborgenen undschöpferischen Luzifer in Ketten gelegt, in seinem eige-nen Sein verkrustet, verliebt in die von seiner allmächti-gen Einsamkeit ausgelöste Geschichte. Und ich schaukeleabermals in Gottes Lächeln, ein endgültiges Mal, dennmein Körper liegt dort unten in einem Sarg, wird ein letz-tes Mal betrachtet, erinnert und beweint.

Ich werde mich morgen nicht aus meinem Bett erheben,nachdem ich ihn leise gebeten habe, er möge die Schau-kel noch einmal anstoßen, mir kräftig Schwung geben, bismeine Füße aus der erdgebundenen Wärme der Bettücherherausfliegen. Niemand wird mehr auf mich warten, ichwerde mich nicht mehr mit Entschuldigungen maskierenmüssen, werde niemanden mehr täuschen oder enttäu-schen. Ich werde nicht mehr mit dem Körper des einzigenMannes verschmelzen, der in meinem Körper den gehei-men Weg zum Tod geöffnet hat. Ich werde nicht zum Hirn-gespinst der Wiedergeburt zurückkehren. Vor allem wer-de ich nie wieder dich enttäuschen, den Ungläubigen, dermich gelehrt hat, besser zu glauben, meinen kleinen, altenWestentaschengott, meinen Freund.

Vom Körper befreit, fällt es mir leichter, mich in dieSchaukel zu verwandeln, in das tanzende Licht, aus demsie gemacht ist. Mit einem Windesraunen bitte ich Gott,mich nicht zu schnell zu diesem leuchtenden Ort hinauf-zustoßen, der sein Fleisch ist, bitte ihn, mich die Sehnsuchtnach dieser Welt stillen zu lassen, die ich so unvermittelt

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verlassen habe. Die Sehnsucht nach dir zu stillen. Oderdich zu töten, wie es Kinder machen, um auf der alltäg-lichen Schaukel deines Lächelns eine andere Geschichteaufs neue zu beginnen.

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Allein dein Lächeln dauert an.

Ich habe dir das Meer gezeigt.

Habe es dir gezeigt, bevor du starbst,

und danach.

luís filipe castro mendes

1. Ich bin allein. Allein, und mein Herz ist zerstückelt, ver-teilt auf Bilder von dir. Ich kann dir mein Herz nicht mehrauf einem silbernen Tablett darreichen. Wollte ich es je?Wolltest du es je? Mir käme jetzt irgendein Gott als Bo-tenjunge gut zupaß. Ein Gott, der dir das Haar streicheltund mich daran erinnert, wie weich es war. Ein Gott, dermich von diesem Bild deines in eine Kiste gezwängtenKörpers befreit, das mich nicht mehr losläßt. Ausgerech-net du, die du so häufig über mein »zwanghaftes In-Kisten-Packen, Einsargen«, wie du es nanntest, gelacht hast:

»Irgendwann komme ich hier an und finde dich tod-müde inmitten dieses ganzen Papierkrams. Weißt du, ichsarge dich nicht ein – ich habe Angst vor Toten.«

Ich habe dir immer gesagt, daß Angst das Unglück her-beiruft – du kannst gern lachen. Lache nur, soviel duwillst, niemand hört dich. Genau; wenn es deinen Gottgibt, lache lauthals, damit ich es glaube. Aber nein, besserdu läßt es: Dieses posthume Lachen würde einen Mißtonin mein schönes Archiv deines Lachens bringen. Würdeseine Ästhetik zerstören, verstehst du? Und Ästhetik waroffen gesagt nie deine Stärke. Du ertrugst keine halben

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Sachen. Haßtest jede Art von Verzicht, der sich auf die Pa-radoxa des Lebens berief. Hättest du zum Beispiel nichtan etwas weniger Extravagantem sterben können? Konn-test du nicht auf die Würde der ersten Falten warten? Wasfür eine Neigung zum Kitsch, meine Liebe – aber Gott ret-tet sich immer in den Kitsch, nicht wahr?

Ruhe in Frieden. Du warst eine schöne Tote – schö-ner und gelassener, als du es je warst, meine Kleine. Siehaben dein Bild zurechtgerückt. Davon leben die öffent-lichen Persönlichkeiten, sogar im Tod. Es lebe das Bild.Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte dich nicht ge-sehen, hätte dich nicht auf die Stirn geküßt. Ich habe michan diesen allerletzten Nachhall deiner Wärme geklammert.Du bliebst mir als herber Geschmack nach Weihrauchund toten Blumen. Als Duft der verbotenen Liebe, die wirirgendwo in der Landschaft unserer Vorgeschichte aufge-geben hatten. Ich nenne es der Einfachheit halber Liebe.Es gibt solche Wörter, die man ausspricht, damit sie unsberuhigen. Wörter, die ständig benutzt werden, um uns dar-an zu hindern nachzudenken. Was zwischen uns war, ist,könnte man eine Wissenschaft des Verschwindens nennen.Ich habe an dem Tag zu verschwinden begonnen, an demmein Blick sich in deinem verlor. Jetzt, wo deine Augensich geschlossen haben, weiß ich, daß du mir meine Blickenicht zurückgeben wirst.

In der Geschichte, in der ich nicht mehr bin, der Ge-schichte, in der ich kreiste wie auf einem Karussell, der Ge-schichte, die uns immer als provisorischer Wohnsitz dient,stellen Leute Fragen. Welchen Sinn ergibt der Tod einersiebenunddreißigjährigen jungen Frau, verdammt noch mal,

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die von der eigenen Nachkommenschaft aufgefressen wur-de? Du hattest das Rauchen aufgegeben, um nicht anKrebs zu sterben. Nicht der Tod verursache dir Unbeha-gen, sagtest du, sondern seine Langsamkeit, die Qual derKrankheit. Die Geschichte. Ich glaube, ich habe dich niekrank erlebt – es sei denn liebeskrank. Du kultiviertest dasLaster der Leidenschaft, unerbittlich, methodisch. Rann-test gegen die Zeit an. Suchtest die Reglosigkeit einer stei-nernen Zeit, die bereits die deine war. Unsere – aber wiekonnten wir das sagen, wenn wir weiterleben mußten? In den kurzen Tagen, in denen du ohne Leidenschaft leb-test, wurdest du unmöglich. Nichts begeisterte dich. Dannhast du eine Karriere der Macht begonnen und den Ge-schmack an ekstatischen Romanzen verloren. Beruhigen-des Geblubber von Intrigen wurde der Inhalt deiner Er-zählungen. Sogar dein Outfit hatte sich verändert; als ichdich zuletzt sah, trugst du grauenhafte Kostüme, schlecht-sitzende Armani-Verschnitte aus üblem Stoff, in schreien-den Grautönen. Ich sagte damals: »Sieh einer an. Als Füh-rungskraft verkleidet!« Und du hast mir erklärt, es handelesich nur um deine Arbeitskluft. Daß du am Wochenendenoch immer den alten Stil beibehalten würdest. Aber Stilist eine Art zu sein, kein Wochenendoutfit. Die Politik hatdir den Stil genommen und dich von mir entfernt. Politikerbrauchen keine Freunde, sie brauchen einen Hofstaat – so steht es in den Büchern. Du führtest einfach nur nochdein Leben, und ich führte meines. Du weißt, ich lebeblitzartig; mit dir habe ich ein Gewitter geteilt, das etwaslänger andauerte als üblich. Nur das. Jedenfalls lugt derTod aus allen Freuden dieser Chronologie hervor, an die

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wir uns klammern, um der Zeit zu entkommen. Was sindwir über das hinaus, was wir allmählich werden? MeinDarüberhinaus warst du – Kompaß meiner inneren, unper-sönlichen Zeitlichkeit. Befreiung von allem Unglück, dasmich amputierte. Du. Nunmehr reiner Dunst im Univer-sum. Du dienst mir als Gott – wer hätte das gedacht? Dudienst zu etwas, das ich nicht zu sein weiß, und das ist dieWahrheit. Ich schaue aufs Meer am Guincho-Strand, aufdiese kalten, heftigen Wellen, in die du so gern eintauch-test, und ich fühle mich auch halb tot, halb kalt. Glück-lich, wieder an deiner Seite zu sein. An der Seite der-jenigen, die bereits eine ganze Reihe von Jahren tot war,bevor du gestorben bist. Du fehlst mir. Aber das Leben istnichts als eine Folge von Mängeln, die uns beleben. DeinTod nimmt mir die Angst zu sterben. Wo du nicht mehr imSpiel bist, ist das Interesse am Einsatz geringer geworden.Und wenn du gestorben bist, dann werde auch ich im-stande sein zu sterben, ohne daß die Wellen, der Himmeloder die Stille durcheinandergeraten. In dich hineinfallen,immer weiter weg von der elenden Fiktion meiner selbst.

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2. Gott gibt etwas weniger Schwung; ich kann wieder dieStadt besuchen, die ich mit dir zusammen so sehr geliebthabe. Kleinigkeiten: der Park in der Nähe deiner Woh-nung, ein Kind mit ausgebreiteten Armen inmitten einesTeppichs aus grauen Tauben, der auffliegt und es, mit denArmen rudernd, unten zurückläßt. Eine junge Frau gehtim Park auf und ab, paßt auf das Kind auf, redet ins Handy.

»Du bist ein Mistkerl. Du kannst sagen, was du willst,du bist und bleibst ein Mistkerl. Und dein Sohn wird schonnoch erfahren, was für ein Mistkerl sein Vater ist.«

Während ich starb, habe ich mein Leben nicht in Zeit-lupe gesehen, auch keine grünen Täler, ich habe nicht ein-mal himmlische Musik gehört. Möglicherweise stirbt manja auch so, wie ich es häufig habe erzählen hören. Mög-licherweise legt einem während des letzten Atemzuges dasAufblitzen des Genies einige erlösende Worte in den Mund.Ich habe immer meine Zweifel daran gehabt, aber alles,was man bezweifelt, ist möglich, sage ich jetzt, wo Zwei-feln nicht mehr meine höchste Lust ist. Der Tod ist ein gutgehütetes Geheimnis, das einzige, dessen AutorenrechteGott nicht abgegeben hat. Ich kann dir von meinem Toderzählen, hier aus diesem Raum ohne Raum, denn er weiß,daß du mich nicht hören kannst. Aber ich weiß, daß du dirdiesen Tod auf vielerlei Weise vorstellst und daß, weil duihn dir vorstellst, alle diese Tode schon in unserem inne-ren Raum der Nichtexistenz existieren.

Ich bin mit einem Echo, verdoppelt, gestorben. Ich binmit einem Obdachlosen gestorben, der sich auf dem Wegin meinen Uterus verlaufen hatte, ich bin gestorben, weilmein Körper beschlossen hatte, ein neues Leben hervorzu-

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bringen und sich dabei geirrt hat. Ich habe gespürt, daßder Tod die Schleusen meines Blutes geöffnet hat, aber erstam Ende dieses roten Flusses begriff ich, daß ich meinennicht möglichen Sohn mit mir nahm. Nachdem ich vorSchmerz ohnmächtig geworden war, nahm ich zuallerersteinen intensiven Säuglingsduft wahr, einen warmen undsauren Geruch nach erbrochener Milch. Die Schaukel vonGottes Lächeln packte mich in einem Lichtstrahl, und aufmeinem Schoß saß eine Art winziges Baby, fast nur dasLächeln eines Babys, das direkt aus meinem Leib auf mei-nen Schoß gelangt war. Ein Samenkorn, ein Stein, etwasWarmes, das vor Glück verging, mir den Schmerz entriß.Das sich mit einem erleichterten Seufzer in einem blauenLicht auflöste. Da wurde die Schaukel leichter und be-gann eine Zeitlang, die mir unendlich vorkam, in einer Roseaus weißem Licht zu kreiseln. Die Lichtwellen dieser spi-ralförmigen Rose erklärten mir alles, was ich über meinenTod nicht wußte, und vieles aus meinem Leben, das ichvergessen hatte. Einfache Dinge, wie dieses Kind, das ich ineinem unzugänglichen Teil meines Körpers hervorbrachte,im blinden und weisen Ort des Unbewußten. Und die nochviel einfacheren, unaussprechlichen Dinge wie die Webfeh-ler in meiner Freundschaft für dich. Dinge, die unwieder-bringlich sind und ruhig. Mein Gott, laß zu, daß ich michbei meinem ersten Stelldichein mit der Ewigkeit mit ihnenvervollkommne. Die Wärme seines Lächelns nahm ab, dieSonnenblütenblätter dieser Rose, in der ich aufstieg, ent-fernten sich, und der Hauch, der ich bin, fiel langsam aufunsere Stadt herab.

Es ist nicht dieser intelligent verächtliche Blick, den man

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in den Fenstern der Flugzeuge lernt, nein. Ich hatte schonimmer angenommen, daß der rechteckige Blick, den manüber das wirre Gewusel der menschlichen Ameisen schwei-fen läßt, keinerlei Ähnlichkeit mit dem zugeneigten, mit-fühlenden Blick Gottes hat. In dieser ersten Falte der Tran-szendenz, in diesem Unort am Rande deiner Zeit und meinerEwigkeit, schweift mein augenloser Blick über riesige Ver-größerungen winzig kleiner Einzelheiten. Vom Kind, daseine Taube sein möchte, bis zu den verschlossenen Fensterndes Hauses, in dem du dich nicht aufhältst, weil du fürmeinen Körper die Totenwache hältst. Du hast das Lichtim Badezimmer angelassen, die Türen des Kleideschranksstehen offen, und eine dunkelrote Feinkordhose kringeltsich neben dem Bett. Das sieht gar nicht nach dir aus.

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2. Hast du an mich gedacht, während du starbst? Ichwürde viel Geld für die Antwort auf diese Frage geben –allerdings müßte sie der Wahrheit entsprechen. Denn esgibt die Wahrheit – es ist nicht alles so relativ, wie du esmir beibringen wolltest. Es gibt die Wahrheit, und sie wares, die uns vereinte; diese Wahrheit, die wie ein lautlosesSchiff unangefochten die trübsten Wasser durchquerte. Esmochte einige wenige andere geben, die uns zustimmten,aber nur aus der Distanz heraus. Der Distanz des Lachensund Trinkens, die zur neuen Intimität geworden war. Fürdich war die Wahrheit nicht unerreichbar – warst du wo-möglich schon an jenem Morgen meiner Kindheit bei mir,an dem ich bis zu dem Schiff am Horizont schwimmenwollte? Bevor ich dort ankam, wurde ich von einem Ruder-boot und mit ein paar Ohrfeigen eingefangen:

»Bist wohl verrückt geworden, junger Mann?«Man lebt besser, wenn man die Wahrheit jeden Tag

neu erfindet, sagt man mir. Tu so, als ob, als würdest dunicht sterben. Mach schon. Wir beide wollten alles außerder Wahrheit erfinden. Auch wenn sie unsere Feindin war.Vor allem, wenn sie unsere Feindin war. Wir wollten dieschlechte Wahrheit töten und die gute Wahrheit verbrei-ten – bist wohl verrückt geworden, junger Mann?

Wie töte ich deinen Tod? In meinen Träumen holst dumich ab, führst mich durch einen langen, kalten Korridor.Warum gibt es in den Träumen so viele dunkle Korridore?Aber am Ende schaust du mich an, und du bist nicht mehrdu. Ein Totenschädel mit Fleischresten in den Augen, dermich anlacht und mir eine lange Nase macht, wie Kinderes tun, ätschi-bätschi, reingefallen. Ich wache auf, und es

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fällt mir schwer, dich von dem Totenschädel zu trennen.Auf den Fotos sehe ich deine Knochen, Nerven und Hautschwarz werden, ein sarkastisches Lächeln, das in derStille des Zimmers schwebt. Und alles riecht nach Altsein,nach der Verwesung, zu der du umgehend geworden bist.Du wolltest nicht, daß ich dich als Tote sah; strafst dumich deshalb?

Die Suche nach der Wahrheit macht uns zu Strafenden.Ich bin so häufig über deine kleinen Lügen gestolpert. Siehaben so weh getan. Ich belog dich sofort wieder, etwasnachdrücklicher, damit du es merktest. Lügen. Du mach-test einen Witz, den ich erfunden hatte, zu deinem, und erkehrte aufgeblasen, entwertet durch die Humorpunkte,die du auf meine Kosten im Herzen von irgend jemand an-derem gewonnen hattest, wieder zu mir zurück. Als wiruns kennengelernt haben, warst du nicht so. Du zitiertestmich. Setztest Anführungszeichen. Dein Zauber lag in die-sem – so seltenen – Glitzern von Anführungszeichen. Dusagtest: »Soundso hat zu mir gesagt«, »Derundder hat mirerzählt«. Du strichst die Intelligenz und die Schönheit derWorte der anderen heraus. Mit dem Wechsel in die Politikhast du diese Strenge aufgegeben wie eine unbequemeHaut. Die Namen verschwanden, wurden unter den feier-lichen Teppich der »sicheren Quellen« gekehrt. Dann lern-test du, in dem Maße, wie dein Vertrauen in dich wuchs,auch auf den Rückgriff auf diese Quellen zu verzich-ten. Wie viele Sätze, die aus meinem Mund in dein Ohrgelangten und vor allem erdacht wurden, um dich zum La-chen zu bringen, kamen zu mir zurück. In den Zeitungenals »Zitat der Woche«, als Ausfluß deines edlen Geistes.

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Beachte bitte, daß ich Adel und Reichtum deines Den-kens nicht in Frage stelle. Du warst eine wandelnde Doktor-arbeit über den Existentialismus. Habe ich dir das jemalsgesagt? Du dachtest so viel und so gut, daß du die Zitateimmer an der richtigen Stelle anbrachtest. Du brauchtestsie nicht zu schlucken und wie Perlen wieder auszuspuk-ken. Du wurdest zur Auster, das war es; Molluske, oderweniger menschlich, wenn das dir lieber ist.

Anfangs war ich gekränkt, redete dagegen an – machteTheater. Und das war die Wahrheit. Aber ich gab es auf;du machtest überhaupt kein Theater.

»Was ist denn daran so wichtig? Du wirst mir doch jetztkeine Eifersuchtsszene wegen dieser Geschichte machen,nur weil ich vergessen habe, daß es deine war.«

Lia war so. Die Partei war so: ein Club, in dem derjenigegewann, der die Qualitäten der anderen am schnellsten ja-gen und fressen konnte. Und das, erklärtest du mir, sei keinLügen. Du tratst in eine Welt ein, in der eine Auslassungetwas ganz anderes war als eine Lüge. Sehr viel wenigerschlimm. Und Verrat gab es nur, wenn er an denselbenOrten, bei denselben Menschen häufig wiederholt wurde.Der Rest – Vertrauensbruch, Sex, Intrigen, Beschwerden –waren nur Ausrutscher.

Dein Moralkodex verbürokratisierte; es gab für alle Ord-nungswidrigkeiten extra Absätze. Und sogar die größe-ren verloren allmählich an Wert. Du hast gelernt, daß dieEntfernung zwischen einem Ausrutscher und einem Ver-brechen winzig klein ist. Daß wir alle ganz schnell insSchwarze abgleiten können. Ein oder zwei Glas Alkohol,ein Betrunkener, ein Verbrecher; ein Joint, eine Nase Koks,

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Abhängigkeit, ein Dieb. Das Leben wurde zu so etwas.Hemmungslos. Zu einfach und zu komplex. Ein Crescendo,eine ohrenbetäubende Musik. Ohne irgendeine Ausgangs-wahrheit.

»Was macht das schon? Schlimmer ist es, wenn sie einesmeiner Projekte nehmen und es zu ihrem erklären. Ich habemich schon daran gewöhnt: Es sind Männer, es sind viele,sie haben immer so regiert. Wenn sie Krieg mit Raketenführen, lohnt es sich für mich nicht, sie mit Steinen zu be-werfen.«

Du hattest auf alles eine Antwort, verdammt noch mal.Damals, als du Geschichte studiertest, waren Fragen deinSpezialgebiet. Du befragtest die Vergangenheit mit Vehe-menz und Methode: Warum war das so? Warum kamen dieanderen Möglichkeiten nicht zum Zuge? Wo liegt, von denFakten einmal abgesehen, die Wahrheit?

Sie lachten über dich, wenn du von der Wahrheitsprachst. Sie sagten dir immer wieder, die Wahrheit gebees nicht – denn dies sei die Wahrheit des Stückchens Zeit,das uns zum Leben gegeben war. Aber du hast dich nichtin deiner Zeit eingerichtet. Und warst ständig damit be-schäftigt, dich nicht in irgendeiner anderen Zeit einzurich-ten, die dich anachronistisch machen könnte.

»Mir ist gleichgültig, ob sie mich überholt finden. Abermich ärgert der Gedanke, daß ich nicht mehr originell seinkönnte. Wir dürfen uns nicht ins feindliche Lager führenlassen, mein Lieber.«

Das feindliche Lager. Du konntest es so deutlich zeich-nen wie den Rasen eines Fußballplatzes. Du mochtest Fuß-ball, denn er war der Wahrheit ähnlich. Sogar mit gekauf-

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ten Schiedsrichtern. Oder Geld, das in dicken Strömenunter den Tischen von Aufsichtsbeamten, Unternehmern,Rechtsanwälten floß. Selbst, als er zu einem Geschäft wur-de. Die Bösen und die Guten, die Reinen und die Unreinen;ja, das Strömen der Scheine machte die Unterscheidungschwieriger. Aber die Sonne über dem Rasen entschiedalles – die Beine der Männer, die hinter dem Ball der Wahr-heit herliefen.

»Man kann genau sehen, wer mit Leib und Seele spieltoder wer nur mit dem Körper spielt«, sagtest du. »Warumbloß ist das Leben nicht so transparent wie ein Fußball-spiel?«

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3. Wessen Tod ist dieser in einem Sarg inszenierte Tod?Woher kommt dieses kalte Fieber, das meinen Mund ver-siegelt? Ich kämpfe darum, dieser Kiste zu entkommen, inder sie mich ausstellen und beklagen. Wenn sie wenigstensbeten könnten. Vater unser, ich will den Himmel nichtmehr. Die Lebenden stört der Geruch der Toten. Daher er-sticken sie ihn in Blumen, Weihrauch, Kerzen, allem, wasdiesen Geruch vom konkreten Körper fernhalten kann, dernoch Fleisch, noch warm ist. Mir als Toter verursacht dieAngst Übelkeit. Die Angst, die die Lebenden jetzt vor mirhaben, vor der Zukunft, die ich ihnen, zum Beerdigen ein-gekleidet, verkünde. Diese Angst schafft Hitzewellen, Ne-belwellen, die das Kerzenlicht, das klebrige Geflüster nochverstärken.

Mache ich dir auch angst? Hier, reglos, mit geschlosse-nen Augen, sehe ich dich noch immer an, um nicht michanzusehen, um mich von dem Geruch zu entfernen, ob-wohl ich Angst habe, es könnte der letzte Geruch sein. Ichkonzentriere mich auf dich, auf den Geruch von Strand,Algen und Felsen, auf den Geruch von dem Meer, in daswir so viele Male gemeinsam eingetaucht sind, auf die Ge-rüche des Lebens, die mich vor diesem dichten Nebel, demunausweichlichen Mitleid mit mir selber retten. Vater un-ser, laß mich ihn ansehen. Laß zu, daß mein toter Blick im Kerzenlicht langsam aufsteigt, um ihn anzusehen.

Ich betrachte dich – endlich. Ich habe nie gedacht, daßich dich einmal mit nicht zusammenpassenden Strümpfensehen würde – einem grauen und einem schwarzen. Als dudie Beine überschlugst und die Schultern in einem Seufzerhobst und den Kopf zurücklegtest, bemerkte ich dieses De-