141
Ingo Hahn Ich war Robinson

Ingo Hahn Ich war Robinson - uni-muenster.de...7 Kartensammlung über ozeanische Inseln an. Das war mit sechzehn, als ich gerade die Klausur mit der Flächenbereinigung vergeigt hatte

  • Upload
    others

  • View
    5

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • Ingo Hahn

    Ich war Robinson

  • Ingo Hahn

    Ich war Robinson

    Forschungsexpedition nach Südamerikaund auf entlegene Inseln im Pazifik

    Shaker MediaAachen 2008

  • Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Für das Lektorieren und einige gute Ratschläge danke ichfreundschaftlich dem Journalisten Peter Arbeiter sowie denBiologen Dr. Wolfgang Beisenherz und Dr. Uwe Römer - es hatgeholfen!

    Copyright Shaker Media 2008Alle Rechte, auch das des auszugsweisen Nachdruckes, derauszugsweisen oder vollständigen Wiedergabe, der Speicherung inDatenverarbeitungsanlagen und der Übersetzung, vorbehalten.

    Printed in Germany.

    ISBN 978-3-86858-073-0

    Shaker Media GmbH • Postfach 101818 • 52018 AachenTelefon: 02407 / 95964 - 0 • Telefax: 02407 / 95964 - 9Internet: www.shaker-media.de • E-Mail: [email protected]

  • Inhaltsverzeichnis

    Prolog

    Kapitel 1 Geographie und Fernweh 6

    Kapitel 2 Mein Schiff kommt doch an 15

    Kapitel 3 Masafuera-Insel: Lagerbau weiter draußen 32

    Kapitel 4 Rayadito-Forschung und Ziegenjagd 47

    Kapitel 5 Robinson-Insel: Das Nest des Tachuris 71

    Kapitel 6 Der Kaninchener 82

    Kapitel 7 Unter Neuweltgeiern und Blutegeln 92

    Kapitel 8 Im Hochland 98

    Kapitel 9 Der Humboldt-Pinguin in seinem Element 102

    Kapitel 10 Mocha Dick oder die Insel der Schätze 110

    Kapitel 11 Der mit dem Kondor fliegt 121

    Nachwort 132

    Literatur 134

  • 3

    Prolog

    „Ein Hurrikan begann aus Südosten, sprang auf Nordwestenum und kam dann aus Nordosten, von wo er mit so furchtbarerGewalt tobte, dass uns zwölf Tage lang nichts übrig blieb, alsdahinzutreiben, vor ihm herzujagen und uns wegtragen zulassen, wohin es dem Schicksal und der Wut des Sturmsbeliebte. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich anjedem dieser zwölf Tage erwartete, vom Meer verschlungen zuwerden, und niemand auf dem Schiff glaubte, er werde mitdem Leben davonkommen. In dieser Not, während es immernoch heftig stürmte, rief früh an einem Morgen einer unsererLeute: ‚Land!’, und wir waren aus der Kajüte gelaufen, umhinauszublicken, wo in aller Welt wir uns befanden.“

    Mit diesem Worten beschreibt Daniel Defoe in seinemRoman „Robinson Crusoe“ dessen abenteuerliche Schiffsreiseund Ankunft an dem einsamen Eiland, einer der drei Inseln desJuan Fernandez-Archipels. Das Vorbild für die RomanfigurRobinson Crusoe gab es tatsächlich. Allerdings hieß erAlexander Selkirk und war schottischer Seemann. Seinegenauen Berichte waren es, die er Defoe nach der glücklichenRückkehr übergab und nach welchen jener den in aller Weltbekannten Roman schrieb.

    Die Tatsachenberichte und Tagebücher Selkirks wurdenteilweise genau übernommen. An anderen Stellen – wie beimSchiffbruch nach dem Hurrikan – veränderte Defoe dieEreignisse.

    Ich wollte die Vogelwelt dieser drei abgelegenen Inselnerforschen. Dabei reizte mich zuerst die Insel Masafuera, dieheute Alexander Selkirk-Insel genannt wird. Auf diese setzteSelkirk selbst allerdings keinen Fuß; er überlebte vier Jahre auf

  • 4

    der dem Festland näheren Insel Masatierra, die später inRobinson Crusoe-Insel umbenannt wurde. Zu den JuanFernandez-Inseln im Südpazifik aber wollte ich, demSchauplatz merkwürdiger Geschehnisse.

  • 5

    Für

    meine Großmutter

    Hanna Müller

    und

    all jene, die diese Inseln niemals zu Gesicht bekommenwerden. Und sie tun gut daran. Es ist besser für die Inseln undbesser für sie. Für die Inseln besser, weil sie erst seit kurzerZeit überhaupt Menschen zu ertragen haben. Sechshundertreichen da. Für sie selbst besser, weil sie so nicht in den Banndieser lieblichen Melancholie und schonungslosen Selbstnähegezogen werden: wer die Inseln besucht, empfindet jenesbeklemmende Gefühl der Einsamkeit und Stille, wünscht sichsie nie betreten zu haben und möglichst schnell wiederabreisen zu können. Doch wenn man sie hinter sich gelassenhat, sehnt man sich nach ihnen zurück. Auch AlexanderSelkirk erklärte nach seiner Errettung im Jahre 1709: „Oh mybeloved island, I wish I had never left thee!“.

    Das scheint über 250 Jahre später immer noch zu gelten.Denn der Botaniker Todd Stuessy schreibt: „…es ist auch eineschwierige Insel. Schwer zu erforschen. Ihre Einsamkeit istschwer zu ertragen. Und es ist auch schwer, sich nicht in sie zuverlieben.“

    Und auch ich bekomme keine Ruhe, bevor dieseGeschichte nicht erzählt ist.

  • 6

    1 Geographie und Fernweh

    Ich war nicht wie Alexander Selkirk der siebente Sohn einesschottischen Schuhmachers, der streng erzogen wurde und,kaum erwachsen, zur See ging um den Eltern und der biederenKleinstadt zu entkommen. Vielmehr war ich das erste von dreiKindern, dessen antiautoritäre Erziehung sich meine Elternselbst eingebrockt hatten. In der Schule hätte ich gute Notenhaben können, zumindest in den Fächern Erdkunde undBiologie, die mich interessierten, wenn ich nicht meist andereDinge im Kopf gehabt hätte. Zum Beispiel durch Wald undDickicht zu streifen, um Vögel und anderes Getieraufzustöbern.

    Ein zweites Hobby war mein Atlas. Ich erinnere mich aneinen Tag im Sommer 1983, als wir mit dem Auto in denUrlaub fahren wollten. Mit sechsstündiger Verspätung, für dieallerdings meine Mutter verantwortlich war, ging es endlichlos. Mein Vater war leicht genervt, aber froh, nun doch alleKinder und Koffer eingepackt zu haben und schließlichlosgefahren zu sein. Da fiel mir, im zarten Alter von zwölfJahren, ein: „Ich habe den Atlas vergessen“, welch ein Drama!„Unmöglich kann ich mehrere Wochen ohne ihn auskommen.“Mein Vater verdrehte erst die Augen, drehte dann aber auchden Wagen und fuhr zurück – um den Atlas holen.

    In Erdkunde wurde der allerdings nur dazu benutzt dieFlächenbereinigung der 70er Jahre nachzuvollziehen oder dieStadtsanierung von Hameln zu erörtern. Nichts gegen Hameln,aber meine Blicke zog es eher auf die Seiten mit den fernenOzeanen und kleinen Inseln. Die Inseln in solch einem Atlassind allerdings wirklich sehr klein. Deshalb beschloss ichmeinen Atlas etwas zu erweitern – und legte eine

  • 7

    Kartensammlung über ozeanische Inseln an. Das war mitsechzehn, als ich gerade die Klausur mit derFlächenbereinigung vergeigt hatte.

    Die Insel-Kartensammlung machte mir schon Spaß. Nurwar es so, dass Ende des 20. Jahrhunderts die Menschenanscheinend lieber auf den Mond flogen als anständige Kartenvon Inseln auf der Erde herauszugeben. Dies betraf, wie ichfeststellte, zumindest die Juan Fernández-Inseln: Ungefähr 300Jahre nachdem ein gewisser William Dampier, seines ZeichensFreibeuterkapitän, eine grobe Karte von einer Insel imSüdpazifik gezeichnet hatte, bekam ich perComputerbestellung ein Exemplar geliefert, dass mit jenerKarte Dampiers eine verblüffend große Ähnlichkeit aufwies.Sie hatte offenbar als Vorlage gedient!

    So was macht einen natürlich etwas ärgerlich – hilft aberauch nicht weiter. Weiterhelfen können in solch kritischenFällen häufig noch Bibliotheken, soviel hatte ich zumindest inder Schule mitbekommen. Also wurde zuerst dieUniversitätsbibliothek Bielefeld durchforstet, die größtePräsenzbibliothek in Deutschland wie man als BielefelderSchüler lernt. Vergeblich! Beziehungsweise eigentlich nochschlimmer: Es werden immer wage Andeutungen gemacht,Beschreibungen anderer Autoren übernommen, es wird aufältere Quellen hingewiesen, die ihrerseits dann wiederangeben, dass man eigentlich nicht viel wisse, nur ein dritterhätte jenes berichtet, weil er einmal dort gewesen sei –wahrscheinlich. So was macht einen dann noch ein bisschenärgerlicher. Besonders, wenn man jemand ist, der seinen Blickgerne über Ozeankarten streifen lässt und jeden kleinenInselpunkt darauf unter die Lupe nimmt. Es machte mich jedesMal sehr unruhig, wenn mein Blick auf die Punkte imSüdostpazifik fiel, auf die Juan Fernandez-Inseln.

  • 8

    Nach dem Abitur (in dem es natürlich in Erdkunde umländliche Siedlungen in Deutschland ging) reifte in mir immermehr der Gedanke, Deutschland für eine Reise in ein fernesLand zu verlassen. Aber halt, ich gab mir noch eine letzteChance, die Wissenslücke vorher zu schließen. Eine letzteChance, ganz triviale Informationen über diese Inseln zuerlangen und das Interesse an ihnen zu erschöpfen: Ich wollteGeographie und Biologie an der ehrwürdigen WestfälischenWilhelms-Universität in Münster studieren. Dort gab es, wieich erfahren hatte, nicht nur eine Bibliothek und eineprofessionelle Kartensammlung, sondern auch einen Haufenkluger Professoren und anderer Wissenschaftler.

    Zwei lange Jahre versuchte ich, mir diese Quellen zuerschließen. Währenddessen dachte ich, die Professorenhielten ihr Wissen über Juan Fernandez vor mir zurück, weilsie wollten, dass ich erst mein Vordiplom machte. Als ich aberdann zwei Jahre später mit dem Vordiplom dastand, ohne dassmir irgendwann einmal irgendwer irgendetwas über dieGeographie oder Vogelwelt von Juan Fernandez erzählt hatte,erkannte ich den Fehlschlag. Fast glaubte ich sogar, dasVordiplom habe man mir als eine Art Schweigeprämiegegeben, damit ich vom Unwissen der Herren über JuanFernandez nichts weitersage. Wie dem auch war, zumRumreden war mir schon lange nicht mehr zumute, jetztwürden Taten folgen.

    Zwei Wochen später sitze ich auf dem Flughafen vonSantiago de Chile. Zwei spanische Redewendungen habe ichim Gepäck. Erstens „buenos días“, was bekanntlich „GutenTag“ heißt, manchmal ganz nützlich ist und von mir bei jederdenkbaren Gelegenheit gebraucht wird; zweitens „yo tengohambre“, was laut Wörterbuch „Ich habe Hunger“ bedeutet,zwar nicht immer so freundlich aufgenommen wird wie

  • 9

    „buenos días“, aber in den entscheidenden Situationenwesentlich wichtiger ist. So komme ich also mit meinen 21Jahren in der 5-Millionen-Metropole Santiago an. Die meistenChilenen sind freundlich und grüßen gerne zurück. Nurderjenige der mich abholen soll, ein junger Deutscher der dortseinen Zivildienst in einem Heim für Waisenkinder leistet, willsich nicht begrüßen lassen. Schon habe ich mir einigeVarianten für die bevorstehende Übernachtung durch den Kopfgehen lassen, als er mit fast zwei Stunden Verspätung dochnoch kommt. „Warum ich mich verspätet habe?“, wiederholter meine Frage und beantwortet sie sehr logisch: „Nun, ichhabe mich halt verspätet, außerdem ist das Auto kaputtgegangen und überhaupt, jetzt bin ich ja da.“

    Mit Hilfe seiner schon fast landestypischen Einstellung,Dinge nicht zu überstürzen, jedoch nie aus den Augen zuverlieren, kommen wir recht weit. Nicht nur, dass es an diesemAbend noch ein gutes Essen im Kreise von vier Chilenen gibt,die bereitwillig auf meinen zweiten Spruch eingehen, wirstoßen auch zielsicher in dieser brodelnden, riesigen Stadtinnerhalb von wenigen Tagen auf zwei Wissenschafter, einenChilenen und einen Amerikaner, die gerade eine Expeditionfür die National Geographic Society vorbereiten. Unglaublichaber wahr: Es soll auf die entlegenen Juan Fernández-Inselngehen – und das schon in einigen Tagen.

    Besser kann man eigentlich keine Reise an einen solchentlegenen Ort „planen“ und ich bin heute noch davonüberzeugt, dass es kein Zufall war. Sie erklären sich auchbereit, mich mitzunehmen. „Allerdings müssen wir vorhernoch ein Schiff in Valparaiso anheuern und einen Kapitändazu. Dies ist im Prinzip nicht schwierig“, versichert mir derChilene, „nur auf die Qualität kommt es an, denn Schiffe undKapitäne gibt es genug.“ Der dann gefundene 23-Meter-Kutter

  • 10

    macht auf mich keinen besonders zuverlässigen Eindruck.Aber der Kapitän soll ein echter Kapitän sein und er lässt sichauch gut bezahlen – unter anderem deshalb, weil das Schiffnicht ganz seinen Vorstellungen entspricht und ihn daher „sehrfordern werde“.

    Knapp 300 Jahre nach Alexander Selkirk mache ich michalso auf die Spuren seiner Abenteuer. Ich hoffe allerdings, dieInseln von Juan Fernández auch ohne Sturm und Schiffbruchzu erreichen. Die Sonne scheint über dem Hafen vonValparaiso und die Braunpelikane segeln über die kleinenWellen ruhig dahin. Die beiden Wissenschaftsfreunde erklärenmir noch, dass ich auf das Schiff und ihre Ausrüstungaufpassen solle und sie selbst dann später auf anderem Wegenachkommen würden. Als wir abends um acht Uhr die Leineneinholen und in den Sonnenuntergang abfahren, finde ich michals einziger „Gringo“ an Bord der Maria-Elcira wieder – alseinziger, der diese Fahrt freiwillig und ohne Bezahlung angeht.Die fünf chilenischen Seeleute, die sich neben dem Kapitännoch eingefunden haben, machen auf mich einen glaubhaftenEindruck. Dies ist, als wir durch das glatte Wasser derHafenbucht tuckern, und ich am Tisch der kleinen Kombüsesitze, dem jungen Schiffskoch bei der Arbeit zusehe und seinechilenischen Redewendungen ab und zu mit einem gutgemeinten „Si“, das ich inzwischen dazugelernt habe, undeinem „yo tengo hambre“ beantworte.

    Das mit dem Hunger ändert sich dann allerdings, und dashat gleich drei Gründe. Der erste Grund ist die Tatsache, dasswir nun die Hafenausfahrt passiert haben und es keine kleinenplätschernden Wellen mit darüber gleitenden Pelikanen mehrgibt. Das heißt, es gibt sich schon noch, nur sind sie immernoch im Hafen, während hier der Pazifik tobt. Der zweiteGrund liegt in einigen weißlichen, kleinen Pillen, die gut gegen

  • 11

    den Seegang seine sollen – gegen den Seegang im Magen.Diese Pillen bekam ich, noch bevor wir abfuhren, vom Kapitängeschenkt. Nun, wo die Pelikane immer kleiner werden unddie Wellen immer größer, befolge ich seinen Rat und schluckezwei Stück mit etwas Wasser hinunter. Im gleichenAugenblick wünsche ich allerdings auch schon, ich hätte dasnicht getan, denn sie schmecken schauderhaft. Ob es ihrGeschmack ist, dass mir immer flauer wird, oder der Seegang,ist mir nicht ganz klar. Ganz klar ist aber, dass der dritte Grund– eine simple Beobachtung – dazu auf jeden Fall beiträgt: Derjunge Koch hat sich kurzerhand zu mir umgedreht und sicheinige meiner kleinen Pillen einverleibt.

    Offenbar scheint ihn dies in seiner Kochkunst zu beflügeln,denn er arbeitet mit doppeltem Tempo weiter. Ab und zumacht er einen schnellen Schritt nach rechts zur Kombüsentürund wirft Abfälle über die schmale Reling. Ich beobachte ihnstetig und hoffe, dadurch etwas von den anderen Umständenabgelenkt zu werden. Sein emsiges Arbeitstempo scheint sichnoch weiter zu steigern. Mit einem Mal macht er wieder einenSchritt zur Kombüsentür, diesmal einen besonders schnellen.Ich wundere mich noch, dass er dabei gar nichts in der Handträgt. Dann sehe ich den wahren Grund: Er hat die kleinenweißen Pillen noch schlechter vertragen als ich. Nach ungefähr20 Sekunden kommt er wieder herein und schnippelt weiter andem Salat, als sei nichts gewesen. Über diese Blitzaktion binich so erstaunt, dass ich tatsächlich einige Augenblicke langverwundert und wie erstarrt dasitze. Dann aber zieht es auchmich blitzschnell zur Kombüsentür und die kleinen weißenPillen zieht es ihrerseits dahin, wo sie den Seegang wohl ambesten bekämpfen können: in den blauen Pazifik. Obwohldamit ein Grund weniger existiert, der flauen Stimmung imMagen nachzugeben, habe ich nicht mehr den richtigenAppetit auf Salat.

  • 12

    Der Kapitän hat für mich noch eine tolle Idee parat: „Auchwenn es einem übel ist und schlecht geht, soll man trotzdemgenug essen und trinken. So kann man wenigstens ein bisschendavon verdauen, nämlich in der kurzen Zeit, bevor man eswieder los ist!“ Erst denke ich, dies sei makabererSeemannshumor, aber als mich der Kapitän eindringlichanschaut und bestätigt: „Man kann nicht lange ohne Nahrungund Flüssigkeit auskommen“, da fällt mir auf, dass die anderenSeeleute kräftig zulangen, obwohl es ihnen offensichtlich nichtviel besser ergeht als mir. Und als ich dann am nächstenMittag so richtig hungrig bin, der frische Fisch in der Pfannebrutzelt, da bin ich auf dem besten Weg, mir seine sarkastischeEinstellung anzueignen: Erstens bleibt einem vielleichttatsächlich ein wenig von der Kost, zweitens schmeckt eswenigstens gut – man denke nur an die Römergelage – unddrittens ist die ganze Würgeanstrengung nicht umsonst. Gesagtgetan. Nun muss ich neben dem eisenfesten Griff an der Relingund dem Verkeilen der Beine zwecks Verbleibs auf demSchiff, nur noch etwas anderes berücksichtigen: dieWindrichtung. Diese war „vor dem Fisch“ eigentlich egal.Jetzt „nach dem Fisch“ bringt sie mir sogar neue Freunde – dassind Kapsturmvögel und Dominikanermöwen.

    Nun habe ich den Tag über wenigstens eine Beschäftigung.Ich sitze beim Schiffskoch in der Kombüse und wir geben waswir können. Am Abend, als ich in meiner Koje liege, bin ichaber dermaßen geschafft, dass ich unsicher bin, ob es durch dieneue Strategie tatsächlich einen Energiegewinn gegeben hat.

    Seit der letzten Nacht sind die Wellen so groß geworden,wie ich sie noch nie in meinem Leben gesehen habe. Das magnicht viel heißen, aber sie waren wirklich so groß, dass ichsehe, wie wir Berge hinauffahren und in weite Tälerhinabgleiten. Jedes Mal wenn wir wieder einen weißen

  • 13

    Wellenkamm erreichen und die Maria-Elcira einen Moment zufliegen scheint, bis sie nach vorne übergenickt ist und wiederWasser unter den größten Teil des Rumpfes bekommt, dafragte ich mich, warum ich mein Studium denn gleich mitsolch einer Reise – vielleicht meiner letzten – unterbrechenmuss. Die Maya-Tempel oder Niagarafälle wären dochbestimmt auch nett gewesen. Das Stöhnen der Planken und dasDonnern der Wogen haben mich wirklich eingeschüchtert, undich fühle mich wie ein kleiner elender Spielball der gewaltigenNaturkräfte. Aber es ist schließlich meine erste derartige„Seefahrt“ und – so sage ich mir – ich die Gefahr vermutlichüberschätze.

  • 14

    Santiago de Chile ist eine brodelnde, ruhelose Stadt. NachSonnenuntergang schlägt ihr Puls kaum merklich langsamer.

    Mit einem kleinen, wasserziehenden Kutter kann man über denPazifik navigieren. Etwas Glück muss im Gepäck sein.

  • 15

    2 Mein Schiff kommt doch an

    Elend liege ich in der zweiten Nacht in meiner Koje. InGedanken mache ich die Fahrt des Schiffes hinauf auf denBerg und hinab in das Tal mit. Jedes Mal, wenn es nach einemWellengipfel wieder Wasser unter den Rumpf bekommt,schöpfte ich neue Hoffnung. Nach der Hoffnung kommt immerdas flaue Gefühl im Magen, während wir talwärts hinabgleiten,bis endlich der tiefste Punkt erreicht ist. Und bis es circa einUhr nachts ist! Das ist nämlich der Zeitpunkt, als selbst dieHoffnungsphase mich verlässt. Was nichts damit zu tun hat,dass das Schiff nicht mehr über die Wellenberge hinwegkommt, sondern eher mit den Matrosen: Einer von ihnenkommt nun die Leiter herunter gestiegen. Dabei bemerkt er,dass das Wasser in unserem Schlafraum schon kniehoch stehtund durch den Rumpf zusätzliches eindringt. Zwei Minutenspäter sind sie vollzählig zur Stelle: Alle Mann an die Pumpen!

    Obwohl ich in einer der oberen Kojen liege, ist diese ausbis dahin ungeklärten Gründen zur Hälfte durchnässt. Dadurchnicht nur klamm geworden, sondern nun auch ernsthaftbeunruhigt, will ich sofort raus aus der Koje und beimSchöpfen helfen. Aber da ist kein Platz mehr für mich, denn zudritt stehen sie schon unten drin. Wäre ich nicht seekrank undschwach, sicher würde ich einen von ihnen ersetzen. ZumBeispiel den Dritten.

    Der erste Mann schöpft mit dem Eimer Wasser, der zweitehält den Eimer danach etwas fest und der dritte schaut denbeiden zu. Dann zieht ein vierter an einer Schnur den Eimernach oben durch die Luke. Ob es nur einen Eimer auf demSchiff gibt, weiß ich nicht. Genauso wenig weiß ich, obdeswegen oder aufgrund einer Seemannstradition der Eimer

  • 16

    immer randvoll gemacht werden muss. Auf jeden Fall wirddann der Versuch unternommen, den Eimer durch die Luke zuhieven, deren Durchmesser kaum größer ist. Zur Überraschungder drei nun von unten zuschauenden Seeleute, kommt esimmer wieder dazu, dass der Wassereimer wegen des starkenSeegangs gegen den Lukenrand stößt.

    Ein Teil des Wassers ergießt sich dann über die bis dahinnoch trockene Hälfte meiner Koje. Das scheint eininteressanter Vorgang zu sein. Nicht nur für die drei da unten,die zu mir hinauf schauen, sondern auch für mich. Denn ichkann so versuchen, mich auf die in der Mitte befindlichen 10cm trockenen Bettes zu beschränken, was mir nicht ganzgelingt. Das hat zur Folge, dass ich bei der nächsten LadungWasser einen kleinen Wutausbruch bekomme. Verstandenhaben sie den Schwall deutscher Worte zwar nicht, aber esmuss etwas in meiner Gestik liegen, dass sie den Eimer vonnun an nicht mehr ganz voll machen.

    Aufgrund des Sturmes hat sich die Dauer unserer Reiseverlängert. Aber am dritten Tag wird dann alles besser. DerSturm legt sich, die Sonne kommt heraus und wir fahren inruhigere Gewässer. Am Mittag ist die See dann fast ganz glatt.Nun bekomme ich richtig Appetit und tauche zum ersten Malseit zwei Tagen wieder auf Deck auf. Es werden erst einmaldrei Apfelsinen verzehrt, dann zwei Äpfel; zum Mittag esseich gleich danach Kartoffelpüree mit Wurst und Salat. Undzum Kaffeetrinken gibt es noch mal das gleiche.

    Die Welt ist nun herrlicher denn je. Dem sicheren Todentronnen, stehen die Zeichen gut, dass wir die Robinson-Inselbei prächtigem Wetter erreichen werden. Bei der sanftenNachmittagssonne und dem gleichmäßigen Stampfen desDieselmotors kann man fast in eine Art Zeitlosigkeit verfallen.Wir fahren und fahren und es ist rundherum kein Land zu

  • 17

    sehen. Wir machen sieben Knoten, doch seit Tagen ist nichtsals Wasser um uns herum. Und dann soll irgendwann einmaldiese kleine, so winzige Insel aus dem Ozean gucken. Manmuss sie wohl förmlich suchen, mit Sextant, Satellitengerätund Fernglas. Wie leicht hätte man sie in früheren Zeiten ohnesolch technisches Gerät verfehlen können, dieses Steinchen,das trotz einer Höhe von über 900 Metern doch so unendlichklein in der Weite des „Ozeano Pacifico“ liegt. Es wurde abernicht übersehen. Vielleicht schon deshalb nicht, weil es sounwirklich dort liegt? Noch immer sieht man am Horizontnichts als die schiere Weite. Als stünde die Zeit still. Undwenn es die Inseln wirklich gibt, so muss die Zeit dortstillstehen. Denn wofür brauchen sie die Zeit dieser Welt?

    Nachdem die Sonne vor uns im Bugwasser untergegangenist, krabbele ich wieder in meine nasse Koje. Dennoch ist esdie erste angenehme Nacht seit unserer Abfahrt. Ich schlafeganz ruhig und bin mir nun sicher, dass wir am nächsten Tagankommen werden. Ich wache durch einige Rufe an Deck auf.Es ist sieben Uhr morgens und überhaupt kein Seegang zuspüren. Blitzschnell springe ich aus meinem Schlafsack und indie Hose. Dann stecke ich langsam den Kopf durch die Luke.Und da liegt die Insel vor uns. Wir haben offenbar noch in derNacht die große Bucht – auch Cumberlandbucht genannt –erreicht und liegen nun geschützt vor Anker, von den sattgrünen Hängen eingeschlossen. Die Wolken hängen ganz tiefund es scheint überhaupt kein Wind zu gehen. Die Berggipfelsind vollständig verborgen und es herrscht eine gedämpfteRuhe, die nur ab und an durch das seichte Plätschern und einpaar Wortfetzen unterbrochen wird, die vom Land herüberdringen. Das ist also das einzige Dorf der Insel, die Siedlung„San Juan Bautista“. Hier und da zeigt sich jemand vor seinerHütte. Dann löst ein Fischer sein Boot vom Landungssteg undhält auf uns zu.

  • 18

    Das Boot holt uns ab und zehn Minuten später gehen derKapitän und ich an Land. Nach einem kleinen Rundgang durchdie Siedlung werde ich in eines der kleinen Holzhäuser hereingewunken. Dort, ich habe gerade die Tür aufgestoßen, schaueich in die Gesichter aller Mitglieder der Expedition vonNational Geographic. Sie sind alle, acht Leute an der Zahl, miteinem kleinen Flieger auf die Insel gekommen. Dies istmittlerweile bei günstigem Wetter möglich, wo man auf einerkurzen Piste ganz im Westen der Insel landet. Zwei weitereStunden mit dem Fischerboot und man gelangt in San JuanBautista an. Deutlich schneller als ich. Die Truppe besteht aussechs Amerikanern und zwei Chilenen. Etwas gespannt fragensie mich nach meiner Überfahrt und ob alles gut geklappt habe.Denn ich hatte ja sozusagen auf ihre gesamte Ausrüstungaufgepasst, als einziger „Gringo“ an Bord. Nach meinemkurzen Bericht fangen sie halb herzlich, halb erleichtert an zulachen und sind alle recht froh auf dem Luftweg gekommen zusein. Ganz erspart werden sollte die Seefahrt allerdings auchden anderen Gringos nicht, denn schon am Nachmittag würdedie Maria-Elcira gen Westen aufbrechen.

    Jetzt war ich also auf der Insel angekommen, auf der sichdie Geschichte des Robinson Crusoe tatsächlich zugetragenhat. War das nicht Grund genug, einfach hier zu bleiben, zuersteinmal die Insel zu erkunden und alles andere auf später zuverschieben? So ruhig, so grün und so geheimnisvoll kam siemir vor. Aber im Grunde stellte sich diese noch Frage nicht.Denn immer schon hatte es mich nach Masafuera gezogen,hatten meine Augen in meinen Alexander-Atlas auf diesemkleinen Punkt halt gemacht.

    Auch Alexander Selkirk hatte die Sehnsucht nach derFerne, die Sehnsucht nach Westen! Robinson Crusoe spricht indem Roman: „Ich erwähnte bereits, dass ich große Lust hatte,

  • 19

    die ganze Insel zu besichtigen. Als ich das Tal, in dem meinLandsitz stand, hinter mir gelassen hatte, erblickte ich dasMeer in westlicher Richtung, und da der Tag sehr klar war,erspähte ich ganz deutlich Land – ob es sich dabei jedoch umeine Insel oder um Festland handelte, vermochte ich nicht zusagen; es lag aber sehr hoch und zog sich in weiter Ferne vonWest nach Südwest.“

    Hiermit ist die Insel Masafuera gemeint. Vielleicht wurdesie auch deshalb später nach Alexander Selkirk umbenannt.Das Eiland ist nur bei sehr klarem Wetter von einem Berg aussichtbar, da es weit entfernt liegt, tatsächlich inwestsüdwestlicher Richtung. Robinson spricht weiter:„Währenddessen befassten sich meine Gedanken, wie sich derLeser vorstellen kann, häufig mit dem Land, das ich von deranderen Seite der Insel aus gesehen hatte, und insgeheimempfand ich den Wunsch, dorthin zu gelangen. Dies brachtemich endlich auf den Gedanken, ob es nicht möglich sei, mirein Kanu oder eine Piroge zu bauen.“

    Ich dagegen, brauche mir nicht extra ein Schiffchen zuzimmern. Es liegt bereits dort in der Cumberlandbucht undwartet auf mich: die Maria-Elcira. Allein ich muss mich ihr einzweites Mal anvertrauen. Man kann, so denke ich, dasRobinsonleben heutzutage eher auf Masafuera erleben. Dort,wo eben keine ständige Siedlung mit 600 Einwohnern steht,dort wo es vielleicht noch wilde Ziegen in rauen Mengen gibt.Außerdem: die Insel Masafuera ist komplett Bestandteil desNationalparks, sozusagen zu 100 %. Das bedeutet, dass manohne Forschungsgenehmigung keinen Fuß auf die Insel setzendarf. Man darf noch nicht einmal an Bord eines Schiffesgehen, das diese Insel ansteuert. Zwar habe ich keine solcheForschungsgenehmigung, aber als „Frachtwächter“ derNational Geographic Expedition hat vielleicht auch der

  • 20

    Student Ingo die Möglichkeit auf die „verbotene Insel“ zugelangen: diese Insel, die um die letzte Jahrhundertwende nochdem chilenischen Staat als Gefängnis diente, um sich dortpolitischer Gegner und Schwerverbrecher ohne Rückticket zuentledigen. Nach Masatierra, der wahren Robinson Crusoe-Insel, will ich später zurückkehren, um sie zu untersuchen.Jetzt aber zieht es mich zunächst mit der Maria-Elcira nachWesten.

    Unser Ziel ist also die entlegenste Insel des JuanFernández-Archipels: genannt Masafuera oder heute AlejandroSelkirk-Insel. Ersteres ist spanisch und bedeutet „weiterdraußen“, denn die Insel liegt noch 170 Kilometer weiter imOzean. Dahin soll es eine knappe Tagesreise sein und dorthingibt es auch keine Flugverbindung. „Die Alexander Selkirk-Insel ist nämlich noch gebirgiger, unzugänglicher undschroffer“, sagt mir der Kapitän, er selbst habe sie vor 30Jahren einmal gesehen. „Nicht einmal einen natürlichen Hafenoder eine Bucht gibt es, was bei der Landung Schwierigkeitenmachen konnte. Nur einige Fischer leben während desSommers dort, um Langusten zu fangen. Sonst ist die Inselunbewohnt.“

    Jetzt sind wir recht viele Personen für diesen kleinen Kahn,aber zumindest das ruhige Wetter hält an. So muss in dreiSchichten in der kleinen Kombüse gegessen werden, wo nichtmehr als fünf Mann Platz haben. Es gibt Fisch mit Reis undsogar gebratene Bananen als Dessert. In der Nacht wird esdiesmal nicht nass und kalt, sondern nur kalt. Ich habe meineKoje abgetreten und mich im Rettungsboot an Deckeinquartiert. Hier pfeift der Wind allerdings derart, dass esnicht viel Schlaf gibt. Daher fällt es mir auch am nächstenMorgen nicht schwer, früh aufzustehen. Und welch’ Anblickoffenbart sich! Durchfurcht von steilen Schluchten, abweisend,

  • 21

    schier unerreichbar: Masafuera! Zwar sind wir noch ein gutesStück entfernt und die vorderen Bereiche erscheinen imSonnenaufgang in einem Fahlgelb, doch lässt die Szenerieschon die wilde Schönheit erahnen.

    Dann taucht plötzlich ein Regenbogen vor der Insel auf.Neben mir höre ich einen entzückten Ausruf und John, derauch gerade aufgetaucht ist, verschwindet sofort wieder, umseine Kamera zu suchen. Ich habe zwar die Kamera in derNähe, aber der Film ist natürlich voll, andere Filmeunerreichbar im Stauraum. So bleibt mir nichts anderes, als die„Insel unter dem Regenbogen“ in aller Ruhe zu betrachten, aufder wir die nächsten Wochen oder Monate ohne Kontakt zurAußenwelt verbringen werden. Noch sind wir allerdings nichtan Land, und hier fällt mir eine der wenigen Beschreibungenüber die Insel ein, die ich in der Literatur gefunden habe. BasilRingrose, der mit dem Freibeuterkapitän Bartholomäus Sharpauf Fahrt war, schreibt am 23. Dezember 1680 in seinTagebuch: „Die ganze letzte Nacht hindurch hatten wirfrischen Wind. Und am Morgen entdeckte der Hauptmast-Ausguck einen Flecken Land. Am Abend sahen wir es für eineWeile wieder. Wir fanden später heraus, dass wir die westlicheder Inseln von Juan Fernandez gesehen hatten – nichts alsFelsen im Meer, ohne Hafen, kaum eine Landemöglichkeit.“

    Im Jahre 1909 gibt Carl Martin in seiner Landeskunde vonChile an: Masafuera bildet „ein solides, ununterbrochenes,steil aus dem Meere aufsteigendes Felsenmassiv. Nirgendssieht man an dem einzigen ungeheuren Steindome einezugängliche Stelle. Und fürwahr, nur mit der Gefahr, völligdurchnässt zu werden, ja manchmal überhaupt nurschwimmend, kann man von dem Boote aus ein paar nichtgerade senkrecht abfallende Stellen der Felsabstürze durch dieBrandung der Ozeanwogen hindurch erreichen.“

  • 22

    Und hätten wir an diesem Tag ebenfalls Sturm gehabt, sowäre uns sicher sofort der Schiffbruch Robinson Crusoes undsein Kampf gegen die See in den Kopf geschossen. Aber derPazifik ist still an diesem 25. November und gegen 10 Uhr hältein Fischerboot auf unsere Maria-Elcira zu. Ich steige ein undkurze Zeit später springe ich als erster der Ankömmlinge anLand: „Jetzt bin ich auf der Alexander Selkirk-Insel!“ Es istwahnsinnig aufregend an Land zu gehen. Erst dieser Trubeldes Aufbruchs auf unserem kleinen Schiff, dann die Ruhe anLand: „Ich habe das Gefühl als sollte dies sehr grundlegendsein. Nur ein kleiner Sprung war es, aber er hat eine großeBedeutung für mich.“ Ich schreibe weiter in mein Tagebuch:„Mit diesem Sprung habe ich sehr viel festgelegt.“ Wie langehatte ich auf diesen Moment gewartet, von ihm geträumt. Nunwar er da – und alles war so wirklich und greifbar. Es wargenauso wie ich es mir vorgestellt hatte – fast noch schöner.Wer die kargen, schroffen Felsen dieses Inselabschnittsnüchtern betrachtet hätte, er hätte nie ahnen können wiewunderbar sie mir in diesem Moment erschienen.

    Kaum an Land gesprungen, helfe ich den Fischern dasBoot an Land zu ziehen, was über eine handbetriebene Windeerfolgt, an deren Kurbel vier bis sechs Männer schuftenmüssen. Im Wasser liegen bleiben kann keines der achtFischerboote, denn die See brandet hier ganz ungehindert.Kein natürlicher Hafen, keine Bucht, auch kein Steg befindetsich auf der ganzen Insel.

    Wir Neuankömmlinge ziehen zuerst in das Holzhaus derNationalparkverwaltung, gleich neben der Zugrinne der Boote,um unsere Sachen abzustellen. Es ist in dem kleinen Dorf „LasCasas“ das einzige Gebilde, das die Bezeichnung „Haus“einigermaßen verdient. Die übrigen sind selbstzusammengezimmerte Fischerhütten. In eine solche werde ich

  • 23

    dann sogleich mit Hugo und John eingeladen: die beidenFischer, Rino und Joselo, haben Nudeln mit Langustengekocht! Sie tischen uns einen Berg davon auf und freuen sichüber unser Zungenschnalzen. „Hier gibt es noch sovielLangusten wie man nur essen kann“, sagt Rino in schlechtemSpanisch, was uns Hugo übersetzt. „Unsere riesigen Langustenhier auf Juan Fernandez werden per Schiff zum Festlandgebracht, dann per Transporter nach Santiago, und von dortaus in die ganze Welt geflogen – zu den feinsten Restaurantsweltweit. In einem Gourmet-Restaurant in Paris kann man dieLanguste für einen Wahnsinnspreis verspeisen.“ In der Tat: dieLangusten sind köstlich und noch größer als der atlantischeHummer. Bei Rino und Joselo aber mit Sicherheit frischer alsirgendwo sonst.

    Später, am Nachmittag, unternehme ich einen kleinenAusflug in die Casas-Schlucht. Es ist eine tief eingeschnittene,V-förmige Schlucht, auf deren Grund ein Bach verläuft, andessen Mündung das kleine Dorf „Las Casas“ liegt. Ich folgedem Talgrund eine Weile in Richtung Inselinneres. Hierbeisehe ich zum ersten Mal den Masafuera-Uferwipper, einenkleinen stelzenähnlichen Töpfervogel, der ausschließlich aufdieser Insel vorkommt. Auch einige Kühe und ein Pferd findeich vor und – Stille. Je weiter ich der Schlucht folge: totaleStille. Kein einziger Laut, wirklich keiner.

    Am nächsten Tag gehe ich dann mit den beidenParkrangern Oscar und Esteban, die natürlich Insulaner sind,auf Ziegenjagd – meine erste Ziegenjagd! Es geht stramm zweiTäler im Norden der Insel hinauf, die Täler Mono und Seca.Auf dem inseloberen Nordplateau angelangt können wir dann,ohne dass uns weitere Schluchten den Weg verstellen, bis zumTal Pasto gelangen. Dort erwischt Oscar dann mit der Büchsedie einzige Ziege heute. Später pflücken wir noch, quasi als

  • 24

    Belohnung für den Jagderfolg, einen Stängel dereinheimischen Gunnera -Pflanze. Dies ist einrhabarberähnliches Gewächs, das auch säuerlich-saftigschmeckt. Eine herrliche Erfrischung bei denschweißtreibenden Wanderungen und Pirschgängen an diesemheißen Tag! Diese Pflanze steht hier im Nationalparkstrengstens unter Naturschutz. Oscar und Esteban sind genaudiejenigen, die verhindern sollen, dass die etwa dreißigFischerleute der Insel sie pflücken. Aber ich lerne von denbeiden: „Die Uhren ticken hier auf Masafuera anders. DieRobinson Crusoe-Insel ist weit entfernt von hier, und damitauch die Administration und ihr Chef. Und der Kontinent istnoch viel, viel weiter weg.“ Sie lachen mich an und fragenmich wie mir die Gunnera schmecke. „Bueno, bueno“, habeich dazu gelernt. Dann schmeißt Oscar noch die Schalen derGunnera in einen Farnbusch, damit sie nicht „hässlich in derLandschaft herumliegen oder jemand anders sie findet“ – fallshier in den nächsten fünf Jahren überhaupt einer vorbeikommt.

    Am darauf folgenden Tag ziehen wir zum ersten Mal inden südlichen Teil der Insel und zwar in die Inocentes-Schlucht. Zusammen mit dem jungen Fischer Cristian und mitEsteban geht es los. Der Aufstieg durch die Schlucht ist füreinen Inselneuling wie mich etwas riskant, aber die beidensichern mich gut. „Jeder noch so beschwerliche Aufstieg wirdauf Masafuera immer mit einem atemberaubenden Ausblickbelohnt“, schreibe ich am Abend in mein Tagebuch, „zwarhatten wir von dieser Schlucht aus keinen Zugang zum nochwesentlich höher gelegene Plateau der Südhälfte, aber es warschon eine gute Übung.“ Wir erlegen keine Ziege, denn wirmüssen schon am frühen Nachmittag wieder zur Siedlungzurückkehren. Esteban darf die Abfahrt der Maria-Elcira nachder Robinson Crusoe-Insel nicht verpassen. Denn, wie er mir

  • 25

    versichert, würde er sonst vielleicht für zwei weitere Monatehier festsitzen, bis zur nächsten Verbindung mit derAußenwelt, bis zur nächsten Schiffsankunft.

    Ob und wann wieder ein Schiff oder eine Schaluppekommen wird, kann allerdings bei bestem Willen keinervoraussagen. Wenn dies überhaupt absehbar sei, dann durcheinen guten Fangerfolg der acht Fischerboote, was dasAbholen der Tiere dann lohnender macht. „Bei schlechtemFang kann man hier auch leicht ein halbes Jahr festsitzen“, wiemir der Fischer Min versichert. „So erging es uns vor ein paarJahren, als wir vor der Entscheidung standen, auf Masafueramit längst aufgebrauchten Nahrungsvorräten zu überwinternoder in unseren kleinen Fischerbooten die 170 Kilometer biszur Robinson Crusoe-Insel über den Pazifik zu wagen. Wirentschieden uns für letzteres, fuhren bei gutem Wetter in einerKolonne ab gen Osten. Mit den schwachen Dieselmotoren derFischerboote brauchten wir jedoch ewig, über eineinhalb Tage.Schon kurz nach der Abfahrt frischte der Wind auf, und esbraute sich ein Sturm zusammen. Fast wären wir nichtangekommen.“

    Mit dieser neuen Gewissheit der Abgeschiedenheit undUnerreichbarkeit werde ich an das Sprechfunkgerät imNationalpark-Refugium gerufen. Dieser Funk stellt die einzigeKommunikationsmöglichkeit mit der Außenwelt dar, er erlaubt– bei gutem Wetter – eine kratztonige Unterhaltung mit demNationalparkleiter auf der Robinson Crusoe-Insel. Mir schwantÜbles: die Mannschaft der National Geographic hat sichbereits an die Pelzrobbenkolonie im Süden der Insel begeben,wo sie einen Dokumentarfilm über die nur hier vorkommendenRobben drehen will. Sie hat dafür eine Genehmigung derübergeordneten Nationalparkbehörde vom Kontinent unddamit automatisch die Erlaubnis des Nationalparkleiters von

  • 26

    Robinson Crusoe. Erst jetzt hat dieser aber offenbar gemerkt(vermutlich durch die Funksprüche seiner Ranger Esteban oderOscar hier auf Masafuera), dass da noch ein anderer „Gringo“mit auf jene abgeschiedene Insel gekommen ist, der gar nichtzur Expedition der National Geographic gehört, der gar keinePelzrobben filmen will – und der folglich auch gar keineGenehmigung hat, sich dort aufzuhalten! Denn die Insel ist –wie gesagt – zu 100 % Bestandteil des Nationalparks. OhneGenehmigung darf man also gar keinen Fuß auf sie setzten.Was will dieser Fremde auf seiner Insel? Vögel erforschen,seine Vögel erforschen? Und das ohne seine Genehmigung –unmöglich!

    Das schwant mir, als ich die drei Holzstufen zurFunkstation hochsteige. Sofort merke ich an der zwarundeutlichen, aber unmissverständlich unfreundlichen Stimmeam anderen Ende, dass es dem Herrn Maurizio Calderon, demNationalparkleiter, überhaupt nicht schmeckt, dass ichsozusagen als blinder Passagier auf die Alexander Selkirk-Insel gelangt bin, ohne irgendwelche Genehmigungen – undohne, dass er es gemerkt hatte. Zwar habe ich in den vergangendrei Wochen bereits einige Brocken Spanisch gelernt, weshalbich mir einiges seiner hitzigen Bemerkungen halbwegszusammenreimen kann: „Ich solle sofort meine Sachen packenund mit der am Nachmittag ablegenden Maria-Elcira nach derRobinson Crusoe-Insel zurückkehren!“ Trotz des dauerndenKnackens und Knirschens in der Leitung ist die Botschaftunmissverständlich. Allein mein Spanisch beschränkt sich nunauf noch weniger als es tatsächlich hergibt: „No entiendo, noentiendo Español – nix verstehen Spanisch.“

    Diese Strategie, die mir anfangs recht schlau erscheint,stößt allerdings bald an ihre Grenzen, denn es folgt ein: „Youimmediately have to pack your gear and return on board of the

  • 27

    Maria-Elcira to get back to Robinson Crusoe Island.“ Puh, daswar deutlich, denke ich mir. Ringe mich aber zu einem: „Nounderstand, no understand, what?“ durch. Der Satz am anderenEnde wiederholt sich noch einige Male mit zunehmenderIntensität. Mein Satz allerdings auch mit zunehmenderSturheit: „no English, no English“, füge ich hinzu. Schon hoffeich das Problem dergestalt gelöst zu haben, da höre ichplötzlich am anderen Ende eine zwar etwas gebrochene, aberklar vernehmbare neue Stimme: „Iich bin Oliver, eineurssprüünglich auus Deutsssland koommende Juunge. Iichssoll Ihnen ssagen, daas Sie uumgehend mit den Tschiff nachRobinson zuruckkähren ssollen.“ Ufff, der mir bereits jetztunglaublich unsympathische Herr Calderon hat also selbst dieMühe nicht gescheut, den einzigen Deutsch sprechendenInsulaner der Robinson Crusoe-Insel zu engagieren, nur ummich zurückzuordern.

    Was wird passieren, wenn ich nicht zurück fahre? Wirdman mich auf die Maria-Elcira zwingen oder wird man eineandere Schaluppe ausrüsten, um mich holen zu kommen? Egal,meine Entscheidung steht auf einmal fest: freiwillig werde ichdiese Insel nicht wieder verlassen – das weiß ich in diesemMoment ganz sicher. Nach kurzem Überlegen sage ich nur:„Ich verstehe nichts, schlechter Ton, ich verstehe nichts.“Dann drücke ich Esteban die Funkmuschel wieder in die Handund wiederhole für ihn auf Spanisch: „no entiendo, malo tono“und steige mit einem etwas mulmigen Gefühl im Bauch wiederdie drei Treppenstufen des Holzhauses hinab. Am besten, sodenke ich bei mir, werde ich möglichst bald in die Bergeverschwinden. So wird zumindest kein Zweifel darüberaufkommen, dass ich bleiben werde und die Maria-Elcira wirdnicht unnötig durch Warten auf einen fehlenden Passagier inihrer Fahrt zurück nach Robinson und dem Festlandaufgehalten. Vielleicht bekommt der Herr Calderon durch die

  • 28

    Nachricht meiner Bergtour dann auch endgültig einenHerzinfarkt – und das Problem hätte sich von alleine erledigt…

  • 29

    Die Fischer von Juan Fernandez verdienen ihren Unterhalt mitdem Fang von stattlichen Langusten. Die kleineren (unten)werden selbst gegessen.

  • 30

    Der Entdecker der Inseln, Juan Fernandez, setzte noch imgleichen Jahr (1574) vier Ziegen aus. Diese vermehrten sichrasch und stellen heute ein großes Problem für die heimischeVegetation dar.

  • 31

    Die Ziegen verwandeln die Farn- und Waldbestände langsamin Grasland. Auf den Berggraten, wie hier am „Kastell-Felsen“, liegt häufig schon der Boden frei und wird dann vomRegen erodiert.

    Die Fischer gehen ab und zu auf Ziegenjagd, wie hier imNorden der Selkirk-Insel. Wenn eine Waffe oder auch nurMunition fehlt, dann wird nur mit Hunden gejagt. Eingekonntes Anpirschen ist allerdings die Voraussetzung fürjeden Jagderfolg.

  • 32

    3 Masafuera-Insel: Lagerbau weiter draußen

    Früh am nächsten Morgen, dem 28. November, breche ichzusammen mit den Fischerjungen Cristian und Joselo auf. Esgeht nach Süden. Nach einer dreiviertel Stunde entlang desschmalen Geröllstrandes öffnet sich die schroff-steileFelsküste endlich rechts zu einer Schlucht. Hier, in derSchlucht Vaca chica, marschieren wir eine weitereViertelstunde landeinwärts. Rechts und links destrockengefallenen, ein Meter breiten Bachbettes führen dieHänge empor in den Himmel. Plötzlich lässt Joselo denRucksack einfach fallen und streckt sich daneben im Gras aus.Ich schaue ihn fragend an. Er lacht – und lässt den Blick zurLinken den Hang hinauf gleiten. Ungläubig murmele ich:„Was? Hier sollen wir hinauf? Diese steile, etwa 300 Meterhohe Wand und das noch dazu mit den beiden Rucksäcken?“Cristian spricht langsam auf Spanisch, in der Hoffnung, dassich es verstehe: „Es ist der einzige Weg auf das Inselobere derSüdhälfte, der einzige Weg den es gibt. Packen wir es an – aufgeht’s!“

    Die Rucksäcke schnallen wir um die Taille nicht zu, sodass man sie im Sturzfalle vielleicht noch abwerfen kann. Esgeht aber alles gut und die drei flinken Hunde, die wir dabeihaben, laufen triumphierend voraus den Berg hinauf. Kurzbevor man einen von ihnen schnaufend erreicht, springen erjedes Mal wieder leichtfüßig fünfzig Höhenmeterbergaufwärts, um dort erneut zu warten. Nur bergauf schauend,die Schlucht im Rücken ignorierend, haben wir die steilen 300Meter nach einer Stunde endlich gemeistert. Dort bietet sichuns dann ein herrlicher Blick: nach links über den Klippenrandauf das in der Vormittagssonne glitzernde blaue Meer undnach rechts auf grüne, farnbedeckte Berghänge, die nicht mehr

  • 33

    so beängstigend steil aussehen. Obwohl wir noch zwei StundenFußmarsch von dem ebeneren Inseloberen entfernt sein sollen,werden diese Hänge doch schon etwas fußläufiger als diezurückliegende Schlucht.

    Gerade sind wir eine knappe halbe Stunde berganmarschiert, ohne dass ich Luft für Bemerkungen oder auch nurAufmerksamkeit für Beobachtungen gehabt hätte, da höre ichJoselo zischen: „Ttschhhhh – runter ducken, sofort runterducken!“ Er winkt energisch mit der Hand nach unten.Sogleich kauern wir uns hinter einen Farnbusch ins hohe Gras.Zwei der Hunde gehorchen ebenfalls sofort und werden vonCristian mit festem Griff im Nackenfell gepackt. Der dritteHund aber, Dunkie, der einem anderen Fischer aus dem Dorfgehört und sich uns am Morgen spontan angeschlossen hat, istauf und davon geschossen. Jetzt sehe ich auch wohin: Da obenauf dem Hügel grast eine Gruppe von acht Ziegen. Sie habenuns glücklicherweise noch nicht entdeckt und selbst Dunkie,der im Sichtschutz den Hügel hinaufschnellt, haben sie nochnicht bemerkt. Jetzt ist Dunkie ihnen schon ganz nahe. Wirkönnen alles aus der Entfernung beobachten und haltengespannt den Atem an. Er hat sie fast erreicht und die Ziegensprengen in zwei Richtungen davon. Das ist der Moment, indem Cristian die beiden anderen Hunde loslässt und Joselo sieanstachelt, den Fliehenden möglichst schnell nachzustellen.Hätten wir die beiden Hunde früher losgelassen, hätten dieZiegen sie vielleicht entdeckt und Dunkie hätte ihnen nicht sonahe kommen können. Dunkie aber hat nun eineausgewachsene Ziege am Hinterlauf gepackt – eine Minutespäter hat auch Ronnie, der Hund von Joselo, ein junges Tiergestellt. Wir lassen die Rucksäcke liegen und rennen, was dasZeug hält, hinterher, nur mit Lasso und Messer bewaffnet,immer den Hang hinauf. Drei Minuten später kommen wir

  • 34

    keuchend am Ort des Geschehens an – und befreien die Ziegenaus den Hundekiefern.

    Joselo bindet ihnen die Läufe mit seinem Lassozusammen und legt sie danach in den Schatten einesFarnstrauchs: „Wir werden sie auf dem Rückweg mitnehmen“,sagt er. Mittlerweile verstehe ich doch schon einiges Spanisch,stelle ich erfreut fest – wahrscheinlich durch eine ArtMischinterpretation aus Situation, Gestik und Sprache. Dannlaufen Cristian und ich die paar hundert Meter den Berg hinab,um die zwei Rücksäcke nachzuholen und machen uns danngemeinsam an den weiteren Aufstieg. Die Hunde müssen nunhinter uns laufen – damit sie nicht kopflos ausbüchsen, fallsnoch einmal Ziegen in Sichtweite kommen; der ungehorsame,aber wenigstens erfolgreich jagende Dunkie wird sogar miteinem Strick angeleint.

    Nach weiteren zwei Stunden steten Anstiegs erreichenwir einen kleinen Sattel, auf dem kniehohes Gras steht. NachNorden fällt er fast senkrecht in eine Schlucht ab, aus dereinige Basaltfelsen ragen, hoch wie der Kölner Dom. Joselonennt sie „Tres torres“, drei Türme. Nach Süden aber erstrecktsich eine mit dichten Baumfarnen bewachseneHügellandschaft. „Hier, gut versteckt in den Baumfarnen“(etwa 1000 Meter über dem Meeresspiegel), „befindet sichauch die höchstgelegene Wasserstelle“, sagt Joselo. „Ingo, diesist genau der richtige Lagerplatz für dich, wenn du dieGipfelregion der Insel erforschen willst!“ Wir legen die beidenschweren Rucksäcke erleichtert ins Gras und tauchen durstigin den Wald aus Baumfarnen ein. Duster ist es hier.Gedämpftes Licht, kein Wind mehr, kaum ein Laut. Nach zweiMinuten hören wir ein leises Gluckern. Da ist es: ein winzigesRinnsal, kaum sichtbar im braunen Dunkel der abgestorbenenFarnwedel, die den gesamten Boden bedecken. Dankbar knien

  • 35

    wir nieder, trinken bis der Durst gelöscht ist und füllen auchunsere leeren Wasserflaschen wieder auf.

    Nun geht es weiter, bis auf 1150 Meter Höhe und dannnach Süden, wo wir endlich mal nicht bergauf steigen müssen.Wir laufen bis zur südlichsten Spitze des Plateaus, von demman etwa tausend Meter in die Tiefe schauen kann! Man hältsich an einem Baumfarn fest – und sieht tief unter sich dasschäumende Meer und an Land kleine schwarze Punkte: diePelzrobben in ihrer Kolonie. Wir sehen weit unten auch dieZelte der Expedition von National Geographic. Mit demFernglas lassen sich sogar die Amerikaner von den Robbenunterscheiden. Ich mache einige Fotos.

    Die beiden Fischerjungen wollen mir noch andere Teiledes Inseloberen zeigen, denn „bald wirst du dich ja hier imGewirr der Schluchten und Berggrate allein zurecht findenmüssen“. Ich nicke stumm. „Aber bis zum Gipfel schaffen wires heute nicht mehr“, fährt Joselo fort, „dafür haben wir mitden Rucksäcken zu viel Zeit verloren und jetzt ist es zu spät.Sonst müssten wir das steile Stück in der Vacas-Schlucht imDunkeln runtersteigen.“ Das wollen wir alle drei nicht, dennwir werden zwar keine Rucksäcke mehr auf dem Heimweg insDorf dabei haben, aber da sind ja noch die Ziegen… Und alswir zwei Stunden später in der Abenddämmerung oben amEinstieg in die Schluchtkante stehen, sind es sogar insgesamtvier Ziegen, die wir allein mit Hund, Lasso und Messergefangen haben, denn wir konnten noch zwei weitereüberwältigen.

    „Ein schöner Fangerfolg“, sagt selbst Joselo, der doch oftzum Ziegenjagen ausrückt. „Hierhin, auf das hochgelegenenSüdplateau der Insel, kommt nämlich äußerst selten jemand.Es ist zu weit, zu steil und zu mühsam – wie du heute gesehenhast. Dafür sind hier aber die Ziegen nicht ganz so

  • 36

    aufmerksam…“ und zwinkert mir zu. Plötzlich wird mir klar,dass wir die vier störrischen Ziegen mit Sicherheit nicht an derLeine den Abhang hinunter bekommen werden. Bis hier hindurften sie also noch laufen, damit wir sie nicht tragenmussten. Nun sehe ich, wie Joselo sein Messer aus der Scheidezieht. Halb mitleidig, halb schelmisch schaut er mich an:„Willst du vielleicht der hier die Kehle durchschneiden?“Besonders große Lust habe ich dazu tatsächlich nicht, was eraber wohl schon in meinem Gesicht gelesen hat. Auch wenndie Ziegen hier eingeschleppt wurden und heutzutage dienatürliche Vegetation zerstören. Ich ringe mir ein leichtgequältes Lachen ab und sage: „Ach, heute gerade nicht –nächstes Mal besser“. Aber wegschauen gilt auch nicht. DenTriumph will ich ihm nicht gönnen. Joselo lacht nur. Plötzlichdeutet er hinter mich und ruft: „Ingo, schau! Hinter Dir, einMasafuera-Bussard!“ Ich dreh mich blitzschnell herum undwundere mich noch: was soll an diesem Bussard denn sobesonders sein? Wir haben zuvor doch schon einige anderegesehen, sogar viel näher als diesen! Denke es – und höre imgleichen Moment schon das Röcheln der Ziege. Sehrrücksichtsvoll, Joselo! Bei den beiden folgenden Ziegen lasseich mich nicht ablenken – und versuche eine möglichstgleichgültige Mine aufzusetzen. Das vierte Tier, ein Zicklein,wollen wir lebendig mit ins Dorf nehmen – also den Hanghinunter führen.

    Die drei anderen Ziegen, inzwischen um einen Kopfkürzer und bereits ausgenommenen, binden wir an ein langesSeil, das ich dabei habe. So können wir sie Stück für Stück denHang hinunter rutschen lassen, ohne ihr zusätzliches Gewichtbei der Kletterpartie tragen zu müssen. Cristian macht das. Erbindet spontan noch einen der Ziegenköpfe an das Bündel:„Der ist für den ungehorsamen Dunkie, als Abendbrot, wennwir nachher im Dorf angekommen sind.“ Das sagt er. Aber da

  • 37

    weiß Cristian noch nicht, für wen der Kopf tatsächlichbestimmt ist! Der löst sich nämlich gleich beim erstenRutschstück vom Bündel und holpert in immer größerwerdenden Sätzen und Überschlägen die Schlucht hinunter. Imgleichen Augenblick hören wir von hinten ein pfeifendesSausen und sehen über uns einen dunkeln Pfeil nach untenzischen. Dies ist in der Tat ein eindrucksvolles Exemplar, diesist der wahre König der Insel: der Masafuera-Bussard. Erschießt im Sturzflug derart schnell in die Schlucht hinab, dasser den Ziegenkopf noch erreicht, bevor dieser im Talgrundaufschlägt, greift dieses ungewöhnliche Geschoss im Flug mitden Klauen und fängt das nun sicher verdoppelte Fluggewichtmit breit ausgefahrenen Schwingen im erneuten Aufwärtsflugab. Spektakulär! „Ich bin beeindruckt“, stammele ich, „undselbst Joselo, der um die Scharfäugigkeit und die Flugkünsteder Bussarde weiß, hält beeindruckt inne.

    Doch schnell hat Joselo seine Fassung wiedergewonnen – und setzt noch einen drauf: „Ingo, ich habe schonbeobachtet wie der Bussard Zicklein und junge Ziegenattackiert, die in steilen Felswänden rumklettern. Er bringt siemit ein paar Klauenhieben in die Augen aus demGleichgewicht und stürzt sie so in den Abgrund.“ Das hätte ichvor fünf Minuten noch als Seemannsgarn von Fischerjungenabgetan. Aber jetzt glaube ich ihm aufs Wort. Und erinneremich an die erste Erwähnung dieses stattlichen Greifvogels inder Literatur. Der argentinische Schriftsteller Sarmientoberichtet von einer Expedition aus dem Jahre 1845 über denMasafuera-Bussard, lange noch bevor der Vogel überhauptwissenschaftlich bekannt wurde: „Die schnelle Vermehrungder Ziegen wird nämlich beeinträchtigt durch einen gefräßigenRaubvogel, den die Einwohner von Juan Fernandez‚Aguilucho’ nennen und der die Eigentümlichkeit besitzt, dass

  • 38

    er nur von dem zarten Fleische der neugeborenen Ziegen lebenwill und ihnen daher unbarmherzig nachstellt.“

    Tja, manchmal sind auch Vögel gefräßig! Pech gehabtDunkie, dann gibt es heute Abend doch wieder Fisch…

    So froh wie Alexander Selkirk zunächst war, als er diezerzauste und wasserziehende Cinque-Ports gegen dasAnlanden auf der Insel eintauschen durfte, so froh war ich, alswir am Abend im Dorf eintrafen. Die Maria-Elcira hatteabgelegt und war in Richtung Festland davon gefahren! Jetzt,in völliger Abgeschiedenheit, fühlte ich mich endlich richtigfrei. Ich hoffte, es würde für lange Zeit kein Schiff mehrauftauchen. Zumindest keines, welches meinetwegen kam.

    Nun, da ich bereits einen guten Teil meiner Ausrüstungauf dem Südplateau habe, kann ich es kaum erwarten meinLager dort aufzuschlagen. Allerdings muss ich nochLebensmittel für mindestens zehn Tage, am besten für zweiWochen, hinauf schaffen. Das bedeutet aber, eine weitereRucksackfuhre die Vacas-Schlucht hinaufzubalancieren. Fürdie erneute Tour darft es nicht regnen, denn sonst ist einAufstieg zu riskant. Genau jetzt fängt es jedoch über Tage anzu winden und zu schütten. Ich nutze die folgenden Tage fürkleinere Touren entlang des schmalen Steinstrandes nachNorden und Süden. Oft ist dieser nur wenige Meter breitpassierbar, eingezwängt zwischen der See zur einen und densenkrechten Felsklippen zur anderen Seite.

    Endlich, eines Morgens hat sich der Himmelschließlich ausgeregnet. Bevor er es sich anders überlegt,packe ich meinen Rucksack bis oben voll mit Lebensmittelnund breche auf. Begleitung habe ich diesmal keine, denn beidem ersten guten Wetter seit Tagen sind heute alle männlichen

  • 39

    Inselbewohner auf Langustenfang. Der einzige auf der Inselverbliebene Parkranger ist bei den Robbenfilmern alsLagerkoch engagiert. Mit viel Respekt, langsam und Schritt fürSchritt, klettere ich mit dem Rucksack voller Brote undKonserven die Vacas-Schlucht hinauf. Ich wage es nicht nachunten zu schauen, nicht jetzt. Zwei, drei Mal komme ich leichtaus dem Gleichgewicht. Sofort drücke ich den Körper ganzdicht an den Boden und greife mit beiden Händen nach einpaar Grasbüscheln. Kleine Unsicherheiten am Anfang, denkeich mir. Aber schließlich habe ich es tatsächlich geschafft underreiche den oberen Rand der Schlucht. Die Höhenangsttausche ich gerne gegen den Wanderschweiß ein: jetzt kommtder Frohmut! Auf 800 Meter über Meeresspiegel lange ich ander einzigen Wasserstelle auf dem Weg zum Südplateau an.Ich finde die Stelle, die mir Joselo zuvor gezeigt hatte, nachkurzem Suchen wieder und tanke gut anderthalb Liter Wasserin meine Trinkflaschen nach.

    Gegen 15 Uhr erreiche ich endlich den kleinen Sattel, denich mir für die Errichtung meines Basislagers aussucht habe.Erleichtert finde ich meine beiden unter einem Baumfarnbuschversteckten Rucksäcke. „Gut, dass ich sie in Plastiksäckeeingepackt habe“, denke ich, „sonst wären sie jetzt ein einzigerSchwamm“. Noch steckt die Feuchte der letzten Tage überallin Boden und Streu. Vermutlich hat es hier oben, auf 1000Meter Höhe, noch viel mehr geregnet als unten im Dorf,welches sich außerdem auf der Leeseite der Insel befindet.

    Zeit zum Kochen will ich mir erst am Abend nehmen, jetztlieber noch das Tageslicht und vor allem das gute Wetterausnutzen. Gleich beginne ich mit dem Zeltbau. „Jetzt wird ausdem potenziellen Lager ein reales Lager“, spreche ich vormich hin. Eine Stunde später habe ich das Zelt gut nach allen

  • 40

    Seiten abgespannt, die Ausrüstung witterungsgeschützt darinverstaut und schaue zufrieden auf mein kleines neues Heim.

    Nach dem Rucksackmarsch und dem Aufschlagen desLagers habe ich nun richtigen Heißhunger und mache michüber eines der selbstgebackenen kleinen Brote von SeñoraToty her, der backenden Fischerfrau, schneide ein paarScheiben der mitgebrachten Wurst darauf und gönne mir zumNachtisch drei getrocknete Pfirsiche. So gestärkt könnte ichheute sogar noch einen ersten Erkundungsgang in dieGipfelregion machen. Ich schaue zum Himmel und sehe einpaar weiße Wolkenfetzen über den Hauptkamm segeln.

    Nein, nach dicken Wolken oder dichtem Nebel sieht es nunwirklich nicht aus. Also aufstehen ihr faulen Beine, jetzt gehtes gen Himmelsdach auf Entdeckungstour! Entdecken will ichnämlich einen kleinen Vogel, der nur auf dieser Insel zu findenist. Und zwar einzig und allein in der Gipfelregion. Das heißt,wenn er nicht schon ausgestorben ist. Sein Name lautet:Rayadito oder zu Deutsch Masafuera-Schlüpfer. Fürausgestorben hielt man ihn schon 1980, nachdem er über 50Jahre von niemandem gesehen worden war. Aber dann in denachtziger Jahren wurde er zum Glück von zwei Britengesichtet. Wie viele Exemplare es waren, die überlebt hatten,konnte man nicht sagen. Wenn überhaupt, dann waren esvermutlich nur wenige Rayaditos, die sich in diese schwerzugängliche Region zurückgezogen haben. In jedem Fallwaren sie auch schwer zu beobachten. Kein Wunder bei all dendichten Baumfarnen und Farnfluren, welche die Gipfelbergeüberzogen! Die zwei Briten, Bourne und Brooke, sahen dieVögel auch nur kurz und Versuche, sie mit Tonbandrufenanzulocken scheiterten. Deshalb existierte auch noch kein Fotodieses seltenen Vogels. Noch viel weniger war etwas über die

  • 41

    Lebensweise oder das Nistverhalten dieses gefiedertenEinsiedlers bekannt.

    Kurz, diesem Heimlichtuer will ich auf die Schlichekommen. Aber vorher ist es sicherlich sehr hilfreichfestzustellen, ob er denn überhaupt noch am Leben ist. Und ober sich denn ausgerechnet von mir beobachten lassen will.„Dann könnte er sich bei dieser Gelegenheit doch auch gleichablichten lassen – um als eine der letzten Arten in derFotogalerie der Vogelkundler zu landen. Schließlich haben wirschon das Jahr 1992 und andere Vögel stellen sich doch auchnicht so an“, dachte ich, als ich – federleicht, nur mit Fernglasund Kamera behängt – von meinem kleinen Sattel erneutbergan stieg. „Ob er noch lebt?“

    Die Erkundungsroute führt immer entlang des Grateshinauf. Bei guter Sicht ist das kein Problem. Langsam kämpfeich mich durch die Farnfluren voran, die mit zunehmenderHöhe über Meeresspiegel niedriger werden. Wege gibt es zwarkeine, aber manchmal gelange ich auf einen der Ziegenpfade,die bevorzugt in Gratnähe verlaufen. AuffälligeGeländemarken benenne ich einfach selbst, so dass ich sie mirauf den Kartenskizzen besser merken kann. Den erstenBergvorsprung nenne ich „das Kastell“, weil er eine Reihesenkrecht aus den Farnen stehender Felszacken hat, die anTürme einer Burg erinnern. Dann kommt „drei Kronen“, eindreigipfeliger Berg. Danach das „Himmelsdach“, der höchstePunkt, den ich vom Lager aus sehen kann. Vor hier aus schaueich mit dem Fernglas nach unten – und entdecke mein kleinessilbernes Zelt, gut geschützt auf dem Sattel und halb versteckthinter einem Farnbusch.

    Es folgt der „kleine Bruder“, ein schmaler Felskopf aufdem Grat, der nach beiden Seiten steil abfällt. Nun kann ich füreinige Momente schon den Gipfel der Insel sehen, den

  • 42

    „Inocentes“ oder zu Deutsch den „Unbekannten“. Aber nur füreinige Momente. Dann tauchen auf einmal dicke graue Wolkenauf. Sie verhüllen zuerst den Inocentes; zwei Minuten spätersitze ich selbst mitten in ihnen. Wo kommen die so plötzlichher?

    Wo der Himmel eben noch überwiegend blau war, sehe ichnun nichts mehr als dichten Nebel. 20 m Sicht, maximal. Ichfühle mich wie in einem Wattebausch. Alles ist gedämpft,wirkt schallisoliert, ist feucht. „Das ist unwirklich“, denke ichund mir kommen einige Zeilen des schwedischen BotanikersCarl Skottsberg in den Sinn. Der war lange Zeit auf den JuanFernandez-Inseln, erforschte ihre Pflanzenwelt zwischen 1916und 1918. Seine Studien und Empfehlungen führten dann imJahr 1935 zur Unterschutzstellung der Inseln als Nationalpark.Aber diese Gipfelregion von Masafuera konnte er nur an einemeinzigen Tag erreichen, im März 1917, und er schrieb überdiesen Tag: „Unglücklicherweise drängte uns dichter Nebelzur Rückkehr, ohne Zeit zu haben geeignete Probeflächen zuuntersuchen“.

    Nun ja, Probeflächen wollte ich heute sowieso nicht mehranlegen. Aber zum Lager zurückfinden schon noch. Wieverdammt schnell sich die Wolkenbedeckung ändern kann,dass habe ich nicht geahnt. An einen weiteren Aufstieg ist garnicht mehr zu denken – ich kann froh und glücklich sein, wennich den Weg im Nebel zurück finde. Ich stehe immer noch aufdem „kleinen Bruder“, sehe die steilen Felsstürze rechts undlinks aber nicht mehr, weil der Nebel alles einhüllt.

    Gerade will ich mich in der nebeligen Stille herumdrehen,um den Rückweg anzutreten, da vernehme ich ein, zweigedämpfte Flügelschläge. Kaum hörbar, obwohl nur achtMeter von mir entfernt, taucht aus dem Nichts ein Vogel auf.Ein Vogel, der mit dem Nebel kommt. Er setzt sich auf einen

  • 43

    Felsen direkt am Grat. Ich erstarre in meiner Bewegung. Ichstarre ihn an. Er starrt mich an, bewegt sich einigeSekundenbruchteile nicht. Für einen Moment schauen wir unsbeide sehr verwundert an. Keiner von uns beiden hatteoffenbar den anderen hier erwartet. Dann stößt er einenWarnruf aus, der wie „Trrrtrrrtrrrtrrr“ klingt, und ist genausoschnell verschwunden wie er gekommen ist, im Nebeluntergetaucht.

    Völlig perplex bleibe ich noch einen Augenblick stocksteifstehen. Dann gehe ich ungläubig zu jenem Felsen und schaueauf die Stelle, wo er gerade noch gesessen hat: Aphrasturamasafuerae – der Masafuera-Schlüpfer. Er lebt also noch! Undin meinem jungen Leben habe ich ihn bereits aufgespürt – alsfünfter Forscher überhaupt gesehen. Nur: wie soll man ihnlänger beobachten, wenn er jedes Mal so schnellverschwunden ist? Und wie erst fotografieren? Na, für heutekann ich doch wohl zufrieden sein. „Wenn ich jetzt auch nochohne große Irrwege zum Zelt zurückfinde“, denke ich mir,„dann kann ich diesen 28. November 1992 dick in meinemTagebuch anstreichen“.

    Kurz vor acht Uhr abends erreiche ich erschöpft das Lager.„Jetzt noch Wasser holen“, murmele ich in mich hinein, „unddann wird den Beinen für heute Erholung gegönnt.“ Endlichsitze ich im Schneidersitz in dem schrägen Zelteingang underhitze das humusbraune Wasser mit dem Trangia-Sturmkocher. Es gibt Reis mit Wurststückchen, wunderbar.Für den Nachtisch setze ich noch einmal Wasser auf undprobiere den mitgebrachten Mate-Tee aus. „Schlecht schmecktdas Schwarzwasser nicht“, sage es – zu mir selbst – undmerke, wie noch Klarwasser hinzu kommt: Es fängt schonwieder an zu regnen! Bald merke ich, dass der Regenzunimmt, auch Windböen gesellen sich hinzu. Die

  • 44

    Regenschauer sind hier aufgrund der Höhenlage um einigeskühler und heftiger als im Dorf.

    Bei Dämmerung sitze ich aber bereits gut eingewickelt imtrockenen Schlafsack und höre wie der Regen auf die Zeltplanetrommelt. Immerhin: ich habe das kleine Zeitfenster für denAufstieg und einen ersten Erkundungsgang genutzt. Und habeganz nebenbei den verschollenen Masafuera-Schlüpferwiederentdeckt. Es ist nun fast ganz dunkel draußen. Ich pustedie wild flackernde Kerzenflamme aus und falle nach hintenauf die Schlafmatte. Der Wind zieht und zerrt an der dünnenPlane meines Zeltes. Dann höre ich wieder das Prasseln desRegens und so etwas wie ein Heulen in der Ferne, sicher umeine Felsnase herum pfeifende Winde. Geschafft, aberglücklich über den Tag, lausche ich dem unheimlichenWetterkonzert und fange langsam an wegzudämmern.

    Im Heulen des Windes und Peitschen des Regens muss ichwohl schon eingeschlafen sein. Mit einem Mal sitze ich jedochwieder aufrecht auf meiner Schlafmatte. Es ist stockfinster.Immer noch sausen Wind und Regen um die Wette. „Huuug,hhuuuugg, hhhuuuuuu“, höre ich von draußen. Schauerlichdieses Windklagen. Aber war das nicht etwas zu merkwürdigfür ein Windklagen? „Hhuug, Hhhuuuuuu“, ruft es nun nochnäher. Ich schaudere und merke, dass ich eine Gänsehaut habe.Wieder ertönt der urtümliche Laut, „Huuug, hhhuuuugg,hhuuuhh“, das kommt doch ganz aus der Nähe – und hört sichmehr nach einem Lebewesen an! Gefährliche Tiere gibt esdoch eigentlich nicht. Zumindest nicht mehr, seit dieverwilderten Spanischen Hütehunde wieder ausgestorben sind.Oder haben sie in dieser entlegenen Region überlebt? „Huuuh,hhuuuuuhh“, aber das klingt nicht wirklich nach Hundegeheul!

    „Jetzt nur keine Feigheit“, sage ich mir: „Taschenlamperausholen, Messer zur Not griffbereit halten. Jetzt wird die

  • 45

    Zeltluke geöffnet und nachgeschaut.“ Langsam stecke ich denKopf in den finsteren Regen hinaus – und sehe überhauptnichts. Allein der Wind trägt mir die merkwürdigen Geräuscheaus scheinbar unterschiedlichen Richtungen entgegen. Ich seheim Kegel meiner kleinen Lampe nur gepeitschte Gräser,Baumfarne und Regengüsse. Trotzdem: ruhig hinlegen kannich mich nun sowieso nicht mehr. Ich hänge mir die Plane derZelttüre schützend über die Schultern und stelle mich aufrechtin den Eingang. Ich leuchte in alle Richtungen, über denBoden, in die Vegetation – nichts besonderes, nichts außerFinsternis, nichts.

    Da höre ich das Geräusch plötzlich direkt hinter mir. Ichfahre herum und leuchte im Drehen einen großen weißenFlugkörper an. Der schießt genau auf mich zu. Mit einemAffenzahn. Blitzschnell ducke ich mich. Glück gehabt, daswaren keine 20 cm! Jetzt leuchte ich nach oben in den düsterenHimmel – und nun sehe ich sie: es sind Sturmvögel. Aufeinmal ist der ganze Himmel voll von ihnen, massenhaft. Ihrschauerliches Geheule und Gequäke übertönt nun alleWettergeräusche. Zu Tausenden und Abertausenden kommensie jetzt erst von ihren Fischfängen auf hoher See zurück.Geduckt hocke ich im Eingang und staune: „Mit 50 bis 70Sachen rauschen die Sturmvögel durch die stockfinstere Nacht,gerade einmal ein paar Meter über den Boden und die Farne“,flüstere ich ungläubig, „und das dazu noch bei diesemHundewetter. Wie machen die das nur, wie können sie nachtssehen und die Hindernisse erkennen?“ Na ja, vielleichterkennen sie auch nicht alle Hindernisse, wie man eben fastannehmen konnte.

    „Oder sie haben einen festen ‚Geländeplan’ im Kopf, nachdem sie manövrieren können, sobald nur eine bestimmteGeländekontur erkannt wird“, überlege ich. Offensichtlich

  • 46

    gehöre ich dann noch nicht zu ihrem Geländeplan, wie dieAttacke von eben zeigte. Etwas kopfnass aber innerlich umZentner erleichtert – was die nächtliche Gefahr angeht – taucheich wieder unter und schließe den Reisverschluss desZelteingangs. Ich ziehe meinen Schlafsack oben zusammen,lege mich auf den Rücken und lausche in die Dunkelheit.„Wenn sie mich noch nicht auf dem Plan haben“, überlege ichweiter, „was ist dann mit dem Zelt? Das stand hier gestern jaauch noch nicht. Zum Glück ist es nicht sehr breit und nur 1,50m hoch. Außerdem sollte die silberne Farbe doch sichtbar sein,sobald nur ein bisschen Mondschein durchdringt.“

    Sollte sie wohl, wenn es denn Mondschein gäbe. Es gibtheute aber keinen Mondschein, ganz sicher nicht. Dafür sindaber meine Überlegungen ganz gut. Denn 30 Sekunden späterschlägt der erste Sturmvogel, ohrenscheinlich ein besondersprächtiges Exemplar, in mein Zelt ein. Diesmal kommt derAngriff von der Seite. Das Zelt, ein chilenischesSpitzenprodukt der Marke Doite, wird einem ungewöhnlichenBelastungstest unterzogen. Vermutlich seinem ersten. Denbesteht es allerdings mit Bravour. Denn obwohl sich dieZeltwand unter der Wucht des Aufpralls mächtig deformiert,hält sie stand und zwar wieder genau 20 cm vor meinem Kopf!Der Vorgang wiederholt sich noch einige Male im Laufe derNacht, aber jedes Mal schleudert mein treues Zelt dieProjektile wieder zurück, wonach sie dann vermutlich rechtbenommen geerdet werden – und in aller Ruhe ihreGeländepläne aktualisieren können.

  • 47

    4 Rayadito-Forschung und Ziegenjagd

    Kein Wunder, dass es um die Rayadito-Forschung so schlechtbestellt ist, geht mir nun auf: denn es gibt sie noch gar nicht!Über fünfzig Jahre waren die Rayaditos verschollen, manglaubte bereits, dass sie ausgestorben seien. Seit Jahren warkein Vogelkundler mehr auf der Insel und selbst die Fischervon Masafuera, die doch ab und an zum Ziegenjagen in dieBerge gehen, haben noch nie einen solchen Vogel gesehen.

    Immerhin ist meine Wiederentdeckung des Rayaditos einegute Voraussetzung für seine weitere Erforschung. Eine erstewichtige Frage ist beispielsweise: Wie viele andere Rayaditos– neben dem von mir gesehenen – haben noch auf der Inselüberlebt, wie hoch ist also ihr Bestand und damit die Gefahrdes tatsächlichen Aussterbens. Ich kenne nun ja bereits einenseiner Rufe und kann mit dessen Hilfe eine Linientaxierungdurchführen, eine akustische Bestandserfassung, auch wennich die Rayaditos dabei nicht beobachten kann. Das tue ich inden kommenden Tagen. Die Kartierung auf Skizzenermöglicht dann eine erste Auswertung – und zeigt einerschreckendes Ergebnis: danach sind weniger als zweihundertExemplare dieser Art übrig. Und die Rayaditos leben nur nochin der Gipfelregion, etwa einem Fünftel der Insel. „Dasbedeutet, dass es die seltenste und am stärksten vomAussterben bedrohte Vogelart ganz Chiles ist“, sage ich zu mirselbst.

    Eigentlich tut es für die meisten Menschen und den Restder Welt nichts zur Sache, ob auf einer entlegenen Inselnamens Selkirk im Südostpazifik ein kleiner Vogel überlebt.Er lebte auf diesem unbewohnten, gebirgigen Eiland ohnehinlange genug unbemerkt – bis der nach Chile ausgewanderte

  • 48

    Rudolph August Philippi ihn im Jahre 1866 entdeckt. Für michtut es aber was zur Sache: ich will ihn genauer beobachten,will mehr als seine bloße Bestandszahl erforschen und will derWelt sagen, warum es ihn nur noch so selten gibt – auch wenndie Welt das nicht interessieren sollte!

    Es gibt also nur noch sehr wenige Überlebende, es sind dieletzten Exemplare. „Die letzten ihrer Art“, wie Douglas Adamsgleichnamiges Buch heißt, für welches er rund um den Globusjettete und einige berühmt-seltene Tierarten besuchte. NachJuan Fernandez wollte er anfangs ebenfalls für seine„Besichtigungen“ der aussterbenden Spezies reisen, realisiertedieses Vorhaben aber dann doch nicht. Sicher, hier kann maneben kein Kleinflugzeug chartern und auf der Selkirk-Insellanden, so wie etwa im Garamba-Nationalpark in Zentral-Afrika, wo man sich als BBC-Blitzjournalist mit dem nötigenKleingeld eine lange Anreise ersparen kann. Auf der Selkirk-Insel existiert auch keine Landepiste – denn es gibt keinenPlatz dafür; nur steile Berge. So schaute die Welt – oderzumindest die BBC – halt auf Komodo-Waran, Berg-Gorilla,Weiße Nashörner und Ähnliches, worum sich doch schongenug Wissenschaftler und jede Menge sogenannter Natur-Touristen kümmerten.

    Sobald die bedrohte Tierwelt aber etwas kleiner ist als einGorilla – und vielleicht auch kein uns verwandtes Säugetierdarstellt – wird der Dokumentations- und Forscherdrang meistspürbar schwächer. Der Naturschutzdrang nimmt dannübrigens genauso rapide ab, oft sogar deshalb, weil gar keinSchutzbedarf ermittelt wurde. Na klar, Arten wie derMasafuera-Rayadito, von dem noch nie eine fundierteBestandserfassung gemacht wurde, noch keineLebensansprüche bekannt sind und dessen Reaktion aufeingeschleppte Tierarten nicht untersucht wurde, dessen

  • 49

    Gefährdung wird man auch schwerlich ermitteln können! Wiepraktisch. Und wie viel ergreifender ist es doch, einenSilberrücken aus einem Meter Entfernung ins Gesicht zugucken und darin seine geradezu menschlich ausgedrückteAngst vor dem Aussterben zu „lesen“. Man konnte sicher sein,dass sich wohl kaum jemand für meine Rayadito-Forschunginteressieren würde – genauso wenig wie man sich für dieRayaditos während der fünfzig Jahre interessiert hatte, indenen sie verschollen waren. Mit Ausnahme vielleicht vonProfessor Hermann Mattes in Münster, der mich schon frühbestärkt hatte, der Frage nach „diesem entlegenen undschwierigen Rayadito-Fall“ auf den Grund zu gehen.

    Nach diesen ersten Erfassungen muss ich wieder zurückins Dorf, um die Vorräte zu erneuern. Ich nutze dieGelegenheit, um mich mit den Fischern anzufreunden undauch um die Amerikaner in ihrem Expeditionscamp zubesuchen. Nach drei Stunden über gischt- und regennassesGeröll gelange ich zur Pelzrobbenkolonie im Süden der Insel.Fast alle Juan Fernandez-Pelzrobben des gesamten Archipelsleben heutzutage in dieser Kolonie, wo eine Landzunge denhier breiteren Strand noch vergrößert. Die Pelzrobben liegen inGruppen an Land oder jagen im Wasser umher.

    Noch ein Stück weiter landeinwärts, am Fuße einer etwassanfter ansteigenden Klippe, haben die achtExpeditionsmitglieder ihr Lager aufgeschlagen. Alle sindemsig beschäftigt mit dem Fang von Robben, dem Vermessen,Wiegen, Markieren, Filmen, Fotografieren, mit Essen kochenund so weiter. Ich bringe dem Koch der Feldküche einenkleinen Rucksack mit frischen Broten, die Señora Toty extrafür die Robbenleute am Vormittag im Dorf gebacken hat.Erfreut über das unverhoffte Brot reicht er mir eine Tasseheißen Nescafe, den ich gerne annehme, um mich nach dem

  • 50

    regennassen Gang von innen zu wärmen. Weil es schon spätam Nachmittag ist, ich auf einen zweiten Regenlauf heutekeine Lust habe, bleibe ich die Nacht über im Lager.

    Die amerikanische National Geographic Television ist derBBC offenbar recht verwandt. Sie kam, um über die„bedrohte“ Juan Fernandez-Pelzrobbe einen Tierfilm zudrehen. Die gleiche Robbe, die für Douglas Adams noch zuschwierig zu erreichen gewesen war. Die Einschaltquoten unddie dann zu erwartende öffentliche (Spenden-)Anteilnahme fürdiese „Letzte ihrer Art“ sollten dann den Expeditionsaufwandrechtfertigen. Als ich abends im Camp sitze, erzählt mir John,der Expeditionsleiter, mit welchem Hochdruck sie hierarbeiten, weil jeder Drehtag unglaubliche Summenverschlinge.

    „Für eine Art, die mittlerweile wieder bei einer Populationvon 12.000 Exemplaren angekommen ist“, sage ich. „Woherweißt du das?“, fragte er mich blitzschnell und es überkommtihn eine leichte Blässe. „Ich war da oben, auf dem Südplateau,etwa 1000 m hoch und genau über der Pelzrobben-Kolonie“,grinse ich. Mit dem Fernglas kann man von dort alleshervorragend überschauen – und zählen. Jede einzelne Robbeist als Punkt sichtbar. Ich habe auch Fotos gemacht – möchtestdu eines als Beleg haben?“ Schweigen. Weiter nur Schweigenstatt einer Antwort. Dann endlich ein leises, aber auch nichtüberzeugend klingendes: „Nun, das ist deine Meinung. Wirsind bei der Planung der Filmexpedition von weit wenigerExemplaren ausgegangen – und von einer akuten Bedrohung.“

    Ich verstehe seinen Wink mit dem Zaunpfahl – und seinDilemma. Er hat auch Augen im Kopf, wenn auch nicht einensolch guten Überblick vom Inseloberen wie ich gehabt. Aberschließlich filmt er die Juan Fernandez-Perlrobben jeden Tag.Da hat er wohl gemerkt, dass es nicht „weit weniger als 2000“

  • 51

    sind, sondern eher über 10.000. Offensichtlich war aber eineBegründung für den „Filmdreh“ die Bedrohung der Artgewesen. In gewissem Sinne waren es also nicht nur diegroßen braunen Augen und das unwiderstehliche Quieken derneugeborenen Robbenbabys in der Kinderstube – sondernzudem die Gefährdung dieser Säugetierart, über die nun anstattder BBC die NGT berichten darf.

    „Hast du schon mal was von dem Masafuera-Rayaditogehört?“, will ich von ihm wissen. „Ja, doch, er soll wohl auchauf dieser Insel gelebt haben“, antwortet John. „Stell Dir vor,er lebt noch“, sagte ich, „Ich hab’ ihn vor ein paar Tagen erstgesehen“. Ich fahre fort: „Nach einer erstenPopulationsschätzung sind es weniger als zweihundertExemplare.“ Ich schaue ihn prüfend an: „Das wäre dochsicherlich auch einen Naturschutzfilm und einen Bericht imNational Geographic Television wert. Der Vogel ist in seinemgesamten Verhalten noch ein unbeschriebenes Blatt, ein echtesGeheimnis.“ „Oh, ja, natürlich das wäre mit Sicherheit eininteressantes Thema“, erwidert John. „Ich kenne bereits einigeBeobachtungsstellen dort oben. Soll ich Dir diese Orte für dieFilmaufnahmen einmal zeigen?“ hake ich nach. „Das geht imMoment nicht, Ingo, der Termindruck! Ein andermal.Außerdem haben wir für die Bergregion nicht die richtigeAusrüstung!“

    Erst will ich noch anfügen: „Die habe ich als einfacherStudent doch auch nicht.“ Aber so naiv bin ich nun auchwieder nicht – und spare es mir. Dann denke ich an DouglasAdams Buch und erkenne: Allein mit einem guten deutschenTaschenmesser ist man wahrscheinlich schon besserausgerüstet als all diese luxusreisenden Abenteuerjournalisten.Und die Konsequenz bleibt die gleiche: ein weiterer Berichtüber eine knuffig-süße Säugetierart – die zwar nicht wirklich

  • 52

    vom Aussterben bedroht ist – aber einen aus großen braunenKulleraugen anguckt…

    Früh am nächsten Morgen mache ich mich auf denRückweg zum Dorf. Im Gepäck habe ich eine große TafelNussschokolade aus dem Robbenlager für die Bäckerin derBrote, Señora Toty. „Die erste Schokolade seit drei Monaten“,sagt sie, „und wahrscheinlich die letzte für die nächsten fünf.“Dankbar leuchten ihre Augen: „So ist das auf Masafuera: Fischund Langusten haben wir bis zum Abwinken – und zum Glückhabe ich auch eine Kuh für die Milch – aber wenn jemandSchokolade hat, dann wissen es gleich alle im Dorf! Setz dichIngo.“ Dann schenkt sie mir zur Belohnung für denBotendienst ein Glas frisch gemolkene Kuhmilch ein und weilich mich an dem frischen Fisch noch lange nicht satt gegessenhabe, gibt es diesen danach zum Mittagessen.

    Ein paar Tage später bin ich in meinem Berglager zurück.Ich bin gerade dabei aufzustehen, mich zu räkeln – und michdann darüber zu freuen, dass mein Taschenmesser sozuverlässig die Kondensmilchdose öffnet, die ich am Vortagzusammen mit dem anderen Proviant hinaufgeschleppt habe.Eine so bequem untersuchbare, am Strand lebende Tierart wiedie amerikanischen Robbenschützer habe ich nicht – einenHelikopter wie Douglas Adams auf seinem Suchflug nach demneuseeländischen Eulenpapagei schon gar nicht. Nein, hier gibtes im Umkreis von über 700 km überhaupt keineHubschrauber, keine Hubschrauberlandeplätze und keineHubschrauberagenturen. Es gibt nur Stille, einen leicht um dasZelt streichenden Bergwind, Freude über unschlagbareTaschenmesser – und Vorfreude auf den offenbar sonnigenTag da draußen. Langsam mache ich den Reißverschlussmeines Zelteingangs auf, stecke den Kopf hinaus in die Sonneund –schaue in ein Paar große braune Kulleraugen!

  • 53

    Drei Meter von mir entfernt steht eine wilde Ziege undstarrt mich an. Keiner von uns beiden macht eine Bewegung.Sie hat noch das Grasbüschel quer im Maul, ich werde von derblendenden Sonne und ihren lieblichen Augen gebannt. Großebraune Kulleraugen können einen einwickeln, soviel steht fest.Fast wäre ich ihren verfallen, da widerstehe ich im letztenMoment. Mir fällt das Jagdgerät ein, welches hinten im Zeltliegt, nämlich Pfeil und Bogen! Vor Aufregung blinzele ichleicht mit den Augenlidern. Als hätte sie meine Gedankengelesen, springt sie auf und davon – und ward nicht mehrgesehen. Ich aber bin froh, dass ich wenigstens die „GroßeKulleraugen-Probe“ bestanden habe. Sie hat mich nichtrumgekriegt, mich weder zum Füttern noch zum Filmen einerTV-Dokumentation veranlasst. Nein, diese Ziegen sind nichtbedroht und ohne das verräterische Augenzwinkern hätte ichvielleicht sogar ein gutes Plus an Verpflegung gehabt.

    Pfeil und Bogen habe ich nicht selber geschnitzt – auchwenn mein Taschenmesser das locker hergegeben hätte –sondern einen modernen dreiteiligen Karbonbogen mitgeeichten Pfeilen und Tarnköcher mitgebracht. So gut dieAusrüstung und so verlockend die Chance am Morgengewesen ist, könnte es doch auf einem anderen Jagdausflugklappen. Zumal die Ziegen hier oben sonst keinen Menschenfürchten müssen und weniger scheu scheinen. Nach derRayadito-Forschung an diesem Tag werde ich also am frühenAbend einen kleinen Pirschgang machen.

    Was bei Robin Hood so leicht aussieht, ist in Wirklichkeitüberhaupt nicht leicht! Zuerst einmal muss man die Ziegenentdecken, bevor man von ihnen entdeckt wird. Das ist schonmal die schwierigste Kunst, denn sie riechen und hören brillant– und Augen haben sie ja auch noch. Als ich zwei Böckeendlich in der Ferne erspäht habe, muss ich mich ihnen gegen

  • 54

    den Wind nähern. Das ist keine leichte Aufgabe auf einergebirgigen Insel, auf der man für gewöhnlich schon froh ist,überhaupt einen passierbaren Weg zu finden. Ich drücke michhinter die Baumfarne und schleiche so näher heran, ohne zuwissen, ob sie vielleicht ihre Position verändern. Das tun sienicht, wie sich bald darauf zeigt – aber ein unvorsichtigerSchritt aus den Baumfarnen heraus und ich höre einaufgeregtes Schnauben. Die beiden jungen Böcke stehen dichtbeisammen in 40 m Entfernung und haben mich zuersterblickt.

    Mit ein paar Sätzen machen sie sich auf die Flucht und ichmich an die Verfolgung. Dabei habe ich deutlich dieschlechteren Karten: denn ich habe zwei Beine weniger undnoch den sperrigen Bogen und den Köcher zu tragen.Außerdem kenne ich mich in dem Gewirr von Farnen,Baumfarnen und offenen Grasflächen nicht halb so gut aus unddann verschwindet – in vollem Verfolgungsspurt – auf einmalmein rechtes Bein bis zum Knie im Boden. Bogen und Pfeilevoraus, mein Körper hinterher, so falle ich der Länge nach aufdie Nase.

    Das Bein scheint zum Glück noch in Ordnung zu sein, wasmir in Anbetracht meines Aufenthaltsortes sehr nützlichvorkommt. Die Rippen sind nur leicht geprellt, aber zweiPfeile sind zerbrochen, weil ich auf sie draufgefallen bin. „Dahabt ihr noch einmal Glück gehabt, ihr verdammtenZiegenböcke“, rufe ich den beiden hinterher. „Erzählt das bloßnicht weiter.“

    Ich gucke nun in das Loch, in das ich getreten bin, undwelches bei bestem Willen nicht erkennbar gewesen war. Ichvernehme ein Glucksen und schaue hinein. In die Höhle einesSturmvogels bin ich eingebrochen und haarscharf neben dasKüken getreten, welches nun wahrscheinlich zum ersten Mal

  • 55

    in seinem Leben die Sonne erblickt. Ich gucke mir den kleinenRacker an, der so viel Glück gehabt hat, und repariere dann –so gut es geht – den Dachstuhl seines Hauses. Die Elternwerden bei der Ankunft in der Nacht die Feinarbeiten derReparatur vornehmen müssen. So leicht ist das also nicht mitdem Ziegenschießen!

    Am nächsten Tag ist die See stürmisch und an seinemarbeitsfreien Tag kommt mich Joselo spontan besuchen. Icherschrecke im ersten Moment heftig, als ich ihn sehe, weil ichwirklich nicht mit Besuch gerechnet hatte; nicht damitgerechnet hatte, dass jemand mir zuliebe drei Stunden Aufstiegund drei Stunden Abstieg auf sich nimmt. Aber dann freue ichmich riesig, koche ihm auf dem Sturmkocher einen Kaffee –mit Kondensmilch – und erzähle von meinen eigenmächtigenJagdversuchen. Er lacht: „Heute können wir es ja bessermachen. Lass uns gleich los gehen. Ich habe, wie du siehst,auch Ronnie und Dunkie dabei. Ronnie ist der besteZiegenaufspürer, den man sich denken kann. Wir verloren ihneinmal just bei der letzten Jagd vor der Rückreise nach derRobinson-Insel. Am nächsten Tag fuhr das Schiff – undRonnie musste das Winterhalbjahr allein auf Selkirküberleben. Er schaffte es, indem er zum Ziegenräuber wurde.Aber er verwilderte während dieser Zeit und bei unsererWiederkehr im Folgejahr kam er nicht mehr ins Dorf zurück.Auf einer Jagd mit mehreren Männern und anderen Hundenkonnten wir ihn aber glücklicherweise einkesseln undschließlich bändigen. So gewöhnte er sich wieder an uns. Nunkennt er alle Schliche und Pfade der Ziegen besser als jederandere.

    Zugegeben, unter Joselos Führung kommen wir nochdeutlich dichter an die Ziegen heran: bis auf 25 Meter. Auf 25m treffe ich normalerweise eine fußballgroße Scheibe mit dem

  • 56

    Bogen im Schlaf. Die drei Ziegen im Visier sind jede nochgrößer als ein Fußball. Trotzdem geht der Pfeil unter der Brustdes nächststehenden Ziegenbockes durch. Sie haben uns nochnicht gesehen, aber der ins Gras zischende Pfeil reicht alsAuslöser. Sekundenbruchteile später springen alle drei inwilder Flucht davon. Zum Glück haben wir die Hunde dabei:Joselo lässt sie mit einer Anfeuerung von der Leine undschnell haben sie das von mir Vermasselte wieder wettgemacht. Beide haben je einen Bock gepackt und sich in ihnverbissen. Joselo ruft mir zu: „Hilf Ronnie bei dem einen, reißihn an den Hörnern auf den Boden, ich laufe rüber zu Dunkie.“Viel Arbeit ist es bei mir nicht mehr, denn Ronnie hat denBock schon von vorne an der Kehle gepackt. Ich greife dasgedrehte Gehörn und werfe ihn mit aller Kraft auf die Seite.Geschafft!

    So verharre ich auf seiner Brust kniend und beobachtedrüben den zweiten und spannenderen Schauplatz: Dunkie hates – aufgrund seiner geringen Erfahrung in der Ziegenjagd –vorgezogen, sich in den Hinterschenkel des anderen Bocks zuverbeißen. Das ist für ihn selbst gefährlicher, weil er leicht voneinem Tritt oder Stoß getroffen werden kann, aber auch fürJoselo, denn der Bock geht nun auch auf ihn los. Schließlichbekommt er ihn aber am Gehörn zu fassen und 30 Sekundenspäter hat das Tier sein Leben ausgehaucht. Dann kommtJoselo zu mir herüber – und drückt mir schonungslos dasMesser in die Hand. Noch einmal will ich mich nichtblamieren. Ich schlucke kurz und erledige dann den unschönenTeil der Jagd zum ersten Mal selbst. Ein gutes Gefühl ist esnicht.

    Joselo und ich nehmen die zwei Ziegenböcke an Ort undStelle aus. „Das hat den Vorteil, dass wir das ganze Gras imDarm nicht mitschleppen müssen. Auch die Unterschenkel und

  • 57

    Köpfe schneiden wir am besten gleich ab“, so Joselo, „dannnoch einen kurzen Strick durch die oberhalb der Kniedurchstochenen Vorder- und Hinterschenkel – und wi