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Einführung Ernst Piper Das Zeitalter der Weltkriege 10 Stig Förster Der totale Krieg Geschichte und Wirklichkeit eines Schlagworts 24 Kriegführung Alexander Hoerkens Der Soldat: Preußisches Heer – Reichswehr – Wehrmacht 36 Manfred Jehle Der Seekrieg 50 Rolf-Dieter Müller Der Gaskrieg 68 Sönke Neitzel Der Bombenkrieg 78 Helmut R. Hammerich Die Geschichte der Panzerwaffe 90 Sven Felix Kellerhoff Die Entscheidungsschlacht 106 Inhalt

Inhalt - bpb.de · Westen und zur Manstein-Rochade im Osten sehr zu danken, ebenso Herrn Dr . ... Der Historiker Eric Hobsbawm hat die Zeit von 1914 bis 1991 das Zeitalter der Ext-

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Einführung

Ernst Piper DasZeitalterderWeltkriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

Stig Förster DertotaleKrieg . GeschichteundWirklichkeiteinesSchlagworts . . . . . . . 24

Kriegführung

Alexander Hoerkens DerSoldat:PreußischesHeer– Reichswehr–Wehrmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .36

Manfred Jehle DerSeekrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

Rolf-Dieter Müller DerGaskrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

Sönke Neitzel DerBombenkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

Helmut R. Hammerich DieGeschichtederPanzerwaffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .90

Sven Felix Kellerhoff DieEntscheidungsschlacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

Inhalt

Inhalt

Abseits der Front

Christopher Kopper DieFinanzierungdesKriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

Sven Felix Kellerhoff Heimatfront . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

Christian Westerhoff ZwangsarbeitinzweiWeltkriegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

Uta Hinz KriegsgefangenschaftimZeitalterderWeltkriege . . . . 148

Zwischen den Weltkriegen

Ernst Piper DerKampfumPalästina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

Ernst Piper DasDeutscheReichzwischen NovemberrevolutionundHitler-Putsch . . . . . . . . . . . . . . 172

Ernst Piper ItaliensWegindenFaschismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

Ernst Piper DerSpanischeBürgerkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

Thomas Weber AdolfHitlerundderErsteWeltkrieg . ErfahrungenundKonsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

Ernst Piper DienationalsozialistischeNeuordnungEuropas . VomLebensraumimOstenzumHolocaust . . . . . . . . . 212

Inhalt

Nach dem Krieg

Sven Felix Kellerhoff Kriegsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

Ernst Piper DiePariserVorortverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

Michael Schwartz FluchtundVertreibung .Ethnische„Säuberungen“ imErstenundZweitenWeltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

Gerd Hankel KriegalsVerbrechen . DieLeipzigerProzesseundderNürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

Karten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276

Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

Bildnachweis/ Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

Vorwort

IndieserSituationwolltedieEditionLingenStiftungnichteinweiteresWerküberdenErstenWeltkrieg herausbringen . Ihrem VerlegerWer-nerSchulte istdie Initiativezudemvorliegen-denBuchzuverdanken,dasdasgesamteZeit-alter der Weltkriege zu umspannen versucht .DieBeiträgezudiesemBandversuchenineinerGesamtschauzubeschreiben,wasKriegindie-sem Zeitalter derGewalt zwischen 1914 und1945bedeutete .EswerdennichtinersterLinieSchlachten und Kriegsverläufe beschrieben .VielmehrzeigendieAutoreninsystematischenBeiträgen,wie Krieg geführtwurde und auchwiedieKriegführungsich indieserZeitverän-derte .

EinedergroßenLeistungendes19 .Jahrhun-dertswardieEinhegungderGewalt inEuropagewesen,während indenKolonien technischeNeuerungenwiedasMaschinengewehrunddasFlugzeug zum Einsatz kamen, denen die ein-heimische Bevölkerung nichts entgegenzuset-zenhatte .MitdemErstenWeltkriegkehrtedieexzessiveGewaltvonderPeripherieinseuropä-ische Zentrum zurück . Hochgerüstete Armeentrafen aufeinander . Die Doktrinen des Kabi-nettkriegs mit seinen raschen Entscheidungs-schlachten waren obsolet geworden . Obwohldaszunächstkaum jemand fürmöglichgehal-tenhatte,begann1914einKrieg,dermehralsvierJahredauerteundzurMilitarisierungganzerGesellschaften führte . Neue WaffengattungenwieU-Boote,Großkampfschiffe,FlugzeugeundPanzerkamenzumEinsatz .SieeröffnetenneueAngriffsstrategien,dieimZweitenWeltkriegdannzuihrervollenEntfaltungkamen .EinSonderphä-nomendesErstenWeltkriegswarderGaskrieg,derenormenSchreckenverbreitete,aber letzt-endlichwenigeffektivwarund1925internationalgeächtetwurde .

DerErsteWeltkrieggaltauchvorJahrenschonals sehr gut erforscht . Die „Enzyklopädie Ers-terWeltkrieg“,die2003erstmalserschien, legtdavoneindrucksvollZeugnisab .Zum100 .Jah-restagdesKriegsausbruchssindjetztnochein-malWerkeüberdenErstenWeltkrieg in kaumnochzuüberschauenderZahlerschienen,dar-unter Neuausgaben von Klassikern wie Bar-baraTuchmansnochimmerlesenswertesBuch„August1914“,überarbeiteteNeuauflagenhis-toriografischer Arbeiten, aber auch zahlreicheWerke,dieunseinenreichenErtragneuerFor-schungen präsentieren . Das auflagenstärkstevon ihnen ist Christopher Clarks Buch „DieSchlafwandler“ .

Die Hinrichtung der eng­lischen Krankenschwes­ter Edith Cavell am 12. Oktober 1915 in Brüssel wurde der Öffentlichkeit in aller Welt als Beweis dafür vermittelt, dass das Deutsche Reich den Krieg und dessen mons­tröse Gewalttätigkeit zu verantworten hatte. Die Tote trägt das weiße Gewand und das Rote Kreuz der Unschuld und Barmherzigkeit. Mit den belgischen und briti­schen Flaggen bedeckt gilt sie bis heute als Bild für Unschuld und Opfer­gang auch der alliierten Kriegsgegner. Poster von T. Corbell, ca. 1915.

Vorwort

führte,dassMillionenvonMenschenihreange-stammteHeimatverlassenmussten .Einebeson-dere Bedrohung war die Idee der ethnischen„Säuberung“ für die transnationale Minderheitder Juden . Umso attraktiver erschien das alteProjekt des Zionismus, in Palästina einen jüdi-schen Staat zu schaffen, das auch durch dieerzwungene Auswanderung der deutschenJudenneuenAuftrieberhielt .

DieMonstrositätdesErstenWeltkriegshattedazugeführt,dassdieIdeevomKriegalseinerlegitimenFortsetzungderPolitikmitanderenMit-telngrundlegend inFragegestelltwurde .Erst-malsgabesnachdemKriegeineDebatteüberKriegsschuld,Kriegsverbrechenundderen jus-tizförmige Bewältigung . Zu einemweitreichen-denVersucheinersolchenBewältigungkamesabererstnachdemZweitenWeltkriegmitdemHauptkriegsverbrecherprozess, den Nürnber-gerNachfolgeprozessenundzahllosenanderenGerichtsverfahreninvielenLändern .

DiesesBuchrichtetsichnichtandieakademi-scheFachöffentlichkeit,sondernaneinallgemeingebildetesPublikum .DieBeiträgebefindensichaufderHöhederForschung,verzichtenaberaufdas Referieren von Forschungskontroversen .AuchaufeinenAnmerkungsapparatwurdever-

DerKriegwurdejetztnichtmehrnuraufdemSchlachtfeldgeführt,sondernauchanderHei-matfront .ImtotalenKriegwurdejederzumKom-battanten .DieheimischeWirtschaftwurdeganzindenDienstderRüstungsproduktiongestellt .DieimErstenWeltkriegerstmalszurAnwendungkommendeStrategiederverbranntenErdezieltedaraufab,dieindustriellenundlogistischenVor-aussetzungendesGegnerszuzerstörenundihnsostrukturellkampfunfähigzumachen .MitderlangenDauerdesKriegswurdendieMobilisie-rung aller Kräfte zur Versorgung der FrontmitKriegsmaterialunddieFinanzierungdesKriegszuentscheidendenAufgaben .

EssinddiefürbeideWeltkriegezuersterkenn-barsichentwickelnden,dannausdenErfahrun-gensystematischgestaltetenBedingungendesKriegs imZeitalterderGewalt,die imhier vor-gelegten Band besonders berücksichtigt wer-den .DieZeitzwischendenbeidenWeltkriegenistgekennzeichnetdurcheinenichtabebbendeFüllemilitärischerKonflikte,Bürgerkriegewiezwi-schenstaatlicherKriege,vorallemzwischendenneubzw .wiederentstandenenStaaten,dieumihreGrenzenmiteinander rangen .Damiteinhergeht eine Krise des demokratischen Systems,die zu einem Siegeszug autoritärer Regime inweitenTeilenEuropasführt .InvielenStaatenent-stehenfaschistischeBewegungen .ItalienistdasersteLand,indemderFaschismussichdurch-setzt und bereits 1922 die Regierungsgewaltgewinnt . In Spanien triumphierte der PutschistFranciscoFrancomitdeutsch-italienischerHilfe .Die radikalste Variante des Faschismus ist derNationalsozialismus,der1933inDeutschlandandieMachtkamundindenfolgendenJahrenver-suchte,einenexterminatorischenAntisemitismusmitdemZielderVernichtungdeseuropäischenJudentumszurealisieren .

DerErsteWeltkriegführtezurBildungzahlrei-cherneuerStaatenund indiesemZusammen-hangzuumfangreichenGebietsveränderungen .DemSchutzethnischerMinderheitenkamdes-halbeinegesteigerteBedeutungzu .DiePariserVorortverträgeunddiedamitimZusammenhangstehendenAbkommensuchten,demRechnungzu tragen .Durchgesetzthatsichaber, spätes-tensmitdemVertragvonLausanne1923,dasPrinzipderethnischenEntmischung,dasdazu

Die Rauchwolke nach der Explosion der Atom­bombe „Little Boy“ über Hiroshima, 6. August 1945, aufgenommen aus einem amerikanischen Flugzeug. Das Bild des Atompilzes steht seit­dem für den Erinne­rungsort der atomaren Katastrophe.

zichtet .Wersichnochgenauer informierenwill,findetaberamEndedesWerkseineBibliogra-fie mit Empfehlungen für die weitere Lektüre;zugleichenthältdieseBibliografiediewichtigsteLiteratur, die von den Autorinnen und Autorenherangezogenworden ist . Ergänztwerden dieTexte durch eine informative Bebilderung undKarten .

ZurFreudedesHerausgebers istesgelun-gen, für die verschiedenen Themen hervorra-gende Gelehrte als Mitarbeiter zu gewinnen .Ihnenallen istsehrdafürzudanken,dasssieihreExpertiseundihreArbeitskrafteingebrachthaben,undauchdafür,dasssie ihreBeiträgerechtzeitigabgelieferthaben,sodassdasBuchzeitgerechterscheinenkann .HerrnDr .HelmutR .HammerichunddemZentrumfürMilitärge-schichte und Sozialwissenschaften der Bun-deswehr, Potsdam, ist überdies für dieÜber-lassungvonzweiKartenzumSichelschnitt imWestenund zurManstein-Rochade imOsten

sehr zu danken, ebenso Herrn Dr . ChristianWesterhoff,demLeiterderBibliothekfürZeit-geschichte, Stuttgart, sowie demStadtarchivCrailsheimfürdiekostenloseÜberlassungvonAbbildungen .

MeinbesondererDankgiltHerrnDr .ManfredJehle,Berlin, fürseineengagierteMitarbeitunddieOrganisationderBebilderungderBeiträge .AnderBebilderungderBeiträgezu ItalienundSpanien hat außerdem Herr Wolfgang Hilbermitgewirkt,dieKartenhatHerrGeorgStelznerbearbeitet, den Umbruch besorgte Herr GeertMöbius . Ihnen allen danke ich für das großeEngagementbeidernichtimmerleichtenDurch-führung der Aufgaben . Für die Betreuung desWerksimVerlaggiltderDankdesHerausgebersHerrnHeinrichHengst,derfürdieBedingungengesorgthat,unterdeneneinsolchesWerknurzustandekommenkann .

Berlin,imMai2014 Ernst Piper

Vorwort

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inEuropageprägtvonKabinettskriegen,dievonkleinen stehendenHeerenmit begrenzten Zie-lenuntermöglichstweitgehenderSchonungderZivilbevölkerunggeführtwurden .

Die Sattelzeit um 1800 brachte den Volks-kriegnachEuropazurück .DieDemokratisierungdesKriegsführtezuseinerBrutalisierung .Kriegewurden nicht länger von Söldnern, Berufssol-daten oder Spezialisten geführt, sondern vonVolksheeren .DieKabinettskriegewurdenabge-löst durch eineGeneralmobilmachung, die alleRessourcenindenDienstdesKriegsstellteundnichtsundniemandenschonte .JederAngehö-rigederNationwarpotentiellaucheinKombat-tant .DieseEntwicklungnahmanderSchwelle

Die von Europa ausgehende DurchdringungderWeltseit1500,dieEntstehungdesmoder-nenWeltsystems,warzugleicheineGeschichteder Gewalt . Es entstand eine globale Hierar-chie der Herrschaftsverhältnisse, Kommunika-tionswege und Warenströme, deren imperialeAnsprüchegewaltsamdurchgesetztwurden . InEuropaselbstwardieZeitzwischen1500und1914 gekennzeichnet durch die Entstehungimmer größerer politischer Einheiten, sodassihreGesamtzahlsichvonetwa500aufkaum30reduzierte .Nationalstaatenwurdendieentschei-dendenAkteurebeiderAusbildungvon Impe-rien .Zugleich verlagerte sichdieGewalt indiePeripherien .DieZeitzwischendemDreißigjähri-genKriegundderFranzösischenRevolutionwar

Das Zeitalter der Weltkriege

Ernst Piper

Das Zeitalter der Massen­heere und des Massen­sterbens: Die Grande Armée Napoleons, die am 24. Juni 1812 die russi­sche Grenze überschritt, bestand aus 610.000 Soldaten und Zehntau­senden im Tross. Beim Rückzug erreichten im November nur noch 70.000 von ihnen die Be­resina, bei deren Über­querung weitere 30.000 durch russische Angriffe und Massenpanik umka­men. Ins Wasser gestürzte Fuhrwerke und Leichen bildeten Inseln und Hügel an den Ufern. Das ano­nyme zeitgenössische Aquarell (Paris, Musee de l’Armee) zeigt den Über­gang über die Beresina auf Pontonieren.

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kam die Monarchie in Frankreich endgültig anihrEnde .JulesFavreundLéonGambettatratenandieSpitzeeinerrepublikanischen„RegierungdernationalenVerteidigung“ .Gambetta,derdenKriegursprünglichabgelehnthatte,proklamiertenuneinenVolkskrieggegendieDeutschen .NachderKriegserklärunganPreußenwardiefranzösi-scheArmeeunerwartetschnell indieDefensivegeraten . Um den Vormarsch der preußischenTruppenzustoppen,hatteschonKaiserNapo-leonIII .dieFreikorpsderFranktireurszudenWaf-fengerufen .GambettaweitetenundieseArtderKriegführung erheblich aus, konnte dieNieder-lageFrankreichsabernichtverhindern .BeidendeutschenSoldatenwurdendieFranktireursden-nochzueinemstarkwirkendenFeindbild,dasiezumTeilohneUniformenundoftausHinterhal-tenundmitSabotageaktendiedeutschenNach-schublinienangriffen .BeidemVersuch,diedeut-schenRepressions-undVergeltungsmaßnahmenimAugust1914inBelgienzurechtfertigen,solltedieErinnerungandiefranzösischenFranktireurseinegroßeRollespielen .

1914kehrtedieexzessiveGewaltvonderPeri-pherieinseuropäischeZentrumzurück .DerErsteWeltkriegmarkiert einenÜbergang . Er steht amBeginn einesZeitalters, dasdurch einbis dahinundenkbaresAusmaßanMassengewaltgekenn-zeichnet ist . Der Historiker Eric Hobsbawm hatdieZeitvon1914bis1991dasZeitalterderExt-remegenannt, für ihnbegann1914das „Zeital-terdesMassakers“ .DochauchindenJahrenvor

zum 19 . Jahrhundert ihren Anfang, sie gingzurückaufdieFranzösischeRevolution .Am23 .August1793wurdedieAnordnungderLevée en massevomWohlfahrtsausschuss,demNational-konventinderZeitderFranzösischenRevolution,verabschiedet,nachdemDantongeforderthatte,jedem Franzosen ein Gewehr in die Hand zugeben .AlleunverheiratetenMännerimAltervon18bis25JahrenwarennunzumKriegsdienstverpflichtet .DieseAnordnunggilt als der ersteFalleinerallgemeinenWehrpflichtindereuropä-ischenGeschichte,siedienteanderenStaatenalsVorbild .1814wurde imZugederHeeresre-formauchinPreußendieWehrpflichtgesetzlichverankert .DieBewaffnungdesVolkestrugmaß-geblichzumSiegFrankreichs imErstenKoaliti-onskrieg1797bei,wurdeabernurwenigeJahrespäter in der Völkerschlacht bei Leipzig, demHöhepunktderdeutschenBefreiungskriege,undauchimSpanischenUnabhängigkeitskriegzumNachteilfürdieFranzosen .

Und doch war eine der großen Leistun-gendes19 .Jahrhunderts inEuropadieEinhe-gungderGewalt .DieDoktrinvomschnellenundüberschaubaren Kabinettskrieg lebte fort undlag auch noch den deutschen Planungen fürden Ersten Weltkrieg, dem Schlieffen-Plan, zuGrunde,wenngleich imDeutsch-FranzösischenKriegvon1870/71Volksbewaffnung,PartisanenundasymmetrischeKriegführungwiederaufderTagesordnunggestandenhatten .MitderGefan-gennahmeNapoleonsIII .am4 .September1870

Das Zeitalter der Weltkriege

Links: Im Kolonialkrieg garantierte das Maschi­nengewehr die Überle­genheit der Kolonialher­ren. Amerikanische MG­ Schützen im Krieg gegen die Philippinen, Dezem­ber 1899.

Rechts: Das Maschinen­gewehr machte die Feldschlacht zwischen gleich bewaffneten Geg­nern zum Grabenkampf: Deutsche MG­Schützen, ca. 1917.

Ernst Piper

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ZahldergefallenenSudanesenbetrugdagegenfast10 .000,hinzukamenmindestensnochein-malsovieleGefangene,außerdemgerieten5 .000Soldaten inGefangenschaft, sodass die ArmeedesMahdipraktischvollständigvernichtetwar .

DerGrundfürdieseextremenZahlenverhält-nissewarvorallemeineneueWaffe,dasMaschi-nengewehr,dasderamerikanisch-britischeErfin-derHiramMaxim1885aufdenMarktgebrachthatte . Die Maxim Gun konnte 500 bis 600SchussproMinuteabfeuern,sodasseinekleine,mit Maschinengewehren ausgerüstete TruppeganzeArmeeninSchachhaltenundauchbesie-genkonnte .ImRussisch-JapanischenKriegvon1905/06, der in mancher Hinsicht den großenindustrialisiertenKriegzehnJahrespäterantizi-pierte,kämpftenbeideSeitenmitMaximGuns .ImErstenWeltkriegsetztendiegroßenNationendanneigeneEntwicklungenein, dieDeutschenab1915dasberühmteMG08/15 .

Das Prinzip der Volksbewaffnung gewann imErstenWeltkriegnochganzandereDimensionenals seinerzeit in den Befreiungskriegen . Es gingnichtmehr umeinenwildenVolkskrieg, sondernumdieMilitarisierungderganzenNation .DerKriegwar ungleich umfassender als die Kriege zuvor,auchdieHeimatwarFront,derFeindkamerstmalsauchausderLuft,erschienüberallzusein .DasäußertesichnichtnurinderallgegenwärtigenSpi-onagehysterie,diezahlreicheMenschendasLebenkostete,sondernebensoinderAusgrenzunginne-rerFeindeundgegenüberethnischenMinoritäten,die man generell der Illoyalität verdächtigte . EinextremesBeispieldafüristderunglaublichbrutaleKrieg,dendieRussengegendieeigeneBevölke-rungführten,soweitsienichtausRussenbestand .

DasZeitalterderWeltkriegeumfasstdieJahrevon1914bis1945 .Manchmal,voralleminEng-landundFrankreich, istdieserZeitraumauchalszweiterDreißigjährigerKriegbetrachtetworden .InDeutschland dagegen dominiert die Einteilung ineinenErstenundeinenZweitenWeltkriegund jenach Temperament kann man den Kalten KriegalsdrittenWeltkrieghinzuzählen,derGottseiDanknichtausgebrochenist .WerdieKriegenummeriert,betontdieUnterschiede,wervoneinemDreißigjäh-rigenKriegspricht,hebtaufdieGemeinsamkeitenab .FürbeideskannmanguteArgumenteanführen .

demAusbruchdesErstenWeltkriegshatesschongewaltigeMassakergegeben,nurebennichtaufdem europäischen Kontinent . Besonders brutalwardasbelgischeKolonialregimeimKongo .DieeinheimischeBevölkerung,die1880noch20Mil-lionenMenschen umfasst hatte, zählte nach 30JahrennurnochdieHälfte .IndenKolonialkriegeninDeutsch-Südwestafrikakamesnach1904zugenozidalenAktionen,dasVolkderHererowurdenahezuausgerottet .NochmehrMenschen,wennaucheingeringererProzentsatzderGesamtbevöl-kerung,kamenbeidem fastgleichzeitigenKrieg

gegendieMaji-MajiinDeutsch-Ostafrikaum .DerersteGenozidaufeuropäischemBoden,diemas-senhafteErmordungder imOsmanischenReichlebenden Armenier, vollzog sich dann bereits1915/16imWindschattendesErstenWeltkriegs .DieSchätzungenderZahlderOpfergehenzumTeilweitübereineMillion .

EinganzentscheidendesCharakteristikumderKolonialkriegewarendieextremunterschiedlichenOpferzahlen auf beidenSeiten .Dass bei einemsolchenKriegvielleichteinDutzendKolonialsolda-teneinereuropäischenMachtumkamen,aufderanderenSeiteabervieleTausendEinheimische,warnicht ungewöhnlich .So starben z .B .1898bei der Schlacht von Omdurman drei britischeOffiziereundfünfundzwanzigbritischeSoldaten,dieÄgypter,dieaufderSeitederBritenkämpften,verlorenzweiOffiziereundachtzehnSoldaten .Die

Die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung nahm in den Kriegen des 20. Jahrhunderts Ausmaße an, die es seit dem Drei­ßigjährigen Krieg nicht mehr gegeben hatte: Exekution armenischer Priester in Jaffa, Palästi­na, durch osmanische Soldaten, kurz vor der Ankunft britischer Trup­pen am 18. November 1917.

Das Zeitalter der Weltkriege

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derNiederlage imKrieggegenJapanundnachderbosnischenAnnexionskrisevorallemdasZiel,seinePositioninSüdosteuropazuverbessern .InÖsterreich-Ungarngabesseit langemPlänezurEingliederungSerbiens .AuchübereinenPräven-tivkrieggegenItalienwurdediskutiert .Umgekehrtgab es in Italien dieBewegung der „Irredenta“,diedievonÖsterreichbeherrschten„unerlöstenGebiete“befreienwollte .Und im Italienisch-Tür-kischenKrieg (1911/12) profitierten die ItalienervonderSchwächedesOsmanischenReichsunderzieltenvorallem inNordafrikaerhebliche terri-torialeZugewinne .EineunmittelbareFolgewarendiebeidenBalkankriege,durchdiedasOsmani-scheReichseineeuropäischenTerritoriennahezuvollständigverlor .

Die politischen Akteure der fünf europäi-schenGroßmächtesahenimSommer1914diegewachseneGefahreinesmilitärischenKonflikts,abersiefolgtenauchihrenjeweiligenInteressen .Sie verfolgten weiterhin die Strategie des kal-kuliertenRisikos,wobeiman fürdasDeutscheReichsagenmuss,dassdiesesRisikoseitdemsogenanntenBlankoscheckvom6 .Juli1914fürdieRegierunginWieneigentlichnichtmehrkal-kulierbarwar .

Es gibt beachtliche Gemeinsamkeiten zwi-schen beidenKriegen, aber auch nichtminderbeachtliche Unterschiede . Davon abgesehen,dass der erste der beidenWeltkriege ungleicheuropäischerwaralsderzweite,warenauchdieKonstellationen recht unterschiedlich .WährenddasDeutscheReichRusslandam1 .8 .1914denKrieg erklärt hat,war es 1939mit der Sowjet-uniondurchdensogenanntenHitler-Stalin-Paktverbunden .ErstdurchdendeutschenÜberfallimJuni 1941wurde die Sowjetunion zumKriegs-gegner . Japaner und Italiener waren im ErstenWeltkrieg Gegner der Deutschen, im ZweitendagegenihreVerbündeten .InderAchseBerlin–Rom–TokyofandensichdreiautoritäreRegimemiteinerexpansionistischenAgendazusammen,derenInteressensphärenkompatibelwaren .Auchim ErstenWeltkrieg habenDeutschland, ItalienundJapanexpansionistischeKriegszielegehabt,sieabernichtoderjedenfallsnichtimgewünsch-tenUmfangerreicht . IhreAchsewareinBünd-nisvonMächten,derenGroßmachtträumebishernichtinErfüllunggegangenwaren .Ihnengegen-überstandeneinerseitsdieKolonialmächteEng-land und Frankreich, die den Höhepunkt ihrerMacht eher hinter als vor sich hatten, anderer-seitsdieaufstrebendenWeltmächteAmerikaundRussland,diebeideaufeinelangeExpansionsge-schichtebeiderDurchdringungihrerKontinentezurückblickenkonnten .UndderZweiteWeltkriegbegann,andersalsderErste,imGrundegenom-men in Asien,mit dem japanischen Angriff aufChinaam7 .Juli1937,auchwennwirinEuropavorallemaufdasJahr1939schauen .EbenfallsinAsienendetederZweiteWeltkrieg:mitderjapani-schenKapitulationam15 .August1945 .

Wichtiger als die Frage der Nomenklatur istaber noch etwas anderes . Der Erste Weltkriegist gelegentlichalsUrkatastrophedes20 . Jahr-hundertsbezeichnetworden .DiesesBildistnichtwirklich hilfreich . Ein Krieg ist kein Naturereig-nis, das unvermittelt über uns hereinbricht wiezumBeispiel 1908dasErdbebenvonMessina,beidemmehrals80 .000MenschenumsLebenkamen .Erereignetsichnichtvoraussetzungslos .DasgiltgeradeauchfürdenErstenWeltkrieg,des-senVorgeschichteinzwischenaußerordentlichguterforschtist .DemKriegsausbruchgingeinJahr-zehntderdiplomatischenKrisen,derkaltenundheißen Kriege voraus . Russland verfolgte nach

Die Mission der Koloni­alherrschaft: Frankreich bringt Marokko uneigen­nützig Zivilisation, Wohl­stand und Frieden. Le Petit Journal, 19. November 1911.

Ernst Piper

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weiter,Massenelend,Arbeitslosigkeit,Hungers-not und der gesellschaftliche Umsturz folgen .DieseziemlichzutreffendePrognoseprovoziertein den Reihen der Konservativen den bemer-kenswerten Zwischenruf: „Nach jedem Kriegewirdesbesser!“HierartikuliertesichzumeinendieErinnerungandieBefreiungs-undReichs-einigungskriege,zumanderendieÜberzeugung,dasseinweitererKriegohnehinnichtzuvermei-densei .DieDeutschen,mandarfesnichtver-gessen,hatteninden100Jahrenvor1914mitKriegenguteErfahrungengemacht .

Die zweite Marokkokrise war der unmittel-bareAnstoß fürFriedrichvonBernhardisBuch„DeutschlandunddernächsteKrieg“ .Bernhardi,einpensionierterpreußischerGeneral,warb fürdieMilitarisierung des öffentlichen Lebens, umdasDeutscheReichwehrhaftfüreinenkommen-den,seinerAnsichtnachunvermeidlichenKriegzumachen .SeinBuchwarWasseraufdieMüh-lenderjenigen,diedasErgebnisderMarokko-krisealsDemütigungDeutschlandsempfundenund Reichskanzler Bethmann Hollweg im Par-lament entsprechend zugesetzt hatten . SpäterbetriebensieerfolgreichseinenSturz .BernhardiwarderÜberzeugung,DeutschlandmüsseeineRollealsWeltmachtanstreben,andernfallswerdees auch seine Position als europäische Groß-macht auf lange Sicht verlieren . Damit befandersich inEinklangmitder in jenerZeitpopulä-renWeltreichslehre,diedavonausging,dassdieeuropäische Pentarchie nach dem Eintritt derVereinigtenStaaten indieWeltpolitikdurcheinWeltstaatensystemabgelöstwürde,indemsichnureinTeildereuropäischenGroßmächtewürdebehaupten können, weshalb Deutschland dasZielhabenmüsse,zurWeltmachtaufzusteigen .Konkret forderte Bernhardi die NiederwerfungFrankreichs, einenmitteleuropäischenStaaten-bundunterdeutscherFührungunddieErweite-rungdesdeutschenKolonialbesitzes .

WasBernhardiformulierte,warnichtdiePoli-tikderdeutschenRegierung,insbesonderenichtbiszumSturzBethmannHollwegsam13 .Juli1917 . Aber seine Positionen waren in alldeut-schenKreisen,einerlautstarkenundeinflussrei-chenMinderheit, populär . ImDeutschenReichgab es damals einen weithin vernehmbarenChorvonNationalisten,dienichtmüdewurden

Vor allem die zweite Marokkokrise 1911erwies sich im Nachhinein als Präludium desErstenWeltkriegs . Sie fand ihren Abschluss ineinemAbkommen,durchdasDeutschlandseineAnsprüche in Marokko zugunsten Frankreichsaufgab,wasdieGemüterderAlldeutschenundandererNationalistennachhaltiginWallungver-setzte,dieohnehinargwöhnten,DeutschlandseibeidemsogenanntenWettlaufumAfrikaunzu-mutbar insHintertreffengeratenund lassesichvondenanderenKolonialmächtenimmerwiederübervorteilen .

In derReichstagssitzung vom9 .November1911überzogendiekonservativenParteiendasvon der Regierung Erreichte mit herber Kritik,währendeinzigdieSozialdemokratendieReichs-regierungunterstützten,diedasSpielmitdemFeuergeradenochrechtzeitigbeendethatte .DerSPD-VorsitzendeAugustBebelsahdieKriegs-gefahrundwarntevoreinerkommendenKatas-trophe,vordem„großenGeneralmarsch“,wieeresnannte,beidem„16bis18MillionenMänner,die Männerblüte der verschiedenen Nationen,ausgerüstet mit den bestenMordwerkzeugen,gegeneinanderalsFeinde insFeldrücken .“Aufden großen Generalmarsch würden, so Bebel

Die Weihnachtsfeier des kleinen Bernhard. Ge­meint war Bernhard Dernburg (1865–1937), Staatssekretär des Reichskolonialamts, der den Kolonien die Eisen­bahn, Gesundheit und Kultur bringen wollte. Der Wahre Jacob, 17. Dezember 1907.

Das Zeitalter der Weltkriege

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hatsiezueinerGemeinschaftwerdenlassen,diespätervondenNationalsozialistenzumFrontso-zialismusumgedeutetwerdensollte .

BernhardiundLamszuszeigen,vonvölligunter-schiedlichenPositionenausgehend,dieStimmung,inderdieMenschensich indenJahrenvordemAusbruch des Ersten Weltkriegs befanden . DerKriegwüteteindenMenschen,langebevorerim

August 1914 erklärtwurde . Er bemächtigte sichderKombattanten, ehediese ihrerRolle gewahrwurden . Und die Kombattanten konnten nichtwissen,wiefurchtbarderKriegseinwürde .1939wusstemanes,dawarvonEuphoriekeineRedemehr .NiewarAdolfHitlerseinemSturzdurcheinenStaatsstreichsonahewiewährendderSudeten-krise1938,alsessoaussah,dasseinneuerKrieg,ausgehend von Deutschland, in Europa begin-nenkönnte,weilHitler seinePolitikderkalkulier-tenProvokationenüberreiztzuhabenschien,undeinflussreicheKreisedesdeutschenMilitärseinenKriegverhindernwollten .DasMünchnerAbkom-men,dasEndeSeptember1938inletzterMinutezustandekam,hatdenAusbrucheineseuropäi-schenKriegsnocheinmalverhindert,wennauchnichtfürlangeZeit .

EinKriegsetztnichtnurArmeeninBewegung,erverändertauchdieMenschen .DerPhilosophTheodorLessinghatangesichtsdesErstenWelt-kriegs ein prägnantes Bild dafür gefunden: „ImAugust1789beschlossendieMenschen,Welt-

zu betonen, Deutschland brauche eine seinerBedeutunggemäßeMachtpositionundeinenderGrößedesVolkesentsprechendenLebensraum .ZielmüssewirtschaftlicheDominanz inEuropa,einederbritischenFlotteebenbürtigeSeemacht,die dauerhafte Ausschaltung der potentiellenKriegsgegnerFrankreichundRusslandundeinausreichendgroßesKolonialreich inAfrikasein .Dies alleswurde imAuslandaufmerksam rezi-

piert . Bernhardis Buch verkaufte in englischerundfranzösischerÜbersetzungmehrExemplarealsdasdeutscheOriginal .

1912erschieninDeutschlandaucheinBuchgänzlich anderer Art, der Jugendroman „DasMenschenschlachthaus“ des sozialdemokrati-schen VolksschullehrersWilhelm Lamszus . DerKrieg von 1870/71 erschien ihm wie ein „Vor-postengefecht“ .Deshalb trägtseinRomandenUntertitel „Bilder vom kommenden Krieg“ . DerPazifist Lamszus versuchte, die Realität deseigentlichenKriegszuschildern,vomLebeninderKaserneüberdieMobilisierunggegenFrankreichbis zumEinsatz an der Front .Das letzteKapi-tel„WirarmenToten“ istdenGefallenengewid-met .EsnimmtinallerDrastikdieSchreckendesStellungskriegsvorwegundbeschreibt,wiedieGefalleneneinträchtignebeneinanderinderErdeliegen,einArbeiternebendemabgerissenenBeineines Briefträgers, daneben der Rumpf einesMannes, der seinen Kopf verloren hat, sodassdieLuftröhrehervorschaut .DerTodanderFront

Links: Anfang August 1914 war Europa nur in der Begeisterung über den Krieg vereint: Ver­sammlung vor der Sta­tion Montparnasse in Paris, 3. August 1914.

Rechts: Begeisterung auch in London vor dem Buckingham Palace, 4. August 1914.

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für den Krieg verbreitete sich im August 1914geradezuexplosionsartig .DieerbittertenAusein-andersetzungenzwischendertraditionellenaka-demischenSchule,diedieSympathiedesKaisersgenoss,unddenverschiedenenRichtungenderModernespieltenplötzlichkeineRollemehr .

Dasgaltnatürlichnichtnur fürDeutschland .SowiedieDeutschendieKulturgegendiefran-zösischeZivilisationverteidigenwollten,riefderfranzösischePhilosophundAkademiepräsidentHenriBergsonseineLandleutedazuauf,dieZivi-lisationgegendiedeutscheBarbarei zuvertei-digen,undderenglischeSchriftstellerRudyardKipling sprach in einem populären Gedichtdavon,dassdieHunnenvordenTorenstünden .InallenkriegführendenStaatengabesStrategiendergeistigenMobilmachung,wobeieserhebli-cheUnterschiedezwischendenverschiedenenKriegsgesellschaftengab .

Die anfängliche Begeisterung verflog rasch,dennoch endete der ErsteWeltkrieg erst nachmehr als vier Jahren, im November 1918 . ErentließdieMenschen ineinefriedloseWelt .DerKrieg ließ nicht nur neun Millionen militärischeundsechsMillionenzivileTodesfällezurück,son-dernauchachtMillionenKriegsinvaliden .DieselebendenKriegsdenkmäler,wieJosephRothsienannte, verwiesen auf die Schutzlosigkeit derSoldaten, ihre zerstörten Leiber spiegelten dieVerletzungen der nationalenGemeinschaft . DiepolitischeLandkartewarvollkommenumgestal-tetworden .Zwischen1917und1923entstan-denmitderUkraine,Finnland,Litauen,Estland,Polen,derTschechoslowakei,demStaatderSlo-wenen,KroatenundSerben(demspäterenJugo-slawien),Ungarn,Österreich,Lettland,IrlandundderTürkei einDutzendNationalstaaten–man-

bürgerzuwerden .ImAugust1914beschlossensiedasGegenteil .“Niemalswaren sichdie kul-turellen undwissenschaftlichenEliten inEuropanäher gewesen und hatten einander bessergekanntals inderZeitvordemKriegsausbruch .UnddochsetztensichnationaleEgoismenradi-kalüberdiesegewachsenenVerbindungenhin-weg .DieübervieleJahreaufgebautenNetzwerkehielten dem nationalistischen Furor nicht stand .Eswar frappierend,mitwelcherVehemenzvieledeutscheKunstfreunde,PublizistenundKünstler,die in den Jahren zuvor begeistert nach Frank-reichund Italiengereistwaren, umsichandenSchönheiten dieser Länder zu berauschen undumneuekünstlerischeEntwicklungenzustudie-ren,diegegendieEngeunddenStarrsinndeskaiserlichenKunstverstandesundfürdieModernegekämpft hatten, die Sezessionen und SalonsgegründetundaufsehenerregendeAusstellungenorganisierthatten,nunmehrdienationaleSachezu der ihrenmachten . Siewandten ihren FurornichtmehrgegenTraditionundKonvention,son-derngegendenLandesfeind .DieBegeisterung

Kriege und „ethnische Säuberungen“ brachten nach dem Ersten Welt­krieg für Millionen Men­schen Flucht und Ver­treibung, vor allem in Ost­ und Südosteuropa: Flüchtlinge in der Hei­landskapelle in Frankfurt (Oder), um 1921.

Zu den Ergebnissen des Griechisch­Türkischen Kriegs 1919–1922 ge­hörte die Schaffung eth­nischer Homogenität durch Vertreibung: Ankunft griechischer Flüchtlinge aus der Türkei in Griechenland, Dezember 1922.

Das Zeitalter der Weltkriege

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nachihmbenanntenPass,wofürerdenFriedens-nobelpreis erhielt . DerNansen-Passwurde vonderBehördedesStaatsausgestellt, indemsichderFlüchtlingaufhielt .ErwareinJahrgültigundmusstedannverlängertwerden .Ergestattetesei-nemInhaberdieRückkehrindasdenPassaus-stellendeLandundgewährteihmsoeinengewis-senSchutzvorVerfolgung .

DievielennationalenMinderheiten,diedurchdie radikal veränderte politische Landkarte ent-standen,wareneindrängendesProblem .Umsiezuschützen,wurde imKontextderPariserVor-ortverträge ein Regelwerk geschaffen, das dieErrichtungmodernerNationalstaatenmitdervöl-kerrechtlichenSicherungderMinderheitenrechteverbindenwollte .Dabeigingesausdrücklichnichtnurum individuelle, sondernauchumkollektiveRechte,alsodasRechtaufdieeigenekulturelleTradition,SpracheundReligion .DurchgesetzthatsichabernichtdasKonzeptvonVersailles,son-dernderGeistdesVertragsvonLausanne,dernachdemGriechisch-TürkischenKriegvon1922zueinemweitreichendenBevölkerungsaustauschzwischenGriechenlandundderTürkeiführteundzurBlaupausefürunzähligeweitereVersuchederethnischenEntmischungwurde .InsgesamtzehnMillionenZwangsmigrantenmussten inderZwi-schenkriegszeit ihre Heimat verlassen, was fürvielevonihnenentsetzlichesLeidmitsichbrachte .

IndenerstenJahrennachdemEndedesErs-tenWeltkriegsgabes inEuropaeineFüllevonKriegenundBürgerkriegen .DerZerfallderViel-völkerreiche bot dazu ebenso Anlass wie dieKonstitutionalterundneuernationalerStaaten .NebendemGriechisch-TürkischenKriegistzumBeispielderirischeUnabhängigkeitskriegzunen-nen, außerdemdie verschiedenenGrenzkriegezwischenRussland,Lettland,Litauen,Polen,derUkraineundderTschechoslowakei .DeutschlandwarSchauplatzeinesjahrelangenBürgerkriegs,dererst1923mitdemLudendorff-Hitler-Putschsein vorläufiges Ende fand . Obwohl der ErsteWeltkrieg Opfer in einer Dimension geforderthatte,diebisdahinunvorstellbargewesenwar,war Gewalt weiterhin dasMittel zur Durchset-zungpolitischerZiele .

DieEntgrenzungderGewaltwareinzentra-les Charakteristikum des ErstenWeltkriegs . In

chewiedieUkrainezumerstenMal,anderewiePolenerneut .NachdemErstenWeltkrieggabes38souveränepolitischeEinheiteninEuropaunddoppeltsovielenationaleWährungenwiezuvor .

ZuBeginndes19 .JahrhundertswarEuropanoch von multiethnischen Imperien dominiertgewesen,vondenendrei–Großbritannien,Däne-markundPreußen–einehochentwickelteNatio-nalkulturhatten,währenddieanderendrei–dasHabsburgerreich, das Osmanische Reich unddasZarenreich–einenausgesprochenmultikul-turellenCharakteraufwiesen,weswegenmancheimReichderHabsburgereinfrühesVorbildfürdieheutigeEuropäischeGemeinschaftsehenwollen .

Der Zerfall der Vielvölkerreiche führte dazu,dasseinengerZusammenhangzwischenNati-onalität undEthnizität entstand,dessenunver-meidliches konzeptionelles Nebenprodukt dieethnischeMinderheitwar . InSüdosteuropaleb-tenjetzt60MillionenMenschen,beidenenTer-ritoriumundEthnizitätzusammenfielen,während25MillionenethnischenMinderheitenangehör-ten .DieFolgewareinnichtabreißenderStromvon Flüchtlingen . Etwa eine Million DeutschewurdeausdenPolenzugesprochenenöstlichenProvinzenOberschlesien,PommernundPosenvertrieben oder floh aus den vom BürgerkriegheimgesuchtenbaltischenStaaten .UmgekehrtstrebtenzweiMillionenPolenindenneuerrich-teten polnischen Nationalstaat . Auch Ungarnnahm Hunderttausende von Zuwanderern ausdenangrenzendenLändernauf .DieBevölkerungGriechenlandsvergrößertesichumnichtwenigeralseinViertel,vorallemdurchZuwandererausderTürkei,aberauchausBulgarien,undesgabähnlichgroßeWanderbewegungenindiejeweilsentgegengesetzteRichtung .300 .000Armenier,diedenGenozid überlebt hatten, verließendieTürkei, und der Zusammenbruch des Zaren-reichsunddieRussischeRevolutionführtenzurFluchtvonzweiMillionenRussenundUkrainern .

Viele der Flüchtlinge, vor allem Russen undArmenier,verlorenmit ihrerFluchtdieStaatsbür-gerschaftihrerHerkunftsländer .DasMassenphä-nomenderStaatenlosenwareinResultatdesErs-tenWeltkriegs .UmdiesemProblemzubegegnenschuf Fridtjof Nansen, der Hochkommissar fürFlüchtlingswesen des Völkerbunds, 1922 den

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warvondenVerhandlungenderSiegermächteinParisausgeschlossenundsovollzogsichdieAuf-lösungdesZarenreichesungeordnetundextremgewaltvoll . Der Erste Weltkrieg erwies sich alsTotengräber der altenOrdnung, die angesichtseinesgewaltigenModernisierungsstausinkürzes-terZeitzusammenbrach .GleichnachderOkto-berevolution,noch imDezember1917,erklärtesichFinnlandfürunabhängig,imJahrdarauffolg-tendiebaltischenStaaten .Schonam10 . Juni1917hattedieUkraine ihrestaatlicheSouverä-nitätproklamiert .Siewar1919derHauptschau-platzdes russischenBürgerkriegs .Die sowjeti-scheRote Armee und die konterrevolutionärenweißenTruppen,diezumTeildurchausländischeInterventionskräfte unterstütztwurden, standensichgegenüber .UnddiePolenmarschierten indieWestukraineein,umihreterritorialenAnsprü-che durchzusetzen . Bei diesen Kämpfen kamesimmerwiederzuGewaltexzessen .DerweißeTerrorwarzugleichantikommunistischundanti-semitischgeprägt,dennJudenundKommunis-tenwurdenunterdemSchlagwort„jüdisch-bol-schewistisch“miteinandergleichgesetzt .ErwarimkonkretenFallkaumwenigergrausam,aberfragmentierteralsderroteTerror,dendieSowjet-regierungmitihremDekret„ÜberdenRotenTer-ror“vom5 .September1918angeordnethatte .DerweißeTerrorhattekeineeinheitlichenideolo-gischenVorgabenundkeinezentraleSteuerung .

Die Schäden und Verluste des ErstenWelt-kriegswaren riesig gewesen, aber der Bürger-kriegwar fürRusslandeinenochgrößereKata-strophe . Fast 800 .000 Soldaten starben imGefecht,wobeidavonauszugehen ist,dass80ProzentdieserVerlusteaufdieRoteArmeeent-fielen . Weitere 700 .000 Kämpfer kamen durchKrankheiten um .Hinzu kameine nochgrößereZahlgetöteterZivilisten,wobeiwirnichtwissen,wievieleMenschendurchdenrotenTerrorumka-men .AuchfürdieOpferdesweißenTerrorsfeh-lenverlässlicheSchätzungen .HinzukommendieOpferjüdischerAbstammung,diebeiantisemiti-schenPogromenumgebrachtwurden .IhreZahlwirdauf50 .000bis100 .000geschätzt .MillionenvonMenschenfielenalsFolgedesZusammen-bruchsdesWirtschaftssystemsunddesChaos,dasderKrieghinterlassenhatte,HungerundSeu-chenzumOpfer .ImJahr1920lebteninRusslandneun bis zehnMillionenMenschenweniger als

derFolgegabesVersucheeinererneutenEin-hegungderGewalt,etwadurchdenVölkerbund,der Anfang 1920 seine Arbeit aufnahm, oderdasGenferProtokollvon1925überdenVerbotdesEinsatzesvonGiftgasundbakteriologischenWaffenimKrieg .Aberwassichdurchsetzte,wareinegesamteuropäischeKultivierungundPrak-tizierung kriegerischer Gewalt . Die Ablehnungder Ideen von 1789 – von Freiheit, GleichheitundAufklärung–,dieoftmalsmit dempreußi-schenMilitarismusassoziiertwird,wareinweitverbreitetes Phänomen, sie hat einen großenTeildereuropäischenKulturlandschaftderZwi-schenkriegszeit geprägt . Nationalismus, Anti-semitismus, antidemokratischer Elitismus undFaschismus faszinierten Intellektuelle nicht nurinDeutschland,sondernauchinFrankreichundItalienundselbstinGroßbritannien .

BesondersdramatischverliefderTransforma-tionsprozess in der Zwischenkriegszeit im frü-herenZarenreich .DerNachfolgestaatRussland

Das Zeitalter der Weltkriege

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schaftsanspruch . Dem Säuberungswahn, demvieleMillionenMenschenzumOpferfielen,lagbeidenNationalsozialisteneinbiologischer,beidenBolschewikieinkulturellerRassismuszugrunde .HitlerwieStalinwarenbereit, für ihrenVernich-tungswahneinenhohenPreiszubezahlen .Wäh-rend die Nationalsozialisten ab 1941 gegenjedesmilitärischeKalkülmitdringendbenötigtenTransportkapazitäten Juden durch halb Europadeportierten,umsie schließlich indenVernich-tungslagernzuvergasen,vertriebStalinzwischenNovember1943undDezember1944,alsvondengeschlagenen deutschen Armeen keine unmit-telbareBedrohungmehrausging,mehralsdrei

MillionenMenschen aus ihrer Heimat . 100 .000NKVD-SoldatenunddreiArmeenwurdendafüreingesetzt .DieethnischeFlurbereinigungwurdezurgewonnenenSchlacht,hierwiedort .

Die Führer beider Regimes waren von derÜberlegenheit sozial, national oder „rassisch“homogenerGesellschaftsordnungenüberzeugt .Pluralismuswar ihneneinGräuel, jederFremdewurdezumFeind,erhielteinenFeindstatus,ausdemeskeinEntrinnengab .SeineVernichtungdienteeinemhöherenZiel .Dernationalsozialis-tischeVernichtungskriegunddiestalinistischenethnischen „Säuberungen“ feierten dort ihregrößten Triumphe, wo eindeutige Ordnungs-vorstellungen mit uneindeutigen Verhältnissenin einen Konflikt gerieten . Das war besondersan der Peripherie ihrer Imperien der Fall . Die

noch1917 .WennmanzweiMillionenEmigran-tenberücksichtigt, führt dies zu einer Zahl vonmindestens achtMillionenOpfern, selbstwennmandennatürlichenZuwachsdurchdieGebur-tenratevernachlässigt .DaswardasVierfachederVerluste,diedasZarenreichimErstenWeltkriegerlittenhatte .DerBürgerkriegverursachteaußer-dem eine Hungersnot, der imWinter 1921/22nocheinmalfünfMillionenMenschenzumOpferfielen .InPetrogradkamenzweiDrittelderBevöl-kerungdurchHunger,KälteoderKrankheitenum,inMoskaumindestensdieHälfte .AmEndedesBürgerkriegswardasLandschwererzerstörtalsnachdemFeldzugNapoleons1812 .

DerroteTerror,derab1922durchdassow-jetische Strafgesetzbuch noch systematisiertwurde, richtetesichgegenGruppen, fürdie inder sowjetischen Gesellschaft kein Platz vor-gesehenwar: denAdel,Offiziere, Priester undKulaken . ImInteressedessowjetischenGesell-schaftskörpersmusstendieseGruppeneliminiertwerden .Schon1918hattemanersteLagerein-gerichtet .DaswarendieAnfängedesGulag-Sys-tems,indemspäterbiszu2,5Millioneninhaftiertwaren .DieleninistischeundspäterstalinistischeGewaltherrschaft setzte den Krieg gegen dieeigeneBevölkerungfort,dendasZarenreichimErstenWeltkrieggeführthatte,abermitanderenSelektionskriterien .

Wie der Nationalsozialismus hatte auch derStalinismuseinentotalitärenideologischenHerr-

Durch den Gulag zur Öl­ und Gasförderung: Aus der 1929 gegründeten Arbeitersiedlung Tschibju im Norden Russlands schufen zehntausende Strafgefangene bis 1943 die Stadt Uchta mit heute 100.000 Ein­wohnern. Aufnahme vom 14. November 1936.

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furchtbarerwaralsdererste,lagnichtzuletztandenLehren,diederGefreiteAdolfHitlerausdemErstenWeltkrieggezogenhatte,derprägendfürseine Zukunftspläne war . (Vgl . dazu auch denBeitrag von Thomas Weber in diesem Band .)ZurÜberwindungdeszeitraubendenundkräfte-zehrendenStellungskriegs,deranderWestfrontMillionen sinnlos geopferter Soldaten gekostethatte,setzteHitlerfürkünftigeEroberungskriegeaufdenBewegungskrieg .DieKonsequenzwardieBlitzkriegsstrategie,diesowohl inPolenalsauchinFrankreichmitgroßemErfolgzurAnwen-dung kam . Eine andere Antwort auf den Stel-lungskriegwardieforcierteEntwicklungderLuft-waffe .

Im Ersten Weltkrieg waren in Deutschlandetwa700 .000MenschendurchHungerundMan-gelernährung umgekommen, mehr MenschenalsimZweitenWeltkriegdurchLuftangriffe .DashattedieHeimatfrontenormenBelastungenaus-gesetzt .EshatteDemonstrationenindengroßenStädtenundimviertenKriegsjahrsogarStreiks,selbst in Munitionsfabriken, gegeben . DeshalbsetztemanimZweitenWeltkriegallesdaran,dieDeutschen auf Kosten der besetzten GebieteausreichendmitNahrungsmittelnzuversorgen,umsoKriegsmüdigkeit inderHeimatzuunter-binden,wasbisfastzuletztgelang .

EinanderesThemawardieinnereEinheit,ausderSichtderNationalsozialisteneineentschei-dendeVorbedingung fürnationaleGröße .Des-halbkämpftensiegegenParlamentarismusundDemokratie,vorallemaber füreinen„rassisch“homogenen Staat . Hauptfeind war die kleinejüdischeMinderheit,derdieKriegsniederlagevon1918angelastetwurde .In„MeinKampf“schriebHitler:„HättemanzuKriegsbeginnundwährenddesKriegeseinmalzwölf-oderfünfzehntausenddieserhebräischenVolksverderbersounterGift-gas gehalten, wie Hunderttausende unsererallerbestendeutschenArbeiterausallenSchich-tenundBerufenesimFeldeerduldenmussten,dannwäredasMillionenopferderFrontnichtver-geblichgewesen .“

Vor allem gegen den „jüdischen Weltfeind“wollteHitlerKriegführen .Diese„wurzelloseinter-nationaleRasse“stehehinterdenKriegshetzern,dasieamKriegverdiene,sagteerineinerRegie-

Schnittmenge der Herrschaftsansprüche bei-derImperienwarengewissermaßendie„Blood-lands“ (TimothySnyder) inMittelosteuropa,wozwischen1933und1945nichtwenigerals14MillionenMenschen,diekeineSoldatenwaren,ermordetwurden .

In16europäischenStaatenwurdenzwischen1919und1938autoritäreRegimeerrichtet .DieHälftedieserStaatenhatte1914schonexistiert,die andere Hälfte war nach dem Ersten Welt-kriegentstanden .Lediglichdreiab1918neuge-schaffeneStaaten–Finnland,dieTschechoslo-wakeiund Irland–bliebendemokratisch .Einer,dieUkraine,konnteseineSelbständigkeitgegenPolenunddieUdSSRnicht verteidigen . Indenanderenacht konntesichdieDemokratienichtbehaupten .DieAutokratienwarenunterschiedli-chenCharakters,mancheorientiertensichmehramModelldesaltenStändestaats,anderewarenvon modernen faschistischen Bewegungengetragen .Häufigzeichnetensiesichdurcheinenradikalisierten,rassistischaufgeladenenNationa-lismusaus,dessenTrägervorallemdievomsozi-alen Abstieg bedrohten Mittelschichten waren .DasaggressivsteundexpansionistischsteunterdiesenautoritärenRegimenwardasnationalso-zialistischeDeutscheReich,desseneliminatori-scherAntisemitismusalleanderenVariantendesNationalismusanGewaltsamkeitübertraf .

DassDeutschlandab1939sechsJahrelangeinenzweitenWeltkriegdurchhielt,dernochviel

Links: Ethnische Homo­genität – dem Faschis­mus genügte ein einzi­ger Menschentyp. Plakat zur Ausstellung „Faschistische Revoluti­on“ in Rom, 1933.

Rechts: Wer Teil der Volksgemeinschaft sein wollte, hatte dem Führer zu dienen. Plakat der Hitler­Jugend, 1935.

Das Zeitalter der Weltkriege

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AlsHitlerseinProgrammniederschrieb,warendasallesZukunftsvisionen .NachdemerdieMachtimStaaterrungenhatte,gingermitgroßerKon-sequenz undBrutalität daran, seine Ziele in dieTat umzusetzen . Der sogenannte „GeneralplanOst“sahdieBeseitigungvon31MillionenSlawenvor, imProtokollderWannseekonferenzwarvon11Millionen zu vernichtenden Juden die Rede .DieAdditionbeiderZahlenergibtdenBlutzoll für

dienationalsozialistischeVisioneinerstarkenund„rassisch reinen“deutschenNationalsdominie-rendeMachtineinemneugeordnetenEuropa .Um

rungserklärung im Großdeutschen Reichstagam30 .Januar1939 .DerberühmtesteSatzdie-ser Rede lautete: „Wenn es dem internationa-lenFinanzjudentum in-undaußerhalbEuropasgelingensollte,dieVölkerEuropasnocheinmalineinenWeltkriegzustürzen,dannwirddasErgeb-nis nicht die Bolschewisierung der Erde unddamitderSiegdesJudentumssein,sonderndieVernichtungderjüdischenRasseinEuropa .“

FürAdolfHitlerwardieFragenichtob,son-dernwannundwiediesernächsteKriegkom-men würde . Daraus hat er nie ein Geheimnisgemacht .ImzweitenBandseinesBuchs„MeinKampf“ lieferte er schon 1926 eine Zusam-menfassung seines politischen Programms:Die Vereinigung aller Deutschen, namentlichderAnschlussÖsterreichs,dieGewinnungderArbeiterschaft füreinennationalenSozialismus,dieVernichtungderjüdischen„Gegenrasse“alsVorbedingungfürdasÜberlebendereigenen,dieEroberungdes für dasdeutscheVolk notwen-digenLebensraums imOstenund,umalldiesmöglichzumachen,dieÜberwindungvonMei-nungsstreitundParteienhaderzugunsteneinesstarkenStaats,deraufdemgermanischenPrin-zipvonFührerundGefolgschaftberuhte .

Hitlerwarüberzeugt,dassdasdeutscheVolknur als Weltmacht eine Zukunft haben würde .DabeiwareineKonfrontationderbeidenKonti-nentalmächteDeutschlandundRusslandunver-meidbar .(Vgl .dazumeinenBeitrag„VomLebens-raumimOstenzumHolocaust“indiesemBand .)

Der deutsche Antisemi­tismus mündete in den Völkermord an sechs Millionen Juden. Mas­senveranstaltung mit Julius Streicher im Ber­liner Sportpalast, 16. August 1935. Vier Wo­chen später, am 15. Sep­tember, folgten die Nürn­berger Rassegesetze.

An Bord des Schlacht­schiffs Missouri unter­zeichnet der japanische Armeeoberbefehlshaber General Umezu Yoshijirō am 2. September 1945 die Kapitulationsurkun­de. Der amerikanische Oberbefehlshaber Gene­ral Douglas MacArthur (links am Mikrofon) be­endete den Zweiten Weltkrieg mit den Wor­ten: „Die Verhandlungen sind abgeschlossen.“

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bomben .Die erste fiel am6 .August aufHiro-shima .IndenerstenSekundennachderExplo-siongabesschätzungsweise70 .000bis80 .000Tote . Bis Ende 1945 kamen noch einmal sovieleMenschenumsLeben .1950 lagdieZahlderOpferbei200 .000,spätererreichtesiefast300 .000 .Am9 .AugustwarfendieAmerikanerihrezweiteAtombombe,diesmalaufNagasaki,woetwa35 .000MenschendurchdieExplosionumkamen . InsgesamtfordertederZweiteWelt-kriegetwadreiMillionenjapanischeOpfer .Ange-sichtsdiesesschrecklichenBlutzollssolltemansichabervergegenwärtigen,dassdieZahlder–zumeist chinesischen –Opfer der japanischenAggressionmehrals20Millionenbetrug .

Der Einsatz der neuenMassenvernichtungs-waffe hatte den gewünschten Effekt . Am 15 .AugusterklärteKaiserHirohitodiebisdahin fürviele Japaner undenkbare Kapitulation . NichtwenigetraditionsbewussteJapanerstürztensichdaraufhin in ihrSchwert . InmanchenMilitäraka-demienergossensichSturzbächevonBlutindieTreppenhäuser . Kamikazeflieger steuerten ihreMaschinen ins Meer . Das Land, das noch nieeinen Krieg verloren hatte, war von einem Tag

dieseVisionWirklichkeitwerdenzulassen,führteAdolfHitlersechsJahrelangKrieggegendieWelt .

Am7 .Mai1945,morgensum2Uhr41,unter-zeichneteGeneraloberstAlfredJodlinReimsdiedeutsche Gesamtkapitulation . Zwei Tage spä-terwurde diese Zeremonie auf ausdrücklichenWunschStalins imOffizierskasinoderehemali-genPionierschuleinKarlshorstbeiBerlinwieder-holt .LeiterderdeutschenDelegationwardies-malGeneralfeldmarschallKeitel .DamitwarderKrieginEuropazuEnde .Insgesamt53StaatenhattensichzuletztmitdemDeutschenReichimKriegszustandbefunden .Fastdiegesamtezivi-lisierteMenschheit hatte sich in einer Anti-Hit-ler-Koalitionzusammengefunden,ausdernachKriegsendedieVereintenNationenhervorgingen .

InAsien,woderKriegschon1937begonnenhatte,wurdenochweitergekämpft .Japanwardank seiner Insellage strategisch in einer bes-seren Situation als der deutsche Verbündete .DieAmerikaner hatten sich, angesichts der zuerwartenden schweren Verluste, zu einer Inva-sionbishernichtentschließenkönnen .AmEndeentschiedensiesichfüreinenAngriffmitAtom-

Warten auf Wasser in Berlin, Mai 1945. Das Schild weist den Weg zum Reichstag.

Das Zeitalter der Weltkriege

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demerobertenLandausreichendzuernähren,aberdasgelangnichtimmer .DieMenschenhun-gerten–undstarbenauch:vorallemzuBeginn,in den provisorischenKriegsgefangenenlagern .DerKrieg,der1939vonDeutschlandausgegan-genwarunddiehalbeWeltverheerthatte,waramEndemit allerGrausamkeit nachDeutsch-landzurückgekommen .

1914 wie 1939 war Deutschland das bevöl-kerungsreichste Land in Europa . Das ist heutenicht anders . Eine Weltmacht ist Deutschlandnicht,wohlabereinewirtschaftlicheGroßmacht .Gemeinsammit seiner geopolitischen Lage gibtdiesdemLandseinebesondereVerantwortung .GerechtwerdenkönnendieDeutschenihr,wennsiesich ihrerVerantwortung fürdasVergangeneebensostellenwieihrerMitverantwortungfürdasGelingendesKünftigen,füreinfriedliches,gerech-tesundinFreiheitvereintesEuropa .JohnMaynardKeyneshatinseinemWeltbestseller„TheEcono-mic Consequences of Peace“ schon 1919 dieNotwendigkeit einerwirtschaftlichenVereinigungEuropasbetont–einerVereinigungaufderBasisvonFreiheitundGleichheit .EsgehtnichtumdieAbschaffungderNationalstaatenundschongarnichtumdiegewaltsameVeränderungpolitischerGrenzen,wohlaberumdieÜberwindungdesNati-onalismus .DieseAgendaistunverändertaktuell .

aufdenanderenkeineGroßmachtmehr .DieVer-fassungvon1946legtefest,dassdiejapanischeNationdasRechtzurKriegführungverwirkthatte .SiedeklarierteauchdasEndedesFeudalsystems .DerKulturbruchhattesäkulareDimensionen,dievon den Besatzern verfügte „Reeducation“warradikal, aber sie hatte Erfolg . 1951 wurde derFriedensvertragvonSanFranciscogeschlossen,imJahrdaraufendetedieamerikanischeBesat-zungsherrschaftund1956, fast20Jahre früheralsdiebeidendeutschenStaaten,wurdeJapanMitgliedderVereintenNationen .EinFeudalstaat,der sich Jahrhunderte lang vonderWelt abge-wandthatte,wandeltesichinatemberaubendemTempozueinerbedeutendenIndustrienation .

Die Bilanz des ZweitenWeltkriegswar ent-setzlich .Mehrals55MillionenMenschenwareneines gewaltsamen Todes gestorben, darun-teretwa30MillionenZivilisten .DenbeiWeitemgrößten Blutzoll hatten Russen und Chinesenzuentrichtengehabt .DemgrausigstenKriegs-zielderDeutschen,derAusrottungdeseuropä-ischenJudentums,warenfast6MillionenMen-schen zum Opfer gefallen, darunter etwa 1,5MillionenKinder .DiedeutscheWehrmachthatte4,8MillionenSoldatenverloren,hinzukameneinehalbeMillionTotederWaffen-SSundparamilitä-rischer Verbände sowie eine halbeMillion Ver-missteundvierMillionenVerwundete .ZwölfMil-lionenDeutscheverlorenihreHeimat .FastzweiMillionenvonihnenkamenwährendderVertrei-bungum .FastzehnMillionenvondernational-sozialistischen Knechtschaft Befreite befandensichinLagernfür„DisplacedPersons“undhoff-ten,nachihrerVerschleppungnuninihreHeimatzurückkehrenzukönnen .UndetwaneunMilli-onenevakuierteDeutsche strömten indie zer-störtenStädtezurück .AlldiesvollzogsichunterdendenkbarschwierigstenUmständen .DieInf-rastrukturwarzerstört,Kommunikationfunktio-niertesowenigwieTransport .EsmangelteanLebensmitteln undHeizmaterial . DieKohlepro-duktionwarum80Prozentgesunken .FastvierMillionenWohnungen,einFünfteldesgesamtenBestandes,warenzerstört .GleichzeitigmusstenMillionen von Vertriebenen untergebracht wer-den .ZahlloseFamilienhattenihrenErnährerver-loren .EinDrittelallerzwischen1915und1924geborenen Männer war im Krieg gefallen . DieAlliiertengabensichalleMühe,dieMenschenin

In der Kathedrale von Reims, im Ersten Welt­krieg von der deut­schen Artillerie ver­wüstet, gaben Charles de Gaulle und Konrad Adenauer den Anstoß zur deutsch­französi­schen Freundschaft und zur europäischen Einigung, 8. Juli 1962.